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Der Adel von Ametar - Die Trilogie

eine Elfenromanze

von Manuela P. Forst (Autor:in)
303 Seiten
Reihe: Der Adel von Ametar, Band 2

Zusammenfassung

Wie viel sind sie wert, unsere Schwüre der Vernunft, wenn unser Herz die Oberhand erlangt? Selina hat sich nie etwas anderes ersehnt als ein friedliches Leben. In ihrem Herzen brennt weder Abenteuerlust noch der Wunsch, heldenhafte Taten zu vollbringen. Sie hat ihre Kindheit zusammen mit ihrer Mutter Kathrin in einem Häuschen am Rande eines Bauerndorfes verlebt. Nun ist sie in die Stadt Ametar gezogen, um eine Arbeit als Dienstmagd anzunehmen. Die Stadt – sie ist so gar nicht Selinas Welt. Die junge Halbelfe fühlt sich hier nicht nur fehl am Platz. Einfach alles, was sie tut, scheint schief zu laufen. Und als sie schließlich dem jungen Grafen Liones Emnesthar über den Weg läuft, gerät ihr Leben völlig aus den Fugen. Die komplette Roman-Trilogie zum Lachen und Bangen gleichermaßen - für Romantiker ebenso wie für Freunde packender Fantasy mit vielen Illustrationen im Manga-Stil.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der Adel von Ametar

eine Elfenromanze

 

Manuela P. Forst

Prolog

 

Ametar, das war einst ein stolzes Reich. Es erstreckte sich vom Gebirge im Norden bis weit jenseits des Eniräen-Stroms in der südlichen Ebene. Verschiedenste Rassen lebten in Frieden und Wohlstand unter der Herrschaft großer Könige der Menschen. Der Handel mit den Nachbarländern Nordthal und Merolien florierte. Es schien an nichts zu mangeln. Doch all dies ist lange vergangen.

Zehn Jahre sind verstrichen, seit König Inghard, der Letzte seines Geschlechts, ermordet wurde. Der Bürgerkrieg, der daraufhin ausbrach und in dem Fürsten, Generäle und Bandenführer versuchten, den Thron zu erobern, forderte viele Leben. Das zunehmend sinnlos erscheinende Abschlachten endete mit einem Abkommen der großen Adelsfamilien Ametars, in welchem diese das Land unter sich aufteilten. Friede und Ordnung schienen zurückgekehrt, zumindest ließ ein oberflächlicher Blick diesen Schluss zu. In Ametars gleichnamiger Hauptstadt wurde der Palast erneut Regierungssitz. Die zerstörten Gebiete von Goldfurt am Großen Strom wurden nach und nach wieder besiedelt und aufgebaut. Der Handel lebte auf. Man tanzte und sang, zumindest tat dies der Adel. Auf zahllosen Festbanketten floss der Wein in Strömen – dies waren der Ort und die Zeit, wo Politik gemacht wurde, bei vollen Gläsern und gedeckten Tafeln unter kristallenen Kronleuchtern. Das Militär war aufgelöst. Grafschaften und Fürstenhäuser unterhielten ihre Privatarmeen, gebildet aus ehemaligen Soldaten und aus Söldnern. Sie waren es, die nun das Gesetz von Ametar vollstreckten, ein Gesetz, das der Adel nach Gutdünken und nicht selten bei zu viel Alkohol beschloss. Und der Arm des Gesetzes war so lang, wie ihr Interesse reichte, was sich zumeist auf die Stadt Ametar selbst, auf Goldfurt und auf die Anwesen der Adelshäuser beschränkte. Im Land ringsum, in den Bauerndörfern der Ebene und im Gebirge regierte das Recht des Stärkeren. So hatten viele Gemeinden ihre eigenen Gesetze, Miniaturkönigreiche von der Größe einiger Bauernhöfe inmitten dessen, was einst das stolze Reich von Ametar gewesen war.

 

Teil 1

eine Elfenromanze

 

 

Tagträumer

 

 

Selina sah sich seufzend um. Ihr bot sich das Bild eines regelrechten Schlachtfeldes. Der Boden war mit Pfützen einer undefinierbaren, klebrigen Flüssigkeit bedeckt, Bettlaken waren zerwühlt und um die Waschstelle hatte es den Anschein, als habe sich eine Wildschweinfamilie vergnügt. Das gesamte Zimmer war verwüstet.

Die junge Dienstmagd schlang ihr langes, glattes Haar im Nacken zu einem Knoten, klatschte kurz in die Hände, um sich zu motivieren, und machte sich an die Arbeit. Es versprach, ein weiterer harter Tag zu werden.

Bemüht, ihre Fantasie davon abzuhalten, Erklärungen für die Braunschattierungen auf den einst blütenweißen Laken zu suchen, raffte Selina die verschmutzte Bettwäsche zusammen und stopfte sie in einen großen, geflochtenen Korb. Sie sah auf und ihr Blick glitt hin zum Fenster, wie so oft während der Arbeit. Draußen summten Fliegen und irgendwo zirpte eine Meise ein leises, einsames Lied. Selina starrte abwesend auf die dunkle Holzfassade der Färberei unmittelbar gegenüber dem Gasthaus. Der Staub, den die Fuhrwerke aufwirbelten, hing wie Nebel über der Straße. Doch Selina beachtete es kaum. Ihre Gedanken waren weit fort, wanderten über bewaldete Hügel bis hin zu den schroffen Hängen des Gebirges ihrer Heimat. Auf den Wiesen wiegten Margeriten zwischen Glockenblumen und Kuckuckslichtnelken im Wind und der betörende Duft der Akazien durchzog die frische Luft. Selina hörte die Bussarde schreien und die Schafe blökten auf den Weiden.

Es waren noch keine zwei Wochen vergangen, seit Selina nach Ametar gekommen war, um in dem Gasthof Zur Singenden Maid zu arbeiten. Die Stadt lag fünf Tagesmärsche ab ihrer Heimat, einem Bauerndorf in den Bergen, wo sie seit ihrer Geburt mit ihrer Mutter Kathrin gelebt hatte. Nun hatte diese sie hierher geschickt, um sich mit einer anständigen Arbeit ein eigenes Leben aufzubauen und, so mutmaßte Selina, um sich in der Umgebung einer gutbürgerlichen Stadt den Sitten und Gebräuchen der Menschen anzupassen. Hier sollte sie ihre eigene Familie gründen, in einem Häuschen samt Kräutergärtchen den Alltagsarbeiten nachgehen und Kinder großziehen – all dies, fern vom Ruf der Wildnis und dem Abenteuer. So waren wohl die Pläne und Absichten ihrer Mutter gewesen, als diese sie nach Ametar geschickt hatte. Und Selina war es nicht unrecht gewesen. Sie hielt nicht viel auf abenteuerliche Reisen und großmütige Taten. Ein ruhiges, friedliches Fleckchen Erde war ihr gerade recht.

Doch mittlerweile war sie sich nicht mehr sicher, ob Ametar für jemand mit ihren Vorlieben wirklich der passende Ort war. Denn nun wusste sie, dass es in einer Stadt zu keiner Uhrzeit friedlich war. Und auch, wenn sie nicht gewagt hätte, es ihrer Mutter gegenüber zuzugeben, so spürte sie doch, dass sie hier nicht hergehörte – nicht in ein enges, gemauertes Gemach, nicht zwischen unzählige Reihen dicht gedrängt stehender Häuser. Schon heute vermisste sie das kleine Wäldchen am Rande des Dorfes ihrer Heimat, den kühlen Wind im Gesicht, wenn er von den hohen Gipfeln des Gebirges herab blies, und den Glanz der Sterne über endlosen Weiden.

Nicht zuletzt aufgrund ihrer Abstammung fühlte sich Selina als Teil der Natur.

Sie war eine Halbelfe. Das Blut der Menschen und der Elfen floss zu gleichen Teilen in ihren Adern.

Doch zum Leidwesen ihrer Mutter sah man Selina ihr menschliches Erbe kaum an. Sie war etwas kräftiger gebaut als ihre feenhaften Verwandten. Ihr schwarzes Haar hatte einen rötlichen Schimmer und ihre großen, dunklen Augen verliehen ihr ein leicht exotisches Aussehen, worum sie so mache Elfenmaid beneidete.

Ihr Vater war Sithan, ein Elf aus dem Norden. Er war ein Abenteurer, der während des Krieges vor über zwei Dekaden Anführer einer Rebellion gewesen war. Seine Bestimmung war der Kampf. Und als der Krieg vorbei war, hatte es nichts mehr gegeben, das ihn hielt, selbst seine Frau nicht. So hatte er Kathrin noch vor der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter verlassen, um auf seiner ewigen rastlosen Suche nach neuen Herausforderungen durch die Lande zu ziehen.

Kathrin hatte diese Trennung nie ganz überwunden. Umso mehr litt sie daher darunter, dass Selina so sehr nach dem Vater geraten war und sie tagtäglich an ihr verlorenes Glück erinnerte. Sie gab Sithans elfischer Abstammung die Schuld an seiner Untreue und verfluchte seine Rasse für die unbändige Abenteuerlust, die in jedem Elfenherzen zu brennen schien. Doch Selina maß der Abneigung ihrer Mutter gegenüber dem Blut, das in ihren Adern floss, wenig Bedeutung zu. Immerhin hatte Kathrin auch unter den Menschenmännern keinen Anschluss mehr gefunden, was Selinas Meinung nach nicht zuletzt darauf zurückzuführen war, dass Kathrins Herz immer noch für Sithan schlug.

»Selina!« Brunas Stimme durchdrang donnernd die Mauern des Gemachs und ließ die Halbelfe hochschrecken. Nicht zum ersten Mal fragte sich die junge Dienstmagd, ob es etwas gab, das dem Ruf der dickleibigen Wirtin widerstand.

»Selina! Bei den Göttern! Träumst du schon wieder?« Die Wände schienen zu erzittern.

Selina beeilte sich, den schweren Wäschekorb aufzunehmen, stieß mit dem Ellbogen die Türe des Zimmers auf, eilte auf den Flur hinaus und zwängte sich mit ihrer Last die schmale, gewundene Treppe hinunter in die Wirtsstube.

Am unteren Absatz stand Bruna, die Arme in die breiten Hüften gestemmt, und sah ihr tadelnd entgegen. »Das muss schneller gehen, Kind! Unsere Gäste warten nicht ewig!«, wetterte sie.

Selina senkte betroffen den Kopf. »Ich werde mir Mühe geben«, erklärte sie kleinlaut. Die Wirtin hatte ja nicht unrecht. Sie hatte wieder einmal geträumt. Sie war einfach nie mit den Gedanken bei der Arbeit.

»Nun mach schon!« Bruna wedelte ungeduldig mit den Armen in der Luft herum. »Und wenn du mit den Zimmern fertig bist, gehst du auf den Markt und erledigst die Einkäufe.«

Selina sah die überaus wohlgenährte Frau ungläubig über den Turm zerwühlter Laken hinweg an. Bruna trug einen ausgewaschenen Kittel und eine ehemals weiße Schürze. Die Halbelfe zwang sich, nicht auf die unzähligen Fettflecken und Brandlöcher zu starren, welche die Kleidung der Wirtin sprenkelten.

»Aber ...«, begann Selina. »Aber Adorata ist mit dem Einkauf dran!«

»Ich kann heute nicht«, klang Adoratas Stimme von der Theke herüber.

Selina wandte sich um und sah das Schankmädchen zwischen Schwaden erkalteten Tabakrauches am Tresen lehnen. Adorata hatte ihr bestes Sonntagskleid an, wie die Halbelfe bemerkte, und betrachtete versonnen ihre Fingernägel.

»Adorata hat heute frei«, erklärte die Wirtin knapp.

»Um sich von ihrem Freier ausführen zu lassen«, ergänzte Ria, die soeben aus der Küche kam, und gab sich keine Mühe, die Verachtung zu unterdrücken, welche in ihrer Stimme mitschwang. Als jüngste der drei Dienstmägde, die für Bruna arbeiteten, ließ sie selten eine Gelegenheit ungenutzt verstreichen, um Adorata zu hänseln.

Das Schankmädchen warf stolz den Kopf in den Nacken. »Irving wird mir ein neues Kleid für das Tanzbankett am Wochenende kaufen.«

»Was hat eine Magd wie du auf einem Bankett verloren? Sollst du das Buffet auftischen oder doch eher den Boden schrubben, wenn man den letzten betrunkenen Adligen hinausgetragen hat?«, höhnte Ria.

 

 

»Pah!«, machte Adorata. »Wenn mich Irving erst zur Frau genommen hat, wird man mir die Speisen auftischen.«

»Wenn er dich zur Frau nimmt, wirst du seine Hosen nähen dürfen«, konterte Ria.

»Ria! Adorata! Hört auf, euch zu zanken!«, grollte Bruna. »Selina, du bist ja immer noch hier! Hast du nichts zu tun? Los, los! Du weißt ja, wo der Beutel mit den Münzen für den Einkauf ist.«

»Aber es ist schon Mittag«, hob die Halbelfe zu einem letzten Protestversuch an. »Und ich habe noch drei Zimmer zu ...«

»Dann wäre es besser, wenn du dich beeilst!«, schnitt ihr die Wirtin scharf das Wort ab.

Selina nickte stumm und eilte mit dem Wäschekorb bepackt zur Hintertür des Gasthofs. Deutlich konnte sie Adoratas triumphierenden Blick in ihrem Nacken spüren. Selina hasste es, wenn Bruna das Schankmädchen ihr gegenüber bevorzugte.

Ria kam hinter ihr hergelaufen. »Warte, ich helfe dir.«

Selina nickte dem Mädchen dankend zu, das unter dem Wäschekorb hindurch schlüpfte und den Riegel der Tür zur Seite schob. Gemeinsam traten sie ins Freie.

Durch den Hinterhof des Gasthauses floss ein kleiner Kanal. Und obwohl Selina ernsthaft an der Sauberkeit des Wassers zweifelte, das sich in seinem schmalen Bett quer durch die Stadt schlängelte, hatte sie die strikte Anweisung, die Bettlaken hier zu waschen. Das Schmutzwasser des Geschirrs fand ebenfalls seinen Weg in das kleine Bächlein und die Halbelfe wagte gar nicht daran zu denken, was sich flussauf- und abwärts alles dazugesellen mochte.

»Wenn du willst, kann ich in der Zwischenzeit die Zimmer für dich fegen«, bot Ria an. »Ich bin mit der Küche fertig.«

Selina lächelte ihr dankend zu. Sie hatte aufgehört, sich zu fragen, wie die quirlige, junge Magd es immer schaffte, auch mit der schwersten Arbeit im Handumdrehen fertig zu werden.

Ria und sie hatten sich von dem Tag, da sie nach Ametar gekommen war, ausgezeichnet verstanden. Ohne ihre neue Freundin würde sich Selina in dieser Stadt wohl unendlich einsam fühlen.

Schlachtgänse, Diebesgesindel und Edelmänner

 

 

Selina und Ria schlenderten über den belebten Marktplatz.

Der Frühsommer zeigte sich von seiner besten Seite. Ein leichter Ostwind hatte die letzten Wolken vom Himmel gefegt, der wie ein azurfarbenes Seidentuch das Firmament überspannte. Die Sonne sandte unermüdlich ihre Strahlen herab. Ihre Wärme hinterließ ein angenehmes Prickeln auf der Haut.

Die beiden jungen Mägde spazierten angeregt schwatzend zwischen den Marktständen umher, deren Tische sich unter dem Angebot der Waren bogen. Hier gab es von saftigem Obst über Gemüse bis hin zu Fisch und Fleisch alles, was den Gaumen zu erfreuen vermochte. Und so manche Rübe, Kartoffeln und auch eine frisch geschlachtete Gans hatten den Weg in die Körbe der Mädchen gefunden.

Selina warf forschend einen Blick zum Himmel und schätzte anhand des Sonnenstandes die Uhrzeit ab. »Wir sollten uns beeilen«, meinte sie. »Wenn wir nicht rechtzeitig zurück sind und Bruna merkt, dass du mich begleitet hast, reißt sie dir den Kopf ab.«

Ria kicherte ob der Wortwahl ihrer Freundin. Doch Selina fand an der Vorstellung überhaupt nichts Komisches. Sie hatte noch nicht gelernt, mit den Launen der Wirtin umzugehen, wie das Menschenmädchen es tat. Sie respektierte Bruna. Nein, respektieren war das falsche Wort. Sie fürchtete Bruna und die Konsequenzen, die ihr Zorn nach sich zog. Selina konnte es sich nicht leisten, bei der Wirtin in Ungnade zu fallen. Wenn sie ihre Arbeit als Dienstmagd verlor, würde sie zugleich auch Unterkunft und Verpflegung verlieren. Und wo sollte sie dann hingehen? Abgesehen von Ria, die wie sie im Gasthof wohnte, hatte sie niemanden, an den sie sich hätte wenden können. Nein, sie musste versuchen, Bruna in Zukunft besser zufriedenzustellen. Jetzt gleich würde sie damit anfangen! Deshalb würden sie sich auch sofort auf den Weg zurück zum Gasthof machen.

Entschlossen wandte sie sich an ihre Freundin. Da versetzte ihr etwas einen harten Schlag in die Seite. Selina schrie erschrocken auf und kämpfte um ihr Gleichgewicht. Kartoffeln kollerten zu Boden.

Ein in staubige Gewänder gekleideter Mann war ungebremst in sie hineingerannt und hätte sie beinahe von den Füßen gerissen. Verzweifelt nach Halt suchend, klammerte sich der Kerl an ihrem Kleid fest. Selina riss sich panisch los. Der Mann murmelte etwas Unverständliches – es mochte eine Entschuldigung gewesen sein – und rannte weiter, durch die Menge davon.

 

 

»So ein verlauster Rüpel!«, entrüstete sich Ria, die Faust wütend geballt. Doch ihr Zorn verrauchte ebenso schnell, wie er aufgewallt war, und sie wandte sich der Halbelfe zu. »Ist alles in Ordnung?«

Selina nickte verunsichert und strich ihre Kleidung glatt. Plötzlich hielt sie inne und sah ihre Freundin mit vor Schrecken geweiteten Augen an. »Er hat den Geldbeutel gestohlen!«, rief sie aus.

»Was? ... Hinterher!« Ria zeigte aufgeregt auf den Flüchtenden, der mittlerweile den Marktplatz verlassen hatte und in der Seilergasse verschwand, und rannte los. Selina hechtete hinterdrein.

Um diese Zeit war der Markt gut besucht und sie kamen leidlich voran. Selina drängte sich hinter ihrer Freundin durch den Auflauf. Panik stieg in ihr hoch. Der Dieb drohte ihnen zu entwischen, wenn sie nicht schleunigst etwas unternahm! Sie durfte nicht zulassen, dass er mit dem Wirtschaftsgeld des Gasthauses türmte. Was würde Bruna sagen!?

Kurz entschlossen schlug Selina einen Haken und schwang sich mit einem Satz über den ihr am nächsten stehenden Obststand. Eine Bäuerin schrie empört, als der Berg sorgfältig auf dem Tisch gestapelter Marillen erzitterte und sich ein Schwall von Früchten auf den Boden ergoss. Doch die Halbelfe war längst weitergelaufen und setzte leichtfüßig über die Markttische hinweg. Zornige Rufe begleiteten ihren Weg.

Als Selina in die Seilergasse einbog, hatte sie endlich freie Bahn. Ihre elfische Abstammung räumte ihr gegenüber dem Dieb einen nicht zu verachtenden Vorteil ein und der Abstand zu dem Mann verringerte sich. Der Flüchtige versuchte sie abzuhängen, indem er oft die Richtung wechselte und immer wieder in Seitengassen abbog. Doch Selina blieb ihm auf den Fersen.

Und dann schien der Weg abrupt zu Ende. Vor dem Dieb erhob sich eine mannshohe Holzwand quer zur Straße. Es gab keinen Weg daran vorbei.

Selinas Herz machte einen Freudensprung, als sie den Mann auf die Barriere zu rennen sah. Sie ging davon aus, dass er nicht in der Lage sein würde, schnell genug drüber zu klettern, um ihr zu entwischen. Er saß in der Falle.

Doch der Mann kannte Ametar wie seine Westentasche und wusste um jeden Fluchtweg Bescheid. Er wusste, dass dies nur auf den ersten Blick wie eine Sackgasse aussah.

Ein Schrei der Enttäuschung kam über Selinas Lippen, als der Dieb plötzlich eine zuvor nicht erkennbar gewesene Tür in der Holzwand aufstieß und hindurch schlüpfte.

Der Mann glaubte sich siegesgewiss und lehnte sich schwer atmend gegen die Tür. Die junge Frau würde hier nicht durchkommen und einen großen Umweg um den Häuserblock machen müssen. In der Zwischenzeit wäre er längst in der Sicherheit seines Diebesversteckes.

In einem hatte er recht: Selina kam nicht durch die Tür. Doch während er noch überlegte, eine schwere Holzkiste vor den Durchgang zu zerren, um diesen zu verbarrikadieren, stürzte die Halbelfe von oben auf ihn herab und riss ihn zu Boden.

Selina war wie ein Pfeil an der Wand hochgeschossen und hatte sich über die Barriere geschwungen – ein Akt der Körperbeherrschung, der den meisten Menschen verwehrt geblieben wäre.

Doch war ihr das geringe Gewicht ihres Körpers eben noch zugutegekommen, so wurde es ihr nun zum Verhängnis. Denn in dem unweigerlich folgenden Gerangel gelang es dem Mann schnell, die Oberhand zu erlangen, und er schlug die Halbelfe nieder.

Selina blieb einen Augenblick völlig benommen liegen.

Als sie sich wieder aufrappelte, war der Dieb verschwunden. Sie rannte die Gasse entlang, die nach wenigen Metern in eine belebte Geschäftsstraße mündete. Verzweifelt blickte sie sich um. Nichts.

»Er ist weg!«, rief sie Ria aufgebracht entgegen, die keuchend durch die Tür in der Holzwand stolperte und zu ihr aufschloss. »Bruna wird außer sich sein, wenn sie davon erfährt!«

Ria hob die Gans hoch, die sie während der gesamten Verfolgungsjagd mit der Rechten am Kragen umklammert gehalten hatte, um sie nicht zu verlieren. Die andere Hand hielt sie an die stechende Seite gepresst. »Na, wenigstens haben wir die noch«, brachte sie unter Schnaufen hervor. »Das Abendessen für die Gäste ist gerettet.«

»Ria! Das Geld ist weg! Was sollen wir jetzt nur tun?«

»Ich übernehme die Verantwortung vor Bruna«, bot Ria an.

»Du hättest überhaupt nicht hier sein dürfen!«, jammerte Selina.

»Eben! Sie wird ohnehin wütend auf mich sein. Da fällt die Sache mit dem Beutel nicht so ins Gewicht.«

Selina schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie rechnete Ria ihr Angebot hoch an, doch der Verlust des Geldes war nichts, was sie auf die leichte Schulter nehmen konnte, auch wenn ihre Freundin ihr das vorzumachen versuchte.

Ria musterte die Halbelfe besorgt. Selinas Kleidung war voll Staub, ihre Haare zerzaust und feine, blutige Kratzer liefen über ihre Wange. Es war unübersehbar, dass sie mit dem Dieb gekämpft hatte. »Du siehst schlimm aus. Bist du verletzt?«

»Nein, das geht schon«, behauptete Selina, wischte sich mit dem Ärmel über das verschmutzte Gesicht und strich mit einer fahrigen Handbewegung ihr Haar zurück. »Ach, wenn ich ihn nur ordentlicher gepackt hätte, dann säßen wir jetzt nicht so tief in der Tinte!«, klage sie.

»Na klar, wenn du eine große Kriegerin mit einem mächtigen Schwert wärst, hätte er es nicht einmal gewagt, dich zu bestehlen. Komm, Selina! Es hat keinen Sinn! Wir können es nicht ändern. Gehen wir nach Hause.«

Selina nickte niedergeschlagen. Ja, es war besser, sie gingen zurück. Wo waren sie hier eigentlich?

Forschend blickte sie sich um. Sie war in den zwei Wochen, die sie nun schon in Ametar lebte, wenig in der Stadt herumgekommen und in diesem Teil war sie mit Sicherheit noch nicht gewesen.

Es war hier irgendwie ... sauberer. Ja, das traf es wohl am besten. Die Häuser waren allesamt aus Stein oder Lehmziegeln gemauert, die Fassaden weiß getüncht. Geschäft um Geschäft reihte sich die gesamte Straße entlang. Davor standen Händler in bunten Gewändern und priesen ihre Waren an. Doch nicht abgetragene Schuhe und roher Fisch wurden hier angeboten, vielmehr war es ein Ort des Glanzes und des Luxus. Vornehm gekleidete Leute eilten die Straße auf und ab. Stimmengewirr summte in der Luft, untermalt von rhythmischem Klappern. Ein Reiter auf einem stolzen Rappen ritt gemächlich die Straße entlang. Pferde waren etwas Seltenes, da wo Selina herkam. Sie waren zu kostbar, sodass keiner in dem Bauerndorf ihrer Heimat es sich hätte leisten können, eines zu besitzen. Ehrfurchtsvoll betrachtete die Halbelfe das edle Tier und lauschte dem Klang seiner eisenbeschlagenen Hufe. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie durch die weichen Sohlen ihrer Schuhe nicht wie gewohnt den festgetretenen Sandboden fühlte, sondern die unregelmäßigen Wölbungen harten Kopfsteinpflasters.

»Wo sind wir hier?«, fragte sie, weiterhin das rege Treiben beobachtend.

»Seidenmeile«, antwortete Ria knapp. »Das Zentrum des Händlerviertels und Lieblingstreffpunkt aller, deren Gold nicht mehr in ihren Sparstrumpf passt.« Ihre Stimme troff vor offenem Abscheu. »Einflussreiche Kaufleute, Kreditgeber, Adlige – hier findest du Hochmut, Lüge und Betrügerei in ihrer konzentrierten Form. Lass uns verschwinden, bevor wir noch Adorata und ihrem ach so großzügigen Gönner über den Weg laufen!«

Selina nickte. Adoratas Spott war mehr, als sie heute noch ertragen könnte. Sie wandte sich um und wollte zurück zu der Gasse eilen, aus der sie gekommen waren.

Da blieb ihr Blick an einem besonders prächtigen Geschäft hängen. Es war eine Schneiderei, wie die meisten Läden in der Straße. Doch verglichen mit dieser hier wirkte die Konkurrenz bestenfalls kümmerlich. Dem einstöckigen Haus war ein hölzernes Gerüst vorgebaut worden, auf dem unzählige Bahnen wallenden Stoffes zur Schau gestellt waren. Scharlachrote Brokatseide hing hier neben golddurchwirktem, zartgrünem Chiffon und bildete zusammen mit endlosen Metern mitternachtsblauen Tuches einen farbenfrohen Baldachin aus kostbarsten Geweben. Unter diesem teuersten Dach, das die Halbelfe jemals gesehen hatte, wuselte ein kleiner, dicklicher Händler geschäftig um einen Kunden herum – einen Elfen, wie Selina unschwer erkennen konnte. Seine spitz zulaufenden Ohren ragten unübersehbar aus seinem dichten, blonden Haar hervor, das ihm sorgfältig gekämmt bis auf die Schultern herabhing. Er mochte kaum älter sein, als sie selbst, überlegte Selina. Der Händler, der dem Elfenmann gerade bis zur Brust reichte, schickte sich soeben an, eine Stoffbahn fliederfarbenen Seidensatins umständlich um seinen Kunden zu drapieren, wobei er ununterbrochen auf ihn einredete.

Selina beobachtete das Schauspiel amüsiert. Der Elf, in den pastellfarbenen Stoff gewickelt, und der Händler in einem bodenlangen Seidengewand in schreienden Farben – beide gaben ein nur zu albernes Gespann ab und die junge Magd konnte nicht anders, als herzlich aufzulachen.

»Selina«, zischte Ria in ihrem Rücken.

»Der sieht doch aus, als sei er in eine Torte mit Zuckerguss gefallen«, gluckste die Halbelfe vergnügt.

»Selina! Lass uns hier verschwinden.« Ria zupfte aufgeregt an der Schürze ihrer Freundin.

Der Elfenmann sah auf und betrachtete die beiden jungen Frauen mit gerunzelter Stirn. Die Elfe mit dem zerzausten Haar in den staubigen Kleidern einer Dienstmagd und ihre menschliche Freundin, die immer noch die Gans am Hals umklammert hielt, als wolle sie diese erwürgen und so ein zweites Mal töten, waren für ihn kein minder sonderbarer Anblick. Doch er hielt seine Heiterkeit gekonnt zurück. Die Elfe grinste indes immer noch breit und gab sich keine Mühe, ihre Belustigung zu verbergen. Der Händler tanzte um ihn herum und redete ohne Unterlass, doch der Elf beachtete ihn kaum und fuhr fort, die Magd eingehend zu mustern. Da traf ihr Blick den seinen ... doch sie wandte die Augen nicht ab, sondern hielt ihm stand. Selbst, wenn er ihr unsittliches Benehmen außer Acht ließ, war dies keine Reaktion, die sich für eine Frau ihres Standes ziemte. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich noch ein wenig.

 

 

»Selina, komm jetzt! Du weißt ja nicht, wer das ist! Wir haben schon genug Ärger für einen Tag«, flüsterte Ria vorwurfsvoll.

Selina riss sich von dem Blick des Elfen los – von seinen meerblauen Augen, die sie zu durchdringen und ihr Innerstes zu ergründen versuchten – und wandte sich ihrer Freundin zu. Unschuldig hob sie die Schultern. »Wieso, was hab ich denn getan?«

Aus den Schatten unter dem Baldachin trat ein dunkel gekleideter Menschenmann auf den Elfen zu. Selina war er zuvor nicht aufgefallen, doch er musste die ganze Zeit über offenbar regungslos dort gestanden haben. Nun schwand ihr Selbstvertrauen doch zusehends. Denn unter einem weiten, schwarzen Mantel trug der Mann eine mit Metallbeschlägen verzierte Lederrüstung und an seinem Gürtel hing ein langes Schwert.

Selina schluckte. »Weißt du etwa, wer das ist?«, fragte sie verunsichert.

»Natürlich«, zischelte Ria ihr ins Ohr. »Das ist einer der Söhne des Grafen Leothan Emnesthar, eines der einflussreichsten Männer in Ametar. Den Emnesthars gehören riesige Ländereien im Süden der Stadt. Doch meistens benehmen sie sich, als gehöre ihnen die halbe Welt. Die Söhne Leothans sind in ganz Ametar als Draufgänger und Weiberhelden bekannt, da kannst du fragen, wen du willst. Der andere ist sicher ein Krieger der persönlichen Leibgarde. Selina, wir sollten abhauen!«

Der Mann in der Rüstung blickte zweifelnd auf die beiden Mägde und fragte an den Elfen gewandt: »Willst du, dass ich sie verscheuche?« Seine Hand lag lässig auf dem Knauf des Schwertes.

Der Elf schüttelte seine blonde Mähne. »Nein.« Er hielt seinen Blick weiter auf die junge Elfe fixiert, während er so laut, dass die Mädchen ihn zweifelsohne verstehen konnten, erklärte: »Sie hat recht. Die Farbe ist schrecklich! Händler! Hinfort damit! Bringt mir etwas, womit ich mich nicht zum Gespött des Volkes mache. Vielleicht etwas in dunklem Rot? Was meint Ihr?«

Selina verstand, dass er die Frage direkt an sie gerichtet hatte. Immerhin hatte er sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Zögernd trat sie näher. Sie war sich jetzt gar nicht mehr so sicher, ob es klug gewesen war, sich in seine Angelegenheiten einzumischen, in die Angelegenheiten eines Adligen. Doch zum Kneifen war es zu spät.

»Nun, mein Herr«, stammelte sie. Verflucht, wo war ihr ungebrochener Stolz geblieben? Mutig – nein, eher trotzig – schob sie das Kinn vor, straffte die Schultern und erklärte mit gezwungen fester Stimme: »Das Lila macht Euch ein wenig blass, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Ich persönlich wäre für etwas Dunkleres ... vielleicht ein kräftiges Mitternachtsblau ... das würde die Farbe Eurer Augen unterstreichen ... oder ... ich weiß nicht ...«

 

 

Ein schwaches Lächeln huschte über das Gesicht des Elfen. »Sagt mir, welche Farbe würde Euch, als Frau, bei einem Mann gefallen? Was würdet Ihr als reizvoll empfinden?«

Selina legte einen Finger an den Mund und dachte kurz über die Frage nach. Sie dachte nicht über einen möglichen Hintergedanken nach, den der Elf damit verfolgen könnte. Nein. Sie dachte ernsthaft über die Frage und ihre Antwort nach.

»Schwarz«, meinte sie schließlich. »Das ist elegant, leichter zu reinigen als Pastelltöne und es wäre bei einem Mann mit blonden Haaren und blauen Augen sicher ... reizvoll ...«

»Selina!« Aus Rias Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Ihre Finger umfassten derart krampfhaft den Hals der Gans, dass sie das Blut aus dem toten Tier herausquetschte, welches ihr bereits über die Hand zu laufen begann.

Der Elfenmann nickte der jungen Magd zu.

Ria verlor die Beherrschung, packte ihre Freundin am Ärmel und zerrte sie zur Seite. »Verdammt, was tust du da?«, fragte sie vorwurfsvoll, während sie die Halbelfe hinter sich her schleifte.

»Wieso? Er hat mich doch gefragt!«

»Trotzdem!« Ria zog sie in die nächste Gasse, wo sie außer Sicht waren. »Du kannst nicht den erstbesten Adligen auslachen und ihm dann auf offener Straße Ankleidetipps geben.«

Selina wand sich aus Rias Umklammerung und rieb sich demonstrativ den Arm. »Woher hätte ich wissen sollen, dass er ein Blaublut ist?«

Ria schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Sag, weißt du eigentlich, was auch nur ein Meter des Stoffes, mit dem der so schmissig hantiert, kostet? Natürlich nicht! Weil keiner von uns es sich jemals leisten könnte!«

»Ich wusste ja gar nicht, dass in dieser Stadt Adlige leben«, behauptete Selina mit einem Achselzucken und stapfte an ihrer Freundin vorbei die Gasse entlang. Sie hatte jetzt andere Sorgen. Der Elf, ob adelig oder nicht, kannte sie nicht und wusste nicht, wo sie herkam. Sie würde ihn ohnehin niemals wiedersehen. Es spielte daher keine Rolle, ob ihr Verhalten angemessen gewesen war oder nicht.

Doch ihre Freundin war noch nicht fertig mit ihr. »Natürlich tun sie das nicht!«, ereiferte Ria sich und lief hinter der Halbelfe her. Die Gans baumelte in ihrer Hand. »Glaubst du etwa, ein Graf würde in eine der Baracken in der Färbergasse einziehen? Nein, die wohnen auf riesigen Anwesen weit ab der Kloake und dem Staub der Stadt. Doch sie lassen ihr Geld hier, bei den vornehmeren Händlern und Kaufleuten.«

»Wie auch immer! Mir schien der Kerl ziemlich harmlos zu sein.« Hastig verdrängte Selina den Gedanken an das Schwert seines Begleiters.

Ria stemmte die Arme in die Seiten. Die Gans klatschte unsanft gegen ihr Kleid. »Selina, hast du mir eigentlich zugehört? Was glaubst du, warum er dir solche Fragen gestellt hat?«

»Es ist ja nichts passiert«, behauptete Selina knapp. Ihr Ton ließ keine weitere Diskussion zu. Sie hatte das Thema gründlich satt.

Nicht zur Befriedigung der Gäste

 

 

Gedankenversunken rieb Selina mit einem zerschlissenen Tuch einen tönernen Bierkrug trocken, stellte ihn zur Seite und nahm den Nächsten zur Hand. Sie versuchte, den Berg schmutzigen Geschirrs zu ignorieren, der sich neben ihr auftürmte. Momentan versuchte sie, überhaupt nicht an ihre Arbeit zu denken und stupide einen Handgriff nach dem anderen auszuführen. Sie achtete kaum darauf, wenn Bruna aufgeregt in der Küche auf und ab lief, und hörte nur halb hin, wenn die Wirtin Ria und Adorata Anweisungen zurief. In den frühen Abendstunden herrschte stets Hochbetrieb in dem Gasthaus Zur Singenden Maid und Bruna war zu dieser Zeit immer ziemlich gereizt. Selina nahm einen weiteren Krug zur Hand und überlegte, wie glücklich sie sich eigentlich schätzen konnte, heute einzig mit dem Abwasch betraut worden zu sein, einer endlos scheinenden Prozedur, die versprach, noch lange in die Nachtstunden hinein anzudauern. So blieb sie zumindest von der allgemeinen Hektik verschont, die um sie her in der Küche herrschte. Mittlerweile war es ihr auch egal, dass sich jedes Mal, wenn sie mit einem Turm von Tellern und Töpfen fertig war, ein neuer zu dem Haufen an schmutzigem Geschirr gesellte. Es spielte für sie keine Rolle, wann sie mit ihrer Arbeit fertig wurde.

Selina tadelte sich im Stillen für die selbstmitleidigen Gedanken, die ihr unentwegt durch den Kopf gingen. Dies war ihre Arbeit und sie würde sie so lange tun, wie es nötig war, um Bruna zufriedenzustellen.

Die Wirtin hatte Selina und Ria wutschnaubend gescholten, als sie von dem Diebstahl des Geldbeutels erfahren hatte. Ihre scharfen Worte klangen noch heute, zwei Tage später, Unheil verkündend in Selinas Ohren nach. Bruna machte in erster Linie die Halbelfe für den Verlust des Geldes verantwortlich. Und auch, wenn der Zorn der Wirtin Ria nicht minder getroffen hatte, so lag es nun allein an Selina, das verlorene Geld abzuarbeiten. Freie Stunden, so wusste sie, würde es bis zur Begleichung ihrer Schuld nicht geben. Und die stand noch in weiter Ferne, schien beinahe unerreichbar hinter einem Berg verschmutzter Teller und Töpfe zu liegen.

Adorata kam in die Küche gestürmt. Sie trug ein Tablett mit unzähligen leeren Bierkrügen, an denen überall Reste von Schaum klebten. »Was ist mit der gebratenen Gans für Tisch Nummer fünf?«, rief sie in den Raum und schob Selina das schmutzige Geschirr zu.

»Noch nicht fertig«, antwortete Ria knapp.

Selina machte sich daran, die Krüge auf dem Tablett gegen saubere auszutauschen.

»Wie lange dauert das denn noch?«, klagte Adorata und warf in einer übertrieben vorwurfsvollen Geste die Arme hoch. »Die Herrschaften werfen mir schon jedes Mal fragende Blicke zu, wenn ich aus der Küche komme.«

»Sag ihnen, der Braten sei in wenigen Minuten fertig«, warf Bruna ein, doch nicht, um Adorata zu beruhigen, sondern, um sie möglichst schnell wieder aus der Küche zu bekommen. Der Raum war für die vier Frauen ein wenig klein und die dickleibige Wirtin brauchte alleine schon mehr Platz, als zur Verfügung stand.

»Roh wird es den Herrschaften auch nicht schmecken«, behauptete Ria bissig. »Herrschaften? Ha! Ich würde nie auf die Idee kommen, diese derben, versoffenen Kerle da draußen als Herrschaften zu bezeichnen.«

»Der Gast ist in diesem Hause immer König«, erklärte Bruna mit mahnender Stimme. »Vergesst das niemals, Mädchen!«

»Natürlich«, beeilte sich Ria einzulenken. »Doch hier können sie uns nicht hören.«

»Hm«, machte Bruna. »Man weiß nie!«

Adorata schüttelte den Kopf. »Nein, ich spreche von richtig feiner Gesellschaft.«

»Die müssen sich verlaufen haben!«, grunzte Ria und stemmte einen großen, für das zierliche Mädchen eigentlich viel zu schweren Kessel von der Feuerstelle, der randvoll mit dampfender Suppe war.

Adorata warf einen forschenden Blick über Selinas Schulter. »Bist du noch nicht fertig?«, ereiferte sie sich. »Ich habe keine Krüge mehr für den Ausschank!«

Nun hatte also auch Selina ihren Teil von der Hektik abbekommen. Hastig fuhren ihre Finger über die Tonkrüge, doch der Fetzen in ihrer Hand war mittlerweile so feucht, dass er die Nässe kaum noch aufnahm.

»Ach ... und Brot ist ausgegangen!« Adorata wirbelte herum, um zum Vorratsschrank zu eilen. In dem Moment kam Ria mit dem Suppentopf an ihr vorbei.

Adorata stieß frontal mit der Magd zusammen.

Ria schrie auf und machte einen Satz zur Seite. Die Suppe im Kessel schwappte über und ergoss sich kochend heiß über Arm und Schürze des Schankmädchens. Nun war es Adorata, die aufschrie, vor quälendem Schmerz. Tränen traten ihr in die Augen und sie sank zu Boden.

Selina hätte vor Schreck beinahe die Krüge umgestoßen.

Ria stellte hastig den großen Kessel ab und kniete sich neben Adorata, die jammernd ihren Arm umklammert hielt. »Lass sehen«, forderte sie, doch selbst, als sie an Adoratas gesunder Hand zog, ließ das Schankmädchen nicht los.

Bruna füllte eine Schüssel mit kaltem Wasser und kam aufgeregt ein Tuch schwenkend, die Schale in der Hand, auf die Mädchen zu.

Endlich konnten sie Adorata überreden, ihren Arm loszulassen. Vorsichtig zog Bruna den Ärmel des Kleides hoch. Die Haut, die darunter zum Vorschein kam, war scharlachrot. Die Wirtin tauchte das Tuch in die Wasserschale und schlang es um Adoratas Arm. Das Schankmädchen presste die Augen fest zusammen und stöhnte auf.

»Das wird schon wieder«, behauptete Ria. »Halb so schlimm!«

Bruna warf ihr einen finsteren Blick zu, und sie wandte sich eilig ab, um nach einem Laken Ausschau zu halten, mit dem sie die verschüttete Suppe aufwischen konnte.

»Das hinterlässt sicher scheußliche Narben«, klagte Adorata. »Was wird Irving sagen, wenn ich so auf das Bankett gehe?«

Ria schnaufte verächtlich und äffte hinter Adoratas Rücken deren Grimassen nach.

»Geh nach oben und mach dir einen Verband drauf«, wies Bruna das Schankmädchen an.

Seufzend stand sie auf. Sie würde diesen Abend wohl ohne Adorata auskommen müssen. Doch Ria brauchte sie hier in der Küche, da das Mädchen die Einzige unter ihren Mägden war, die sich ausreichend auf die Kunst des Kochens verstand. Die Wirtin musterte Selina, die verschreckt dastand, unentwegt einen Krug polierend. Sie fragte sich, ob die Halbelfe bereit war, zur Betreuung der Gäste eingesetzt zu werden, zumindest, solange Ria hier in der Küche benötigt wurde.

»Selina! Du übernimmst einstweilen Adoratas Aufgaben«, erklärte sie schließlich bestimmt. »Ab in den Schankraum mit dir, Mädchen!« Sie gab der Halbelfe, die wie angewurzelt dastand und sie ungläubig anstarrte, einen Schups in Richtung Tür.

Tausend Fragen spiegelten sich auf Selinas Gesicht wider. Sie hatte keine Ahnung, worin Adoratas Arbeit genau bestand. Nervös versuchte sie, sich die Routine des Schankmädchens ins Gedächtnis zu rufen, während sie das Tablett mit den sauberen Krügen aufnahm und zögernd aus der Küche ging. Bilder tauchten in ihren Erinnerungen auf, wie Adorata lachend mit einer Gruppe betrunkener Holzfäller schwatzte oder dem alten Fleischhauer mit dem pockenvernarbten Gesicht neckisch zublinzelte. Nein, das hatte Bruna sicher nicht gemeint!

Unzählige Blicke schienen Selina nur so zuzufliegen, als sie in die Wirtsstube trat. Blutunterlaufene Augen starrten ihr aus geröteten Gesichtern entgegen. Selina hatte das Gefühl, splitternackt vor all den Männern dazustehen. Sie beeilte sich, zur Theke zu gelangen, und stellte mit einem Scheppern das Tablett ab. Hinter dem Tresen fühlte sie sich ein wenig sicherer. Er bildete eine schützende Barriere zwischen ihr und den Gästen.

Ängstlich blickte sie sich um. Selbst die Fuhrwerker, die am Stammtisch gesessen und Karten gespielt hatten, schienen allein nur ihretwegen ihr Spiel unterbrochen zu haben. Zahllose Augenpaare warteten darauf, dass die Neue einen Fehler beging. Selina fühlte sich wie ein zum Abschuss freigegebenes Reh inmitten einer Versammlung der Jägerzunft.

Was sollte sie jetzt nur tun? Sie musste versuchen, die Blicke der Leute zu ignorieren und ihre Arbeit erledigen. Doch worin bestand diese Arbeit eigentlich? Ratlos wanderte ihr Blick über die leeren Krüge auf dem Tablett und dann über die Tische in der Wirtsstube.

»Wer bekommt Bier?«, fragte sie kleinlaut.

Für einen Moment legte sich Stille über die Gaststube. Auch jene, die bis jetzt keine Notiz von der verängstigten Halbelfe genommen hatten, wandten sich ihr nun zu.

Und dann ging ein Raunen durch die Menge. Hände flogen in die Höhe. »Hier, Madl!«, rief man hier, »Mir auch eins, Kleine!«, schrie man dort. »Für mich bitte ’nen doppelten Klaren!« ... »Was is’ mit meiner Suppe?« ... »Noch ’n Wein für meinen Freund da!« ... So tönte es durcheinander.

Selina nickte den einzelnen Tischen zu, obwohl sie schon jetzt ahnte, dass sie sich nie im Leben alle Bestellungen würde merken können.

Nach kurzem Zögern entschied sie, es systematisch anzugehen. Sie griff sich einen Krug und stellte ihn vor das Bierfass, das auf dem Tresen stand. Umständlich machte sie sich an dem Zapfhahn zu schaffen. Weiß schäumend sprudelte das Getränk heraus.

Zufrieden mit sich selbst füllte Selina einen Krug nach dem anderen.

Als alle gefüllt in Reih und Glied bereitstanden, wollte sie das Tablett aufnehmen. Ihre Finger fuhren unter die Holzplatte, drückten und zogen.

Wenige Zentimeter stemmte sie das Tablett in die Höhe. Es schwankte bedenklich, als ihre Hände unter der Anstrengung zu zittern begannen. Krüge rutschten durcheinander, Bier schwappte über. Selina stellte ihre Last wieder ab. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass ein voll beladenes Tablett dermaßen schwer sein konnte. Wie festgenagelt stand es nun wieder auf dem Tresen. Und dort blieb es auch.

 

 

Selina versuchte eine andere Strategie. Einen Krug in einer Hand, einen weiteren in der anderen, zwängte sie sich zwischen den Tischen hindurch. Kaum hatte das Bier seinen Bestimmungsort erreicht, als Selina sich schon wieder ihren Weg durch die überfüllte Wirtsstube bahnte, um die nächsten beiden Krüge zu holen. Natürlich wurde sie von mehreren der Gäste belächelt, doch sie nahm es mit einem Achselzucken hin. Sie hatte noch nie zu den besonders Kräftigen gezählt. Jemand wie Bruna hätte leicht das volle Tablett mit einer Hand tragen und mit der anderen die Krüge austeilen können, doch Bruna war auch ein Mensch. Selina hatte sich schon als Kind damit abgefunden, dass sie anders war als jene, mit denen sie im Alltag zu tun hatte. Was ihr an Stärke fehlte, machte sie jedoch durch Wendigkeit und Ausdauer wieder wett. So würde sie noch hundert Mal von der Theke zu den einzelnen Tischen und wieder zurück laufen können, bevor sie müde werden würde. Methodisch würde sie einen Tisch nach den anderen abklappern, Bestellungen aufnehmen und Getränke austragen. Ja, so würde es funktionieren!

Selina war soeben wieder auf dem Weg zum Tresen, als hinter ihr ein Mann rief: »He, Mädchen! Wo hast du Bier ausschenken gelernt? Im Armenhaus? Da ist ja nur Schaum im Krug!«

Selina fuhr verschreckt zusammen.

»Genau!«, pflichtete ein anderer dem ersten Rufer bei. »Ich habe für ein ganzes Bier bezahlt! Mein Krug ist nicht einmal halb voll!«

Selina sah verzweifelt auf die letzten beiden Krüge, die noch auf dem Tresen standen und auf die durstigen Gäste warteten. Der Schaum war mittlerweile zusammengesunken und jetzt konnte sie erkennen, dass das Bier darunter gerade bis zur Hälfte des Gefäßes reichte.

Und was nun? Selina dachte an die vielen Krüge, die sie bereits verteilt hatte. Sie konnte sie kaum alle wieder einsammeln und erneut füllen. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, in die Küche zu laufen und Bruna um Hilfe zu bitten. Doch die Wirtin war mit der Vorbereitung der Speisen beschäftigt und würde wenig Verständnis zeigen. Sie wäre nur noch mehr verärgert über ihre Magd, die scheinbar nichts richtig machen konnte. Auch wurden einige Gäste bereits unruhig und würden sich nicht gedulden, bis Selina das Ausschenken von Bier erlernt hatte. Nein, Selina musste jetzt sofort handeln.

Entschlossen nahm sie die letzten beiden Krüge und durchquerte abermals den Raum. Sie wusste, dass sämtliche Augen auf ihr ruhten, als sie gezwungen selbstsicher rief: »Alle, die jetzt ein Bier bekommen haben, kriegen nachher eine Runde von mir gratis.« Das würde zwar eine ganze Menge mehr schmutziges Geschirr bedeuten, das letztendlich wieder mehr Arbeit für sie bedeutete, doch sie konnte kaum davon ausgehen, dass sie es schaffen würde, bei der zweiten Runde mehr als nur Schaum in die Krüge zu füllen, und so barg ihre Notlösung zumindest keinen Verlust für den Gasthof in sich. Im Endeffekt hätte schließlich jeder einen vollen Krug Bier erhalten – auf Raten sozusagen. Selina beglückwünschte sich innerlich zu dieser diplomatischen Lösung.

»Eine Runde gratis?«, grölte ein breitschultriger Mann, als die Halbelfe gerade an ihm vorbeiging. Seine Hand schnellte vor und packte einen Zipfel ihrer Schürze. Selina blieb abrupt stehen und warf dem Kerl einen warnenden Blick zu. Sie hasste es, von fremden Leuten angefasst zu werden.

Der Mann stand laut lachend auf. »Du besorgst mir also eine Runde gratis? Na, lass sehen, ob du eine Halbe Bier wert bist, Schätzchen!«

Die Männer, die mit ihm am Tisch saßen, brachen in schallendes Gelächter aus.

Selina zögerte. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Worte des Mannes richtig interpretierte. Zwar war er in Wahrheit nicht weniger sittsam, als die Bauern, bei denen Selina ihre Kindheit verbracht hatte, doch hätte kein Mann in ihrem Heimatdorf es jemals gewagt, Hand an sie zu legen, da er den Zorn Kathrins fürchten musste. Selinas Mutter war die Gemahlin eines Elfenkriegers und galt als eine Frau, die in einem Schwert durchaus einen Gebrauchsgegenstand sah, den sie geschickt einzusetzen wusste. Aber ihre Mutter war jetzt nicht hier. Würde Bruna ihr zu Hilfe eilen? Oder würde sich die Wirtin darauf berufen, dass der Gast immer Recht hatte, wie sie es erst zuvor gepredigt hatte?

Selina fragte sich mit Bangen, wie weit dieser betrunkene Kerl gehen würde. Eine Frage, die ihr schneller beantwortet wurde, als ihr lieb war.

Der Mann packte sie hart an der Taille und zog sie eng an sich heran.

Selina schrie auf. Und bevor sie wusste, was sie tat, hatte sie sich blitzschnell umgedreht und den Krug in ihrer Rechten gegen den Kopf des Grobians geschleudert. Bier spritzte auf. Das Gefäß prallte an der Stirn des Mannes ab, fiel zu Boden und zerbarst.

Der Kerl schüttelte benommen den Kopf und funkelte die Halbelfe grimmig an.

Selina hob den zweiten Krug hoch. Sie zielte genau auf die Schläfe des Mannes. Doch dann hielt sie inne. Jede Faser ihres Körpers schrie danach, zuzuschlagen, den Kerl zu Boden zu schmettern, ihn zu treten, bis er von ihr abließ. Doch ein anderes Gefühl hielt sie davon ab: Angst. Selina fürchtete die Konsequenzen, so sie sich gegen diesen Mann zur Wehr setzte, wie ihre Instinkte es ihr rieten. Was würde geschehen, wenn sie einen Gast verprügelte? Bruna würde sie noch in dieser Nacht auf die Straße werfen!

Der breitschultrige Kerl packte mit der freien Hand den linken Arm der Dienstmagd, die nicht wagte, weitere Gegenwehr zu leisten, und drehte ihn gewaltsam nach hinten. Der zweite Krug fiel klappernd zu Boden und Selina sank mit einem gequälten Schrei auf die Knie.

»Ja! Zeig’s ihr, Baldo!«, grölten seine Freunde vor Begeisterung.

Baldo beugte sich weit über die Halbelfe und drückte sie mit seinem enormen Gewicht auf die Holzdielen.

Selina hatte ihm wenig entgegenzusetzen. Vor Verzweiflung zitternd bot sie all ihre Kräfte auf, doch vergebens. Ihre Gegenwehr hatte nur zur Folge, dass der Mann den erbarmungslosen Griff um ihr Handgelenk noch verstärkte. Selina stöhnte auf. Sie glaubte, unter seinem keuchenden Atem, der ihr heiß ins Gesicht blies und einen beträchtlichen Alkoholgehalt aufwies, ersticken zu müssen. Sie drehte den Kopf zur Seite, als sich Baldos gerötetes Gesicht auf sie herabsenkte. Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel. Angewidert schloss Selina die Augen.

Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, um eine Lösung aus ihrer Notlage zu finden. Sie versuchte, nicht auf den Mann zu achten, der auf ihr lag, nicht seine Hand zu beachten, die suchend ihre Taille hinauf und hinunter fuhr und ihren Körper abtastete. Sie musste sich wehren! Doch die Angst schien sie zu lähmen.

Und die Wirtshausgäste lachten. Würden sie sich auch noch darüber ergötzen, wenn er sie hier, zur Schau vor den Augen aller ... Selina erschauderte. Sie wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Vermutlich würde der Kerl ihr gleich das Kleid am Leib zerreißen und niemand würde ihr helfen. Sie würden lachen und grölen. Immer weiter lachen ...

Selina hörte sich selbst aufschreien, eine dünne, klägliche Stimme, die verzweifelt versuchte, gegen das Gelächter anzukommen.

Und plötzlich war es still. Alles schien den Atem anzuhalten. Selina stellte verwirrt fest, dass der Kerl auf ihr verschwunden war. Er war einfach weg. Irritiert schlug sie die Augen auf.

Eine dunkle Gestalt ragte über Baldo auf, hatte ihn am Kragen gepackt und zog ihn unsanft hoch.

Baldo fuhr herum und stellte sich wütend seinem neuen Gegner. »Warte gefälligst, bis du an der Reihe bist!«, knurrte er. »Ich verspreche dir, genug von ihr übrig zu lassen, dass du auch noch deinen Spaß mit der Göre hast.«

»Ihr versteht nicht«, sagte die dunkle Gestalt ruhig. »Niemand wird das Mädchen ohne ihr Einverständnis anrühren. Nicht, solange ich es verhindern kann!«

»Für wen hältst du dich?«, schrie Baldo, schwang drohend die Faust und sprang vor.

Selina sah etwas Silbernes aufblitzen.

Plötzlich lag ein langes Schwert in der Hand ihres unbekannten Retters. Ein dumpfer Schlag war zu hören, als er dem Angreifer die Parierstange gegen die Schläfe rammte. Baldo ging ächzend zu Boden.

Der Fremde führte die Spitze der Klinge an die Kehle des Betrunkenen. Als sich dieser nicht bewegte, ließ er seine Waffe seelenruhig zurück in die Scheide gleiten, stieg über Baldo hinweg und beugte sich zu Selina hinab. Er war groß und kräftig gebaut und gekleidet wie ein Krieger. Selina kam sein Anblick irgendwie vertraut vor, doch sie war in diesem Moment viel zu verstört, um sich darüber Gedanken zu machen.

 

 

 

Tisch Nummer 5

 

Immer noch völlig verängstigt auf dem Boden liegend, nahm sie die Hand, die ihr der Mann hilfreich entgegen streckte. Der Fremde zog sie auf die Füße und legte ihr beruhigend den Arm um die Schultern. Selina blickte verunsichert auf Baldo nieder, der bewusstlos auf dem Boden lag. Der Schreck saß ihr noch in allen Gliedern und sie zitterte wie Espenlaub.

»Keine Sorge! Der wird schon wieder zu sich kommen und abgesehen von enormen Kopfschmerzen wird er keinen Schaden davontragen, den er nicht zuvor schon gehabt hätte«, erklärte ihr Retter. »Seid Ihr verletzt?«

Selina schüttelte teilnahmslos den Kopf. »Ich muss in die Küche«, murmelte sie. »Der Gänsebraten wird schon fertig sein.«

Der Mann warf ihr einen forschenden Blick zu. Sie war blass und schlotterte am ganzen Körper. »Ihr werdet Euch erst einmal in Ruhe hinsetzen und Euch von dem Schrecken erholen.«

»Aber die Gäste ...«

»... können warten«, erklärte er bestimmt und zog sie mit sich. Selina fühlte sich nicht in der Lage, Widerstand zu leisten, und wusste auch nicht, ob sie es wollte.

»Mein Herr wünscht, dass Ihr Euch an unseren Tisch setzt«, erklärte der Mann beiläufig, während er sie durch die Wirtsstube zu einer Nische führte, wo ein einzelner Tisch etwas abseits des allgemeinen Trubels stand.

Selina blickte verwirrt zu ihm auf. Die Erwähnung seines Herrn hatte tief in ihr eine kleine Alarmglocke erschallen lassen. Sie betrachtete das Gesicht des Mannes, das von dichtem schwarzen Haar umrahmt war. Er war nicht alt aber auch nicht mehr ganz jung. Seine dunklen Augen blickten freundlich zu ihr herab. Seine große, kraftvolle Gestalt war von einem weiten Mantel verhüllt. Und als ihr nun das Langschwert einfiel, mit dem er ihren Angreifer niedergeschlagen hatte, da wusste sie, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.

Abrupt blieb sie stehen. »Euer Herr?!«

Nein, sie wollte nicht zu ihm gebracht werden! Nein, sie würde sich nicht an ihren Tisch setzen! Nicht, da sie nun wusste, wer ihr Retter war! Er war der unheimliche Mann, den sie mit diesem adeligen Elfen zusammen auf der Seidenmeile getroffen hatte. Ria hatte recht gehabt! Sie hatte sich unangemessen verhalten und nun hatten die Männer sie aufgespürt, um sie zur Rede zu stellen. Nein, nie im Leben würde sie sich an ihren Tisch setzen! Selina entzog sich dem Griff des Mannes und wollte in die Küche flüchten.

»Ich grüße Euch!«

Selina erstarrte, als sie die Stimme erkannte.

»Welch eine Freude, Euch wiederzusehen, auch wenn die Umstände weniger angenehm sind. Ich hoffe, Ihr seid nicht verletzt!«

Regungslos stand sie da und starrte den Elfenmann an, der sich erhob und zum Gruß vor ihr verneigte.

»Tisch Nummer fünf ...«, keuchte sie. Die edlen Herrschaften, von denen Adorata gesprochen hatte, waren niemand anderer als der sonderbare Elf und sein Krieger!

»Die Gans ... gleich fertig«, stammelte Selina, wollte sich umdrehen und fortlaufen.

»Vergesst die Gans! Bitte! Setzt Euch!« Der Elf bot ihr mit einer höflichen Geste einen Stuhl an seiner Seite an. Sein offenherziges Lächeln hatte eine entwaffnende Wirkung. Selina fehlte die Kraft, sich gegen seinen Willen aufzulehnen, und sie sank hilflos auf den Sessel. Der Krieger nahm rechts von ihr Platz. Selina fühlte sich zwischen den beiden Männern in die Enge getrieben. Die meerblauen Augen des Elfen schienen sie zu durchbohren.

Doch anstatt die erwartete Anklage auszusprechen, sagte der Elfenmann mit freundlicher Stimme: »Mein Name ist Liones Emnesthar und das«, er machte eine flüchtige Handbewegung zu dem Krieger, »ist Harras. Er ist ein treuer Diener meiner Familie und ein guter Freund.«

Selina erwiderte trotzig seinen Blick. »Habt Ihr mich verfolgt?«, fragte sie direkt, doch ihre Stimme klang immer noch kraftlos.

Liones Emnesthar neigte fragend den Kopf, als verstünde er nicht, worauf sie hinauswollte.

»Habt Ihr mir nachspioniert?«, wollte Selina etwas nachdrücklicher wissen.

Der Elf legte beschwichtigend eine Hand auf die ihre, doch sie zog sie hastig vor ihm zurück. »Nein, ich spioniere Frauen niemals nach.« Er musterte sie einen Augenblick und erklärte dann: »Doch jetzt sehe ich, was mir durch meine Prinzipien beinahe verwehrt geblieben wäre, und ich muss dem Schicksal danken, mich heute hierher geführt zu haben.«

Selina rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

»Wie ist Euer Name?«, wollte Liones wissen.

»Selina«, antwortete sie zögernd und rieb sich das linke Handgelenk, das vom brutalen Griff des Betrunkenen immer noch schmerzte. Sie war sich nicht sicher, ob sie durch die Rettung dieses Harras lediglich vom Regen in die Traufe gekommen war.

»Ist alles in Ordnung, Selina?«, fragte der Elf. »Seid Ihr verletzt?« Langsam, um sie nicht erneut zu verschrecken, streckte er die Hand nach ihr aus und forderte sie mit einer Geste auf, ihm das verletzte Gelenk begutachten zu lassen. Doch Selina vergrub hastig die Hände in ihrem Schoß. Liones nickte ergeben.

Es kostete Selina einiges an Kraft, doch endlich hatte sie soweit die Kontrolle über sich zurückerlangt, um aufstehen zu können. »Ich danke Euch für Eure Rettung«, sagte sie an den Krieger gewandt und mit einem Seitenblick auf den Elfen fügte sie hinzu: »Doch jetzt muss ich wieder zurück ... arbeiten.«

»Schade«, meinte Liones, als sie sich abwandte. »Ich hätte mich sehr über Eure Gesellschaft gefreut.«

Selina blieb stehen. »Ich kann nicht«, erklärte sie, ohne ihn anzusehen. Nein, sie konnte wirklich nicht, selbst wenn sie gewollt hätte. Die Pflicht rief. Zweifelnd sah sie hinüber zur Theke, wo sich einige Männer um Baldo scharten, der eben wieder zu Bewusstsein gekommen war. Plötzlich erschien ihr Tisch Nummer fünf wie eine schützende Festung inmitten der Brandung rachsüchtiger Betrunkener. Egal, was Liones Emnesthar und Harras von ihr wollten, sie würden auf jeden Fall zivilisierter mit ihr umgehen, als diese Horde an der Theke. Langsam sank sie wieder auf den Stuhl nieder.

Liones verbarg ein Lächeln.

»Selina! Was soll das?«, dröhnte es plötzlich über das Stimmengewirr in der Wirtsstube hinweg. Selina erstarrte zur Salzsäule. Wenn sie geglaubt hatte, dass es ihr in Baldos gewaltsamer Umarmung schlecht ergangen war, so wurde ihr jetzt klar, dass das in keinem Vergleich zu dem stand, was ihr nun drohte. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, doch sie konnte förmlich fühlen, wie Bruna sich wutschnaubend hinter ihr aufbaute.

»Überlasst das mir«, flüsterte Liones ihr zu. Die Worte drangen nicht wirklich in das Gedankenchaos vor, das in diesem Moment in Selinas Kopf herrschte, doch sie war ohnehin unfähig, der Wirtin zu antworten.

›Sie wird mich feuern!‹, raste es immerwährend durch ihren Kopf. ›Sie wird mich ganz sicher feuern!‹

»Stimmt es, dass du dem armen Baldo eins übergezogen hast?«, grollte Bruna. »Und warum bist du nicht vorn an der Theke und betreust die Gäste?«

 

 

»Verzeiht, gnädige Frau«, meldete sich Liones zu Wort. »Es ist meine Schuld! Ich habe Selina gebeten, sich an meinen Tisch zu setzen, um sich von den derben Handgreiflichkeiten dieses Baldo zu erholen. Es war mein Vertrauter hier, der den Mann niedergeschlagen hat. Doch Ihr werdet gewiss verstehen, dass wir nicht tatenlos mit ansehen konnten, wie er sich an einem wehrlosen Mädchen vergeht.«

Bruna beäugte den Elfen missmutig. »Gut, gut«, murrte sie. »Aber jetzt brauch ich sie wieder für den Ausschank!«

Liones registrierte, wie Selina dazu ansetzte, aufzustehen. Er musste schnell handeln.

»Ihr würdet Eurer Magd unter solch widrigen Umständen doch eine Pause gönnen.« Er bemühte sich, seiner Stimme nur so viel Nachdruck zu verleihen, um der Frau klar zu machen, dass jede Widerrede auf sein Unverständnis stoßen würde, und es doch nicht wie einen Befehl klingen zu lassen.

»Nein«, knurrte die Wirtin.

Der Elf beschloss, seinen letzten Trumpf auszuspielen. »Ich wünsche, dass Selina mir Gesellschaft leistet, solange sie es will. Würdet Ihr Liones Emnesthar, Sohn des Grafen Leothan Emnesthar, diesen Wunsch verwehren?« Liones sprach seinen Namen und seine Abstammung betont laut und deutlich aus und beobachtete aufmerksam die Mimik der Wirtin. Er spielte dieses Spiel nicht zum ersten Mal und wusste bereits, dass er gewonnen hatte, bevor Bruna aufgeregt draufloslos schnatterte: »Natürlich nicht, mein Herr! Verzeiht, mein Herr! Kann ich Euch noch etwas bringen?«

»Ja. Bringt uns eine weitere Karaffe Rotwein und ein Glas für die junge Dame!«

Bruna nickte eifrig und verschwand.

»Erbärmliche Heuchlerin«, zischte Harras und zwinkerte seinem Herrn zu.

Liones kicherte ausgelassen.

Nur Selina konnte sich der allgemeinen Heiterkeit nicht anschließen. Sie wurde aus den beiden Männern nicht recht schlau.

Bruna brachte den Wein und drei frische Gläser. Liones goss zuerst Selina und dann Harras und sich selbst ein.

»Verzeiht, dass ich Eure mutigen Taten so schändlich geschmälert habe«, sagte der Elf an Selina gewandt, sobald die Wirtin sich wieder entfernt hatte. »Es stand mir nicht zu, eine selbstsichere, wehrhafte Dame wie Euch derart hilflos und bemitleidenswert darzustellen.«

Selina war geneigt, ihm vor Augen zu führen, wie schamlos er übertrieb. Immerhin fühlte sie sich auch jetzt noch reichlich hilflos. Doch sie beschloss, bei ihrer kühlen, reservierten Art zu bleiben. »Nun, immerhin habt Ihr erreicht, was Ihr wolltet«, behauptete sie trocken. »Ihr habt mich zur Gesellschaft.«

»Solange Ihr es wollt«, erwiderte der Elf. »Seid mein Gast. Ich wünsche keinen Gefangenen.« Als Selina nicht antwortete, fragte er: »Wovor fürchtet Ihr Euch? Was ist aus der offenherzigen Elfe geworden, die ich vor zwei Tagen getroffen habe? Wenn ich Euch gekränkt oder Euch sonst ein Leid zugefügt habe, so lasst es mich wissen.«

Selina schüttelte leicht den Kopf. »Nein, mein Herr.«

»Vor diesem Baldo braucht Ihr keine Angst mehr zu haben«, meldete sich Harras zu Wort, der glaubte, den Grund für die Verschrecktheit der Halbelfe erkannt zu haben. »Er und seine Saufkumpanen werden es nicht wagen, erneut Hand an Euch zu legen. Sollte die Kunde die Runde machen, dass Euch auch nur ein Kratzer zugefügt worden ist, werden die Männer des Grafen Euch rächen. Nur ein todesmutiger Narr wagt es in Ametar, in Ungunst bei der Familie Emnesthar zu fallen.«

Selina senkte betroffen den Blick.

Und jetzt begriff Liones. »Ihr fürchtet mich? Ihr fürchtet, in Ungunst bei einem Emnesthar gefallen zu sein?«

Selina nickte kaum merkbar. Wie ein kleines, ungezogenes Schulmädchen kam sie sich in diesem Moment vor. »Ja, Herr. Ich habe Euch auf offener Straße verspottet.« Sie würde es nicht leugnen. Nein, sie wollte nicht länger warten. Er sollte hier und jetzt sein Urteil über sie fällen.

Der Elf schüttelte lächelnd seine blonde Mähne. »Ihr habt mich vor einer großen Dummheit errettet! Ihr habt mich davor bewahrt, einem geschwätzigen Händler auf den Leim zu gehen, der keine Ahnung von seinem Handwerk hat. Ich schulde Euch Dank!«

Selina blickte ihn ungläubig an.

Liones Emnesthar lachte auf und griff nach seinem Weinglas. »Auf Euch, Selina!«, rief er und prostete ihr überschwänglich zu.

Artig nahm Selina ihr Glas. »Auf Euch, mein Herr.«

»Bitte, ich bin nicht Euer Herr. Mein Name ist Liones.«

»Ja, Herr.«

Liones warf ihr einen angriffslustigen Blick zu.

Selina schrak zusammen und korrigierte sich hastig. »Entschuldigt! Liones.«

Einen Moment lang saß sie da, mit hochgezogenen Schultern, und beobachtete ihn eingeschüchtert. Doch das offenherzige Lächeln in seinem Gesicht blieb. Schluckweise trank sie von dem Wein.

Nicht zuletzt der Alkohol bewirkte, dass sich ihre Anspannung nach und nach legte. Und langsam gewann sie ihr Selbstvertrauen zurück. Der Elf bemühte sich, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Und bald schon unterhielten sie sich über solch banale Dinge wie das Wetter, sprachen über Selinas Arbeit im Gasthof oder über das Bauerndorf, aus dem sie stammte. Und schließlich scherzte und alberte die Halbelfe mit den beiden Männern und hatte ganz vergessen, dass sie es mit einem Adligen und seinem Leibwächter zu tun hatte. Gesellschaftliche Ränge spielten keine Rolle mehr. Bruna brachte den Männern den bestellten Gänsebraten und Liones lud Selina ein, auch tüchtig zuzugreifen.

»Was macht eine hübsche Frau wie Ihr eigentlich in ihrer Freizeit?«, fragte Liones, als nur noch säuberlich abgenagte Knochen auf seinem Teller lagen, und wischte sich mangels einer Serviette mit dem Handrücken über den Mund.

Selina zuckte mit den Schultern. Sie hatte in den letzten beiden Wochen kaum freie Zeit gehabt.

»Mein Vater veranstaltet diesen Sonnabend ein Tanzbankett auf unserem Anwesen. Es werden jede Menge vornehme Leute zugegen sein, die sich über solch uninteressante Dinge wie den Kurswert nordthalscher Seide oder die Wetteinsätze für das nächste Pferderennen unterhalten werden. Kurz gesagt, man erwartet meine Anwesenheit und ich werde mich zu Tode langweilen. Ich würde Euch einladen, liebste Selina, mir Gesellschaft zu leisten, damit der Abend für mich so unterhaltsam wird, wie der heutige, wenn ich nicht fürchten müsste, dass solch eine bezaubernde, junge Elfe wie ihr bereits etwas Besseres zu tun hat, als jemanden wie mich vor der Einöde des Adelsstandes zu erretten. Sicher hat schon ein anderer vor mir die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen, Euch für Sonnabend einzuladen.«

Selina antwortete nicht sofort. Sie war eine derart geschwollene Ausdrucksweise nicht gewohnt und brauchte eine Weile, um bis zur eigentlichen Kernaussage vorzudringen. Endlich begriff sie, dass er sie nur gefragt hatte, ob jemand sie für Samstagabend eingeladen hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich fürchte, ich werde den Abend hier im Gasthof verbringen.«

»Erlaubt mir dann, Euch auszuführen. Begleitet mich auf das Bankett, Selina.«

Abermals schüttelte sie den Kopf. »Es tut mir leid, doch ich kann nicht. Ich muss arbeiten.«

»Ihr könnt nicht den ganzen Tag arbeiten! Ihr werdet Euch doch sicherlich einen Abend freinehmen können.«

»Ihr versteht nicht!« Selina senkte den Blick und spielte an den Bändern ihrer Schürze herum. »Bruna gibt mir keine freien Stunden, bis ich meine Schuld nicht abgearbeitet habe.«

Liones musste ihr recht geben. Er verstand wirklich nicht. »Welche Schuld?«

Selina erzählte von dem Diebstahl und davon, dass Bruna ihr das Geld nun so lange vom Lohn abzog, bis sie es abgearbeitet hatte.

»Wie lange müsst Ihr arbeiten, um diese sogenannte Schuld zu begleichen?«, fragte Liones.

»Etwa drei Wochen«, lautete Selinas Antwort.

Der Elf riss erstaunt die Augen auf. »Wie viel Gold war in dem Beutel?«

»Sieben Goldstücke und drei Silberstücke.«

Liones und Harras warfen einander vielsagende Blicke zu. Der Elf nahm seinen Geldbeutel vom Gürtel und zählte einige Münzen in seine Hand. Er legte das Geld vor Selina auf den Tisch, trank sein Glas leer und stand auf. »Das sollte genügen, als Bezahlung für die Gans und den Wein und für Euch, um Eure Schuld zu begleichen. Den Rest könnt Ihr behalten, als Trinkgeld.«

Selina starrte auf die Goldstücke, die im gedämpften Licht schwach glänzten. Vor ihr lagen gut zwei Monatsgehälter.

»Aber ...«, begann sie und sah zu dem Elfen auf.

»Erweist Ihr mir nun die Ehre, Euch am Samstagabend auszuführen?« Liones verbeugte sich elegant.

»Aber ... ich habe doch gar nichts zum Anziehen«, stieß Selina hervor.

»Lasst das nur meine Sorge sein«, erwiderte der Elf mit einem Lächeln. Einen Moment lang musterte er sie eingehend, dann erklärte er: »Es war mir ein wahres Vergnügen! Lebt wohl, Selina! Ich wünsche Euch eine gute Nacht.«

Selina leistete keine Gegenwehr, als er nun ihre Hand nahm und sie an die Lippen führte.

»Gute Nacht«, stammelte sie.

Harras verabschiedete sich ebenfalls, auf eine weit weniger aufsehenerregende Art, und folgte Liones aus dem Lokal.

Kopfschüttelnd nahm Selina das Geld, stand auf und ging durch die Wirtsstube zur Küche.

Am Tresen lehnte Ria und beobachtete ihre Freundin. Doch diese nahm keine Notiz von ihr. Ihre Augen fixierten immer noch ungläubig die Münzen. Fünfzehn Goldmünzen! Liones hatte weit mehr bezahlt, als ein Mann überhaupt in der Lage gewesen wäre, an einem Abend in diesem Gasthof zu konsumieren.

»Was hat der von dir gewollt?« Ria stellte sich der Halbelfe in den Weg.

Selina wurde aus ihren Gedanken gerissen und sah ihre Freundin verwirrt an. »Wer?«

»Emnesthar«, antwortete Ria. »Was hat er von dir gewollt?«

Selina zuckte mit den Schultern. »Nichts«, behauptete sie.

»Ach, komm schon! Es ist doch nie und nimmer Zufall, dass der ausgerechnet heute hier aufkreuzt. Ihr habt ziemlich lange geredet. Ein Emnesthar bittet niemanden an seinen Tisch, ohne damit eine feste Absicht zu verfolgen. Erzähle mir nicht, er wollte nur über das Wetter plauschen.«

»Doch, das haben wir.« Selina sah auf die Goldmünzen in ihrer Hand. »Und er hat mich zu so einem Bankett eingeladen«, fügte sie nachdenklich hinzu.

»Ich wusste es!«, rief Ria aus und rang aufgeregt die Hände. »Ich wusste, dass er dir nachstellt! Selina, ich hoffe, du hast nein gesagt.« Sie warf ihrer Freundin einen beschwörenden Blick zu.

Die Halbelfe zuckte abermals die Achseln. Genau genommen hatte sie ihm gar keine Antwort gegeben. »Ich weiß überhaupt nicht, warum du dich so aufregst.«

Ria stieß einen Seufzer aus. »Es gibt zwei Regeln, an die du dich halten solltest, wenn du in Ametar ein geruhsames Leben führen willst«, erklärte sie. »Die erste Regel gilt für alle, die ihr Monatseinkommen an den Fingern abzählen können, und lautet: Mische dich niemals in die Angelegenheiten von Adligen und traue keinem reichen Kaufmann. Die Zweite sollte jede Frau, egal welchen Standes, befolgen, wenn sie sich unnötigen Kummer ersparen will. Sie lautet: Halte dich von den Brüdern Emnesthar fern. Bankette und feuchtfröhliche Feste sind in der Grafschaft an der Tagesordnung. Die Männer pflegen am nächsten Tag unerträgliche Kopfschmerzen zu haben und so manche Frau ein gebrochenes Herz. Für die Brüder Emnesthar ist es wohl eine Art Sport. Sie wetteifern um den gewagtesten Fang. Der Herzog von Merolien wollte sie sogar einmal öffentlich anklagen, weil sie der Reihe nach jede seiner Töchter verführt haben. Und er hat immerhin fünf an der Zahl! Selina, da ich nicht glaube, dass du zu denen gehörst, die jede Nacht in einem anderen Bett zu verbringen pflegen, kann ich dich nur warnen. Geh diesem Emnesthar aus dem Weg, wo du nur kannst. Du bist für ihn Freiwild und stehst anscheinend auf seiner Abschussliste!«

Selina schüttelte ungläubig den Kopf. »Ria! Ich bin ein Dienstmädchen! Wenn das stimmt, was du sagst, könnte er jede hübschere Adlige haben, die er begehrt. Warum sollte er sich mit mir abgeben?«

»In der Nacht sind alle Katzen schwarz.«

»Was meinst du damit? Welche Katzen?« Selina blickte ihre Freundin verständnislos an.

Ria riss verzweifelt die Arme hoch. Die Halbelfe war weit naiver, als ihrer Meinung nach gut für sie war. »Verdammt, merkst du denn nicht, welches Spielchen er mit dir treibt? Er versucht dich doch nur um den Finger zu wickeln, um dich dann fallen zu lassen, wie all die anderen zuvor.«

Selina schnaufte verächtlich. »Glaubst du wirklich, ich sei so leicht zu haben? Da muss er mehr bieten, als nur ein paar Münzen und Komplimente. Abgesehen davon finde ich überhaupt nichts Reizvolles an diesem blassen Typ im zartlila Seidentüll.« Sie kicherte gekünstelt.

»Nun, er weiß ja jetzt, was dir gefallen würde«, bemerkte Ria trocken.

Ein ungutes Gefühl beschlich Selina. Bis jetzt war sie davon ausgegangen, dass ihre Freundin schlicht übertrieb. »He, es ging doch nur um eine Begleitung für das Bankett!«, verteidigte sie sich aufgebracht. »Ein vergnüglicher Abend, nichts weiter! Außerdem habe ich nicht gesagt, dass ich hingehe!«

»Ja, nur ein vergnüglicher Abend! Mehr ist es für ihn nie!«, rief Ria. »Na, du musst wissen, was du tust. Doch sage dann nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Sie wandte sich ab und ließ ihre Freundin im Zweifel zurück.

Selina dachte an ihre Unterhaltung mit Liones und Harras. Die beiden Männer waren überaus freundlich zu ihr gewesen und sie hatte sich in ihrer Gesellschaft wohlgefühlt. Sie hatten herumgealbert und einen vergnüglichen Abend verbracht. Liones hatte Selina nicht das Gefühl gegeben, dass sie Freiwild für ihn war. Doch je länger sie über Rias Worte nachdachte, umso mehr begannen sie, für sie einen Sinn zu ergeben, und das erfüllte sie mit Unbehagen.

Ein letztes Mal betrachtete sie die Goldmünzen. Dann steckte sie das Geld in ihre Schürzentasche und ging in die Küche, um den Abwasch zu erledigen.

Ungeachtet aller Warnungen

 

 

»Ich möchte zu Selina. Ist sie da?«

Adorata beäugte den Mann skeptisch, der vor ihr stand und eine große, flache Schachtel in Händen hielt. »Wenn Ihr eine Lieferung für Selina habt, kann ich sie ebenfalls entgegennehmen«, erklärte sie kühl.

»Sehe ich aus wie ein Botenjunge?«, fragte der Mann mit ruhiger Stimme.

Nein, das tat er wirklich nicht, gestand sich Adorata ein. Eine mit Metallbeschlägen verzierte Lederrüstung schmiegte sich eng an den muskulösen Körper des hochgewachsenen Mannes – nicht unansehnlich und keineswegs vergleichbar mit einem rotznäsigen Botenjungen. Für Adorata war das umso mehr ein Grund, ihn dazu zu bringen, sich mit ihr abzugeben und nicht darauf zu bestehen, zu Selina gebracht zu werden.

»Ich möchte mit Selina sprechen«, beharrte der Mann nachdrücklich.

»Tut mir leid, sie ist nicht ...«

»Harras!« Selina sprang eilig die Treppe hinunter. »Wie schön, Euch zu sehen!«

Der Krieger verbeugte sich dezent. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Selina.« Er warf Adorata einen eindringlichen Blick zu. »Danke, ich denke, ich benötige Eure Hilfe nicht mehr.«

Das Schankmädchen trat widerwillig von einem Fuß auf den anderen, bevor sie sich Richtung Küche trollte.

»Was führt Euch hier her?«, wollte Selina wissen.

»Liones bat mich, Euch dies hier zu bringen.« Er hielt ihr die Schachtel hin.

Selina wich bei der Erwähnung des Elfen leicht zurück. Rias Warnungen hallten unheilvoll in ihrem Geist wider. Was sollte sie jetzt nur tun? Sie hatte so inständig gehofft, dass Liones seine Einladung mittlerweile vergessen hatte.

»Bitte, nehmt es an«, sagte Harras mit Nachdruck.

Zögernd griff Selina nach der Schachtel. »Was ist das?«, fragte sie verunsichert.

»Seht es Euch an.«

Vorsichtig, als könne er ihr eine Klapperschlange überreicht haben, schob sie den Deckel hoch. Und beinahe ließ sie die Schachtel fallen. Darin lag fein säuberlich zusammengelegt ein Kleid aus kostbarster Seide.

Selina riss entsetzt die Augen auf. »Das ... das kann ich nicht annehmen«, stotterte sie. »Das muss ein Vermögen gekostet haben!«

Harras winkte ab. »Wenn das Eure Sorge ist, so kann ich Euch beruhigen. Ich weiß, dass es für Euch schwer vorstellbar ist. Ihr müsstet vermutlich ein Jahresgehalt opfern, um Euch ein Kleid wie dieses leisten zu können, und ich muss gestehen, dass es selbst an die Grenzen meines Einkommens ginge. Doch Ihr müsst verstehen, dass Geld für Liones keine Bedeutung hat. Er hat in seinem ganzen Leben keinen Handstreich für das Gold gearbeitet, mit dem er so großzügig umzugehen pflegt. Und solange er keine gravierende Dummheit begeht, wird sich daran nichts ändern. Es belastet seine Börse nicht im Geringsten, wenn Ihr sein Geschenk annehmt.«

Er konnte deutlich sehen, wie Selina mit sich rang. Und er konnte sich die Gründe dafür leicht zusammenreimen. Natürlich wusste er nichts davon, dass Selinas Freundin ihr ins Gewissen geredet hatte, doch auch er kannte den Ruf, den der Mann genoss, dem er verpflichtet war. Zudem wusste er seit ihrem letzten Zusammentreffen um das Umfeld, aus dem die Halbelfe stammte. Es war vermutlich das erste Mal, dass sie mit der Adelsgesellschaft zu tun hatte, die für Harras mittlerweile Alltag bedeutete.

Als Selina nach einer ganzen Weile immer noch verstört das Kleid anstarrte, sagte er: »Ihr braucht keine Angst vor Konsequenzen irgendwelcher Art zu haben, egal, wie Ihr Euch entscheidet. Ihr geht gegenüber dem Hause Emnesthar keine Verpflichtung ein, wenn Ihr das Geschenk annehmt.«

Selina sah zweifelnd zu ihm auf. Sie konnte seine Worte nicht wirklich glauben. Für sie war Geld viel zu sehr mit ihrer Existenz verbunden. Jemand, der ihr solch ein teures Geschenk machte, musste zweifelsohne eine Gegenleistung erwarten.

Harras beschloss, ihr die Entscheidung abzunehmen. Liones hatte ihn beauftragt, Selina das Kleid zu bringen. Der Elf erwartete nicht, dass Harras ihm in irgendeiner Form eine Antwort der jungen Frau überbrachte. »Wenn Ihr Euch entschließt, Liones’ Einladung zu dem Bankett nachzukommen, so findet Ihr in der Schachtel einen Brief. Er enthält die Bitte, Euch für den Abend freizugeben und trägt das Siegel der Grafschaft. Meiner Einschätzung nach wird Eure Wirtin es nicht wagen, sich dagegen aufzulehnen«, erklärte er. »Es hat mich gefreut, Selina. Bis zu unserem Wiedersehen!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ das Gasthaus.

Selina blieb allein zurück, im Zweifel und gegen ihre Ängste ringend.

Schließlich legte sie den Deckel auf die Schachtel und ging hoch in ihr Zimmer. Dort schob sie das teure Geschenk vorerst unter ihr Bett und ihre Bedenken von sich.

 

 

Selina strich fasziniert über den eisblauen Seidensatin, der weich ihre schlanke Gestalt hinab floss. Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Das Kleid passte perfekt.

Einzig mit den dazugehörigen Sandalen konnte sie sich nicht anfreunden. Sie waren ein wenig eng im Vergleich zu ihrem alten, ausgetretenen Schuhwerk, mit dem sie tagtäglich herumzulaufen pflegte. Dünne Riemchen, die hier zwickten und da einschnitten, umspannten ihre Füße. Zum Glück hatte Liones so weit Rücksicht auf ihre gewohnte Lebensweise genommen, dass er ihr höhere Absätze erspart hatte. Selina befürchtete, bald wunde Füße zu bekommen, doch sie würde zumindest nicht Gefahr laufen, sich ein Bein zu brechen.

›Nur zum Unterhalten‹, sagte sie sich immer wieder in Gedanken, während sie ihr Spiegelbild betrachtete. ›Ich gehe nur hin, um mich mit ihm zu unterhalten. Sobald er zudringlich wird, bin ich weg! An mir wird er sich die Zähne ausbeißen! Ich werde nicht seine Gespielin sein, nicht für diese Nacht und auch für keine andere. Da hat er sich verrechnet, wenn er glaubt, mich mit Komplimenten und teuren Geschenken um den Finger wickeln zu können!‹

 

 

Die Tür wurde aufgerissen und Ria kam hereingestürmt. »Selina, was ist los? Bruna sagte mir eben, du arbeitest heute nicht in d... w... Was ...?« Ihre Augen wurden groß. »Wie siehst du denn aus?«, rief sie, als sie den ersten Schreck verwunden hatte, und lief aufgeregt um ihre Freundin herum. »Wo bei all den Dämonen hast du dieses Kleid her?« Sie hielt inne und starrte die Halbelfe entsetzt an. »Bei den Göttern! Sag nicht, du ...! Wie konntest du das annehmen? Du musst es zurückbringen!«

»Wenn ich zu dem Bankett gehen soll, brauche ich ein Kleid«, erklärte Selina. »Selbst wenn ich es nur zurückbringen wollte, müsste ich hingehen. Was kann es schaden, ein paar Stunden zu bleiben und sich zu amüsieren?«

Ria schüttelte verzweifelt den Kopf. Wie sollte sie ihrer Freundin nur begreiflich machen, dass sie nichtsahnend in eine Falle lief?

Selina blickte ihr ernst in die Augen. Sie hatte sich lange mit all den für sie vorstellbaren Risiken auseinandergesetzt und sie hatte sich entschieden. Liones war ihr nicht unsympathisch. Ja, sie mochte ihn. Doch sie fühlte sich in keiner Weise sexuell von ihm angezogen. Sie war sich sicher, dass sie gegen seine Tricks immun war. »Ich werde hingehen, um mich mit ihm zu unterhalten«, erklärte sie entschlossen. »Mehr nicht! Er müsste mich schon niederschlagen und mich in sein Schlafgemach schleifen. Und das würde er nicht tun.«

Ria fuhr fort, den Kopf zu schütteln. Sie hatte schon so manche Geschichte darüber gehört, wie es zuweilen auf den Banketten des Adels zuging. Und sie war sicher, dass sich Alkohol ebenso gut mit blauem Blut mischte, wie mit jedem anderen. In betrunkenem Zustand waren sie alle gleich: Bauern, Fuhrwerker, Händler, Adlige ... es machte keinen Unterschied, welcher Gesellschaftsschicht sie angehörten.

»Kannst du denn überhaupt tanzen?«, fragte Ria und versuchte damit eine andere Taktik, ihrer Freundin das Vorhaben auszureden.

Selina legte zweifelnd den Kopf schief. »Wieso?«

Ria öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, als Brunas durchdringendes Gebrüll zu ihnen herauf hallte. »Selina! Hier ist jemand, der sagt, er komme, um dich abzuholen!«, donnerte die Wirtin.

»Oh!« Selina warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und stürmte aus dem Zimmer.

Ria rannte hinter ihr her.

Die Wirtsstube begann sich langsam mit Gästen zu füllen und alle drehten sich erstaunt zu der herausgeputzten Halbelfe um. So manchem lag eine anzügliche Bemerkung auf den Lippen, doch er schluckte sie schnell wieder hinunter, als ein Mann in schwarzer und silberner Rüstung rasch auf die junge Frau zu trat.

Harras hatte alle Mühe, seine Überraschung zu verbergen und die Halbelfe nicht verblüfft anzustarren. Es war ihm nicht entgangen, dass die Magd hübsch war, doch auf solch einen Anblick war er nicht gefasst gewesen.

Er verneigte sich zum Gruß. »Liones hat mich geschickt, Euch abzuholen«, beantwortete er die unausgesprochene Frage, die sich auf dem Gesicht der jungen Halbelfe widerspiegelte.

»Woher wusste er, dass ...?«, begann Selina verwirrt.

Harras konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Soweit er sich erinnerte, hatte es noch nie eine Frau fertiggebracht, Liones Emnesthar eine Absage zu erteilen.

»Das Kleid steht Euch wundervoll«, erklärte er, scheinbar die Frage überhörend, und bot ihr den Arm an.

Selina ignorierte die Geste und zupfte am Seidenstoff. »Ja, es passt wirklich perfekt. Wie für mich gemacht!«

»Es wurde für Euch gemacht«, korrigierte der Krieger und ließ den Arm wieder sinken.

Selina sah in ungläubig an.

»Liones hat es bei seinem Schneider persönlich in Auftrag gegeben. Er hat ... Nun, wie soll ich sagen? Er hat ein geübtes Auge, was die Proportionen des weiblichen Körpers angeht.«

Selina schlang beschämt die Arme um ihren Körper. Sie stellte sich vor, wie der Elf, von ihr unbemerkt, ihren Körper im Geiste bemessen haben musste. Sie stellte sich vor, wie er ihre weiblichen Rundungen gemustert und in Zahlen umgerechnet haben musste. Und es war ihr ausgesprochen peinlich.

»Wollen wir?«, forderte Harras und riss sie bewusst aus ihren Gedanken.

Selina nickte zögernd.

»Selina!«, erklang Rias Stimme flehend von der Treppe her.

Die Halbelfe zwinkerte ihrer Freundin aufmunternd zu. »Mach dir keine Sorgen um mich!« Sie wandte sich rasch ab und lief nach draußen, bevor erneut Zweifel in ihr aufkeimen konnten.

Kaum durch die Tür, machte sie jäh halt und riss vor Staunen den Mund auf. Vor dem Gasthaus stand eine kleine, elegante Kutsche, der zwei edle Rösser vorgespannt waren. Ihre Mähnen waren kunstvoll geflochten und ihr reich verziertes Geschirr glitzerte in der Abendsonne.

Als Harras auf die Straße hinaustrat, war Selina verschwunden. Verwundert blickte er sich um. Einen Moment lang fürchtete er, die Halbelfe hätte letztendlich doch gekniffen und wäre davongelaufen. Aber dann fand er sie vor der Kutsche zwischen den Pferden. Sie streichelte abwechselnd ihre kräftigen Hälse und redete auf sie ein. Eines der Tiere rieb freundschaftlich seine Nase an ihrem Kleid, doch Selina störte sich nicht daran.

 

 

Harras trat kopfschüttelnd näher. Das versprach ein interessanter Abend zu werden.

»Sie sind wunderbar«, flüsterte Selina ehrfürchtig, als sie den Krieger hinter sich bemerkte. »Sie sind so elegant und stolz!«

»Es sind Vollblutstuten«, erklärte Harras. »Die Fuchsfarbene heißt Irisera und die Schwarze Ranora.«

»Irisera«, flötete Selina und kraulte das Pferd auf der Stirn. Ranora, die sich vernachlässigt fühlte, gab ihr einen auffordernden Stups in die Seite. Selina lachte auf und legte ihre andere Hand auf die samtene Nase der Rappstute.

»Ja, sie ist leicht eifersüchtig«, behauptete Harras.

»Sie ist wunderschön«, sagte Selina bewundernd. Ranora bog anmutig den Hals, als habe sie das Kompliment verstanden und wollte die Aussage unterstreichen.

Harras nickte lächelnd. »Und eitel wie ihr Herr!«

Selina warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Sie gehört Liones«, erklärte er grinsend.

Selina zog abrupt ihre Hand von der Stute zurück – gerade so, als sei sie gebissen worden.

Harras bemerkte es wohl, beschloss jedoch, dass er kein Recht hatte, sie auf ihre offensichtliche Furcht vor seinem Herrn anzusprechen.

Als die Halbelfe fortfuhr, die Pferde zu liebkosen, meinte er schließlich: »Entschuldigt! Doch um einzusteigen, müsst Ihr ans andere Ende der Kutsche.«

Selina nickte bedauernd.

Der Krieger ging das Gespann entlang und bezog neben dem kleinen Trittbrett Stellung, um der Halbelfe beim Einsteigen behilflich zu sein. Doch Selina war indes auf der anderen Seite um die Kutsche herumgelaufen und sprang leichtfüßig auf das Gefährt. Harras quittierte es mit einem Achselzucken. Er band die Pferde los und nahm auf dem Kutschbock Platz.

Gemächlich setzte sich der Zweispänner in Bewegung, holperte über die Schlaglöcher die Färbergasse entlang und weiter in die Gerberstraße. Leute sprangen eilig zur Seite, um der Kutsche auszuweichen, nur um dann aus sicherer Entfernung die Hälse vorzustrecken und zu schauen, wer da in diesem noblen Gefährt, auf dem gut erkennbar das Wappen der Familie Emnesthar aufgemalt war, des Weges fuhr.

Selina duckte sich auf der komfortabel gepolterten Rückbank der Kutsche und wich bewusst den Blicken der Gaffer aus. Sie fühlte sich alles andere als wohl in ihrer Haut.

Harras merkte, wie sie unruhig hin und her rutschte. Eigentlich hatte er vorgehabt, den Weg quer durch die Stadt zum Südtor zu nehmen und von dort aus die direkte Straße zum Anwesen der Grafschaft. Doch für gewöhnlich pflegten sich seine Fahrgäste in der Aufmerksamkeit der Leute zu suhlen. Die meisten trugen mit Stolz zur Schau, dass sie in adeligen Kreisen verkehrten. Der Halbelfe jedoch schien es vielmehr unangenehm. Deshalb wendete Harras das Gespann und schlug die Straße nach Norden ein. Das Stadttor war nicht weit entfernt und auch, wenn der Weg um die Außenbefestigung Ametars eine längere Strecke darstellte, so würden sie doch schnell vorankommen.

 

 

Als sie das Nordtor passierten, sank die Sonne soeben zum westlichen Horizont nieder. Die weite Ebene, die sich vor ihnen erstreckte und nur in dunstiger Ferne von einigen niederen Hügeln unterbrochen wurde, glühte in rotem Licht. Das frühe Getreide, das auf den Feldern hoch stand, schien in Flammen aufzugehen. Einige wenige Dunstschleier zogen über den türkisfarbenen Himmel. Sie waren in kräftiges Rosa und dunkles Violett gefärbt. Im Osten blinkte zaghaft ein erster Stern.

Selina sog genießerisch die frische Abendluft ein. Sie war erleichtert, den sensationslüsternen Gaffern entkommen zu sein. Und der Anblick des weiten Landes erfüllte ihr Herz mit Freude. Nach über zwei Wochen hatte sie nun erstmals wieder die engen Straßen Ametars hinter sich gelassen. Ihr war, als wären beklemmende Fesseln von ihr abgefallen.

Harras sah über die Schulter und beobachtete interessiert den Wandel, der sich in der Halbelfe vollzog. Selina duckte sich nicht länger verschreckt auf der Rückbank. Ihre Augen leuchteten vor Lebenslust. Ein vergnügtes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Harras wandte er sich wieder der Straße zu. »Ihr haltet nicht viel davon, im Mittelpunkt zu stehen«, wagte er zu bemerken.

»Meine Angelegenheiten sollen nicht dazu dienen, die Leute zu ergötzen«, erklärte Selina bestimmt.

Der Krieger zog eine Augenbraue hoch. »Ihr wisst, weshalb es die Gesellschaft auf Bankette zieht?«

»Um sich zu amüsieren«, antwortete Selina.

»Das ist zweitrangig«, behauptete Harras und drehte sich zu ihr um. »Das Motto lautet Sehen und Gesehenwerden. Die Damen geben Acht, dass auch jeder ihre neue Garderobe und ihr teuerstes Geschmeide bemerkt, und tragen mit Stolz kunstvolle Frisuren zur Schau. Die Männer prahlen damit, mit welch bezaubernder Gesellschaft sie sich zu umgeben in der Lage sind.« Er grinste schief. ›Nicht zuletzt eine Demonstration ihrer angeblichen Manneskraft, doch in den meisten Fällen eher ein Resultat ihrer dicken Geldbeutel‹, ergänzte er in Gedanken und fuhr dann laut fort: »Es wird Klatsch ausgetauscht und es werden Geschäftspakte geschlossen. Und man gibt sich dem Luxus und der Völlerei hin.« Er hielt einen kurzen Moment schweigend inne und betrachtete die Halbelfe. Dann wandte er sich wieder den Pferden und der Straße zu.

Selina wollte sich eingehender über das Thema unterhalten. Doch es war ihr lästig, jedes Wort gegen den Wind zu schreien. Außerdem bevorzugte sie es, ihrem Gesprächspartner ins Gesicht sehen zu können. Deshalb stand sie kurzerhand auf, raffte ihr Kleid hoch und kletterte auf den Kutschbock neben Harras. Der Krieger warf ihr einen überraschten Blick zu.

»Stört es Euch, wenn ich mich neben Euch setzte?«, fragte Selina hastig, da sie seine Reaktion missverstand.

Harras schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, natürlich nicht! Macht es Euch bequem.«

Abermals hatte er nicht damit gerechnet, wie wörtlich die Halbelfe seine rhetorische Floskel nahm. Mit flinken Bewegungen öffnete sie die Schnallen ihrer Sandalen und schlüpfte aus dem ihre Füße marternden Schuhwerk. Befreit aufatmend reckte sie ihre nackten Zehen in den Wind. Harras unterdrückte ein Grinsen.

»Warum geht Ihr zu dem Bankett?«, fragte Selina direkt. Aus den Erläuterungen des Kriegers hatte sie entnommen, dass er offensichtlich nicht besonders viel von Festivitäten dieser Art hielt. Nun aber wollte sie seine Beweggründe erfahren. Sie erhoffte sich, dadurch nicht zuletzt herauszufinden, was jemand wie sie selbst eigentlich dort verloren hatte.

»Wer hat gesagt, dass ich das tue?«, entgegnete Harras.

Sie sah ihn erstaunt an. »Seid Ihr denn nicht eingeladen? Ist das der Grund, warum Liones mich dort haben will? Weil er sich, Eurer Gesellschaft beraubt, langweilt?«

Harras lachte auf. Er fragte sich, inwieweit die Naivität der jungen Halbelfe möglicherweise nur Fassade war. Ihm war klar, dass sie ihn aushorchen wollte, doch niemand hätte sich derart dabei angestellt.

»Eingeladen?«, rief er. »Nein, ich bin für diesen Abend nicht zum Dienst abkommandiert worden. Ich habe die Pflicht, Euch abzuholen. Versteht mich nicht falsch! Es ist mir keineswegs eine lästige Pflicht. Dennoch ist es eine Weisung meines Herrn. Danach habe ich für den Rest des Abends frei, soweit jemand wie ich jemals von seinen Aufgaben entbunden sein kann. Und ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, mich auf dem Tanzbankett herumzutreiben, obwohl mir als Verpflichteter der Emnesthars der Eintritt gestattet wäre. Auch glaube ich kaum, dass Liones meine Gesellschaft als Ersatz für die Eure akzeptieren würde.«

»Warum?«, fragte Selina, ohne nachzudenken.

Harras überlegte, wie er seine Worte wählen sollte. Er gedachte ihr die Bedeutung ihrer Anwesenheit ein für alle Mal klar zu machen, wollte jedoch nicht zu direkt die Gegebenheiten auszusprechen, da er fürchten musste, dass sein Herr es letztendlich über Selina erfahren würde, wenn er ihn jetzt bloßstellte. Tatsache war, dass Liones die Halbelfe aus eben dem Grund auf dem Bankett haben wollte, den Harras zuvor genannt hatte. Der Grafensohn gedachte mit seiner Begleitung Aufsehen zu erregen. Harras zweifelte mittlerweile nicht mehr daran, dass ihm das mit Leichtigkeit gelingen sollte. Einzig darüber, ob der junge Emnesthar den beabsichtigen Effekt damit erzielen würde, war er sich nicht sicher.

Für einen Moment zog er ernsthaft in Erwägung, doch zu der Festlichkeit zu erscheinen. Selinas naives Wesen konnte in der durch Klischees geprägten Gesellschaft des Adels durchaus für Aufregung sorgen. Der Abend mochte einige amüsante Pannen in sich bergen. Doch welchen Preis würde Selina dafür zahlen müssen? Sie hatte wahrlich ein unschuldiges Wesen – unberührt von Neid und Intrige. Und Harras wusste, dass Liones ihr nach zumindest sexuell gesehen nach der Unschuld trachtete. Seinem Herrn ging es nicht zuletzt darum, Selina als die schöne Ungezähmte zu präsentieren. Sie war nicht adelig. Sie war eine Wilde aus den Bergen. Die mysteriöse Schönheit. Und Liones wollte als derjenige gelten, der diese Wildstute gezähmt und zugeritten hatte.

»Welcher Mann würde nicht lieber mit einer derart bildhübschen Frau wie Euch den Abend verbringen?«, sagte Harras schließlich. »Liones schätzt weibliche Gesellschaft. Er umgibt sich gerne mit schönen Frauen. Er genießt es, sie auszuführen, ihnen den Hof zu machen und sie zu erobern.«

»Man hat mir erzählt, für ihn sei es so etwas wie ein Sport, Frauen zu ...« Selina brach ab und schlug nervös den Blick nieder.

»… verführen?«, ergänzte Harras.

Sie zuckte empfindlich zusammen.

»Ihr braucht keine Angst zu haben«, versuchte er sie zu beruhigen. »Liones wird nichts tun, was Ihr ihm nicht gestattet.« Er ließ mit der linken Hand die Zügel los und umfasste ihren Arm. Selina sah erschrocken auf und er blickte ihr tief in die Augen. Mit eindringlicher Stimme fügte er hinzu: »Egal, welche Gerüchte es auch geben mag! Er wird Euch nicht anrühren, wenn Ihr es nicht wollt. Diesbezüglich verbürge ich mich für ihn.«

Er ließ sie los und eine Weile fuhren sie schweigend weiter.

Selinas Unsicherheit legte sich nicht. Sie vertraute Harras. Trotz seiner dominanten Erscheinung, seinem kräftigen Körperbau und seiner kriegerischen Aufmachung war er ihr sympathisch. Sie zweifelte nicht daran, dass er in der Lage wäre, sie binnen einer Sekunde außer Gefecht zu setzen. Er würde sie töten oder nach Belieben mit ihr verfahren können, wenn er wollte. Doch sie vertraute ihm ... im Gegensatz zu dem Elfen. Inzwischen begriff sie, dass sie sich auf ein Spiel einließ, in dem sie mit dem Trotz eines unbescholtenen Anfängers einem Routinier gegenüberzutreten gedachte.

»Welcher Art ist diese Verpflichtung, die Ihr Liones gegenüber habt?«, fragte sie leise.

Harras ließ die Zügel auf die Rücken der Pferde klatschen, um sie voranzutreiben. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und die Straße verschwamm im Zwielicht zu einem dunklen Streifen im blassen Grün der Felder und Weiden.

»Ich habe der Familie Emnesthar vor vielen Jahren die Treue geschworen«, begann Harras zu erzählen. »Damals war Liones noch ein kleiner Junge und ich war ein einfacher Wächter auf dem Anwesen. Heute bin ich ihm mit Leib und Leben bis in den Tod verpflichtet … freiwillig«, fügte er hinzu, als Selina die Augen aufriss und ihn schockiert ansah. »Niemand hat mich dazu gezwungen. Ich habe diesen Schwur aus freien Stücken und tiefer Überzeugung geleistet. Ich habe geschworen, Liones jederzeit mit meinem Leben zu beschützen. Er nennt mich meist seinen Vertrauten und vermutlich trifft es diese Bezeichnung noch am ehesten. Abgesehen von seiner verstorbenen Mutter, Lady Eliera, hat ihn vermutlich niemals jemand so gut gekannt, wie ich es tue.«

»Das klingt nach vierundzwanzig Stunden Dienst. Und obendrein noch die Verpflichtung, im Ernstfall das eigene Leben aufzugeben! Liones muss Euch wahrlich fürstlich dafür entlohnen«, überlegte Selina.

Harras runzelte die Stirn. Dem Tonfall der Halbelfe konnte er entnehmen, dass sie nicht verstand, weshalb jemand freiwillig einen derartigen Dienst verrichtete. »Ihr hattet erwähnt, Euer Vater sei Widerstandskämpfer im Krieg gewesen.«

Selina nickte bestätigend, wusste aber nicht so recht, was das damit zu tun haben sollte.

»Ich nehme an, dass er ohne die Erwartung von Belohnung mehrfach sein Leben für das Land und seine Überzeugungen aufs Spiel gesetzt hat.«

Sie nickte erneut, obgleich sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, dass es tatsächlich so war. Ihre Mutter hatte selten vom Krieg erzählt. Selina wusste wenig über die Taten ihres Vaters. Er hatte die Streitmacht der Elfen befehligt und die Elfen hatten letztendlich gewonnen. Für ein Kind, das seinen Vater nie gesehen hatte, mochten diese Aussagen genügen, es glauben zu lassen, dass er ein Held gewesen sein musste. Es war einfacher, sich vorzustellen, wie er in glänzender Rüstung auf einem weißen Streitross unter wehenden Bannern saß, umgeben von einem jubelnden Heer, stolz aber selbstlos und gutherzig. Auch wenn Selina klar war, dass die Realität vermutlich ein anderes Bild gezeigt hatte – einen Mann in verwahrloster Kleidung, befleckt vom Blut seiner Opfer und ganz und gar nicht selbstlos, denn er hatte seine Frau und seine Tochter im Stich gelassen – so ließ sie sich doch gerne zu dieser schimmernden Illusion hinreißen.

»Es stimmt schon, dass die Grafschaft mich nicht schlecht für meine Dienste entlohnt. Doch wie Euer Vater einst sein Leben für das Land einsetzte, bin ich bereit, meines für einen Freund zu riskieren. Liones ist in erster Linie mein Freund, er ist nicht einfach nur mein Herr.«

Selina schwieg nachdenklich. Ihr imponierte seine Aufopferungsbereitschaft. Und sie fragte sich, was eine Person empfinden musste, die bereit war, solch ein Risiko für jemanden anderen einzugehen. Sie dachte an Ria und daran, wie sie vor Bruna behauptet hatte, der Verlust des Geldbeutels sei ihre Schuld gewesen. Selina nannte Ria ihre Freundin und es war ihr ungemein selbstlos erschienen, als diese versucht hatte, all die Konsequenzen des Diebstahls auf sich zu nehmen. Doch Harras würde für Liones nicht nur im übertragenen Sinne durchs Feuer gehen. Würde Ria das für sie tun? Würde sie das für Ria tun? Wäre sie bereit, für jemand anderen zu sterben?

»Liones kann sich wahrlich glücklich schätzen, einen Freund wie Euch zu haben.«

Harras antwortete mit einem Lächeln.

Die Kutsche rollte die sich windende Straße einen flachen Hang hinauf. Auf der Kuppe eines Hügels erstreckte sich das Anwesen der Grafenfamilie Emnesthar, umrahmt von einem Buchenwäldchen. Harras lenkte das Gespann durch einen Torbogen in die weitläufige Gartenanlage. Hier führte der Kiesweg, welcher sich wie ein helles Band zwischen gepflegten Rasenflächen hindurchzog, in einem Bogen um einen Brunnen auf das majestätische Hauptgebäude zu. Die marmorne Fassade war mit Reliefs verziert. Blattornamente rankten sich Pilastersäulen empor. Kleine Türme erhoben sich spitz in den Himmel. Durch die hohen Fenster fiel das Licht in bunten Farben.

Selina blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Niemals zuvor hatte sie ein von Elfen errichtetes Bauwerk gesehen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass dieses Schloss von einem anderen Gebäude im Land übertrumpft werden konnte. Selbst der Palast Ametars wirkte hiergegen derb und plump.

Links, in respektvollem Abstand zum Haupthaus, befanden sich diverse Wirtschaftsgebäude und zur Rechten hatte man abseits gelegen die Stallungen errichtet.

Harras manövrierte den Zweispänner an einigen anderen Kutschen vorbei, die auf dem Kiesweg standen. Selina beobachtete, wie Leute in prächtigen Gewändern ausstiegen und auf ein Eingangstor an der Flanke des Gebäudes zugingen. Stimmengewirr drang leise zu ihr herüber. Doch Harras kümmerte sich nicht darum, sondern fuhr weiter.

Er hielt das Gespann direkt vor einer breiten Marmortreppe, die zu dem zentralen Eingang des Schlosses, einem hohen Flügeltor, führte.

»Ihr solltet Eure Schuhe wieder anziehen«, meinte er. »Wir sind da.«

Selina griff nach den Sandalen. »Wieso bleiben wir hier stehen und nicht dort, wo all die anderen hineingehen?«

»Die persönlichen Gäste der Grafenfamilie haben ihren eigenen Eingang«, erklärte Harras und sprang vom Kutschbock. »Betrachtet es als besondere Ehrerbietung.«

Selina zog die Schuhe an, raffte ihr Kleid hoch und stieg ab.

»Gestattet!« Harras bot ihr den Arm an. Als sie nicht reagierte, sagte er: »Nur der Form halber, damit man nicht denkt, man habe vergessen, mir Manieren beizubringen.«

Sie lächelte und hängte sich artig bei ihm ein.

Harras führte sie die Treppe empor, stemmte einen Flügel des Eingangsportals auf und geleitete sie ins Innere des Schlosses.

Sie betraten eine hohe Halle.

Selina sah sich nervös um. Zu ihrer Überraschung waren sie vollkommen allein. Erleichtert atmete sie aus. Als Harras von besonderer Ehrerbietung gesprochen hatte, war die unangenehme Vorstellung eines eigenen Empfangskomitees in ihr hochgestiegen. Nun stellte sie beruhigt fest, dass ihre Ankunft anscheinend unbemerkt geblieben war.

»Ich möchte Euch bitten, hier zu warten«, sagte Harras.

Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. »Was ist mit Euch?«

»Ich werde Irisera und Ranora versorgen. Keine Angst, ich werde nicht weit weg sein, solltet ihr mich brauchen.« Er deutete eine Verbeugung an. »Ich wünsche Euch einen unterhaltsamen Abend, Selina. Es war mir eine Ehre!« Dann drehte er sich um und ging.

Die Eingangstüre fiel ins Schloss.

Selina hatte das Gefühl, als hätte man eine Verliestür hinter ihr zugeschlagen.

 

 

Harras lief die Treppe hinunter und trat zu der Kutsche. Er ergriff Irisera und Ranora am Zaumzeug, um sie den Kiesweg entlang zur Wagenremise und den Stallungen zu führen. Doch dann hielt er inne und blickte hinauf zum Eingangsportal. Seine Gedanken wanderten zu Selina.

»Welch eine Verschwendung«, flüsterte er und stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann ging er voran. Die beiden Stuten folgten gehorsam.

Blickfang

 

Selina sah sich unsicher um.

Sie stand inmitten einer riesigen Empfangshalle. Gewundene Säulen stützten die Decke. Durch hohe Buntglasfenster fiel diffuses Licht und verlieh den Gemäuern etwas Irreales. Vor ihr führte eine breite Treppe in den Halbstock und von dort im rechten Winkel hinauf ins Obergeschoss, wo sie ihrem Blick entschwand. Ein purpurner Teppich lief die polierten Stufen hinab, um direkt vor Selina zu enden. Doch sie wagte es nicht, einen Fuß auf das zweifellos kostbare Gewebe zu setzen. Nein, viel lieber hätte sie kehrtgemacht und wäre nach draußen gelaufen. Noch hatte niemand sie bemerkt und Harras war mit den Pferden beschäftigt. Noch konnte sie sich fortschleichen und zurücklaufen zum Gasthof.

»Was habe ich mir dabei gedacht?«

Sie legte den Kopf in den Nacken. Über ihr spannte sich ein hohes Deckengewölbe, mit Malereien überzogen. Hier öffnete sich das Bild einer Kuppel in die blauen Gefilde des Himmels, umringt von tanzenden Feen. Dort umrankte ein Gespinst farbenprächtiger Blüten die optische Illusion einer Balustrade. Und zwischen all dem hing ein kristallener Kronleuchter mit unzähligen Kerzen tief von der Decke herab.

Selina hatte das Gefühl, unter dem Prunk erdrückt zu werden. Sie fühlte sich winzigklein, hilflos und unbedeutend.

So fand Liones sie, als er die Treppe hinab schritt.

Er verweilte im Halbstock, nur um sie zu betrachten. Ihr langes, glattes Haar war von silbernen Perlenschnüren durchzogen und floss wie ein Wasserfall aus dunkler Seide über ihre Schultern. Ihre schlanke Gestalt war in schimmerndes Eisblau gekleidet – feines, durchbrochenes Gewebe, das ihren zarten Körper gleichsam einer vagen Ahnung an mancher Stelle hindurchschimmern ließ. Liones beglückwünschte sich im Stillen zu seiner Wahl. Heute Abend würden die Gäste ihn um seine zauberhafte Begleitung beneiden.

Selina löste ihren Blick von dem Kronleuchter und ließ ihn das verschnörkelte Stiegengeländer entlang wandern, bis er an dem jungen Elfenmann haften blieb, der dort am Absatz der Treppe stand und sie betrachtete. Sein gepflegtes, halblanges Haar hing ihm offen über die Schultern. Er trug ein Hemd aus schwarzem Seidensatin, nur in Höhe der Taille mit einer Reihe Knöpfe geschlossen, wodurch es einen freizügigen Blick auf seine Brust und nackte Haut gewährte. Unterhalb blinkte die Schnalle eines breiten, reich mit Silber verzierten Gürtels. Und an seiner Hüfte hing ein schmales Zierschwert, welches mit dunklen Rubinen besetzt war. Seine Hose war ebenfalls aus nachtschwarzer Seide und perfekt an seine schlanke Figur geschneidert. Hätte Selina es nicht besser gewusst, hätte sie gemutmaßt, der Schneider wäre aus Kostengründen gezwungen gewesen, keinen Zentimeter des wertvollen Materials zu vergeuden. Doch sie musste gestehen, dass der weich fließende Stoff seine Gestalt bestens zur Geltung brachte.

›Vielleicht ein wenig zu gut!‹, schoss es ihr durch den Kopf, als Liones die Treppe hinab kam und auf sie zu trat. Für einen Moment fühlte sie sich, als wäre sie in eines dieser kitschigen Märchen versetzt, das man Kindern erzählte. Sie war die Magd, die für die Flüchtigkeit eines Traumes Prinzessin sein durfte. Der Moment hatte etwas Magisches.

Selina wich verlegen einen Schritt zurück. Sie konnte förmlich spüren, dass ihr die Röte heiß in die Wangen stieg, als sie sich bewusst wurde, wie sie den Elfen die ganze Zeit über anstarrte. Die Warnungen ihrer Freundin drängten sich in ihre Gedanken. Natürlich trug er ein Gewand aus schwarzer Seide. Ria hatte es gewusst.

Nein, Selina würde sich nicht von ihm umgarnen lassen. Sie war hier, um ihm auf einem Tanzbankett Gesellschaft zu leisten, mehr nicht. Sie würde sich nicht in die Liste seiner Geliebten für eine Nacht einreihen. An ihr würde er sich die Zähne ausbeißen!

Liones verbeugte sich tief. »Mylady! Neben Eurer Schönheit verblassen selbst die Sterne! Erlaubt mir die Bemerkung: Ihr seid bei Weitem die bezauberndste Elfe, die ich jemals diese Treppe emporgeführt habe!«

Er bot ihr den Arm an. Doch Selina schlug den Blick nieder und wandte sich von ihm ab.

»Wie vielen vor mir habt Ihr mit genau diesen Worten den Hof gemacht?«, fragte sie.

Er lächelte und berührte sie leicht am Kinn, damit sie ihm wieder den Kopf zuwandte. Ihre dunklen Augen blickten anklagend zu ihm auf, doch er stellte sich ihnen ohne Scheu. »Vielen! Das muss ich wohl eingestehen! Doch diesmal entspricht es zum ersten Mal der vollen Wahrheit!« Selina sah nervös zur Seite und Liones wusste, dass dieser Punkt an ihn ging.

»Darf ich bitten«, forderte er sie mit einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen auf und bot ihr erneut den Arm an.

Selina zögerte. Doch dann entschied sie, dass der Elf nicht so einfach wie Harras davon zu überzeugen sein würde, ihr gegenüber diesen förmlichen Umgang zu unterlassen und ihr auf eine ungezwungenere Art zu begegnen. Er würde darauf bestehen, dass sie dieses Spiel mitspielte. Andererseits, so überlegte sie, war es ihr eigentlich nur recht, diese gewisse Distanz der Höflichkeit zwischen ihnen zu wahren. So hängte sie sich bei ihm ein und ließ sich die Treppe hoch führen.

Stimmengewirr wurde laut, als sie das obere Stockwerk betraten. Elfen und auch viele Menschen tummelten sich hier in den Gängen. Überschwängliche Begrüßungen wurden gerufen, Küsschen ausgetauscht und man unterhielt sich schwatzend.

Liones geleitete Selina einen breiten Korridor entlang. Abermals konnte die Halbelfe die Blicke fühlen, die an ihr hafteten wie Kletten. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie sich Leute umdrehten, um den jungen Grafensohn und seine Begleiterin zu mustern. Einige Frauen steckten tuschelnd die Köpfe zusammen.

Selina war so nervös, dass sich ihre Finger krampfhaft in Liones’ Arm krallten. Das Lächeln auf ihren Lippen gefror zur Grimasse.

Liones, dem nicht entging, dass sie sich nicht wohl in ihrer Haut fühlte, bemühte sich darum, ein Gespräch in Gang zu bringen. »Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Fahrt«, begann er rhetorisch.

»Ja, danke«, erwiderte Selina knapp.

»Verzeiht, dass es mir nicht möglich war, Euch persönlich abzuholen, und ihr mit Harras vorliebnehmen musstet.«

»Eure Entschuldigung ist unnötig. Im Gegenteil! Muss ich mich doch dafür bedanken, abgeholt worden zu sein«, erklärte sie halbherzig.

»Das war doch das Mindeste, was Euch zustand«, entgegnete er, wollte aber eigentlich sagen, dass es eine Selbstverständlichkeit war, die keiner Erwähnung bedurfte. Anderenfalls wäre sie nicht hier, denn an einen Fußmarsch dachte er erst gar nicht. Der Weg war entschieden zu weit und die Vorstellung einer jungen Dame, die in einem Abendkleid durch enge Gassen und über Feldwege lief, schier absurd.

Liones konnte regelrecht spüren, dass das Schweigen erneut wie eine Mauer zwischen sie beide fiel – eine unsichtbare Barriere, die sie auf Distanz hielt. Er wusste nichts von Selinas Abneigung gegenüber den neugierigen Blicken der Leute. Er nahm an – und das nicht ganz zu unrecht – dass die junge Elfenfrau aus einem ihm unbekannten Grund Angst vor ihm hatte. Wie bei ihrem letzten Zusammentreffen brachte sie ihm ein gewisses Maß an Misstrauen entgegen. Er nahm sich vor, alles zu tun, um erneut das Eis zu brechen – und dieses Mal sollte es endgültig sein. Er wusste, dass die offenherzige Elfe, die er vor noch nicht einmal einer Woche auf der Seidenmeile zum ersten Mal getroffen hatte, irgendwo hinter dem dicken Schutzpanzer steckte, den Selina um sich errichtet hatte. Sie war nicht wie die anderen Frauen, mit denen er sich normalerweise zu umgeben pflegte. Und gerade das gefiel ihm an ihr. Sie war nicht mit Reichtum und Einfluss zu beeindrucken. Sie stellte eine gewisse Herausforderung für ihn dar.

»Ihr müsst durstig sein!«, meinte er, als er einen Bediensteten bemerkte, der den Gang entlang auf sie zukam und ein Tablett mit Getränken trug. Er wartete Selinas Antwort nicht ab, sondern winkte den Diener mit einer knappen Handbewegung zu sich heran. Vorsichtig nahm er zwei der gefüllten Kristallgläser und reichte eines davon an seine Begleiterin weiter. Er überlegte sich einen eindrucksvollen Trinkspruch. Jedoch kam er nicht dazu, ihn zum Besten zu geben.

Denn Selina war tatsächlich durstig – sehr durstig sogar. Die lange Kutschenfahrt durch die frische Abendluft hatte ihre Kehle regelrecht ausgedörrt. Liones sah verstört zu, wie sie mit beiden Händen nach dem Glas griff, es an die Lippen führte und in einem Zug leerte. Mit einem befreiten Aufatmen wischte sie sich mit dem Handrücken den Mund trocken.

»Danke. Schmeckt schön erfrischend«, sagte sie schließlich. »Was ist das für ein Zeug?«

Liones musste seine Verwirrung unter Kontrolle bekommen, die bedenklich an Entrüstung grenzte, bevor er antworten konnte. »Dieses Zeug heißt Champagner. Der hier«, er tippte mit dem Zeigefinger gegen sein Glas, was ein leises Klingen verursachte, »ist vermutlich die teuerste Sorte, die in der Region von Ametar gehandelt wird.«

Selina starrte voll Unbehagen zuerst ihr leeres Glas und dann den Elfen an. »Entschuldigung ...«, begann sie.

Doch Liones schnitt ihr mit einer abwehrenden Geste das Wort ab. »Das ist schon in Ordnung. Es braucht Euch nicht unangenehm zu sein. Im Grunde ist es doch nur vergorener Traubensaft: Und wenn er nicht zum Trinken gemacht wurde, wozu dann?«

Während er selbst einen tiefen Schluck nahm, beschlich ihn das Gefühl, dass ihm jetzt etwas Stärkeres angebrachter erschien. Hätte man ihm in diesem Moment ein Glas Whisky in die Hand gedrückt, er hätte es ebenso ungeniert geleert, wie Selina soeben mit dem Champagner verfahren war. Eine beunruhigende Ahnung drängte sich ihm auf, dass es möglicherweise doch nicht so eine brillante Idee gewesen war, eine einfache Dienstmagd auf ein derart wichtiges gesellschaftliches Ereignis zu laden.

Er nahm ihr das Glas ab und überlegte kurz, ob er es gegen ein volles austauschen sollte. Doch dann beschloss er, es für den Anfang dabei zu belassen. Er wusste nicht, wie trinkfest die junge Elfe war, und wollte sich noch länger an ihrer Gesellschaft erfreuen. Außerdem, was würde man wohl von ihnen halten, wenn sie schon vor der Eröffnung der Festlichkeiten den Alkohol so unbedacht in sich hineinkippten? Er stellte das leere Glas auf einem der kleinen Tischchen ab, die hier alle paar Meter an der Wand aufgestellt waren.

Schweigend gingen sie weiter.

Selina überlegte fieberhaft, wie sie sich für die peinliche Situation eben entschuldigen konnte. Liones sollte keineswegs von ihr denken, dass sie eine gierige Schlampe sei, die sich nicht zu beherrschen vermochte.

Da blieb ihr Blick an etwas hängen, das ihr ungewohnt vertraut vorkam – etwas, das nicht in diese Umgebung passte.

Weiter vorn unterhielt sich eine kleine Gruppe Leute. Selinas Aufmerksamkeit galt jedoch einzig einer jungen Menschenfrau, die mit dem Rücken zu ihr stand und an einem Glas Champagner nippte. Es war Adorata, das Schankmädchen aus der Singenden Maid.

Natürlich! Selina hatte völlig vergessen, dass sie auch hierher kommen wollte ... mit diesem Irving. Das musste der junge Mann neben ihr sein, zu dem sie sich so betont hindrückte. Adorata trug ein bodenlanges Kleid in auffälligem Rot, das auf dem Rücken etwas weiter ausgeschnitten war, als es sich wohl ziemen würde. Und sie hatte schwarze Handschuhe an, die ihr bis über die Ellenbogen reichten. Selina quittierte es mit einem schadenfrohen Grinsen. Die Spuren von Adoratas unrühmlicher Kollision mit der Suppe waren unter dem Stoff, der sie so dezent verdeckte, immer noch gut sichtbar und ein unschöner Anblick, auch wenn die Brandwunden gut verheilten und sicher in ein paar Wochen gänzlich verschwunden sein würden.

Selina überlegte, ob sie schnell an der Gesellschaft vorbeihuschen sollte, ungesehen und unbeachtet von dem Schankmädchen. Doch dann besann sie sich eines Besseren.

Sie zog ein wenig an Liones’ Arm, weil sie so nahe wie möglich an ihrer Kollegin vorbeigehen wollte. Und als sie direkt hinter ihrem Rücken war, rief sie so laut, dass die Menschenfrau sie unmöglich ignorieren konnte: »Hallo Adorata! Schön dich zu sehen!«

Die Angesprochene fuhr aufgeschreckt herum. Und im nächsten Moment hätte sie ihre eigenen Augen am liebsten der Lüge beschuldigt. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Die Elfe in dem teuren Seidenkleid da vor ihr war zweifelsohne Selina, das ungeschickte Dienstmädchen. Und sie ging Arm in Arm mit dem jungen Emnesthar, einem reinblütigen Grafen. Adorata fiel das Glas aus der Hand und zersprang am Boden in tausend feine Splitter. Champagner spritzte auf. Doch sie schien es gar nicht zu bemerken, starrte nur unverwandt die Halbelfe an.

»Du ...?«, entfuhr es ihr.

 

 

Selina grinste breit über das offene Entsetzen in den Augen des Schankmädchens. Adorata hatte seit Tagen großen Wert darauf gelegt, jeden davon in Kenntnis zu setzen, dass sie auf dieses noble Bankett geladen war, und das noch dazu von einem reichen Kaufmannssohn. Und nun stahl ihr Selina, ein Mädchen aus einem heruntergekommenen Bauerndorf, das zwischen Schafen und Hühnern aufgewachsen war, die Schau.

Liones, der begriff, weshalb die junge Menschenfrau dermaßen schockiert war, beschloss, Selinas Triumph noch eines draufzusetzen. Er hoffte, dass seine Begleiterin seine Absichten durchschaute und er sie nicht verschreckte, als er den Arm um ihre Taille legte. Er konnte fühlen, wie sich die Elfe kurz verkrampfte, doch dann ließ sie ihn widerstandslos gewähren. Er zog sie eng an sich heran und sie schmiegte sich an seinen Körper. An die Menschenfrau gewandt sagte er: »Seid gegrüßt! Seid Ihr nicht das Barmädchen aus der Singenden Maid

Adorata stand immer noch da, den Mund offen, und gaffte die beiden Elfen an.

Als sie ihm nicht antwortete, neigte Liones knapp den Kopf zum Gruß. »Ich wünsche noch einen unterhaltsamen Abend!« Dann wandte er sich Selina zu, umfasste sie etwas fester und flüsterte, wobei er darauf achtete, dass die Menschenfrau ihn sehr wohl hören konnte: »Komm, meine Liebe.« Er zog die Elfe sanft mit sich.

Selina nickte dem Schankmädchen zu. »Bis später!«, rief sie.

Adorata war unfähig, zu antworten.

Als sie außer Sicht waren, ließ Liones seine Begleiterin los und entfernte sich bewusst einen Schritt von ihr. »Das war ein gelungener Auftritt! An diesen Abend wird sie sich noch oft erinnern!«

Selina sah ihn überrascht an. Wie konnte er über den Verlauf des Zusammentreffens derart amüsiert sein? »Und sie hat eines dieser kostbaren Gläser zertrümmert«, wagte sie vorsichtig zu bemerken. Sie fand, dass der Vorfall für den Grafensohn eigentlich ein Desaster sein musste.

Doch Liones zuckte nur die Schultern. »Und es wird nicht das Einzige an diesem Abend bleiben. Vermutlich pflegt die Glasbläserzunft unsere Festbankette mittlerweile im Kalender zu notieren. Unser Bedarf an Gläsern steigt nach solch einem Abend immer rapide an. Nun, vielleicht sollten wir auf etwas Robusteres umsteigen. Doch ich finde, Metall verdirbt den Geschmack und Holz ist ein wenig zu derb. Und Tonkrüge können seit neuesten Erkenntnissen als Waffe missbraucht werden.« Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu und ein breites Grinsen erschien auf seinen Lippen.

Selina bemerkte die Anspielung, wusste jedoch nicht, wie sie damit umgehen sollte. Noch hatte sie die Auseinandersetzung mit Baldo nicht ausreichend verkraftet, um darüber lachen zu können.

»Ich hoffe, Ihr verzeiht mir meine Unverfrorenheit, mit der ich Euch eben behandelt habe. Es lag nicht in meiner Absicht, die Situation auszunutzen, wenn Ihr das denkt.«

Sie musterte den jungen Grafensohn abschätzend. »War es Euch denn unangenehm?«

Liones zögerte. Ihm wäre körperlicher Kontakt mit dieser attraktiven Elfe in keiner Weise, die ihm in diesem Moment in den Sinn kam, unangenehm. Doch wenn er wirklich beabsichtigte, das Misstrauen zu zerstreuen, das Selina ihn entgegenbrachte, verhielt er sich keineswegs angemessen.

»Es war mir ein Vergnügen, mit diesem kleinen Akt der Schauspielerei Eurer offensichtlichen Kontrahentin eines auszuwischen. Doch mir war nicht in ausreichendem Maße bewusst, dass Ihr mein Handeln durchaus auch anders auslegen könntet. Und diese Erkenntnis nun ist mir doch überaus unangenehm.«

»Wenn ich es nicht gestattet hätte, hättet Ihr es früh genug bemerkt«, behauptete Selina kühl. »Es bedarf hierzu nicht immer eines Tonkruges, um seinen Standpunkt darzulegen.«

Liones verstand die Drohung. Die Elfe meinte es nur allzu ernst. Er respektierte sie durchaus. Doch er wollte die Spannungen zwischen ihnen nicht unnötig aufbauen. Ihr Verhältnis zueinander näherte sich einem Level, bei dem selbst die Luft zu gefrieren drohte.

Deshalb setzte er eine vergnügte Miene auf und meinte: »Ich sehe schon, vor Euch muss sich das männliche Geschlecht wahrlich in acht nehmen.«

Selina überlegte, was er damit sagen wollte. Traute er ihr etwa nicht zu, dass sie sich gegen ihn erwehren könnte? Es war nicht, dass sie glaubte, er könnte ihr mit roher Gewalt begegnen, wie Baldo es getan hatte. Dennoch fragte sie sich, ob sie ihm gewachsen wäre, würde er zudringlich werden. Dann wäre kein Harras da, um sie zu beschützen.

Ein heller Glockenton erfüllte die Gänge und nahm der Halbelfe die Möglichkeit, sich ausführlicher mit diesem beunruhigenden Gedanken auseinanderzusetzen.

»Oh!« Liones sah auf. »Das ist das Signal zur Eröffnung! Kommt! Unsere Anwesenheit wird im Festsaal erwünscht.«

 

 

Liones führte Selina in einen weitläufigen Saal, der in hellem Licht erstrahlte. Hunderte kleine Flämmchen brannten auf ausladenden Kronleuchtern und auf Kerzenhaltern an den Wänden. Trotzdem war die Luft nicht stickig. Selina sah fasziniert hoch zur Decke.

»Wie ...«, begann sie und ließ ihren Blick über die pompöse Beleuchtung schweifen. »Wie macht Ihr das? Wenn die Kerzen ausgehen, muss jemand doch immer wieder da hinaufsteigen und neue anzünden.«

Die Verwirrung auf Liones’ Gesicht war echt, als er fragte: »Kerzen?«

Sie zeigte hoch zu den Lichtern.

Der Elf schüttelte den Kopf. »Aber das ist natürlich kein echtes Feuer!«

Selina sah ihn verständnislos an. »Echtes Feuer?«, echote sie.

»Magisches Licht!« Liones sah sie an, in der Erwartung, dass diese beiden Worte genügten, um alles zu erklären. Es war der einfachste Zauber, den er kannte, und er konnte sich nicht vorstellen, dass es Elfen gab, die ihn nicht beherrschten.

»Magie?« Selina riss erstaunt die Augen auf. Sie hatte schon des Öfteren gehört, dass reinblütige Elfen zaubern konnten. Doch hatte sie bislang kaum Kontakt mit ihren feenhaften Verwandten gehabt und Magie war für sie nicht mehr als ein Gerücht. Ihr selbst blieb diese Fähigkeit aufgrund dessen, da sie nur ein Halbblut war, verwehrt. Um Zauber zu wirken, müsste sie diese ebenso mühsam wie die Menschen in langjährigen Studien erlernen. Sie konnte nicht einfach mit den Fingern schnippen, um einen Ballsaal zu erleuchten.

»Nein, keine alles versengenden Feuerbälle«, warf Liones ein, der ihre Verwirrung falsch deutete. »Ich meine die einfache Erschaffung von Illusionen.«

Er legte seine Hände übereinander, wölbte sie, als hielte er etwas zwischen ihnen verborgen und öffnete sie schließlich. Eine kleine Kreatur rekelte sich auf seinen Handflächen. Sie blickte sich aus großen Augen um und lüftete zwei einem Schmetterling ähnliche Flügel.

Selina stieß einen Ausruf der Entzückung aus und streckte ihre Finger nach dem kleinen Drachen aus, der sich schillernd vor ihr in die Luft erhob. Beinahe gelang es ihr, ihn zu berühren. Da löste sich das Geschöpf vor ihren Augen auf. Es verschwand einfach.

»Wie gesagt, nur Illusion«, beantwortete Liones den enttäuschten Blick der Elfe.

 

 

 

 

Tanzunterricht und Berührungsängste

 

Der Festsaal füllte sich nach und nach mit Leuten. Gäste strömten aus allen Richtungen durch die zahlreichen Türen. Selina sah sich aufmerksam um, betrachtete die vornehme Gesellschaft, die sich scharte, mit einem gewissen Maß an Ehrfurcht. Auch wenn sie selbst herausgeputzt war, als wäre sie eine Elfenprinzessin, so fühlte sie sich hier doch nicht zugehörig. Sie war eine Dienstmagd, gerade gut genug, um dem Geringsten dieser Herrschaften die Schuhe zu putzen. Gut, Adorata konnte sie von dieser Gleichung getrost ausnehmen. Und obwohl oder gerade weil sie dicht an Liones’ Seite stand, fühlte sie sich unendlich einsam.

Der vorderste Teil des Saals war erhöht und nur über zwei Treppen an den Seiten zugänglich. Selina bemerkte, dass sich die Leute nun vor diesem Balkon in einem Halbkreis aufstellten, gerade so, als würde eine unsichtbare Barriere sie zurückzuhalten. Sie selbst stand genau am gegenüberliegenden Ende des Raums nahe einer Tür. Von hier konnte sie das Geschehen bestens überblicken.

Zwei edel gekleidete Elfen betraten nun den Balkon – ein Mann und eine Frau. Der Mann hob in einer gebieterischen Geste die Arme und das Gemurmel der Leute erstarb.

»Meine lieben Gäste!«, begann er mit kräftiger Stimme. »Ich heiße Euch in meinem Hause herzlich willkommen!«

Selina warf einen raschen Seitenblick auf Liones, der neben ihr stand und die Eröffnungsrede aufmerksam verfolgte. »Ist das ...?«, flüsterte sie.

»Mein Vater. Ja.« Er nickte ihr lächelnd zu. »Das ist Leothan Emnesthar.« Sein Lächeln erstarb. »Die Frau neben ihm ist Arita, seine Gemahlin.«

»Eure Mutter?«

Liones schüttelte den Kopf.

»Aber ...«

»Nicht jetzt«, zischte er. »Ich erkläre es Euch später.«

In der Zwischenzeit war der Graf mit seiner Rede fortgefahren. Er zählte einige Ehrengäste auf und machte den einen und anderen Schlenker in den Themenbereich der Geschäftswelt.

»Doch es ist mir natürlich ein oberstes Anliegen, dass Ihr Euch amüsiert. Nur keine Hemmungen! Ein ganzes Zwergenheer würde es nicht schaffen, meinen Weinkeller trockenzulegen.«

Die Gäste lachten – wohl mehr aus Höflichkeit, mutmaßte Selina.

»Nun«, rief Leothan, »will ich Euch, meine lieben Gäste, nicht länger mit meinen Reden langweilen. Gemäß der Tradition des Hauses Emnesthar werden meine beiden Söhne dieses Bankett eröffnen. Bitte!« Er machte eine einladende Geste über die Leute hinweg zum anderen Ende des Saals. Die Menge teilte sich und es bildete sich ein Gang zwischen ihren Reihen, der zu Selinas großem Unbehagen in ihrer unmittelbaren Nähe endete.

»Darf ich bitten?« Liones verbeugte sich vor ihr und wollte ihre Hand nehmen.

»Was?!«, entfuhr es Selina etwas lauter als beabsichtigt. Sie machte vor Schreck einen Satz rückwärts.

»Gestattet mir die Ehre, Euch zu diesen ersten Tanz zu führen«, bat der Elf. Sein Blick zeigte deutlich, dass er auf Ablehnung nicht gefasst gewesen war. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, mit seiner Begleiterin das Bankett zu eröffnen. Mit wem sonst?

Selina hatte das Gefühl, als hätte man den Boden unter ihren Füßen fortgezogen. »Aber ...«, begann sie. Ihre Stimme zitterte. »Aber ich kann doch gar nicht tanzen!«

»Unsinn!« Liones ergriff sie am Arm und zog sie zu sich heran. »Ich habe noch keine Elfe gesehen, die nicht tanzen konnte.«

›Aber ich bin doch keine Elfe!‹, wollte Selina ausrufen. Sie wollte sich umdrehen und aus dem Saal laufen. Doch Liones’ Griff war erbarmungslos, wenn auch nicht grob. Sein Blick war durchdringend.

»Vertraut mir. Bitte, Selina«, flüsterte er.

Es war etwas in seinen meerblauen Augen, das sie tief in ihrem Inneren berührte. Aus einem unbestimmten Grund konnte sie sich ihm nicht widersetzen.

›Wenn Ria mich jetzt sehen würde!‹, schoss es ihr durch den Kopf, als er sie auf die Gasse zwischen den Leuten zuführte.

Ein Paar löste sich aus der Menge und trat auf sie zu. Es waren Elfen. Die Frau war zierlich, wirkte beinahe zerbrechlich in ihrem wallenden Kleid. Der Mann an ihrer Seite hingegen war für elfische Maßstäbe überaus kräftig gebaut. Er strahlte eine Selbstsicherheit aus, die Selina einschüchterte.

Liones nickte dem Paar zu.

»Nach dir, Bruderherz«, sagte der Elfenmann und machte eine undeutliche Kopfbewegung zum anderen Ende des Saals.

»Eine der wenigen Gelegenheiten, bei der du mir den Vortritt lässt, wie?«, zischte Liones zurück.

»Bilde dir nur nichts darauf ein.«

Selina ließ sich widerstrebend von Liones durch die Menge führen, auf den großen freien Platz vor dem Balkon zu. Das andere Paar folgte ihnen.

Selina konnte die Blicke der Leute eindringlicher denn je auf sich spüren. Sie schienen sie regelrecht zu durchbohren – aufzuspießen und hinzurichten. Ängstlich sah sie zu der Grafschaft auf dem Balkon. Auch deren Augen schienen einzig auf sie gerichtet.

Liones verbeugte sich tief vor seinen Eltern, während Selina stocksteif neben ihm stehen blieb. »Macht einen Knicks!«, zischte er.

»Wie?« Selina zog hilflos die Schultern hoch. »Ich weiß nicht mal, wie das aussehen soll.«

Liones überlegte kurz. »Macht so etwas wie einen eleganten Kniefall, nur ohne Euch irgendwo abzustützen. Und wenn möglich, ohne das Kleid zu zerreißen.«

Selina ließ sich etwas ungeschickt auf ihr rechtes Knie nieder und senkte den Kopf.

Der Klang einer Fanfare zerriss die Stille. Selina schrak sichtlich zusammen und duckte sich noch etwas weiter. Hätte der Boden sich in dem Moment aufgetan und sie verschluckt, es wäre ihr nur recht gewesen.

»Steht auf.« Liones zog leicht an ihrer Hand, die er die ganze Zeit über festgehalten hatte. Sie erhob sich wankend. Er trat vor sie hin, legte seinen rechten Arm um sie und nahm Tanzhaltung an.

»Wie könnt Ihr mir das antun?«, jammerte Selina.

»Ich hätte Euch nicht ausgewählt, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass Ihr Euch nicht blamieren werdet«, behauptete er und zog sie näher zu sich heran.

Selina versteifte sich sofort. Er war ihr jetzt so nah, dass sein Körper den ihren zu berühren drohte. Und sie konnte seinen Geruch und die Wärme seiner Haut wahrnehmen. Beunruhigt blickte sie zu ihm auf. Ihr Herz schlug hart gegen ihren Brustkorb. Oh, hätte sie nur auf Ria gehört!

»Es ist wirklich ganz einfach«, meinte Liones. »Doch Ihr müsst mir vertrauen. Gebt Euch vollkommen der Musik hin und kämpft nicht gegen mich an. Es gibt jetzt nur Euch, die Musik und mich. Nichts anderes ist von Bedeutung.«

Er wusste nur zu gut, dass zumindest einer dieser Punkte seiner Begleiterin erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Sie würde sich vielleicht der Musik hingeben, doch nicht ihm selbst. Sie konnte ihm das nötige Vertrauen nicht entgegenbringen, um sich bedenkenlos von ihm führen zu lassen.

Der Klang einer Flöte durchzog leicht und lieblich die Luft. Er wurde abgelöst von den weichen Tönen mehrerer Geigen. Blasinstrumente gesellten sich hinzu.

Liones wartete ab. Er warf einen fragenden Blick zu dem Elfenpaar, das in einigem Abstand zu ihnen Stellung bezogen hatte. Und dann, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, zog er seine Tanzpartnerin in einer weit ausholenden Kreisbewegung mit sich.

Selina stolperte abwechselnd über seine und ihre eigenen Füße hinterher. Sie war verängstigt, verkrampft und unfähig, auf seine Bewegungen einzugehen.

Liones wurde schmerzhaft klar, dass sie sich einem Desaster näherten. Er musste sich schleunigst etwas einfallen lassen, damit sie sich nicht tatsächlich blamierten.

»Seid Ihr schon einmal geritten?«, flüsterte er. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendeinen Elfen gab, der noch nie geritten war, doch bei Selina war alles möglich.

Sie nickte. »Ein Mal ... auf einem Esel.«

›Na immerhin‹, überlegte er. »Dann wisst ihr auch, dass es äußerst unkomfortabel ist, wenn man nicht auf die Bewegungen des Tieres eingeht. Und genauso ist es beim Tanzen. Im Moment müssen wir ein Bild abgeben wie zwei Freistilringer. Seht den Tanz als ein Spiel, ein Spiel, das wir nur gemeinsam spielen können. Wenn es Euch so schwerfällt, Euch mir gegenüber zu öffnen, dann schließt die Augen und vergesst, wer ich bin, zumindest für diesen Moment. Ich werde Euch nichts tun.«

Selina war sich da nicht so sicher. Die Warnungen von Ria und die Worte von Harras überschlugen sich in ihrem Kopf. ›Für ihn bist du doch nur Freiwild! – Er wird Euch nicht anrühren, wenn Ihr es ihm nicht gestattet. – Die Männer pflegen am nächsten Tag unerträgliche Kopfschmerzen zu haben und so manche Frau ein gebrochenes Herz.‹

Selina stolperte abermals und wäre beinahe gestürzt. Liones fing sie behutsam auf.

Sie blickte verschreckt zu ihm hoch. Seine meerblauen Augen ruhten auf ihr. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war offen und freundlich. Er hielt sie sanft aber bestimmt fest, ließ ihr jedoch genügend Freiraum, dass sie sich nicht eingeengt fühlte. Nein, er gab ihr nicht das Gefühl, dass sie seine Beute war.

 

 

›Ich habe bis jetzt nie auf Gerüchte gehört. Warum will ich nun unbedingt damit anfangen?‹

Entschlossen nickte sie dem Elfen zu. Liones merkte, wie sie sich unter seinem Griff entspannte. Erneut zog er sie mit sich.

Selina schloss die Augen und lauschte der Musik. Sie konnte fühlen, wie die Klänge sie zu durchdringen begannen. Es forderte ihren ganzen Mut, die Schutzbarriere aufzugeben, die sie um ihr Innerstes aufgebaut hatte. Sie versuchte Liones nicht länger als potenzielle Bedrohung ihrer Jungfräulichkeit zu betrachten, als sein Körper den ihren berührte. Sie versuchte, zu vergessen, dass er ein Mann war. Sie konnte seine Bewegungen spüren, die perfekt mit dem Lied harmonierten.

Und dann ließ sie sich fallen und wurde von der Musik mitgerissen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie gemeinsam mit Liones durch den Saal schweben. Ihre Füße bewegten sich von ganz allein. Alles schien zu einem Ganzen zu verschmelzen. Es kam ihr beinahe vor, als könne sie die Gedanken des Elfenmannes spüren, als würde sie seine Absichten erahnen, noch bevor er die Bewegungen ausführte. Sie öffnete die Augen und sah empor zur Decke. Die magischen Lichter drehten sich über ihr. Die ganze Welt schien mit ihnen zu tanzen.

Selina wusste nicht, wie viel Zeit wirklich vergangen war, als die Musik an Intensität zunahm und einem Höhepunkt entgegenstrebte.

»Lasst Euch fallen«, flüsterte Liones ihr zu.

Bevor Selina verstand, was er meinte, waren seine Arme, die sie die ganze Zeit über gehalten hatten, verschwunden. Selina konnte ihren Schwung nicht schnell genug abbremsen und stürzte rückwärts. Liones ließ sich in einer eleganten Bewegung auf die Knie fallen und fing sie wieder auf.

Als die Halbelfe ihren Schock verdaut hatte, lag sie in Liones’ Armen, der sich über sie gebeugt hatte. Der gesamte Saal war von begeistertem Applaus erfüllt.

Liones half ihr auf die Beine. »Das gilt nicht zuletzt Euch«, sagte er, als sich Selina erstaunt umsah und verwundert die klatschende Menge betrachtete. »Sie applaudieren nicht jedes Mal.«

»Nicht?« Sie glaubte nicht, dass sie derart gut getanzt hatte, um Beifall zu verdienen. Der Applaus war wohl eher ein Akt der Höflichkeit gegenüber der Grafenfamilie und Selina konnte sich keinen Grund denken, der die Leute dazu bringen könnte, nicht zu klatschen.

Liones schüttelte lachend den Kopf. »Mein Bruder hat einmal versucht, diese Abschlussfigur nachzuahmen. Das hatte zur Folge, dass seine Partnerin danach drei Tage aufgrund einer Gehirnerschütterung außer Gefecht gesetzt war. Damals hat niemand geklatscht.«

Paare drängten nun auf die Tanzfläche, als das Orchester erneut aufspielte.

»Unsere Pflicht haben wir getan«, bemerkte Liones. »Wenn Ihr es wünscht, so soll dies unser erster und letzter Tanz gewesen sein. Ich werde Euch kein weiteres Mal drängen.«

Selina sah zu ihm auf und ihre Augen leuchteten. »Und wenn ich Euch sagen würde, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als mit Euch die ganze Nacht durchzutanzen?«

»Dann würde ich diesem Wunsch zweifelsohne nachkommen«, antwortete er und nahm sie in die Arme.

Und erneut kam es Selina vor, als würden sie über die Tanzfläche fliegen. Die anderen Paare hielten einen gewissen Respektabstand vor dem jungen Grafensohn und seiner zauberhaften Begleitung, sodass sie stets freie Bahn hatten. Selina fühlte sich wie in einem Traum und ihre Bedenken verflogen.

Blutsverwandte Kontrahenten

 

Schließlich, nach dem fünften oder sechsten Tanz, machten sich Selinas zu enge Schuhe bemerkbar und sie verließen die Tanzfläche. Sie suchten sich ein ruhigeres Plätzchen an einem der hohen Fenster und Liones organisierte etwas zu trinken.

»Na, hast du es wieder einmal geschafft, mit deiner Tanzakrobatik Aufmerksamkeit zu heischen?«

Sie wandten sich um. Der Elf, der zuvor mit ihnen bei der Eröffnung getanzt hatte, trat an sie heran.

Liones seufzte. »Selina! Darf ich vorstellen! Das ist Arikor, mein Halbbruder. Arikor, das ist Selina.«

Der Elf, der um ein gutes Stück größer und kräftiger war als Liones, verbeugte sich tief. Selina fiel auf, dass sein Haar die gleiche Goldfärbung hatte, wie das seines Bruders, doch abgesehen davon waren die beiden Männer grundverschieden. Arikors Augen waren von hellem Grün, der Ausdruck auf seinem Gesicht war hart, selbst wenn er lächelte. Seine Körperhaltung strahlte selbstsichere Männlichkeit aus.

»Ich grüße Euch, Mylady«, sagte Arikor. »Mein kleiner Bruder hat mich schon schwärmerisch auf Eure Schönheit vorbereitet, und ich sehe, dieses Mal hat er nicht übertrieben.«

Sie nickte ihm verlegen zu und er wandte sich an Liones. »Also, ein Zugeständnis muss man dir machen, Liones: Tanzen kannst du! Wie lange hast du mit ihr diese Kniefall-Figur geübt?«

»Gar nicht«, mischte sich Selina ein. »Ich muss gestehen, er hat mich damit ziemlich überrumpelt.« Es war nicht ihre Absicht, es wie eine Schelte klingen zu lassen. Sie wollte lediglich unterstreichen, dass ihre Bekanntschaft mit dem jungen Grafen sehr oberflächlich war.

Arikor zog argwöhnisch die Augenbrauen hoch. »Das sieht ihm ähnlich! Er besitzt einfach kein Einfühlungsvermögen Frauen gegenüber. Ihr hättet wahrlich eine bessere Behandlung verdient.«

»Arikor!«, rief Liones warnend.

Doch der ältere Emnesthar ignorierte ihn und fuhr mit einem schmeichelhaften Unterton in der Stimme fort: »Wenn Ihr Euch lieber mit jemandem amüsieren wollt, der weiß, wie man eine Lady behandelt, stehe ich Euch gerne zur Verfügung.«

»Arikor! Solltest du dich nicht um deine eigene Begleitung kümmern? Wo ist die Teuerste eigentlich? Hast du sie nach dem ersten Tanz bereits abgeschoben?«, fuhr Liones ihn bissig an.

»Die Frauen zu nehmen und gleich wieder fallen zu lassen, ist doch eher deine Manier.«

Liones Augen blitzten zornig. Er sprang vor, packte seinen Bruder am Kragen und zog ihn zur Seite, weg von Selina. »Lass das, Arikor«, knurrte er. »Hör auf, dich an Selina heranzumachen. Sie gehört mir.«

Arikor lachte auf. »Jetzt spiel dich nicht so auf, kleiner Bruder! Du bist ohnehin unfähig, eine Frau zu halten. Spätestens in vierundzwanzig Stunden liegt sie in meinen Armen und das weißt du. Es war bis jetzt noch mit jeder so, die du angeschleppt hast.«

»Selina ist nicht dein privates Spielzeug.«

»Ach! Aber deines ist sie, ja?« Er stieß abwertend die Luft aus. »Nun, wir werden sehen, Bruderherz, wessen Namen sie letztendlich voll Leidenschaft flüstern wird.« Er wandte sich zu Selina um und rief ihr zu: »Ich wünsche Euch einen vergnüglichen Abend, Mylady! Doch, um Euch die Enttäuschung zu ersparen, rate ich Euch, überlegt Euch gut, in wessen Gesellschaft Ihr ihn zu verbringen gedenkt.« Er warf seinem jüngeren Bruder einen giftigen Blick zu, dann ging er mit forschen Schritten davon.

Liones stand einen Augenblick nachdenklich und mit gesenktem Kopf da.

Selina trat zu ihm.

»Was hat er damit gemeint?«, fragte sie zögernd.

Der Elf nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. »Arikor hat die Angewohnheit, sich zu nehmen, was ihm nicht zusteht. Er versteht sich darauf, die Tatsachen so zu verdrehen, dass ihm am Ende alles von ganz allein in die Hände fällt.« Er sah sie direkt an. »Ihr solltet Euch im Klaren sein, was Ihr wirklich wollt, bevor Ihr Euch mit ihm abgebt.«

»Na wunderbar!«, rief Selina aus. »Er warnt mich vor Euch, Ihr warnt mich vor ihm! Denkt Ihr nicht, ich hätte eine Erklärung verdient?«

Liones trank sein Glas aus und stellte es auf den Fenstersims hinter sich. »Ihr kennt die Gerüchte, die man über mich erzählt?«

Selina wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. Eine ehrliche Antwort schien ihr wenig taktvoll.

»Sagt mir ruhig die Wahrheit. Ich kann sie ertragen.« Er wandte sich um und sah aus dem Fenster in die dunkle Nacht. »Man sagt, ich sei ein Draufgänger, ein Weiberheld, der sich jede Frau nimmt, wie es ihm beliebt. Ich schmeiße mit Geld um mich, bin auf jedem Festgelage anzutreffen und trinke zu viel. Und wenn ich meinen Spaß gehabt habe, pflege ich meine Gespielinnen vor die Türe zu setzen. Ist es nicht so?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739327990
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Bruderzwist Mädchenroman Jugendfantasy Fantasy Ständekampf Elfenliebe Elfenromanze Episch High Fantasy

Autor

  • Manuela P. Forst (Autor:in)

Manuela P. Forst lebt in Wien und hat sich mit Schreibfeder und Zeichenstift der Fantasy verschworen. Seit 2004 veröffentlichte sie zahlreiche Texte in Anthologien und Magazinen. Aktuell arbeitet sie als Selfpublisherin an Fantasy-Serien wie "Der Adel von Ametar" und "Bardenlieder von Silbersee".