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Glücksfaserrisse

von Gabriele Popma (Autor:in)
508 Seiten

Zusammenfassung

Bewährungsprobe für eine große Liebe

Nach langen Umwegen haben Corinna und Sandie ihr Glück gefunden. Doch plötzlich wird es bedroht. Sandie, der seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt, wird das Ziel perfider Anschläge, doch er kann seinen Feind nicht lokalisieren. Immer öfter vertraut er sich in dieser Situation einer neuen Kollegin an, während Corinna einen attraktiven Mann kennenlernt, der eindeutiges Interesse an ihr signalisiert.

Unterdessen verliebt sich ihr Sohn Gerry mitten im Abiturstress in eine Mitschülerin. Die Beziehung erweist sich jedoch als ungeahnt problematisch. Große Sorgen macht er sich zudem um einen Freund, der seit einem einschneidenden Erlebnis keinen Sinn mehr im Leben sieht. Als Gerry die komplette Tragweite seiner Geschichte erfasst, ahnt er, dass Hilfe für ihn zu einem Wettlauf gegen die Zeit wird.

Und dann taucht auch noch Corinnas Ex-Ehemann wieder auf ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Gabriele Popma

 

Glücksfaserrisse

 

Roman

 

1

 

»Gerhard, übernehmen Sie bitte die nächste Frage?«

In dem nüchtern gehaltenen Klassenraum war es an diesem Maitag warm und stickig. Nicht nur die Schüler der Abiturklasse blickten ständig verstohlen auf die Uhr, auch der untersetzte Lehrer am Pult sehnte das Ende der Schulstunde herbei. Mit hochgezogenen Augenbrauen wartete er auf eine Reaktion des Angesprochenen. Doch der große blonde Junge sah nicht auf. Wie festgesogen hing sein Blick am Profil des schräg vor ihm sitzenden Mädchens.

»Herr Wegener, könnten Sie bitte Ihre Aufmerksamkeit auf den Unterricht lenken?«

Die Klasse begann zu kichern und sich zu ihrem Kameraden umzudrehen, der noch immer in seine Gedanken versunken war. Sein Banknachbar stieß ihm kräftig den Ellbogen in die Rippen.

»Hey, Stadler-Heithmann-Wegener, dein Typ ist gefragt.«

»Lass den Quatsch, du Idiot«, zischte Gerhard leise, dann bemerkte er, dass ihn alle ansahen. Irritiert blickte er seinen Lehrer an. »Habe ich etwas verpasst?«, fragte er mit einem unschuldigen Lächeln, während ihm heiß wurde.

»In der Tat. Ich bat Sie, die nächste Frage zu beantworten.«

Hilflos sah der Junge auf sein Buch. »Es tut mir leid«, gab er dann zu. »Ich war wohl einen Moment abgelenkt. Können Sie mir sagen, wo wir sind?«

Sein Lehrer warf ihm einen Blick zu, der zwischen Ärger und Belustigung schwankte. »Ich kann gut verstehen, dass gerade an einem solch warmen Tag die Reize Ihrer neuen Mitschülerin um einiges attraktiver sind als der Inhalt Ihres Englischbuches. Aber ich würde es doch sehr begrüßen, wenn Sie Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit mir zuwenden könnten. Es geht um Frage 2c.«

»Danke«, murmelte Gerhard und spürte deutlich, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Jetzt wusste natürlich jeder, dass ihm die neue Schülerin gefiel. Als er dann auch noch aus den Augenwinkeln ihren spöttischen Blick auffing, hätte er sich am liebsten ins nächste Mauseloch verzogen. Die Antwort auf die englische Frage, die er stammelnd und nicht wirklich richtig hervorbrachte, setzte ihm noch mehr zu. Lautlos, dafür aber inbrünstig, murmelte er einen Fluch auf seinen unsensiblen Lehrer. Als kurz darauf die Glocke ertönte und das Ende der Stunde verkündete, lehnte er sich mit geschlossenen Augen zurück. Wie um alles in der Welt hatte er sich nur vor der ganzen Klasse so blamieren können?

»Oh Mann«, murmelte er. »So ein Reinfall.«

»Tja, Gerry, das war wirklich nicht deine beste Vorstellung.« Andreas, sein Freund und Banknachbar, grinste ihn spöttisch an. Dann stutzte er und setzte sich plötzlich gerade hin. »Hey.«

Neugierig geworden, was den veränderten Tonfall seines Kumpels verursacht hatte, sah Gerry hoch und augenblicklich begann sein Herz wie rasend zu pochen. Neben ihm stand das neue Mädchen, das erst den dritten Tag in seiner Klasse war und ihn von Anfang an fasziniert hatte. Der flüchtige Hauch eines blumigen Parfüms stieg ihm in die Nase und prompt trocknete sein Mund völlig aus. Nervös leckte er sich über die Lippen. Was hätte er für ein Glas Wasser gegeben, vor allem auch, um seine Hände zu beschäftigen, mit denen er plötzlich nichts mehr anzufangen wusste. Wie selbstverständlich setzte sich das hübsche Mädchen auf die Tischkante, wobei ihr ohnehin reichlich kurzer Rock hochrutschte und die schlanken Beine bis zu den Oberschenkeln seinem Blick freigab.

»Du heißt also Gerhard«, stellte sie fest.

Eine ewig dauernde Sekunde lang bemühte sich Gerry, die Zunge von seinem Gaumen und die Augen von ihren Schenkeln zu lösen. »Meine Freunde nennen mich Gerry«, murmelte er schließlich und war froh, dass ihm überhaupt eine Erwiderung einfiel. Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. So dämlich stellte er sich doch sonst nicht an. Die neue Mitschülerin sah ihn mit einem Funkeln in den grünen Augen an und Gerry wusste nicht, wie er ihren Blick deuten sollte. Wahrscheinlich amüsierte sie sich köstlich über sein Gestammel. Es war ihr wirklich nicht zu verdenken.

»Ich konnte mir noch nicht alle Namen merken. Aber du weißt bestimmt schon, wie ich heiße, oder?« Sie sah ihn von der Seite her an, während sie sich mit einer geradezu aufreizenden Bewegung den Rock glattstrich.

Gerry wurde es noch wärmer. Das kribbelnde Gefühl schnürte ihm die Luft ab. Er nickte vage. »Michaela«, bestätigte er und suchte krampfhaft, aber vergeblich, nach weiteren Worten, die ihn nicht als totalen Trottel dastehen lassen würden. Im Gegensatz zu der Hitze, die sich in seinem Inneren ausbreitete, schien sein Gehirn völlig eingefroren zu sein.

»Genau.« Das Mädchen lachte, fuhr sich durch die schwarzen Haare und blitzte ihn kokett an. »Und meine Freunde nennen mich auch Michaela. Bitte keine Abkürzungen wie Michi oder so.«

Gerry nickte wortlos. Er studierte fasziniert die kleine Narbe an ihrer Schläfe, die sie vergeblich zu überschminken versucht hatte. Seine Verlegenheit ließ seinem sonst so natürlichen Charme keine Chance. Er verfluchte sich, dass er steif wie ein Stock dasaß und ihm absolut kein zusammenhängender Satz einfallen wollte.

»Was machst du heute Mittag?«, fuhr Michaela fort, die sein Unbehagen nicht zu bemerken schien. »Gehst du während der Pause heim?«

Er schüttelte den Kopf. Endlich konnte er mal eine vernünftige Antwort geben. »Lohnt sich nicht«, brachte er in beinahe normalem Tonfall heraus. »Ich wohne etwas außerhalb von München. Das schaffe ich in der Zeit nicht.«

»Möchtest du dann mit mir zu irgendeiner Imbissbude gehen? Ich kenne mich in München noch nicht so gut aus.«

Für einen kurzen Moment musste Gerry die Augen schließen, um zu verhindern, dass sie ihm vor Staunen aus dem Kopf fielen. Hatte sie ihn gerade gebeten, sie zu begleiten? »Natürlich«, stammelte er, als ihm einfiel, dass er vielleicht antworten sollte. »Gern.«

»Gut, dann bis nachher.« Mit einem unnachahmlichen Hüftschwung drehte sich Michaela um und ging zurück zu ihrem Platz.

Andreas grinste seinen Freund an. »Ich habe dich selten so wortgewandt erlebt«, spottete er.

»Halt die Klappe«, brummte Gerry, doch dann verzog er die Mundwinkel zu einem überlegenen Grinsen. »Was willst du denn? Immerhin verbringt sie die Mittagspause mit mir und nicht mit dir.«

»Stimmt.« Gespielt wehmütig sah Andreas zu Michaela hinüber. »Die Frau hat Klasse«, meinte er dann.

Gerry sagte nichts. Aber das selige Lächeln war für seinen Freund Antwort genug.

 

Als sie durch Münchens Straßen schlenderten, hatte sich Gerry von seiner Blamage am Vormittag erholt. Er war mittlerweile sogar fähig, sich völlig normal mit Michaela zu unterhalten. Er sah sie verstohlen von der Seite her an. Sein Herz klopfte immer noch nervös. Nie hätte er damit gerechnet, dass dieses hübsche Mädchen ausgerechnet ihm Beachtung schenken könnte.

»Warum hast du so kurz vor dem Abitur noch die Schule gewechselt?«, fragte er in einer Mischung aus Small Talk und wirklichem Interesse.

Michaela zuckte mit den Schultern. »Mein Vater ist bei der Bundeswehr. Da sind Versetzungen an der Tagesordnung. Leider fragt niemand danach, welche Umstellungen das für die Familie mit sich bringt.«

»Dann ist das schon öfter passiert?«

»Das dritte Mal jetzt.« Michaela seufzte. »Es ist immer so schwer, alle Freunde im Stich zu lassen und wieder von vorne anzufangen.«

»Damit hast du sicher keine Probleme«, versicherte Gerry schnell.

»Früher war es einfacher. Als Kind ist man unbefangener. Aber neu in die Abschlussklasse zu kommen, ist schwierig. In vielen Fächern hast du unterschiedliche Mitschüler und es dauert ewig, bis du wenigstens ein paar mit Namen kennst.« Michaela schaute einen Moment lang nachdenklich auf die Straße, aber dann grinste sie vergnügt. »Gut, dass es immer wieder Jungs gibt, die einem Löcher in den Rücken starren.«

Gerry wand sich unbehaglich. »Ich wollte dich nicht anstarren. Tut mir leid.«

»Braucht es nicht. War doch eine ideale Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen.« Das Mädchen hängte sich bei ihm ein. »Schau, da ist ein Imbissstand. Da können wir uns was zu essen holen.«

Wenige Minuten später saßen sie gemütlich an einem der kleinen Tische über einer Currywurst. Michaela leckte sich die Finger ab. »Sag mal, Gerhard ist jetzt auch nicht gerade der modernste Name, oder?«

»Nö, aber mich stört es nicht. Ich bin nach meinem Opa benannt worden. Wenigstens heißt nicht die halbe Klasse so wie ich.«

»Auch wieder wahr. Und was war das für ein Nachname, mit dem dich dein Kumpel vorhin angeredet hat? Dreifachnamen gibt’s doch nicht, oder?«

Gerry lachte. »Nein, aber das sind Namen, die ich schon mal hatte. Andi ärgert mich ab und zu ganz gern damit.«

»Und wie kommst du zu drei Familiennamen?«

Gerry zuckte mit den Schultern und antwortete relativ kurz angebunden: »Mein Nachname ist Wegener, alles andere ist Vergangenheit.« Er lächelte, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. »Ich erzähle es dir später einmal«, versprach er ihr. »Es ist eine ziemlich lange Geschichte.«

Das war glatt gelogen. Eigentlich wären die Fakten in wenigen Sätzen erzählt gewesen. Doch Gerry wollte Michaela zu diesem Zeitpunkt nicht seine ganze Familienchronik auseinandersetzen, die mit sehr vielen Gefühlen verbunden war. Er mochte sie und er war gern mit ihr zusammen, aber so weit ging die Vertrautheit noch nicht.

Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie sich beleidigt von ihm abwenden, doch dann schluckte sie und wechselte das Thema.

»Gibt es Fächer, in denen du besonders gut bist?«

»Warum?«

»Weil ich Nachhilfe brauchen könnte.«

Gerry stöhnte. »Ich bin froh, wenn ich selbst ohne Nachhilfe über die Runden komme. Als Lehrer eigne ich mich nicht besonders gut, fürchte ich.«

»Das beantwortet meine Frage nicht.«

»Na gut.« Er überlegte. »Ich habe von meinem Vater ein gewisses Verständnis für die Mathematik geerbt. Und von meiner Mutter die Begabung für Sprachen.« Er lachte. »Wenn es nicht in einem solchen Desaster wie heute endet, bin ich in Englisch ganz annehmbar.«

»Mathe und Englisch sind meine Knackpunkte. Gerade in Mathe komme ich ziemlich ins Schwimmen. Da werden Sachen vorausgesetzt, von denen habe ich noch nie was gehört. Vielleicht könnten wir ab und zu gemeinsam lernen, damit ich meine Lücken stopfen kann. Magst du?«

»Klar. Kein Problem.« Gerry freute sich. Er kam mit allen Mitschülern gut aus, trotzdem war es ihm bisher nicht leicht gefallen, Anschluss beim weiblichen Geschlecht zu finden. Die meisten Mädchen sahen ihn als guten Kumpel, aber vermutlich hielten sie ihn schlichtweg für langweilig. Er konnte es kaum glauben, dass es bei Michaela so einfach sein sollte. Ausgerechnet sie, der alle Jungen der Klasse nachsahen, suchte seine Gesellschaft. Und wie es aussah, würde sich das nicht nur auf die Schule beziehen.

Sie zog ihr Handy heraus. »Dann gib mir doch gleich mal deine Telefonnummer.« Sie scrollte bei der Gelegenheit durch ihre Nachrichten und gab vor, nicht zu bemerken, dass Gerrys Augen die ganze Zeit an ihr hingen. Er kam sich schon wie ein Spanner vor, aber sie gefiel ihm einfach.

Schließlich sah er auf die Uhr. »Wir müssen langsam wieder zurück«, stellte er widerwillig fest.

Die Fußgängerzone war dicht bevölkert. Die Leute haben alle nichts zu tun, dachte Gerry amüsiert, während er eine entgegenkommende Rollstuhlfahrerin beobachtete, die sichtliche Mühe hatte, sich durch all die Menschen zu schlängeln, die ohne nach links oder rechts zu sehen durch die Straße hasteten. Einen Moment lang war er versucht, ihr seine Hilfe anzubieten, doch sie hatte die Situation gut im Griff. Mit ein paar knappen Worten scheuchte sie eine Gruppe von Jugendlichen zur Seite, die ihr den Weg versperrten.

Taffe Frau, dachte er und wandte sich Michaela zu, doch seine Klassenkameradin hatte ihm den Rücken zugekehrt und schien die andere Straßenseite hochinteressant zu finden.

»Gibt’s da was?«, erkundigte er sich und versuchte vergeblich zu erspähen, was sie entdeckt hatte.

»Nein, gar nichts«, wehrte sie heftig ab und zerrte an seinem Arm. »Komm, wir müssen endlich weiter.«

Verwirrt drehte sich Gerry nochmal um, um zu sehen, was Michaela zu dieser Reaktion veranlasst hatte. Doch außer der jungen Rollstuhlfahrerin, die sich inzwischen mit den Jugendlichen unterhielt, die sie zuvor aus dem Weg gescheucht hatte, konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken.

»Hast du es bald?«, fragte Michaela ungeduldig. »Wir kommen noch zu spät zum Unterricht.«

»Was ist denn plötzlich los mit dir?« Gerry war irritiert. »Hat dich die Frau im Rollstuhl erschreckt?« Er hatte es als Scherz gemeint, doch an Michaelas Reaktion erkannte er, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Peinlich berührt sah sie zur Seite.

»Ist nicht wahr, oder?« Er schwankte zwischen Überraschung und Fassungslosigkeit. »Echt jetzt?«

»Lass es«, fauchte Michaela.

Aber Gerry war nicht der Typ, der ein Thema einfach unvollendet fallen ließ. Er sah nochmals kurz über die Schulter. »So erschreckend schaut sie wirklich nicht aus.« Er grinste.

»Ich sagte, lass es.« Michaela war puterrot geworden. Sie beschleunigte ihre Schritte. »Los jetzt. Ich mag nicht schon in der ersten Woche Probleme kriegen, weil ich zu spät komme.«

Gerry nickte. Dieses Mal verstand er, dass die Diskussion beendet war.

 

Noch beim Abendessen grübelte er über den kleinen Vorfall am Mittag nach. Michaela war während des Weges zur Schule sehr schweigsam gewesen. Er fragte sich, was eigentlich passiert war, dass ihre Laune so in den Keller gerutscht war. Vielleicht war ihre gerade erst beginnende Freundschaft schon am Ende. Er hätte nicht so irritiert reagieren dürfen. Während er dem ewig plappernden Mundwerk seiner fast zehnjährigen Schwester Sandra mit halbem Ohr zuhörte, versuchte er, sich Michaela vorzustellen. Er dachte an die langen Beine unter dem kurzen Rock und an die grünen Augen in dem herzförmigen Gesicht, die ihn regelrecht zu elektrisieren vermochten.

»Warum bist du denn so nachdenklich?«, fragte sein Vater plötzlich. »Irgendwas in der Schule?«

»Nein.« Gerry löste seine Gedanken von Michaela und grinste säuerlich. »Außer, dass ich mich sagenhaft blamiert habe.«

»Hast du nicht aufgepasst?«, fragte Sandra sofort.

»So könnte man es sagen.« Selbstironisch lachte Gerry auf. »Ich war zu beschäftigt damit, meine neue Mitschülerin anzuschauen.«

»Ist sie hübsch?«, wollte das Mädchen sofort von ihrem Bruder wissen.

»Natürlich.« Gerry zwinkerte ihr zu. »Fast so hübsch wie du. Aber sie hat dunkle Haare und grüne Augen.«

»Wir scheinen den gleichen Geschmack zu haben«, meinte sein Vater, während er seiner Frau einen lächelnden Blick zuwarf.

Überrascht sah Gerry seine Mutter Corinna an. Es stimmte schon, auch sie hatte dunkle Haare und grüne Augen, aber Michaela sah ihr nicht im Mindesten ähnlich. Corinna trug ihre glatten Haare zwar ebenfalls schulterlang, doch ihr Gesicht war schmal und im Gegensatz zu Michaela hatte sie kein Make-up aufgelegt. Das tat sie nie. Trotzdem sah sie jünger aus als neununddreißig, vielleicht auch durch die legere Kleidung, die sie trug. Michaela dagegen wollte sich wohl am liebsten älter machen. Gerry grinste, als ihm bewusst wurde, dass er seine Mutter mit einer Klassenkameradin verglich. Um sich abzulenken, schaufelte er sich eine zweite Portion auf den Teller.

»Ich nehme mir noch was«, kündigte er an. »Bevor unser kleiner Vielfraß alles in ihrem heißgeliebten Ketchup ertränkt.«

»Ich bin kein Vielfraß«, entrüstete sich Sandra. »Und zu viel Ketchup habe ich auch nicht genommen.«

»Na, ich weiß nicht, in diesem roten See könntest du schwimmen«, hänselte Gerry sie gutmütig. Er liebte seine neun Jahre jüngere Schwester sehr, aber es machte ihm auch Spaß, sie gelegentlich zu ärgern. Sandra streckte ihm die Zunge heraus und holte sich noch mehr Ketchup, wobei sie den mahnenden Blick ihrer Mutter geflissentlich ignorierte.

Gerry erzählte unterdessen bereitwillig von der Stunde, die er gemeinsam mit Michaela verbracht hatte, und sparte auch die kurze Szene nicht aus, die beinahe in einen Streit ausgeartet wäre.

Corinna zog die Augenbrauen hoch. »Du denkst, sie hat wegen der Frau im Rollstuhl so komisch reagiert?«

Er schnitt eine Grimasse. »Was anderes kann es eigentlich nicht sein. Ich meine, viele Leute wissen nicht, wie sie sich behinderten Menschen gegenüber verhalten sollen, aber ihre Reaktion war schon krass. Na, ist ja auch egal.« Gerry zuckte mit den Schultern und drehte sich zu seiner Schwester um: »Und was gab es bei dir in der Schule heute Neues?«

»Gar nichts.« Konzentriert badete Sandra ein Pommes frites Stäbchen im Ketchup und sah dabei nicht auf. Zwei blaue und ein grünes Augenpaar trafen sich, als Gerry und seine Eltern sich ansahen. Alle drei hatten das Gefühl, dass etwas vorgefallen war, über das Sandra nicht sprechen wollte. Eine kurze Stille trat ein, bis Gerry den Faden wieder aufnahm und erzählte, was er für den folgenden Tag plante.

 

»Hast du heute Abend was vor?«, fragte er Michaela am nächsten Morgen.

»Wahrscheinlich hänge ich mich vor die Glotze. Warum?«

Gerry zögerte. »Magst du mit mir weggehen?«

»Klar. Wieso fragst du das so umständlich?«

»Na ja, weil morgen doch Schule ist.« Er verfluchte sich, weil er schon wieder so ungeschickt herumstotterte. Er wollte vor diesem Mädchen cool erscheinen, aber er fühlte sich wie ein kleiner, verlegener Junge. Aber Michaela ließ sich nichts anmerken.

»Na und?«, lächelte sie. »Gehst du etwa nicht während der Woche weg? Ich mache das ständig.« Ihre Augen funkelten, als sie Gerry interessiert musterte. »Was hast du denn geplant?«

»Hier in München spielt heute Abend eine sehr gute Band. Ich dachte, das könnte dir vielleicht gefallen.«

»Ein Konzert? Von wem?«

»Konzert kann man nicht sagen. Das klingt zu groß. Es ist eigentlich mehr ein Lokal, in dem fast jeden Abend Live-Musik geboten wird. Und die Band heute ist wirklich klasse.«

»Aha«, machte Michaela. Sie gab sich nicht viel Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Ein Lokal also. Und was für eine Art Musik gibt es da?«

Gerry hatte sich vor dieser Frage gefürchtet. »Die Band heute Abend hat viele Musikrichtungen im Repertoire«, antwortete er ausweichend, dann fasste er sich ein Herz. »Hauptsächlich spielen sie New Country.«

»Und das gefällt dir?« Michaelas Miene nahm einen verächtlichen Ausdruck an.

Gerry seufzte innerlich auf. Er hatte diese Reaktion erwartet. »New Country ist gute anspruchsvolle Musik. Kannst du heutzutage von Pop kaum noch unterscheiden«, erklärte er säuerlich. »Viele Country-Songs sind in den Pop-Charts vertreten. Aber ich dachte mir schon, dass es nicht dein Geschmack ist.« Er fühlte sich von Michaela belächelt. Er hätte gar nicht davon anfangen sollen. Wieder ein Minuspunkt für ihn. In einer Mischung aus Ärger und Verlegenheit wandte er sich ab, doch das Mädchen hielt ihn am Arm fest.

»Jetzt lass mich hier nicht so stehen. Ich gebe ja zu, dass es nicht gerade meine Lieblingsmusik ist, aber ich komme schon mit.«

Doch nun war Gerry skeptisch. »Wir können auch ins Kino gehen, wenn dir das besser gefällt.«

»Nein, jetzt hast du mich neugierig gemacht. Wie heißt deine sagenhaft tolle Band denn?«

Gerry hatte das untrügliche Gefühl, dass Michaela sich insgeheim über ihn lustig machte. Doch dann schluckte er seine Unsicherheit hinunter und gab bereitwillig Auskunft. »Sie nennen sich die Highway Heroes.«

Michaela zog die Augenbrauen hoch. »Leider noch nie davon gehört. Also gut, sehen wir mal, was deine Band so drauf hat.«

2

 

Gerry war aufgeregt, als er zu Michaelas Adresse fuhr. Er konnte sich nicht erklären, warum ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Lag es nur an ihr oder auch daran, dass er befürchtete, der Abend könnte ein Flop werden? Sein Instinkt sagte ihm, dass Michaela nicht der Typ für diese Musikrichtung war, doch er wollte ihr das besondere Flair eines Countryabends zeigen.

Er kannte die Highway Heroes schon lange. Sein Vater war seit seinen Studientagen mit Steve, dem Kopf der Truppe, befreundet und hatte die Gründung der Musikgruppe miterlebt. Als die Band an Gerrys zwölftem Geburtstag in München aufgetreten war, durfte er seine Eltern begleiten. Steve hatte ihn damals auf die Bühne geholt und ihn nach seinem Lieblingslied gefragt. Das einzige Countrylied, das Gerry zu der Zeit kannte, war John Denvers »Take Me Home, Country Roads« gewesen, und obwohl die Band es normalerweise nicht in ihrem Repertoire hatte, hatten sie den Song speziell für ihn gespielt. Plötzlich hatte Steve ihm ein Mikrofon vors Gesicht gehalten und ihn aufgefordert, mitzusingen. Gerry kannte nur einige Brocken des englischen Textes, doch er bekam tosenden Applaus vom Publikum für seine Gesangsversuche. An diesem Abend hatte er sein Faible für die Countrymusik entdeckt. Hauptsächlich hörte er sie bei den mitreißenden Auftritten der Highway Heroes, aber auch zu Hause hatte er sich eine Playlist mit Countrysongs erstellt, die er sich je nach Laune immer wieder mal anhörte.

Als er die richtige Adresse gefunden hatte und den Polo seiner Mutter in der breiten Hofeinfahrt abstellte, erschien auch schon Michaela. Sie deutete an, dass er das Fenster öffnen sollte, und beugte sich herunter.

»Können wir eine Freundin mitnehmen?«

»Wieso denn?« Ein weiteres Mädchen passte nicht in Gerrys Pläne.

»Yvonne wohnt neben mir. Ich habe ihr erzählt, wohin wir heute Abend gehen und sie würde gerne mitkommen.«

»Na gut«, stimmte Gerry mit einem unhörbaren Seufzer zu. »Meinetwegen.«

»Prima. Wir sind gleich da.« Schnell huschte Michaela wieder ins Haus.

Fünf Minuten später kam sie mit ihrer Freundin zurück. Das Mädchen begrüßte Gerry und stellte sich vor.

»Finde ich super, dass du mich mitnimmst«, sagte sie, als sie es sich auf dem Rücksitz des Polos bequem machte. »Ich mag Countrymusik und was Michaela erzählt hat, hört sich interessant an.« Sie lachte, als sie dem Mädchen einen Blick zuwarf. »Nicht, dass es besonders viel gewesen wäre.«

Gerry musterte Yvonne im Rückspiegel. Sie war Anfang zwanzig und hatte blonde Strähnchen in ihrem kurzen braunen Haar. Trotz ihrer Jugend sah er bereits leichte Krähenfüßchen in ihren Augenwinkeln. Obwohl sie seine Pläne von einem gemütlichen Abend mit Michaela durchkreuzte, fand Gerry sie sympathisch. Er warf ihr im Spiegel ein Lächeln zu, das sie erwiderte. »Du bist das erste Mädchen, das ich treffe, das Countrymusik hört.«

Yvonne schmunzelte. »Und immer wieder gern.« Sie klopfte Michaela auf die Schulter. »Es wird dir auch gefallen, glaub mir.«

Das Mädchen nickte, dann wandte sie sich an Gerry. »Ist das dein Auto?«

»Nö. Nur Leihgabe meiner Mutter. Vielleicht reicht mein Geld ja irgendwann mal für ein eigenes. Aber dafür muss ich noch eine ganze Weile sparen.«

»Deine Eltern kaufen dir keins?«

Gerry schnaubte. »Nein, dummerweise nicht. Und leider kann ich ihre Gründe dafür auch verstehen.« Er warf Michaela einen belustigten Blick zu, in den sich aber unterschwellige Besorgnis mischte. »Hoffentlich sind für dich nicht nur Jungs mit eigenem Auto interessant.«

»Natürlich nicht.« Michaela lachte ihn aus ihren katzengrünen Augen an. »Ich suche mir meine Freunde nach anderen Kriterien aus.«

»Da bin ich aber froh.« Gerry setzte das Auto gekonnt rückwärts in eine Parklücke. »So, wir sind da.«

Die drei jungen Leute wurden von Stimmengewirr und stickiger Wärme empfangen. Als sie den Eintritt zahlten, kam ein großer schwarzhaariger Mann auf sie zu. »Gerry, schön, dich mal wieder zu sehen.«

»Hallo Steve.« Gerry drückte die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. »Ich freue mich auch. Ist schon eine ganze Weile her, dass wir uns gesehen haben. Darf ich dir Michaela und Yvonne vorstellen? Sie hören euch heute zum ersten Mal.«

Steve begrüßte die Mädchen mit einem Küsschen auf die Wange. »Ich freue mich, dass ihr da seid. Hoffentlich habt ihr Spaß.« Er wandte sich wieder an Gerry. »Kommen deine Eltern auch?«

»Nein, heute nicht«, verneinte Gerry. »Sie sind bei Freunden eingeladen. Aber ich soll dich grüßen und sagen, dass sie euch bald mal wieder besuchen kommen.«

»Das wäre schön.« Steve strahlte über das ganze Gesicht. »Ich muss auf die Bühne, aber wir sehen uns nachher noch, okay?«

»Wer war denn das?«, fragte Michaela, während sie sich einen Platz an einem Tisch in der Mitte des Saales suchten. »Hat sich nicht wie ein Deutscher angehört.«

Gerry nickte. »Steve kommt ursprünglich aus Chicago. Er wohnt schon seit vielen Jahren in Deutschland, aber sein amerikanischer Akzent verrät ihn immer noch.«

Michaela sah sich interessiert um. Was sie sah, schien ihr zu gefallen. Das Lokal war im Country-Stil eingerichtet, jedoch nicht damit überladen. An einer Wand prangten amerikanische Autokennzeichen, eines aus jedem Staat, die in Form einer amerikanischen Landkarte angeordnet waren. Der Hintergrund der Bühne war bedeckt mit Postern und Plakaten von Künstlern, die hier bereits aufgetreten waren. Eine gemütliche Bar und ein geräumiger Vorraum mit einer Sitzecke und einem Billardtisch rundeten das Bild ab.

»Wo ist jetzt deine Band?«, flüsterte Michaela Gerry zu.

»Wird gleich losgehen. Warte es nur ab.«

Ein junger Mann hastete gerade an ihrem Tisch vorbei, an dem sie saßen. Er umarmte Gerry und stellte sich den Mädchen kurz als »Thommy« vor, bevor er weiterhastete. »Sorry, keine Zeit«, schnaufte er. »Sonst fangen sie ohne mich an.«

Thommys Kollegen warteten bereits auf ihn. Steve begrüßte das Publikum mit einigen freundlichen Worten und dann legte die Band auch schon los.

»Nicht schlecht«, entschlüpfte es Michaela, als sie das erste Lied hörte, das sehr temperamentvoll vorgetragen wurde.

Unwillkürlich entfuhr Gerry ein erleichterter Seufzer. Er hatte sich schon ein Worst Case Szenario ausgemalt, in dem ihr weder die Musik noch das Lokal gefiel und sofort wieder gehen wollte. Diese Gefahr schien zumindest für den Moment gebannt zu sein. Er klopfte den Takt der Lieder auf der Tischplatte mit und hörte am Rande dem Gespräch der Mädchen zu, die sich über Schule, Hobbys, Mode und andere Dinge unterhielten. So nebenbei schnappte er auf, dass Michaela noch zwei jüngere Schwestern hatte, gerne mit ihrem Moped fuhr und Pferde liebte.

»Hast du Lust, mal mit mir reiten zu gehen?«, fragte er sie daraufhin spontan.

»Du kannst reiten?« Ihre Augen blitzten auf. »Schaust gar nicht so aus.«

Er grinste schief. »Wie sieht denn jemand aus, der reiten kann?«

Sie zuckte nur mit den Schultern. »Dann weißt du bestimmt, wo hier in der Gegend ein Reitstall ist. Das habe ich bisher noch nicht herausbekommen.«

»Klar«, nickte Gerry. »Bei mir in der Nähe gibt es einen. Hast du Samstagvormittag Zeit? Wir könnten irgendwo ein Picknick machen.«

»Gern.« Michaela warf ihrer Freundin einen flüchtigen Blick zu. »Was ist mit Yvonne?«, flüsterte sie. »Sollten wir sie nicht auch einladen?«

Gerry zuckte resigniert mit den Schultern. »Frag sie.«

Doch Yvonne lehnte dankend ab. »Tut mir leid, Leute. Auf Pferde stehe ich so überhaupt nicht.«

Erleichtert atmete er aus. Er war lieber mit Michaela alleine. Verstohlen betrachtete er sie von der Seite. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre Augen blitzten fröhlich, als sie den Rhythmus eines temporeichen Liedes mitklatschte. Er fühlte, wie ihm warm wurde, und das lag nicht an der schwülen Hitze im Lokal. »Gefällt es dir?«, fragte er sie.

»Ja, ist nicht schlecht.« Michaela versuchte, herablassend zu klingen, doch dann küsste sie ihn spontan auf die Wange. Als er den Kuss jedoch erwidern wollte, wandte sie plötzlich den Blick ab und starrte ganz intensiv auf die Bühne.

Gerry war verwirrt. Ob dieser kleine Kuss sie derart verlegen gemacht hatte? Michaela schien ihn völlig vergessen zu haben, sie klatschte frenetischen Applaus, als das Lied beendet war. Doch er hatte das Gefühl, dass dies nur ein Vorwand war. Irritiert lehnte er sich zurück, als sein Blick auf einen Mann im Rollstuhl fiel, der eben angekommen war und mit einigen Freunden an der übernächsten Tischreihe Platz nahm. Das war es also. Michaela schien tatsächlich ein Problem damit zu haben, behinderten Menschen zu begegnen. Gerry war enttäuscht. Irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass sie derartige Vorurteile haben sollte, doch sie saß immer noch stocksteif neben ihm und hielt ihre Augen starr auf die Bühne gerichtet. Der Mann drehte den Kopf, als er Gerrys grübelnden Blick spürte, und zwinkerte ihm freundlich zu. Gerry hob in einer grüßenden Geste die Hand von der Tischplatte, aber seine Gedanken waren nach wie vor bei Michaela.

»Hast du was gegen Behinderte?«, flüsterte er ihr ins Ohr. Er hörte den Vorwurf in seiner Stimme und versuchte, ihn mit einem Lächeln zu mildern.

Michaela drehte sich nur halb zu ihm um. »Was meinst du?«, fragte sie mit gespielter Unschuld.

»Den Mann da drüben.«

Sie machte sich nicht die Mühe, seiner Kopfbewegung zu folgen. »Ach so, hab ich nicht gesehen.« Sie wandte sich wieder aufmerksam der Bühne zu.

Gerry biss sich auf die Unterlippe. Halt die Klappe, Wegener, sagte er zu sich selbst, du willst jetzt keinen Streit. Sei einfach ruhig. Doch er konnte es nicht lassen. Entgegen besseren Wissens raunte er Michaela ein beinahe aggressives »Glaube ich nicht« zu.

Sie zuckte mit den Achseln. »Und wenn schon. Ich muss mir das nicht anschauen.«

»Was ›das‹? Was ist so schlimm daran?«, reagierte Gerry verständnislos. »Wenn der Mann nicht an der Stirnseite sitzen würde, wäre der Rollstuhl von hier aus gar nicht zu sehen. Dann wäre er dir ganz normal vorgekommen. Was er übrigens mit Sicherheit auch ist.«

»Lass es Gerry, ich mag das nicht diskutieren.«

Yvonne sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Worüber redet ihr denn?«

»Über den Mann da drüben am Tischende«, gab Gerry bereitwillig Auskunft.

Sie reckte den Hals. »Der im Rollstuhl?«, fragte sie. »Hey, der schaut aber süß aus.«

»Spinnst du?« Michaela sah ihre Freundin perplex an.

»Wieso?«

Als Michaela keine Antwort gab, lachte Yvonne laut auf. »Mensch, ich will den Typ nicht heiraten und auch nicht mit ihm ausgehen. Ich sagte nur, dass er gut ausschaut. Ich stehe eben auf blonde Männer mit Schnurrbart.«

»Wirklich?« Gerry grinste und strich betont lässig über seine blonden Haare.

»Tut mir leid, du bist ein bisschen zu jung für mich«, bedauerte Yvonne mit einem fröhlichen Blitzen in den Augen. »Ich schwärme mehr für ältere Männer. Außerdem fehlt dir der besagte Schnurrbart.«

Gerry fuhr sich mit dem Finger über die Oberlippe. Für einen Schnauzer fühlte er sich eindeutig zu jung. Doch so schnell wollte er sich noch nicht geschlagen geben. »Der da drüben ist zu alt für dich«, wandte er ein.

Yvonne warf wieder einen abschätzenden Blick auf die übernächste Tischreihe. »Würde ich nicht sagen. Der ist höchstens zehn Jahre älter als ich.«

»Und wie alt bist du?«

»Vierundzwanzig.«

»Dann kannst du locker noch mal zehn Jahre dazurechnen. Der Mann könnte dein Vater sein.«

»So ein Quatsch.« Yvonne schüttelte vehement den Kopf, aber sie lachte dabei. »Also gut, ich lege noch ein paar Jahre drauf. Aber du musst zugeben, dass er höchstens wie Ende dreißig ausschaut.«

Gerry griff nach seinem Glas und nahm einen großen Schluck von der Cola. Das Wortgefecht mit Yvonne machte ihm Spaß. »Gebe ich zu, ja. Aber das heißt nicht, dass er nicht älter ist.«

»Könnt ihr damit nicht aufhören?«, wandte Michaela unbehaglich ein. »Was ihr da tut, ist doch voll peinlich. Er schaut schon dauernd zu uns her, als ob er wüsste, dass ihr über ihn redet.«

Gerry sah hoch und grinste zum Gegenstand ihrer Konversation hinüber. Der Andere nahm sein Glas und prostete ihm und den beiden Mädchen zu. Yvonne gab den Gruß mit einem strahlenden Lächeln zurück, Michaela schien jedoch wieder einen Punkt auf der Bühne ungemein interessant zu finden und gab vor, die Geste nicht zu sehen. Gerry verzichtete darauf, ihrem Rücken einen irritierten Blick zuzuwerfen, sondern hob stattdessen seine Cola und prostete zurück.

Ein lautes »Geht’s euch gut?«, das von der Bühne ins Publikum gerufen wurde, rettete die Situation. Gerry nahm die Gelegenheit gerne wahr.

»Das ist Thommys Standardspruch«, ließ er die Mädchen wissen, während das Publikum laut »Ja« rief, doch Thommy war damit nicht zufrieden.

»Seid ihr denn schon müde, Leute?«, fragte der junge Mann auf der Bühne und rief noch einmal, diesmal lauter und fordernder: »Geht’s euch gut?«

»Ja!«, brüllte das Publikum und diesmal war die Band zufrieden.

»Stimmung machen sie ja schon«, gab Michaela zögernd zu.

»Aber absolut.« Yvonne klatschte begeistert den Takt des nächsten Liedes mit. Nur Gerry war nicht ganz bei der Sache. Sein nachdenklicher Blick ruhte auf dem Mann im Rollstuhl, der sich inzwischen wieder mit den Gästen an seinem Tisch unterhielt.

 

»So, das war’s wohl«, meinte Gerry, als die Band kurz nach Mitternacht endgültig von der Bühne ging. Vier Zugaben hatte das Publikum ihnen abgefordert. Doch nun schien der Abend zu Ende zu sein.

»Schade«, sagte Yvonne bedauernd. »Ich bin gerade so richtig in Fahrt.«

Der Raum leerte sich schnell. Plötzlich kam der blonde Mann im Rollstuhl zu ihrem Tisch. »Hey Gerry, ich dachte, du kommst mal zu uns rüber.«

»Hey«, erwiderte Gerry und fühlte dabei Michaelas Blick wie einen Dolchstoß in seinem Rücken. Nun musste er wohl Farbe bekennen. »Sorry, hat sich nicht ergeben. Ich war überrascht, dich hier zu sehen.«

»Ja, ich auch«, schmunzelte sein Gegenüber. »Hatte ich eigentlich nicht geplant. Stellst du mir deine Begleitung vor?«

Gerry drehte sich um. »Das sind Michaela und Yvonne und das ist …« Er zögerte kaum merklich, bevor er fortfuhr: »… mein Freund Sandie.«

Sandie warf ihm einen flüchtigen, erstaunten Blick zu, dann bedachte er die Mädchen mit einem gutgelaunten »Hallo«. Yvonne erwiderte sein Lächeln freundlich, doch Michaela bückte sich gerade nach ihrer Jacke, die von der Stuhllehne gerutscht war. Sandie wandte sich wieder an Gerry. »Hübsche Mädels. Eine reicht dir wohl nicht?«, flüsterte er ihm zu.

»Wer hat, der hat«, feixte Gerry.

Sandie nickte. »Ja, das sehe ich. Also bis dann.«

»Tschüss.«

Gerry drehte sich um, um Yvonnes vorwurfsvollen Blick zu begegnen.

»Dein Freund, was?«, fragte sie. »Warum hast du das nicht vorhin erzählt? Du hättest mich gleich mit ihm bekannt machen können.«

»Das hätte nichts gebracht. Glaube mir, Yvonne, Sandie steht nicht auf Mädchen, die zwanzig Jahre jünger sind als er.«

»So ein Quatsch. Der ist höchstens zehn …« Sie sah Gerry unsicher an. »Bist du sicher?«

Er nickte. »Zufällig weiß ich, dass er letzte Woche seinen fünfundvierzigsten Geburtstag hatte.«

»Dann hat er sich aber wirklich gut gehalten. Was meinst du, Michaela?«

»Keine Ahnung. Können wir jetzt heimgehen?«

Gerry half ihr in ihre Jacke. »Bist du sauer?«

»Wieso sollte ich?« Sie lachte, doch es klang nicht echt. Sie sah auf ihre Uhr. »Gehen wir noch in eine Disco?«

»Ich kann dich gern irgendwo absetzen, wenn du willst, aber ich möchte morgen wenigstens einigermaßen ausgeschlafen sein.«

Michaela zuckte mit den Schultern. »Und du, Yvonne?«

»Ich passe auch. Leider sind die Zeiten für mich vorbei, als ich auf der Schulbank hinter meinem Vordermann versteckt eine Runde pennen konnte.« Sie gähnte. »Bist du so nett und bringst mich heim, Gerry?«

»Ja, natürlich. Ich möchte mich nur noch gern von der Band verabschieden.«

3

 

Im Haus brannte noch Licht, als Gerry eine knappe Stunde später Corinnas Polo in der Einfahrt parkte. In aller Ruhe sperrte er die Haustür hinter sich ab, streifte die Schuhe von den Füßen und schlenderte ins Wohnzimmer, wo sein Vater auf ihn wartete.

»Wacht die Obrigkeit darüber, wann ich heimkomme?«

»Ich dachte mir, dass es nicht mehr so lange dauern kann.« Sein Vater deutete auf die Flasche Mineralwasser, die auf dem Tisch stand. »Magst du?«

»Nein, danke.« Gerry ließ sich auf die Couch fallen. »Ich habe mir fast gedacht, dass du auf mich wartest.«

»Klar. Es interessiert mich schon, warum du auf einmal deinen alten Vater verleugnest und mich nur als Freund vorstellst.«

»Ich bin doch nicht verrückt, Mensch. Die Mädels hätten mich in Stücke gerissen. Die eine ist total verknallt in dich und die andere kriegt anscheinend Ausschlag, wenn sie einen Rollstuhl sieht. Ich setze mich doch nicht in die Nesseln und sage denen, dass du mein Vater bist. Dann würde ich jetzt noch dort stehen und versuchen, mich zu rechtfertigen.«

Sandie lehnte sich grinsend zurück. »Welche ist in mich verknallt, sagtest du?«

»Yvonne. Ich habe fünf Minuten zugebracht, um ihr klarzumachen, dass du zu alt für sie bist.«

»Danke. Sehr fürsorglich. Hast du ihre Adresse?«

»Die kriegst du bestimmt nicht. Glaubst du, ich will Krach mit Mama?« Gerry stand auf und reckte sich. »Warum warst du eigentlich da? Ich dachte, ihr wart bei Andis Eltern eingeladen.«

»Claudia hat kurzfristig abgesagt. Sie fühlte sich nicht besonders. Mama übrigens auch nicht, sonst wäre sie mitgegangen. Vielleicht ist irgendein Virus unterwegs. Ich habe dann ein paar Kollegen mobilisiert. Aber sag mal, Michaela, das ist deine neue Freundin, nicht wahr? Die zwei Minuten lang ihre Jacke auf dem Boden gesucht hat, nachdem sie sie ganz unabsichtlich vom Stuhl gestreift hat.«

Gerry schnaubte. »Dir entgeht aber auch nichts.«

»Lade sie doch mal zu uns ein.«

Das Schnauben wurde zu einem ungläubigen Huster. »Du gehst wohl keiner Konfrontation aus dem Weg, wie?«

»Vielleicht können wir ihre Vorurteile ein wenig abbauen.«

Gerry kaute auf seiner Unterlippe. »Zuerst will ich herausfinden, warum sie sich derart bescheuert benimmt.« Er gähnte herzhaft. »Aber nicht, bevor ich sie besser kenne. Und jetzt muss ich in die Falle. Gute Nacht.«

»Schlaf gut.«

 

Als Sandie sich in sein Bett umsetzte, blinzelte Corinna. »Hattest du einen schönen Abend?«

Er wandte sich zu ihr um. »Habe ich dich geweckt? Dabei war ich doch echt leise.«

»Nein, du hast mich nicht geweckt.« Sie strich ihm über den nackten Rücken. »Du weißt doch, dass ich ohne dich nicht besonders gut einschlafen kann.«

Sandie beugte sich zu ihr und küsste sie. »Geht es dir besser?«

»Ja, danke.« Corinna warf einen kurzen Blick auf die Uhr. »Ist Gerry auch schon zu Hause?«

»Er kam kurz nach mir.« Sandie schob seine Beine unter die Bettdecke und streckte einen Arm nach seiner Frau aus. Behaglich kuschelte sie sich an seine Schulter.

»Hast du seine Freundin auch gesehen?«

»Ja. Ein sehr hübsches Mädchen. Allerdings weiß ich nicht, ob sie wirklich seine Freundin wird.«

»Wieso das denn?«

Sandie lachte verhalten. »Na ja, sie scheint diese Schwellenangst Behinderten gegenüber zu haben. Und das passt Gerry nicht.«

»Natürlich nicht. Er nimmt das persönlich. Merkt man es ihr tatsächlich so deutlich an?«

»Sie ist einer der schlimmsten Fälle, die ich je getroffen habe. Sie ist lieber auf dem Boden herumgekrochen, als mich anzuschauen.« Zärtlich streichelte er ihre Wange. »Ich bin froh, dass du da anders bist.«

Sie kicherte. »Ich habe keine Probleme damit, dich anzuschauen. Und das gilt für alle Teile deines Körpers.«

»Da bin ich ja beruhigt.« Sandie drückte sie an sich. »Übrigens wird es morgen auch wieder später.«

»Irgendeine Verabredung, von der ich wissen sollte?«

»Große Feier im Betrieb.« In gespielter Ergebenheit schloss Sandie die Augen. »Die alte Henne geht in Rente.«

»Du meinst Frau Hahn?«, rügte Corinna mit aufgesetzter Strenge.

»Sage ich doch. Halleluja. Friede ihrer Asche.«

»Sandie.« Sie boxte ihn spielerisch in die Rippen. »So spricht man nicht von der Sekretärin des Chefs.«

»Für neunzig Prozent der Firma wird es keine Abschieds- sondern eine Freudenfeier.«

»Jetzt übertreib mal nicht. So schlimm ist Frau Hahn wirklich nicht.«

»Sie ist ein alter Drachen«, widersprach Sandie vehement. »Und sie hat Hanke bewacht wie ein Ei, das sie gerade ausbrütet. Leichter kriegt man eine Audienz beim Papst, als an ihr vorbei zum Chef zu kommen.«

Corinna schmunzelte. »Weißt du schon, wer ihre Nachfolge antritt?«

»Hanke sagte etwas von einer Spitzenkraft. Soll angeblich eine Bekannte von ihm sein. Da haben wir die Vetternwirtschaft schon wieder zusammen. Na ja, wir werden sehen. Schlimmer als vorher kann es nicht mehr werden.«

 

»Jetzt komm schon in die Hufe, Junge. Das Layout muss heute raus. Wenn du dich nicht beeilst, schaffen wir es nie rechtzeitig zur Feier.«

Sandie sah von seinem Computer auf, um seinem Kollegen Dieter einen kurzen Blick zuzuwerfen. Er war noch müde von dem langen Abend zuvor und hätte den Empfang nach der Arbeit am liebsten geschwänzt. Doch Frau Hahn hatte alle Mitarbeiter persönlich eingeladen und er fand keinen plausiblen Grund, um jetzt noch abzusagen.

»Ich hätte nichts dagegen, wenn ich hier so lange beschäftigt wäre, dass ich das ganze Getue verpasse«, grunzte er unwillig.

»So ein Unsinn«, widersprach Dieter. »Ich habe vorhin gesehen, welche Köstlichkeiten dafür angekarrt wurden. Das gibt ein Festessen, sage ich dir.« Er leckte sich genüsslich über die Lippen.

Sandie grinste. Dieter hatte sich besonders fein gemacht. Er trug eine graue Hose und ein schickes Sakko. Am Morgen war er sogar mit Krawatte erschienen, die er jedoch abgelegt hatte, als Sandie bei seinem Anblick laut herausgeprustet war. Er selbst hatte widerwillig Corinnas Drängen nachgegeben, wenigstens ein weißes Hemd anzuziehen. Die Leinenhose, die sie ihm herausgelegt hatte, hatte er allerdings verschmäht und sich stattdessen für eine schwarze Jeans entschieden. Es waren nun mal seine Lieblingshosen und bei der Arbeit am praktischsten. Er musste schon höllisch auf das weiße Hemd aufpassen. Feixend dachte er an Corinnas Gesichtsausdruck, als sie entdeckt hatte, dass er ein rotes T-Shirt darunter angezogen hatte. Er konnte von Glück sagen, dass sie ihm seine Klamotten nicht um die Ohren geschlagen hatte. Aber sie hatte keine Ruhe gegeben, bis er wenigstens das T-Shirt gegen ein weißes eingetauscht hatte.

Er schob sich von der Tischkante zurück. »Wir haben ja noch fast zwei Stunden Zeit«, beschwichtigte er seinen Kollegen. »Das reicht locker für das Layout. Ich hole mir erst mal einen Kaffee, sonst schlafe ich hier noch ein.«

Sandie machte sich auf den Weg zur Kantine, in der ständig frischer Kaffee für die Mitarbeiter bereitstand. Wie immer umfasste er die Ecksäule vor dem Eingang in den großen Raum mit der Hand und drehte sich mit Schwung um sie herum. Allerdings kam ihm dieses Mal jemand entgegen. Er sah nur einen vagen Schatten, war jedoch geistesgegenwärtig genug, seinen Rollstuhl mit einem schnellen Griff in die Greifräder zu stoppen. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass eine schlanke, ihm unbekannte Frau fast auf seinem Schoß landete. Sie bewahrte in letzter Sekunde ihr Gleichgewicht, doch den Becher Kaffee, den sie in der Hand gehalten hatte, leerte sie dabei über seiner Brust aus. Er zuckte zurück, als der heiße Kaffee ihn traf und sah dann fassungslos auf sein so gehegtes, ehemals weißes Hemd.

»Können Sie nicht aufpassen?«, fuhr er die Frau an, die ihm gegenüberstand, obwohl er genau wusste, dass es seine Schuld gewesen war.

»Entschuldigung«, murmelte sie. Sie hatte eine Hand vor den Mund geschlagen, als wolle sie ihr Entsetzen verbergen, doch die Laute, die Sandie hörte, klangen eher wie ein Kichern. Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus, und sie platzte laut heraus.

»Sehr witzig«, knurrte er und drehte sich um.

»Warten Sie, rennen Sie nicht davon.« Die Frau, die nach seiner Meinung etwa in seinem Alter sein musste, lief um ihn herum und stellte sich ihm in den Weg. »Es tut mir leid, dass ich lachen musste«, entschuldigte sie sich. »Aber Ihr Gesichtsausdruck war einfach zu komisch.« Sie wurde ernst. »Sie gehören doch hoffentlich nicht zu der Sorte Mensch, die schnell beleidigt ist, oder?«

Gegen seinen Willen musste Sandie lachen und sein Ärger verflog. Das freundliche, offene Gesicht der Frau war ihm sympathisch. Außerdem gab es nicht viele Leute, die sich trauten, im Zusammenhang mit ihm das Wort rennen zu benutzen. Das allein imponierte ihm schon. »Nicht wirklich«, gab er zu.

»Hervorragend.« Eine schmale Hand streckte sich ihm entgegen. »Ulla Hanke. Ich fange morgen hier offiziell als Sekretärin an.«

»Hanke?«, hakte Sandie nach, als er die gepflegte Hand schüttelte.

»Ja.« Sie lächelte. »Um die Frage vorwegzunehmen, die man mir inzwischen etwa zwanzig Mal gestellt hat, ja, ich bin mit Ihrem Chef verwandt. Er ist mein Schwager.«

Also doch Vetternwirtschaft, dachte Sandie, aber er konnte sein anzügliches Grinsen gerade noch zu einem freundlichen Lächeln umwandeln.

»Aha«, sagte er nur, als ihm einfiel, dass er sich ebenfalls vorstellen sollte. »Mein Name ist Alexander Wegener.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Frau Hanke erwiderte das Lächeln. »Was haben Sie denn jetzt vor?«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, in dem Hemd können Sie doch nicht zu Frau Hahns Abschiedsfeier gehen.«

»Ein guter Grund, dem Fest fernzubleiben.«

»Kommt nicht in Frage.« Frau Hanke schüttelte energisch den Kopf. »Kommen Sie mit. Für mich ist ein kleines vorläufiges Büro eingerichtet worden. Ich wasche ihnen die Flecken schnell heraus, dann lassen wir das Hemd auf der Heizung trocknen und wenn ich mich nicht irre, hat Frau Hahn in ihrem unerschöpflichen Bestand sogar ein Bügeleisen.«

»Wundert mich nicht«, murmelte Sandie.

»Eine Chefsekretärin muss auf alles vorbereitet sein. Kommen Sie.«

Er folgte der Frau in einen Raum in der Nähe des Vorstandszimmers.

»Also, runter mit dem Hemd.«

Sandie gehorchte. Während er sein Hemd aufknöpfte, betrachtete er verstohlen die neue Chefsekretärin. Sie war sehr attraktiv. Das kurze dunkelbraune Haar trug sie in einer eleganten Dauerwelle, was ihr ein würdiges Aussehen verlieh, das allerdings durch ihre joviale und freundliche Art wieder zunichtegemacht wurde. Sie war mittelgroß, schlank und modisch gekleidet. An der rechten Hand trug sie einen Ehering und einen Vorsteckring mit zwei kleinen Saphiren, sowie ein zartes Goldkettchen.

»Sie sind also Alexander der Große.«

»Wer bin ich?« Sandie hielt in der Bewegung inne und sah die neue Kollegin erstaunt an. Wer um alles in der Welt hatte ihr gegenüber diesen uralten Spitznamen ausgegraben?

»Wissen Sie denn nicht, wie man Sie nennt? Ihr Ruf ist Ihnen schon vorausgeeilt.« Frau Hanke streckte die Hand nach dem Hemd aus und Sandie reichte es ihr gehorsam.

»Doch«, gab er zu. »Allerdings ist das eine Ewigkeit her.« Er hoffte, dass die neue Sekretärin den Namen tatsächlich seiner Größe von 1,90 Metern zuordnete, die man ihm sogar im Rollstuhl ansah, und ihr die wahren Hintergründe dieser Bezeichnung verborgen geblieben waren.

Sie sah ihn prüfend an. »Ihr T-Shirt hat ebenfalls etwas abbekommen. Soll ich das auch mitnehmen?«

»Nein, danke. Die Flecken sieht man ja unter dem Hemd nicht.« Es wäre ihm einfach zu peinlich gewesen, mit nacktem Oberkörper vor dieser attraktiven und resoluten Frau zu sitzen.

»Okay.« Sie nickte, während sie ein Papiertaschentuch aus ihrer Rocktasche zog. »Hier sind auch noch ein paar Spritzer. Darf ich?« Mit einer Selbstverständlichkeit, die Sandie erstaunte, wischte sie seinen Rollstuhl ab. »So, jetzt dürften alle Spuren unseres ersten Treffens beseitigt sein.« Sie lächelte. »Ab morgen steht eine Kaffeemaschine zu meiner Verfügung. Darf ich Sie mal zu einer Tasse einladen? Als Ausgleich für den, mit dem ich Sie getauft habe.«

»Es war ja eigentlich meine Schuld«, gab er zu. »Aber ich komme gern. Allerdings muss ich jetzt noch etwas arbeiten. Sonst bin ich zur Feier nicht fertig.«

»Das wäre schade.«

»Ja, das wäre es wirklich.« Sandie stellte fest, dass er sich plötzlich auf die Betriebsfeier freute. Vielleicht ergab sich dabei die Möglichkeit, diese Bekanntschaft zu vertiefen. Als Frau Hanke ihm die Hand reichte, elektrisierte ihn die Berührung. Tief verwirrt drückte er fester zu, als er beabsichtigt hatte und fühlte deutlich, wie zwischen ihnen ein Funke der Sympathie übersprang.

Sie öffnete ihm die Tür. »Ich bringe Ihnen nachher das Hemd vorbei.«

Sandie fühlte sich abrupt in die Realität zurückgeholt. »Ich kann es auch holen«, erwiderte er nüchtern. »Sie wissen doch gar nicht, wo mein Zimmer ist.«

»Werde ich schon finden. Es wird schließlich Zeit, dass ich mich hier im Haus auskenne.« Die sympathische Frau lachte. »Ich frage einfach nach dem großen Alexander.«

 

Frau Hahn saß auf einem Stuhl inmitten ihrer Kollegen und jammerte. Sie bedauerte es, dass Sie aus Altersgründen in den Ruhestand gehen musste und die Geschicke der Firma nicht mehr leiten konnte.

»Gut gesagt«, raunte Dieter Sandie zu. »Ohne sie hätte die Firma wirklich schon längst bankrott gemacht. Hoffentlich wacht die Neue auch so fürsorglich darüber, dass unser Boss beim Zeitungslesen nicht gestört wird. Wo ist sie überhaupt?«

»Da hinten beim Buffet.«

Dieter reckte den Hals, aber er konnte niemanden entdecken, auf den Sandies Beschreibung zutraf.

»Wo denn?«

»Mensch, du hast doch den besseren Blickwinkel als ich.« Sandie stemmte sich hoch und beugte sich zur Seite, damit er an einem voluminösen Kollegen vorbei sehen konnte. »Du hättest eben vorhin da sein sollen, als sie mir mein Hemd gebracht hat.« Er erhaschte einen kurzen Blick auf die neue Mitarbeiterin. »Komm, wir gehen hin«, schlug er Dieter dann vor. »Ich stelle dich vor.«

»Frau Hanke?«

Die Angesprochene drehte sich um. »Ja?« Als sie Sandie sah, lächelte sie freundlich. »Herr Wegener, Sie haben es also doch noch rechtzeitig geschafft.«

»Ich möchte Ihnen gern einen Kollegen vorstellen. Dieter Krämer.«

»Ah ja.« Frau Hanke gab Dieter die Hand. »Ich freue mich sehr.« Sie lächelte charmant. »Hoffentlich kann ich mir Ihren Namen merken, Herr Krämer. Ich bekam heute schon so viele Leute vorgestellt, dass mir der Kopf schwirrt.«

»Frau Hanke, haben Sie einen Moment Zeit?«, rief es von der Tür her.

»Ja, ich komme.« Sie nickte den Männern freundlich zu. »Sie entschuldigen mich bitte, ja?«

»Natürlich«, murmelte Dieter, dann wandte er sich an Sandie. »Eine klasse Frau.«

»Ja.« Sandie sah ihr nach. Sie wurde an der Tür von einem Mann erwartet, der ihr flüchtig die Hand auf den Rücken legte und sie hinaus schob. »War das nicht Lehmann aus der Buchhaltung?«, fragte er.

»Achim?« Dieter trat einen Schritt vor, doch die Tür hatte sich schon geschlossen. »Keine Ahnung, aber was sollte der von Frau Hanke wollen?«

»Weiß ich nicht. Es kam mir nur irgendwie komisch vor.«

Dieter lachte. »Hör bloß auf, Junge. Was soll da komisch sein? Komm, wir holen uns noch etwas zu trinken.« Er drehte sich noch einmal kurz zu der Tür um, durch die die neue Sekretärin gerade verschwunden war. »Ich möchte fast wetten, deinen Namen merkt sie sich«, meinte er.

»Meinen Namen kann sie auch mit einem besonderen Merkmal verknüpfen«, grinste Sandie ironisch, dann sah er seinen Kollegen spöttisch an. »Bei so einem Allerweltsgesicht wie deinem tut man sich da als Frau halt schwer.«

Dieter schnitt eine Grimasse. »Na, ganz ehrlich, ich bin auf dein besonderes Kennzeichen nicht so scharf. Da soll die werte Dame lieber dreimal nach meinem Namen fragen.« Er schlug Sandie freundschaftlich auf die Schulter. »Komm, wir mischen uns wieder unters Volk. Mal hören, welche mütterlichen Ratschläge unser Hähnchen noch für uns hat.«

 

Es wurde spät. Sandie hatte sich vorgenommen, spätestens gegen neun Uhr zu verschwinden, doch dann war es zwei Stunden später, als er sich von Frau Hahn verabschiedete und ihr alles Gute wünschte.

Die ältere Dame brach beinahe in Tränen aus. So unbeugsam sie in früheren Zeiten ihren Arbeitgeber verteidigt und sogar beschützt hatte, so gerührt war sie an diesem Tag. Sandie fürchtete schon, sie würde seine Hand gar nicht mehr loslassen. Erst, als er ihr dreimal versprochen hatte, Corinna zu grüßen und gut auf sich aufzupassen, konnte er gehen.

Frau Hanke lächelte ihm zu. »Frau Hahn hat wohl einen Narren an Ihnen gefressen?«, meinte sie.

»Leider merke ich das heute zum ersten Mal. Wir beide haben schon einige Hahnenkämpfe ausgefochten.« Sandie lachte, als ihm sein unbewusstes Wortspiel aufging.

Auch Frau Hanke lachte. »Ich hoffe, wir werden auch gut miteinander auskommen. Ein bisschen Angst habe ich schon, ob ich als Nachfolgerin von Frau Hahn anerkannt werde.«

»Natürlich. Ich glaube nicht, dass Sie da Probleme bekommen werden.«

»Danke. Sie wissen gar nicht, was mir Ihr Zuspruch bedeutet. Ich erwarte Sie in den nächsten Tagen zum Kaffee im Chefsekretariat. Einverstanden?«

»Habe ich Ihnen ja schon versprochen. Und vielen Dank noch mal, dass Sie mein Hemd gerettet haben. Das erspart mir die Standpauke meiner Frau.«

»Gern geschehen.« Frau Hanke musterte ihn neugierig, sagte jedoch nichts mehr. Allerdings fühlte Sandie ihren Blick in seinem Rücken, bis er die Tür hinter sich schloss.

4

 

Corinna öffnete ihm die Haustür. »Na, war es nett?«, fragte sie mit einem anzüglichen Blick auf die Uhr.

»Ja, netter, als ich erwartet hatte.« Während er sich seiner Jacke entledigte, erzählte Sandie bereitwillig von seinem Zusammentreffen mit Frau Hanke.

Corinna lachte kopfschüttelnd. »Dir darf man nichts Ordentliches anziehen. Das musste ja schief gehen.« Dann deutete sie zum Wohnzimmer. »Gerry wartet noch auf dich. Er will etwas mit dir besprechen. Magst du noch einen Kaffee?«

»Ja, gern. Was gibt es denn so Wichtiges?« Sandie öffnete die Tür zum Wohnzimmer. »Hi Gerry. Was tust du denn am Freitagabend daheim?«

»Ich hatte keine Lust, heute schon wieder wegzugehen. Aber ich würde gern etwas mit dir bereden.«

Sandie nickte. »Mama hat so was angedeutet. Also, schieß los.«

»Ich war heute bei Michaela.«

»Habt ihr gelernt?«

»Das wollten wir. Dabei hat sie mich eher vom Lernen abgehalten. Aber es geht um Yvonne.«

»Das Mädchen, das in mich verknallt ist?« Sandie hob die Augenbrauen. »Was wollte sie?«

»Sie wohnt neben Michaela und kam kurz herüber, als sie mich sah. Sie hat eine Freundin, deren Schwester wieder eine Freundin hat.« Gerry winkte ab. »So ähnlich zumindest. Auf jeden Fall hat diese Freundin einen Cousin, der letztes Jahr einen Autounfall hatte und seitdem querschnittgelähmt ist.«

»Kommt mir bekannt vor«, murmelte Sandie.

»Dieser Cousin lebt in München allein in einer Wohnung. Sein Vater versorgt ihn mit allem, was er braucht, lässt sich aber nie bei ihm sehen. Seine Cousine und ihre Eltern haben sich bisher um ihn gekümmert, aber sie ziehen weg. Jetzt sucht sein Vater jemanden für diesen Job. Yvonne hat gestern gehört, dass ich für ein Auto spare und meint, das könnte etwas für mich sein.«

»Weil du einen behinderten Freund hast.«

Gerry grinste frech. »Das gab wohl den Ausschlag. Es soll ganz gut bezahlt sein, sagte sie.«

»Und wo ist der Haken an der Sache?«

»Nachdem, was Yvonne von ihrer Freundin weiß, muss er ein ziemlicher Kotzbrocken sein. Knabbert wohl noch an den Folgen seines Unfalls.«

»Kann ich mir vorstellen.« Sandie dachte einen Augenblick nach. »Was hat Mama dir geraten?«

»Sie hat nur gelacht und mich an dich verwiesen.«

»Sie hat also gelacht, interessant.« Sandie schnitt eine Grimasse. »Warum nur?«

Corinna, die gerade den Kaffee hereinbrachte, hatte die letzten Worte gehört. »Du kannst eine solche Frage schließlich am besten beantworten, oder etwa nicht?«, fragte sie mit scheinheiligem Augenaufschlag. »Magst du auch eine Tasse?«, wandte sie sich an Gerry, aber der winkte ab.

»Du weißt doch, dass ich nicht auf dieses Gesöff stehe.« Er deutete auf sein Saftglas. »Außerdem habe ich noch.«

Corinna setzte sich und sah Sandie fragend an. »Ich glaube, Gerry würde diesen Job gerne machen. Was meinst du dazu?«

»Wäre bestimmt eine interessante Erfahrung«, gab Sandie zu und wandte sich an seinen Sohn. »Aber kannst du so kurz vor dem Abitur eine solche Belastung brauchen?«

»Jetzt vielleicht nicht, aber in vier Wochen sind die Prüfungen geschrieben. Wie sieht es dann aus? Bis zum Semesterbeginn würde ich gerne ein wenig Geld verdienen. Außer du würdest dich zu einer größeren Spende hinreißen lassen?« Gerry ließ die Frage erwartungsvoll im Raum hängen.

»Wenn ich im Lotto gewinne«, erwiderte Sandie.

»Vielleicht solltest du dann mal anfangen, zu spielen«, seufzte Gerry und kam nach einer kurzen Pause zum Thema zurück. »Es wäre mal was anderes als beispielsweise im Supermarkt Regale einzuräumen.«

»Schon, aber auch schwieriger. Außerdem hast du ein gewisses Maß an Verantwortung.«

»Immerhin hat Gerry keine Berührungsängste«, unterstützte Corinna ihren Sohn.

»Ja, aber wie ist es, wenn der Junge mit dem Schicksal hadert und das an seiner Umwelt auslässt?« Sandie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Weißt du, wie hoch der Querschnitt bei ihm ist?«

»Keine Ahnung.«

»Du musst dich auf jeden Fall erkundigen, worauf du dich einlässt, bevor du dir etwas auflädst, das du nicht bewältigen kannst.«

»So schlimm wird es schon nicht werden.«

»Sucht dieser Vater nur einen Gesellschafter oder einen richtigen Betreuer für seinen Sohn? Das solltest du wissen, bevor du dich entscheidest.«

»Yvonne meinte, ich könnte jederzeit dort anrufen und einen Gesprächstermin ausmachen, wenn ich interessiert bin. Es scheint ziemlich dringend zu sein. Die Aufgabe würde mich schon reizen, aber ich möchte wissen, wie du grundsätzlich zu der Sache stehst.«

»Generell ist es sicher nicht schlecht.«

»Gerry würde wenigstens dafür bezahlt«, warf Corinna gleichmütig ein.

»Willst du damit andeuten, dass ich dich für ähnliche Anstrengungen nicht entlohnt habe?«, fragte Sandie lauernd. »Schließlich habe ich dich geheiratet.«

»Ich hoffe, diese Belohnung bleibt ihm erspart.«

Gerry lachte. »Müsst ihr euch eigentlich dauernd kabbeln? Ich habe hier ein ernstes Problem. Also sagt mir, was ich tun soll.«

»Na gut.« Sandie wandte sich ihm zu. »Erkundige dich zuerst mal, was alles von dir verlangt wird. Wenn du meinst, du schaffst es, kannst du den Job gerne annehmen. Allerdings sollten deine Prüfungsvorbereitungen nicht darunter leiden. Aber vielleicht hat die Sache ja noch etwas Zeit. Ich kann mir im Grunde keinen Besseren dafür vorstellen.« Seine Augen funkelten. »Außer Michaela hätte Interesse?«

Grinsend schüttelte Gerry den Kopf. »Es tut mir leid, das über meinen Vater sagen zu müssen, aber du bist wirklich unmöglich.« Er stand auf und gähnte ausgiebig. »Ich werde da morgen mal anrufen und mich informieren. Und jetzt stört es euch hoffentlich nicht, wenn ich euch verlasse«, meinte er. »Mein Bett ruft.«

Sandie und Corinna blieben noch sitzen, um ihren Kaffee auszutrinken. Sandie streckte sich ausgiebig. »Endlich Wochenende. Ich muss mal wieder gründlich ausschlafen. Haben wir morgen irgendetwas vor?«

»Du hast mir versprochen, die Schublade vom Buffet im Esszimmer zu reparieren, die immer von selbst aufgeht. Und um den Lift solltest du dich auch mal kümmern.«

Sandie stöhnte. »Stimmt. Das elende Ding verweigert immer noch den Dienst.«

Ungerührt hob Corinna ihre Tasse. »Wir können auch einen Fachmann holen«, schlug sie vor.

»Das ist nur was in der Elektronik. Das kriege ich selber hin.«

»Dann kümmere dich mal darum.«

»Muss das unbedingt morgen sein?«

»Nein.« Corinna lehnte sich zurück. »Ich brauche keinen Lift, um in den Keller oder in den ersten Stock zu kommen.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst.« Sandie versuchte, seiner Stimme einen sarkastischen Klang zu geben.

»Gern geschehen.« Sie lächelte. Sie wusste genau, warum er davor zurückscheute, festzustellen, wieso der Lift vor einigen Tagen gestreikt hatte. Während sie selbst und die Kinder innerhalb von Sekunden über die Treppen laufen konnten, musste Sandie jedes Mal umständlich den Treppenlift benutzen, der ihm seine Behinderung deutlich vor Augen führte. Ein defekter Lift war ein perfekter Vorwand, ihn nicht nutzen zu müssen.

Er rieb sich über den Oberschenkel. Corinna kannte die Geste, die er unbewusst einsetzte, wenn er sich unwohl fühlte und nach einer passenden Antwort suchte.

»Eigentlich ist es ja ganz praktisch so«, meinte er schließlich. »Jetzt kann ich die Kinder bitten, mir mal ein Bier aus dem Keller zu holen, und brauche mich nicht mehr selbst zu kümmern.«

»Das tun sie doch sowieso«, widersprach Corinna. »Ohne dass du dich auf deinen Status als armer Behinderter und einen kaputten Lift berufst.« Sie wurde ernst. »Nein wirklich, du musst dich darum kümmern. Sandra ist traurig, dass du nicht mehr zu ihr nach oben kommst, wenn sie ins Bett geht. Das ist doch ein guter Grund, oder?«

Das musste Sandie zugeben. Auch er vermisste das Gute-Nacht-Ritual, das er schon seit Sandras Geburt pflegte.

»Na gut. Ich werde mich morgen darum kümmern. Aber jetzt muss ich ins Bett. Sonst falle ich dir hier noch vor die Füße.«

»Du willst ja nur, dass ich dich hinterher aufsammele.« Corinna lachte, aber sie stand bereitwillig auf. »Geh schon vor, ich räume nur noch die Tassen weg.«

 

»Kann ich noch einmal dein Auto haben, Mama?«, fragte Gerry am nächsten Morgen beim Frühstück. »Ich möchte mit Michaela zum Reiten gehen.«

»Ich habe gehofft, du hilfst mir dabei, den Lift zu reparieren«, wandte Sandie ein.

»Vielleicht heute Nachmittag.« Gerry setzte eine unschuldige Miene auf. »Tut mir echt leid, Alter, wenn du gestern etwas davon gesagt hättest …«

»Da wusste ich es selbst noch nicht«, erklärte Sandie mit einem Seitenblick auf Corinna. »Deine Mutter hat sich das in den Kopf gesetzt. Na, macht nichts, ich komme auch alleine damit klar.«

»Zuerst reparierst du die Schublade, ja?«, warf Corinna ein. »Ich habe mich schon ein paar Mal daran angeschlagen.«

»Bist du schon mal auf die Idee gekommen, sie auszuräumen?«

»Ja, stell dir vor.« Sie bemühte sich, den giftigen Tonfall zu unterdrücken, der sich in ihre Stimme schleichen wollte. Sandie war sehr geschickt in handwerklichen Dingen und half überall bei seinen Freunden bereitwillig aus. Doch zu Hause ließ er nötige Reparaturen gerne schleifen und das ärgerte sie. »Hat aber nichts geholfen«, fügte sie hinzu.

»Wenn du weißt, dass sie von alleine aufgeht, musst du eben immer damit rechnen, dass sie es auch tut.«

Corinna setzte zu einer genervten Antwort an, doch Sandie hatte sich bereits Sandra zugewandt, die ihm ihren Traum erzählen wollte.

Nach dem Frühstück ließ er seinen Rollstuhl ein Stück zurückrollen, um ihn dann mit Schwung herumzudrehen. Schweigend beobachtete Corinna, wie hinter ihm, vielleicht ausgelöst durch die schwache Erschütterung des Bodens, die defekte Schublade leise und ohne Vorwarnung aufglitt. Als er sich umdrehte, knallte er mit der Schulter gegen die Kante der Lade.

»Aua«, stöhnte er, rieb sich die Schulter und rammte mit der anderen Hand zornig die Schublade zu. Unbeeindruckt von seinem Wutanfall glitt sie wieder auf.

»Reparierst du sie jetzt?«, fragte Corinna sanft.

Er sah sie finster an. »Du hast das doch gesehen, oder?«

»Natürlich. Aber wenn du dich nur von den Tatsachen überzeugen lässt, sollst du sie auch haben. Du weißt doch, dass die Schublade von selbst aufgeht, also musst du auch damit rechnen, dich anzuschlagen.«

Unwillkürlich musste Sandie lachen. »Erinnere mich daran, mich nie auf ein rhetorisches Duell mit dir einzulassen.« In einer gespielt hilflosen Geste hob er die Hände. »Leider steht mein Werkzeug im Keller«, wandte er ein. »Und wie du weißt, ist der Lift kaputt.«

»Sandra, kannst du bitte Papas Werkzeugkoffer aus dem Keller holen?«, bat Corinna ihre Tochter, die auch sofort losflitzte.

»Aber ich habe mir bestimmt die Schulter geprellt«, wagte Sandie einen letzten Versuch. »Sie tut so weh, dass ich sicher nicht arbeiten kann.«

»Du Ärmster«, spottete Corinna. »Warum musst du dann dabei lachen? Aber ich werde dafür sorgen, dass die nächste Schublade, die von selbst aufgeht, in Kniehöhe ist. Dann spürst du es wenigstens nicht, wenn du dagegen rennst.« Sie stand auf, legte von hinten ihre Arme auf seine Schultern und küsste ihn auf die Wange. »Komm schon, Schatz. So schwierig kann das doch nicht sein. Du kannst doch alles.«

Resignierend schüttelte Sandie den Kopf und zog sie auf seinen Schoß. »Ich sollte an die Zeitung schreiben, wie hier mit einem armen Krüppel umgesprungen wird.«

Gerry lachte. »Lass dich nicht unterkriegen, Alter«, riet er seinem Vater und klopfte ihm im Vorbeigehen freundschaftlich auf die Schulter. An der Tür blieb er noch einmal stehen und drehte sich um, doch seine Eltern hatten begonnen, sich zu küssen und achteten nicht mehr auf ihn. Mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen lief er in die Küche, wo er einige Sachen für das Picknick mit Michaela bereitgestellt hatte.

 

»Ist das herrlich hier.« Das junge Mädchen hielt ihr Gesicht einen Moment in die warme Maisonne. »Eine schöne Gegend.«

»Das stimmt.« Gerry sah sich um, während sein Pferd Blue in gemächlichem Schritt dahintrottete. Auch ihm gefiel der Ausritt. Er staunte, wie sich die Natur in den letzten drei Wochen verändert hatte. Noch im April hatte es heftige Schneeschauer gegeben, nun ritten sie an Wiesen entlang, die vom Löwenzahn in gelbe Meere verwandelt worden waren. Am Wegesrand blühte eine Zierkirsche und streute ihre rosa Blüten auf sie herab. Kein Wölkchen trübte den blauen Himmel. Es war einfach perfekt. Gerry lenkte Blue neben Michaela. »Gefällt es dir?«, fragte er. Es war mehr eine rhetorische Frage, denn er konnte ihr ansehen, wie viel Spaß sie an dem Ritt hatte.

»Natürlich.« Sie klopfte ihrem Pferd den Hals. »In den letzten Wochen hatte ich wegen des doofen Umzugs keine Zeit zum Reiten. Es hat mir richtig gefehlt.«

»Wo hast du denn vorher gewohnt?«

»In der Gegend von Stuttgart. Und davor in Frankfurt.«

»Du bist viel herumgekommen.«

»Es geht.« Michaela warf einen Blick auf Gerrys prallgefüllte Satteltaschen. »Wann rasten wir denn? Ich würde gern etwas trinken.«

Er deutete zum nahen Waldrand. »Ein Stück weiter ist ein gemütlicher Platz. Direkt am Bach.« Übermütig trieb er Blue an. Michaela folgte ihm sofort. In schnellem Galopp legten sie die Strecke in weniger als einer Minute zurück.

Gerry nahm die Decke, die er hinter seinem Sattel aufgeschnallt hatte und breitete sie auf dem Boden aus. Dann packte er die Sachen aus, die er mitgenommen hatte: Getränke, Brot, Wurst, Käse, Obst und einige Süßigkeiten.

»Du hast ja wirklich an alles gedacht«, meinte Michaela und ließ ihren Blick über das Angebot schweifen.

Gerry öffnete eine Dose Cola. »Hier, bitte.«

»Danke.« Sie nahm einen tiefen Schluck. »Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dieses Wochenende zu lernen, damit ich den Anschluss schaffe«, sagte sie und wischte sich über den Mund. »Aber ich muss zugeben, hier gefällt es mir viel besser.« Sie verzog die Mundwinkel. »Dafür wird es vermutlich ein Donnerwetter von meinem Vater geben, wenn ich heimkomme.«

»Wieso das denn?«

»Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass ich ein ausgezeichnetes Abitur mache. Der Schulwechsel hat mich natürlich sehr zurückgeworfen, aber das lässt er nicht gelten. Er meint, das könne ich mit ausdauerndem Lernen ausgleichen.« Sie sah auf den Boden. »Wenn es nach meinen Eltern geht, dürfte ich gar nichts anderes mehr machen als lernen. Aber dafür habe ich heute Nachmittag auch noch Zeit.«

Als sie aufsah, lachte sie bereits wieder. »Bist du schon mal vom Pferd gefallen?«, wechselte sie abrupt das Thema.

»In letzter Zeit nicht mehr«, antwortete Gerry bereitwillig. »Aber als ich sieben war, habe ich mir bei einem Sturz den Knöchel gebrochen.«

»Ups.« Michaela verzog das Gesicht. »Das war bestimmt nicht so toll.«

»Nö, nicht wirklich. Es war ungefähr die dritte oder vierte Reitstunde, die ich hatte. Meine Eltern hatten sie mir zum Geburtstag geschenkt und mein Vater ist immer mit mir hingegangen.« Ein kurzer Schatten legte sich über Gerrys Augen. »Es war eine der wenigen Sachen, die er mit mir unternommen hat.«

»Wieso das?«

»Ach, er hatte nie Zeit«, winkte Gerry ab. »Seine Karriere hatte immer Vorrang.«

»War das schlimm für dich?«

»Es ging schon.« Er zuckte mit den Schultern. »Andere Väter müssen auch viel arbeiten, ich sollte mich also nicht beschweren. Aber mein Papa bekam das Angebot, nach New York zu gehen und dafür hat er geackert wie ein Stier.«

»Vermutlich konnte er das Angebot nicht wahrnehmen, oder?«

»Nein, ein Kollege hat sich den Job geangelt.« Gerry hielt inne. »Woher weißt du das?«

»Weil du sonst wohl nicht hier wärst, oder?«

»Wahrscheinlich.« Sinnierend dachte er zurück. Bestimmt wäre vieles anders gekommen, wenn es damals mit New York geklappt hätte.

Michaela beschattete ihre Augen gegen die Sonne. »Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen.«

Gerry drehte sich zu ihr. »Warum?«

»Wegen vorgestern Abend. Ich habe das Gefühl, dass ich mich total idiotisch benommen habe.« Sie legte sich auf den Bauch und starrte ins Gras. Verlegen zupfte sie an einigen Halmen, die unter der Decke hervorlugten.

Gerry legte sich neben sie. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Aber ein bisschen komisch war deine Reaktion schon, das muss ich zugeben.«

Michaela kicherte nervös und zerpflückte zwei weitere Halme. Gerry wartete schweigend ab. Er hätte gern den Arm um ihre Schultern gelegt, widerstand aber der Versuchung. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er sich damit auf verbotenes Terrain wagen würde. Außerdem suchte Michaela gerade angestrengt nach Worten und er wollte sie nicht ablenken.

»Es war damals in Frankfurt«, begann sie schließlich leise und mehr zu sich selbst. »Ich war in der ersten Klasse. Mein Schulweg führte direkt an einem Heim für behinderte Kinder vorbei. Am zweiten Schultag fragte ich meine Mutter, warum manche der Kinder so komisch aussahen und was das für seltsame Stühle waren. Ich weiß noch genau, wie sie plötzlich ganz fest meinen Arm gepackt und mich weitergeschleift hat. Ich bekam dann eine Standpauke, dass man so etwas nicht fragt und dass man da auf keinen Fall hinschauen darf. Die armen Kinder wären schon genug gestraft und das gehöre sich nicht. Antwort auf meine Frage gab sie mir keine.«

Gerry hörte ihr interessiert zu. »Und dann?«

»Nach einer Weile durfte ich den Weg allein gehen. Ich war immer froh, wenn keine Kinder im Hof waren, weil ich es nie lassen konnte, doch hinzuschauen und dabei immer das Gefühl hatte, etwas furchtbar Verbotenes zu tun. An schönen Tagen waren mittags aber ständig welche draußen. Meistens bin ich auf die andere Straßenseite gewechselt, so wie es meine Mutter mir befohlen hatte, aber ab und zu hat die Neugier gesiegt und ich bin direkt an der Einzäunung vorbeigegangen und habe geguckt.«

»Welch furchtbares Verbrechen«, spottete Gerry gutmütig. »Wie alt warst du da? Sechs? Kinder sind eben neugierig, das ist doch völlig normal. Deine Mutter hätte ganz vernünftig mit dir darüber reden sollen.« Er fühlte sich beschämt. Er hatte Michaela wegen ihrer Reaktion vorverurteilt, doch nun konnte er ihre Schwellenangst und Unsicherheit verstehen.

»Das ist nicht alles.« Sie starrte auf den Boden und eine feine Röte überzog ihr Gesicht.

»Du musst es nicht erzählen, wenn du nicht willst.«

»Ich hab das wirklich sonst noch niemandem gesagt.« Ihre Stimme war so leise, dass Gerry sie kaum verstehen konnte. »Irgendwann kam einer der größeren Jungen im Rollstuhl an den Zaun, beschimpfte mich und warf einen Stein nach mir.«

»Hat er dich getroffen?«

»Ja, hier an der Schläfe.« Sie schob ihre Haare zur Seite und zeigte ihm die schmale Narbe, die ihm schon zuvor aufgefallen war. »Es war eine ziemlich tiefe Platzwunde und hat scheußlich weh getan. Musste sogar genäht werden. Ich bin heulend nach Hause gelaufen. Natürlich wollte meine Mutter wissen, wie es dazu gekommen war. Sie war furchtbar böse, als ich es ihr erzählt habe. Sie schimpfte, dass das die gerechte Strafe sei und ich nun hoffentlich gelernt hätte, dass man die armen Krüppel nicht anstarrt.«

»Das ist nicht wahr.« Gerry war fassungslos.

»Doch. Meine Mutter ist…« Michaela suchte nach einem passenden Wort, fand aber keines. »Es hätten genausogut Ausländer sein können«, meinte sie dann. »Alles, was irgendwie anders ist als sie, macht sie total nervös.«

»Und diese Einstellung hat sie an dich weitergegeben?«

»Ich weiß, dass es falsch ist«, gab Michaela zu. »Aber immer wenn ich jemandem im Rollstuhl begegne, sehe ich wieder das vor Wut verzerrte Gesicht des Jungen vor mir und den Stein, den er nach mir wirft. Ich habe einfach keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll. Wahrscheinlich erwarte ich unbewusst, dass sofort wieder ein Stein geflogen kommt, wenn ich auch nur den Kopf hebe.«

Gerry betrachtete angestrengt ein Kleeblatt direkt vor seiner Nase. »Tut mir echt leid«, murmelte er. Er ahnte, wie schwer Michaela diese Beichte gefallen war und er rechnete es ihr hoch an, dass sie sich ihm anvertraut hatte.

Für einen Moment starrte sie auf dasselbe Blatt. »Warum sitzt dein Freund im Rollstuhl?«, wollte sie dann wissen.

»Sandie, meinst du? Er hatte einen Autounfall. So ein Idiot hat auf einer Hügelkuppe einen Lastwagen überholt. Sandie hatte das Pech, ihm entgegenzukommen.«

»Das ist ja scheußlich.« Michaelas Anteilnahme war echt. »Das muss ein furchtbarer Moment gewesen sein. Wie lange ist das her?«

»Etwa zwölf Jahre.«

»Kanntest du ihn damals schon?«

»Zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht, aber ich habe ihn ein knappes Jahr später kennengelernt. Da war ich acht.«

»Du hattest bestimmt nicht so eine komische Angst wie ich.«

»Sandie war auch für mich der erste Behinderte. Aber meine Mutter hat mir alle meine Fragen einfach beantwortet und nicht so viel Aufhebens davon gemacht. Sandie war für mich ein ganz normaler Kerl. Er konnte halt nicht laufen. Aber er hat mit mir Eisenbahn gespielt und mir beigebracht, Gitarre zu spielen.«

»Ist eine super Einstellung, die du da hast. Trotzdem wundert es mich, dass ihr befreundet seid. Ich meine, du warst damals doch noch ein Kind und er ein erwachsener Mann.«

»Ja, unser Altersunterschied beträgt fast sechsundzwanzig Jahre«, erklärte Gerry. Er setzte sich auf und zog die Knie an die Brust. »Ich glaube, es wird Zeit, dass ich dir ein Geständnis mache. Sandie ist nämlich nicht nur mein Freund, er ist auch mein Vater.«

5

 

»Was?« Michaela fuhr hoch. Verwirrt starrte sie Gerry an. Er konnte die verschiedensten Regungen an ihrer Miene ablesen. Überraschung, Verwirrung, Ärger, Verlegenheit, Ratlosigkeit, sogar Mitleid.

»Aber du sagtest doch gerade, dass du ihn erst getroffen hast, als du acht Jahre alt warst«, stotterte sie schließlich.

»Stimmt.«

»Also ist er dein Stiefvater?«

»Nein, er ist mein leiblicher Vater.«

Michaela stöhnte. Skeptisch sah sie Gerry an. »Wie wäre es, wenn du von vorn anfängst und mich ordentlich aufklärst?«

Er lachte. »So verzwickt, wie es sich anhört, ist es gar nicht. Meine Mutter hat Sandie zu Beginn ihrer Studienzeit kennengelernt. Bei ihr muss es Liebe auf den berühmten ersten Blick gewesen sein.«

»Bei ihm nicht?«

»Doch, schon. Allerdings war er verlobt mit einem reichen Mädchen namens Monika. Er wollte sie verlassen, aber es gab da ein paar Missverständnisse, die zur Trennung von Sandie und meiner Mama führten. Er hat dann doch Monika geheiratet, aber die Ehe hat nur einige Jahre gehalten. Ich kann mir Sandie überhaupt nicht mit einer reichen Erbin vorstellen, so was ist gar nicht sein Stil.« Er schnaubte. »Auf jeden Fall stellte meine Mutter wenig später fest, dass ihre kurze, aber wohl ziemlich heftige Romanze mit ihm nicht ohne Folgen geblieben war.«

»Diese Folge warst du, oder?« Michaela lächelte wissend.

»Mhm. Wir wohnten zwei Jahre lang bei meinen Großeltern, bis Mama heiratete. Robert Heithmann, den Mann, den ich immer noch Papa nenne.«

»Und der fast mit euch nach Amerika gegangen wäre«, kombinierte Michaela.

»Genau. Er war wirklich kein schlechter Vater, er hatte eben dummerweise immer nur seine Arbeit im Kopf. Am Anfang noch nicht so, aber mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Ich habe das nicht so mitgekriegt, aber es hat in der Ehe ziemlich gekriselt.«

»Und dann?«

»Dann hat meine Mutter durch eine Freundin Sandie wieder getroffen. Er war nach der Trennung von seiner Frau zurück nach München gezogen. Zuvor wohnten sie in Regensburg. Es war kurz nach seinem Unfall und es ging ihm damals ziemlich dreckig.«

»Kann ich mir gut vorstellen«, murmelte Michaela. »So ein Unfall muss furchtbar sein.«

»Das war er und Sandie hat es einfach nicht gepackt. Er wollte es auch gar nicht. Er hat sich und seiner Familie das Leben zur Hölle gemacht. Meine Mutter konnte es nicht mit ansehen. Sie konnte nicht so tun, als würde es sie nichts angehen, und hat versucht, ihn ein bisschen aufzurichten.«

»Den Rest kann ich mir denken.«

»Das alte Lied von der Dreiecksbeziehung«, stimmte Gerry zu. »Der Witz war nur, dass meine Mutter und Sandie zu dem Zeitpunkt gar nichts miteinander hatten. Mein Vater glaubte das nur, und er machte ihr furchtbare Szenen. Ein paar davon habe ich live mitgekriegt. Mama hat oft genug versucht, alles wieder in Ordnung zu bringen, aber irgendwann ging es einfach nicht mehr. Mama wollte mit einem gemeinsamen Urlaub ihre Ehe kitten, doch mein Papa hat gekniffen. Also sind wir allein gefahren. Und dann kam Sandie uns hinterher.« Gerry grinste. »Es ist da anscheinend etwas mehr passiert, als ich mitgekriegt habe, denn kurz darauf stellte Mama fest, dass sie schwanger war.«

»Von ihm?«

Er zuckte mit den Schultern. Eigentlich hatte er gar nicht so sehr ins Detail gehen wollen, denn für die intimen Einzelheiten kannten sie sich wirklich noch zu wenig, aber er hatte sowieso schon fast alles erzählt. »Zuerst dachte sie, dass das Kind von Papa wäre«, fuhr er fort. »Aber er hatte ohne ihr Wissen einen Test gemacht, aus dem sich zeigte, dass er keine Kinder kriegen kann. Du kannst dir vielleicht vorstellen, was bei uns daheim los war, als sie ihm die so freudige Nachricht überbrachte. Ich habe damals zwar nicht verstanden, worum es ging, aber es war ein furchtbarer Streit. Meine Mama ist dann mit mir wieder zu ihren Eltern gezogen. Ich glaube, sie hatte von den Männern wirklich die Nase voll, weil sie sich vorher auch noch mit Sandie gezofft hatte.«

»Kann er denn überhaupt Kinder kriegen? Ich dachte …« Michaela brach ab.

»Sandie hat eine inkomplette Lähmung«, erklärte Gerry geduldig. »Er kann zwar nicht mehr laufen, aber er hat das Glück, dass ein paar wichtige Dinge noch einigermaßen funktionieren.«

»Ach so. Und was passierte dann?«

»Irgendwann stand Sandie vor der Tür und hat sich nicht mehr vergraulen lassen, obwohl Mama es probiert hat. Sie hatte in dem Moment absolut keine Lust auf Romanze, aber Sandie hat nicht locker gelassen. Sie hat sich dann doch eingestehen müssen, dass sich ihre Gefühle ihm gegenüber nicht wirklich verändert haben.«

»Scheint eine patente Frau zu sein.«

»Das ist sie. Du kannst sie gern kennenlernen. Komm doch einfach mal bei uns vorbei. Du brauchst auch keine Angst zu haben, dass Sandie mit Steinen wirft. Ich werde schon auf dich aufpassen.«

Michaela Gesicht versteinerte. Wortlos wandte sie sich ab.

Gerry sah bestürzt auf den ihm zugewandten Rücken. »Jetzt sei nicht gleich beleidigt«, sagte er besänftigend. »War doch nicht so gemeint.«

Als sie nicht reagierte, fasste er sie bei den Schultern und drückte sie an sich. »Tut mir leid«, flüsterte er. »Das war ziemlich daneben.« Der Satz war ihm einfach herausgerutscht, und im Nachhinein fand er sich gemein. Michaela schien mit sich zu kämpfen und Gerry schöpfte wieder Hoffnung. Er roch den Duft ihres dezenten Parfüms, das sich mit dem allgegenwärtigen Geruch des Löwenzahns vermischte, und plötzlich konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er zog sie zu sich herum und küsste sie sanft auf die Lippen.

Als er sie wieder losließ, war er außer Atem. Er fühlte sich von seinen eigenen Gefühlen überrumpelt. Er ärgerte sich, dass er verlegen wurde und nichts dagegen tun konnte.

Michaela sah ihn nur an. »Heißt das, dass wir jetzt offiziell miteinander gehen?«

Er zog die Schultern hoch. »Es ist zumindest ein Anfang«, gab er zu, froh darüber, dass sie wieder mit ihm sprach.

Sie streichelte ihm sanft über den Nacken. »Was macht dein Vater beruflich? Hat er einen Job?«

»Natürlich hat er einen Job.« Gerry räkelte sich unter ihrer Berührung. »Er arbeitet in einer Münchener Computerfirma. Kleinerer Betrieb, aber ziemlich erfolgreich.«

»Eine gute Arbeit?«

»Ihm gefällt sie. Er hat Informatik studiert.«

»Und deine Mutter? Wenn ich vorhin richtig kombiniert habe, hat sie ihr Studium abgebrochen.«

»Ja, meinetwegen.« Gerry schwieg einen Moment. Diese Tatsache lastete auf ihm, obwohl er im Grunde nichts dafür konnte. Aber schon oft hatte er darüber nachgedacht, welche Möglichkeiten Corinna wohl offengestanden hätten, wenn er ihr nicht dazwischengekommen wäre.

»Sie hat Sprachen studiert«, erklärte er Michaela bereitwillig. »Durch meine Tante Astrid, die in einem Verlag arbeitet, bekam sie die Möglichkeit, spanische Kinderbücher zu übersetzen. Sie hat auf der Volkshochschule weiterstudiert und übersetzt jetzt auch Romane aus dem Spanischen ins Deutsche.«

»Hört sich aufregend an. Schade, dass meine Sprachkenntnisse dafür nicht ausreichen. So etwas würde mir auch gefallen.«

»Du kannst dich ja mal mit ihr zusammensetzen«, schlug Gerry vor. »Meine Mutter erzählt dir bestimmt gern über ihre Arbeit und welche Voraussetzungen man dafür mitbringen muss.«

»Ja, vielleicht später mal.« Michaela zupfte an ihrer Bluse. Gerry wusste genau, dass sie nicht so schnell kommen würde, zumindest nicht, wenn sie damit rechnen musste, Sandie zu begegnen. Doch das war in Ordnung. Es würde eine Weile dauern, ihre Vorurteile abzubauen, aber jetzt, da er wusste, welche Gründe sie für ihre Reaktionen hatte, war er zuversichtlich, es zu schaffen.

Michaela sah in den Himmel. »Ich glaube, wir müssen uns langsam wieder auf den Heimweg machen«, meinte sie. »Ich sollte wirklich noch lernen.«

Nach einem Blick auf die Uhr nickte Gerry bedauernd und begann, die Reste ihres Picknicks zusammenzupacken. »Ja, ich will nicht, dass du Ärger mit deinen Eltern bekommst.«

»Ach was«, widersprach sie wegwerfend. »Ich sage einfach, dass ich mit dir zusammen gelernt habe. Da haben sie bestimmt nichts dagegen. Und es ist nicht mal gelogen, denn ich habe ja was gelernt.« Sie warf ihm einen schelmischen Blick zu. »Auch, wenn es nicht gerade Mathe war.«

 

Den Rest des Wochenendes verbrachte Gerry zumeist in seinem Zimmer im ersten Stock über seinem Lehrstoff, doch er konnte sich nicht richtig darauf konzentrieren. Immer wieder schob sich Michaelas Gesicht vor die Seiten. Schließlich klappte er sein Buch zu.

»Wenn das so weiter geht, falle ich noch durchs Abi«, brummte er und machte sich auf den Weg nach unten in die Küche. Gerade als er sich ein Glas Saft einschenkte, kam auch Corinna herein.

»Na, wie läuft es?«, erkundigte sie sich und legte den Arm um die Hüften ihres Sohnes, der sie um einen halben Kopf überragte.

»Nicht so besonders«, gab er zu. »Ich kriege keinen vernünftigen Gedanken zustande.«

Corinna lächelte wissend. »Ich kann mich gut an meine Studienzeit erinnern. Immer wenn ich lernen wollte, habe ich Sandie vor mir gesehen. Ich habe nichts fertiggebracht.«

»Das hast du mir wohl vererbt, wie?« Gerry grinste schief.

»Es ist eher eine allgemeingültige Regel, wenn man verliebt ist.« Corinna machte eine kurze Pause. »Hat es dich erwischt?«

»Weiß nicht. Vielleicht.«

»Ich warte schon lange darauf, dass ein Mädchen mal deinen Weg kreuzt.«

»Hm«, brummte Gerry ausweichend. Er wollte nicht unbedingt mit seiner Mutter über seine Gefühle sprechen.

»Okay, hab verstanden.« Corinna hob die Hände und lachte. »Geht mich nichts an.«

Gerry sah ihr zu, wie sie begann, die Spülmaschine auszuräumen. »Danke, Mama«, sagte er dann unvermittelt.

Sie warf ihm über die Schulter einen fragenden Blick zu. »Wofür?«

»Dass du dich immer darum bemüht hast, mir die Dinge so zu erklären, wie sie sind, und auch unangenehmeren Themen nicht aus dem Weg gegangen bist. Stell dir vor, du hättest dich genauso aufgeführt wie Michaelas Mutter, als ich nach Sandies Behinderung gefragt habe.«

»Es gibt viele Menschen, die damit nicht umgehen können, weil sie unsicher sind. Da fällt mir ein: Hast du schon bei diesen Leuten angerufen?«

»Ja, hab ich, ich soll morgen Abend um sieben Uhr kommen.«

»Ich bin ja ziemlich gespannt, was dabei herauskommt«, sinnierte Corinna, während sie Gerry einige Gläser reichte, damit er sie in den Schrank stellte. »Ganz wohl ist mir bei der Sache nicht. Ich meine, wozu braucht ein normaler Junge so etwas wie einen Aufpasser oder Gesellschafter? Da muss mehr dahinterstecken.«

»Glaubst du, der Typ ist so ein Ekel wie Sandie damals?« Er grinste frech.

»Sei froh, dass er das nicht gehört hat«, lachte Corinna. »Und jetzt geh lieber lernen. Wenn du durchs Abi fällst, kriegst du den Hintern voll.«

»Das glaube ich dir aufs Wort.« Gerry nahm sich die halbvolle Flasche Orangensaft und lief polternd über die Treppe nach oben.

 

Michaelas Gesicht hellte sich auf, als er ihr am Montag in der Pause von seinem Termin erzählte.

»Nimmst du mich mit?«, fragte sie sofort.

Gerry sah sie erstaunt an. »Das geht nicht. Ich kann da nicht mit einer Freundin antanzen.«

»Du brauchst mich auch nicht mit zu diesen Leuten hinein zu nehmen. Ich möchte mir ein wenig die Stadt anschauen. Und das ist ein ganz vornehmes Viertel, da war ich noch nie. Aber ich hab zwei Tage Hausarrest, weil ich am Samstag zu spät heimgekommen bin. Wenn du mich abholst, kann ich meinen Eltern erzählen, dass wir zusammen lernen, und dann lassen sie mich gehen.«

»Hausarrest? Du bist doch schon volljährig.«

Michaela zuckte mit den Schultern. »Mein Vater ist dieser altmodischen Ansicht, dass ich zu tun habe, was er will, so lange ich in seinem Haus wohne. Er meint einfach, ich soll ständig für das Abitur büffeln.«

»Ganz unrecht hat er damit aber nicht«, wagte Gerry einzuwenden.

»Meine Güte, bist du spießig.« Michaela stöhnte. »Ich wohne jetzt seit zehn Tagen in München und habe noch fast nichts davon gesehen. Das Abi läuft mir nicht weg.«

»Im Gegenteil, es läuft mit Volldampf auf dich zu.« Gerry zog eine Schulter hoch. »Na, meinetwegen, du musst selber wissen, was du tust.«

 

Unterdessen saß Sandie im Zimmer von Frau Hanke und sah auf die Uhr. »Eigentlich kann ich es mir gar nicht leisten«, meinte er unsicher.

»Ach was. Sie haben sich eine Pause verdient.« Die attraktive Sekretärin stellte ihm einen großen Becher Kaffee hin. »Milch und Zucker?«

»Nein, danke, schwarz und stark ist genau richtig für mich.«

Auch Frau Hanke nahm sich eine Tasse. »Ich muss gestehen, dass diese Einladung nicht ganz uneigennützig ist.«

»Aha, jetzt kommt es an den Tag.« Sandie sah sie gespielt lauernd an. »Was haben Sie denn für einen Auftrag für mich?«

Sie lachte. »Bin ich so leicht zu durchschauen?« Sie goss sich etwas Milch in ihren Kaffee. »Ich weiß nicht so recht, wie ich es erklären soll«, druckste sie herum.

»Nur zu«, ermutigte Sandie sie.

»Es heißt, dass Sie handwerklich ziemlich geschickt sind. Angeblich gibt es nichts, das Sie nicht reparieren können.« Frau Hanke sah ihn fragend an.

»Heißt es das, ja?« Sandie zog eine Augenbraue hoch.

»Ihre Mitarbeiter haben großen Respekt vor Ihrem Können. Da schnappt man schon mal etwas auf. Außerdem wissen Sie doch, dass ich beste Beziehungen zum Chef habe.«

»Stimmt.« Sandie nippte an dem heißen Kaffee. »Also worum geht es?«

»Bei mir daheim herrscht noch ein einziges Chaos«, vertraute Frau Hanke ihm an. »Ich wohne jetzt seit vier Wochen in München, aber ich finde niemanden, der es schafft, meinen Receiver einzustellen und ein paar Lampen aufzuhängen. Im Wohnzimmer sind die Steckdosen an den unmöglichsten Plätzen. Außerdem steht ein Büffetschrank nicht in der Waage und dauernd gehen die Schubladen von selbst auf.«

Sandie lachte. »Das Problem hatte meine Frau kürzlich auch.« Er dachte kurz nach. »Die Schubladen und der Receiver sind keine große Sache, die Steckdosen kann ich vermutlich auch versetzen, aber für die Lampen müssen Sie sich einen anderen suchen.«

»Warum? Wenn Sie sich mit Strom doch auskennen?« Frau Hanke sah ihn an und biss sich dann erschrocken auf die Lippe.

»Genau«, stimmte Sandie ihren unausgesprochenen Gedanken zu, die ihr deutlich anzusehen waren. »Der Strom ist nicht der Punkt. Eher, dass ich nicht auf Leitern steigen kann.« Er musste sich ein Lachen verkneifen, als er Frau Hankes peinlich berührtes Gesicht sah. Sie behandelte ihn so völlig normal, dass sie seinen Rollstuhl tatsächlich vergessen zu haben schien.

»Daran habe ich im Moment wirklich nicht gedacht«, murmelte sie betroffen. »Tut mir leid.«

»Macht nichts.« Sandie lächelte sie fröhlich an. Er fühlte wieder diese prickelnde Spannung, die ihn verwirrte und ihm gleichzeitig ein gutes Gefühl gab. Er wollte unbedingt mehr Zeit mit ihr verbringen. »Wenn Sie möchten, komme ich morgen Abend vorbei.«

»Ja, das würde mich freuen.« Frau Hanke erwiderte sein Lächeln herzlich.

»Was ist eigentlich mit Ihrem Mann?«, erkundigte er sich. Es wunderte ihn, dass die Frau auf fremde Hilfe angewiesen war. Doch er bereute seine Frage sofort, als das Gesicht der neuen Mitarbeiterin einen traurigen Ausdruck annahm.

»Mein Mann ist tot«, murmelte sie leise.

»Oh, das tut mir leid.« Nun war es Sandie, der eine betroffene Miene aufsetzte. »Ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Sind Sie nicht.« Frau Hanke warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. »Es ist schon drei Jahre her.« Sie blickte auf ihre rechte Hand. »Den Ring trage ich nur noch zur Erinnerung. Und wohl auch aus Gewohnheit.« Sie sah ihn fragend an. »Dafür sind Sie anscheinend verheiratet und tragen keinen Ehering.«

Instinktiv spreizte Sandie seine Finger, als er darauf sah. »Stimmt«, bekannte er. »Meine Frau zieht mich immer auf, dass ich mir meine Chancen bei den Frauen nicht verderben will. Tatsache ist, dass ich absolut kein Typ für Schmuck bin.«

»Nicht mal für einen Ehering?«

»Nicht mal dafür. Es fühlt sich einfach zu ungewohnt an.« Er wechselte das Thema. »Dann komme ich also morgen zu Ihnen.«

Frau Hanke setzte gerade zu einer Erwiderung an, als es an der Tür klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten kam ihr Kollege Achim Lehmann herein. Er stutzte, als er Sandie sah. »Oh, ich wusste nicht, dass Sie Besuch haben.« Er warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Ich kann ja später wiederkommen.«

»Nicht nötig.« Frau Hanke deutete auf einen freien Stuhl. »Möchten Sie auch einen Kaffee?«

»Ja, gern.«

Sandie sah zwischen Frau Hanke und seinem Kollegen hin und her. Wieder hatte er das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Die Art, wie Lehmann das »Sie« betont hatte, kam ihm merkwürdig vor, genauso wie der Blick, den er der neuen Kollegin zuwarf.

»Ja, ich muss auch wieder an die Arbeit.« Er stellte die Tasse auf den Tisch. »Vielen Dank für den Kaffee. Und über morgen Abend sprechen wir noch, damit ich weiß, wo Sie wohnen und was ich mitbringen muss.«

»Gerne.« Frau Hanke schien es zu bedauern, dass Sandie sich verabschiedete. Aber er fühlte sich einfach unwohl. Lehmann war ihm nicht sonderlich sympathisch, was vermutlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Da der Kollege in der Buchhaltung arbeitete, sahen sie sich nur selten, doch wenn sie sich zufällig über den Weg liefen, hatte er immer nur ein leicht verächtliches Grinsen für Sandie übrig. Auch jetzt wartete er nur mit einem überheblichen Blick darauf, dass Sandie die Tür hinter sich schloss.

 

Unsicher sah Gerry auf sein Handy und verglich noch einmal die Adresse. »Das kann es doch nicht sein, oder?«, murmelte er mit einem Blick auf die prachtvolle Villa. »Das ist ja ein Palast.«

Michaela zuckte mit den Schultern. »Geh rein, dann weißt du es. Ich mache mal einen Spaziergang durch die Gegend.« Sie sah sich bewundernd um. »Ist ja wirklich piekfein hier.«

»Zu fein.« Gerry war die Sache nicht geheuer. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Na gut, aber sei in einer halben Stunde wieder hier.«

Zögernd ging er auf die wuchtige Tür zu. Am liebsten wäre er wieder gegangen. Doch dann drückte er entschlossen auf den Klingelknopf.

Er musste nicht lange warten. Nach einigen Sekunden wurde die Tür von einer Frau im mittleren Alter geöffnet. »Sie müssen Herr Wegener sein«, begrüßte sie ihn freundlich und bat ihn, einzutreten. »Herr Schaffrath erwartet Sie bereits. Bitte folgen Sie mir.«

Gerry wurde ungemütlich zumute. Er fühlte sich vollkommen fehl am Platz. Er wünschte sich nun, dass er wenigstens seine Turnschuhe daheim gelassen hätte. Er hatte sich zwar extra umgezogen, aber in all diesem Prunk musste er in seinen Jeans und dem T-Shirt hervorstechen wie ein Bettler.

Die Frau führte ihn über hochflorige Teppiche, die bestimmt ein Vermögen gekostet hatten. An den Wänden hingen Gemälde in wuchtigen Rahmen. Gerry kannte sich auf diesem Gebiet nicht aus, aber er vermutete, dass es keine billigen Malereien waren.

»Bitte warten Sie einen Moment.« Die Frau klopfte an eine schwere Eichentür und öffnete sie leise. »Herr Schaffrath? Herr Wegener wäre jetzt da.«

Gerry wurde die Kehle eng. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Was wollte er denn hier? Das war nicht seine Welt. Das Gefühl, die Flucht ergreifen zu müssen, wurde immer stärker, doch dafür war es zu spät. Die freundliche Frau, die wohl die Haushälterin war, machte eine einladende Handbewegung und bat ihn ins Zimmer.

»Guten Abend, Herr Wegener.« Zuerst konnte Gerry fast nichts sehen, weil die Jalousien ein Stück heruntergelassen waren und den Raum in ein fahles Dämmerlicht tauchten. Doch dann bemerkte er einen Mann in den Fünfzigern mit schütterem grauem Haar, der hinter einem stattlichen Schreibtisch aus Mahagoni hervortrat und sich kurz als »Schaffrath« vorstellte. Gerry nannte ebenfalls seinen Namen und nahm die angebotene Hand, die seine mit einem erstaunlich festen Griff drückte. Herr Schaffrath war etliche Zentimeter kleiner als Gerry, etwas korpulent und seine Schultern waren gebeugt wie von einer unsichtbaren Last. Er musterte Gerry mit einem taxierenden Blick, dann wies er auf einen Sessel. »Bitte nehmen Sie Platz.«

»Danke.« Der Sessel war bequem, doch Gerry wagte es nur, sich auf die vordere Kante zu setzen. Herr Schaffrath nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz, der nun trennend zwischen ihnen stand.

»Sie interessieren sich also für die Arbeit?«, fragte er mit strenger Stimme, allerdings nicht ohne Neugier darin.

Gerry schluckte. Arbeit, das hörte sich so geschäftsmäßig an. »Kommt ganz darauf an, was von mir verlangt wird«, antwortete er vage.

»Wie viel wissen Sie bereits?«

»Dass Ihr Sohn nach einem Unfall querschnittgelähmt ist und Sie jemanden suchen, der sich ein wenig um ihn kümmert.«

Der ältere Herr war bei den direkten Worten zusammengezuckt, doch sein Blick wich nicht von Gerrys Gesicht.

»Haben Sie bereits Erfahrung auf diesem Gebiet?«, fragte er sachlich.

»Mein Vater sitzt seit zwölf Jahren im Rollstuhl. Er hatte ebenfalls einen Autounfall.«

Der strenge Blick des älteren Mannes wurde etwas weicher. »Das war bestimmt eine schwierige Zeit für Ihre Familie«, mutmaßte er.

Gerry ging nicht darauf ein. Seine Familienverhältnisse gingen diesen Mann wirklich nichts an. »Ihr Sohn wohnt nicht hier im Haus?«, hakte er stattdessen nach, obwohl er das schon von Yvonne wusste. Trotzdem hatte er angenommen, dass der junge Mann zumindest während des Gesprächs anwesend sein würde.

»Nein.« Die Miene seines Gegenübers wurde abweisend. »Nein, mein Sohn wohnt nicht hier. Er hat eine eigene Wohnung in der Nähe der Innenstadt.« Herr Schaffrath musterte Gerry kurz. »Sie müssen wissen, mein Sohn und ich haben nicht das beste Verhältnis zueinander. Außerdem ist mein Haus nicht unbedingt rollstuhlgerecht.«

Gerry erlaubte sich ein kleines sarkastisches Lächeln, als er an den Teppich in der Eingangshalle dachte. Rollstuhlräder würden dem tiefen Flor auf Dauer den Garaus machen. Er war erleichtert, dass er nicht ständig in dieses Haus zurückkehren musste. Die Atmosphäre hier war erdrückend.

»Kommt Ihr Sohn allein zurecht?«, erkundigte er sich.

»Jürgen ist ein Sturkopf.« In den grauen Augen blitzte es zornig auf. »Ich hätte ihm eine schöne Wohnung besorgen können, sogar mit einer Haushälterin, doch er besteht darauf, in dieser Bruchbude wohnen zu bleiben.« Die kräftigen Kiefer begannen zu mahlen. »Aber ich lasse mir nicht nachsagen, dass ich meinen eigenen Sohn vernachlässige. Bisher hat sich mein Bruder mit seiner Familie sehr um ihn gekümmert, ab und zu nach dem Rechten gesehen, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber sie ziehen nächste Woche nach Norddeutschland, und deswegen suche ich jemanden, der das übernimmt.« Schaffrath musterte Gerry wohlwollend. »Gut möglich, dass Sie der Richtige dafür sind. Jürgen muss wieder mit jungen Menschen zusammenkommen. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass es ihm an nichts mangelt.«

Gerry hörte still zu. Doch er wunderte sich. Warum übernahm es der Vater nicht selbst, sich um seinen Sohn zu kümmern, wieso musste das die Familie seines Bruders tun? Warum sprach er ständig von Pflichtgefühl, aber nie von Sorge? Gerry argwöhnte, dass es zwischen Vater und Sohn einen tiefen Unfrieden geben musste und es interessierte ihn, mehr darüber zu erfahren. Als er gefragt wurde, ob er den Job annehmen wollte, sagte er ohne Zögern zu.

6

 

Eine Viertelstunde später öffnete ihm die Haushälterin die Tür. Als er im warmen Sonnenlicht stand, atmete Gerry erst einmal tief durch. Welch triste Atmosphäre hatte doch in diesem reichen und dennoch so düsteren Haus geherrscht. Er schüttelte sich unwillkürlich.

Michaela wartete schon. »Wo bleibst du denn so lange?«, schmollte sie.

»Entschuldige, es hat etwas gedauert.«

»Das habe ich gemerkt.« Sie umarmte ihn flüchtig. »Und was machen wir jetzt?«

»Wir könnten das tun, was du deinen Eltern erzählt hast«, schlug Gerry vor. »Zu mir fahren und lernen. Dann hast du wenigstens nicht gelogen.«

»Ach komm, sei nicht so spießig.« Michaela hob abwehrend die Hand. »Gehen wir essen?«

»Tut mir leid, darauf bin ich nicht eingerichtet.«

»Das heißt, du hast kein Geld?«

»Genau das heißt es.« Gerry lachte. Ob der steife Ton in der noblen Villa schon auf ihn abgefärbt hatte? Er legte den Arm um Michaelas Schultern. »Aber du kannst mit zu mir kommen. Auch ohne lernen. Zu essen gibt es da auch etwas.«

»Sei mir nicht böse, aber ein andermal.«

»Wir können in mein Zimmer gehen.« Leiser Ärger stieg in Gerry hoch. »Meine Eltern werden uns nicht stören.«

»Das ist es nicht«, versicherte sie ihm. »Ich möchte einfach noch ein wenig bummeln gehen. In den eigenen vier Wänden sitze ich oft genug.«

Gerry rang mit sich. Er hatte sich fest vorgenommen, am Abend noch zu lernen, allerdings war die Aussicht, ihn mit Michaela zu verbringen, überaus reizvoll. Doch sie nahm ihm die Entscheidung ab.

»Du brauchst mich nicht zu begleiten. Geh nach Hause und lerne, kleiner Streber.« Herablassend tätschelte sie Gerrys Wange. »Ich kann mich auch allein amüsieren. Lässt du mich irgendwo in der Nähe der Innenstadt aussteigen?«

Gerry hatte nicht übel Lust, sie einfach stehen zu lassen. Ihre überhebliche Art machte ihn wütend. Sie gab ihm das Gefühl, sich dafür rechtfertigen zu müssen, dass ihm sein Schulabschluss wichtig war. Er bewunderte widerwillig, wie leicht Michaela das drohende Abitur zu nehmen schien, doch das konnte er sich nicht leisten. Er hatte noch einige Lücken zu füllen und die Zeit dafür wurde allmählich knapp.

Wortlos stieg er ein. Sobald Michaela die Beifahrertür geschlossen hatte, fuhr er los.

»Bist du jetzt sauer?«, fragte sie, nachdem sie sich eine Weile angeschwiegen hatten. Ihre Stimme drückte eine Mischung aus Spott und Besorgnis aus.

Gerry warf ihr einen kurzen Blick zu, den sie kokett erwiderte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ja, er war sauer, aber gleichzeitig kam er sich albern dabei vor. »Nein«, brummte er schließlich missmutig. »Es ist deine Entscheidung, was du mit deiner Zeit anfängst.«

»Genau. Deine Eltern lerne ich noch früh genug kennen.« Michaela zögerte. »Darf ich dich mal etwas fragen?«

»Klar. Was ist los?«

»Du darfst aber nicht böse werden.«

»Spuck es schon aus.« Gerry seufzte. Bisher hatte sie noch nie Angst vor seiner Reaktion gehabt, sondern ihre Meinung immer sehr unverblümt kundgetan.

»Du hast mir doch erzählt, dass deine Mutter deinen Vater erst nach seinem Unfall wiedergesehen hat.« Sie stockte.

»Stimmt. Und?«

»Warum hat sie ihn dann gleich geheiratet? Ich meine, das Leben mit einem Behinderten muss doch furchtbar deprimierend sein.«

Gerrys Augen waren immer größer geworden. »Spinnst du?« Er ärgerte sich noch immer über sie und deshalb war seine Geduld gerade nicht so ausgeprägt. »Was ist daran deprimierend? Glaubst du, Sandie hockt den ganzen Tag in der Ecke und heult über sein trauriges Schicksal?«

Michaela presste die Lippen aufeinander. »Hab ja nur gefragt«, murmelte sie aggressiv.

Gerry riss sich zusammen, um es nicht noch zum Streit kommen zu lassen. »Deprimierend ist es bei uns ganz bestimmt nicht. Ab und zu ein bisschen chaotisch, aber sonst stinknormal.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich.« Er fuhr rechts ran und hielt an. »Meine Eltern haben aus Liebe geheiratet. Meiner Mutter kommt es nicht so sehr darauf an, was einer in den Beinen hat, wenn es im Herzen und im Kopf stimmt. Und Sandie ist ein völlig normaler Mann, das darfst du mir glauben.«

Michaela sah aus, als würde sie antworten wollen, doch dann nickte sie nur und stieg ohne ein Abschiedswort aus.

 

Gerry wusste immer noch nicht, ob er sich ärgern oder über Michaelas doofe Frage lachen sollte, als er Corinnas Polo abstellte und die Stufe zur Haustür in einem großen Satz nahm. Er hatte noch viel zu tun, wenn er ihre Vorurteile abbauen wollte. Hoffentlich lohnte es sich.

Der Zwiespalt war allerdings sofort vergessen, als er ins Haus trat und fast über Sandra fiel, die hinter der Tür auf der Lauer lag.

»Hallo Zwetschge«, begrüßte er sie fröhlich.

»Ich bin keine Zwetschge«, empörte sie sich.

»Dann halt meine Pflaume.« Gerry grinste seine Schwester an. »Wie war dein Tag?«

»Wie wohl.« Sandra stöhnte übertrieben. »Schule, Schule, Schule.«

»Du Ärmste. Wie willst du das noch so lange durchhalten?«

»Am besten gar nicht.« Sandra setzte eine düstere Miene auf, die Gerry aufsehen ließ.

»Hast du Probleme?«

»Nein, wie kommst du darauf?« Das Nein kam etwas zu hastig, als dass Gerry es geglaubt hätte. Doch er konnte nicht nachfragen, denn Corinna kam in den Flur.

»Wie ist es gelaufen?«, wollte sie sogleich wissen.

»Ich habe den Job. Der Typ heißt Jürgen Schaffrath. Ich soll morgen Nachmittag mal zur Vorstellung dort vorbeischauen, und nach den Prüfungen …«, Gerry hob affektiert die Nase hoch und verstellte die Stimme, »… wird erwartet, dass ich jede Woche mindestens dreimal einige Stunden dort verbringe.«

»Na Bravo. Klingt ziemlich versnobt. Und welchen Eindruck hast du?«

»Wenn er genauso ist wie sein Vater, halte ich es keine drei Tage aus. Aber versuchen kann man es ja mal. Wo ist Sandie?«

»Im Keller. Hol ihn doch bitte mal. Ich habe nämlich auch was zu berichten.«

 

Als die ganze Familie versammelt war, rückte Corinna mit ihrer Überraschung heraus. »Große Neuigkeiten«, verkündete sie. »Ich habe heute eine E-Mail von Robert bekommen. Er kommt nach Hause.«

»Hey klasse.« Gerry freute sich. Er hatte den Mann, den er in Gedanken noch immer Papa nannte, seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Robert Heithmann hatte, nachdem der Job in Amerika geplatzt war, ein Angebot in Japan angenommen. Er hatte dort gemeinsam mit seiner Sekretärin und späteren Ehefrau Karin eine Geschäftsstelle der Münchener Firma geleitet, in der beide gearbeitet hatten.

Sandie zog allerdings eine Grimasse. »Super«, murmelte er, doch es klang alles andere als erfreut. »Wann denn?«

»In knapp drei Wochen«, gab Corinna Auskunft.

»Zu Besuch oder für immer?«, wollte Gerry wissen.

»Wie es scheint, zumindest für länger. Robert ist ein Posten in der Geschäftsleitung hier in München angeboten worden.«

»Dann ist er endlich so weit oben, wie er immer sein wollte.« Sandie klang sarkastisch. Er hatte nicht die besten Erinnerungen an Robert und es passte ihm gar nicht, dass er seinen ehemaligen Rivalen wieder in der Nähe dulden sollte.

Sandra sah verwirrt von einem zum anderen. Sie hatte zwar schon von Robert gehört und wusste auch, dass er der Ex-Mann ihrer Mutter war, verstand aber nicht, warum ihr Vater plötzlich so missmutig war. Sie umarmte ihn. »Ist es denn so schlimm, wenn Mamas Mann wieder heimkommt?«, fragte sie unschuldig.

Sandie lachte unwillkürlich. »Mamas Mann bin ich, mein Schatz. Und für dich ist es Zeit fürs Bett.«

»Ach nö, ich mag noch nicht.«

Er zog sie auf seinen Schoß. »Komm schon, ich bringe dich rauf. Du darfst auch noch eine halbe Stunde lesen.«

Corinna sah den beiden stirnrunzelnd nach.

»Machst du dir Sorgen, wenn Papa und Sandie sich begegnen?«, fragte Gerry.

»Bisher war jedes Treffen zwischen den beiden eher unerfreulich«, gab sie zögernd zu.

»Ja, ich weiß.« Auch Gerry wurde ernst. »Ich kann mich noch gut erinnern, wie Sandie uns in den Zoo eingeladen hatte. Ich habe am Abend mit Papa gestritten, weil er mir verbieten wollte, ihn wiederzusehen, und plötzlich stand er vor der Tür. Er wollte dir deine Tasche zurückzubringen, die du in seinem Auto vergessen hattest. Papa wäre ihm fast an die Kehle gegangen.«

Corinna legte ihm den Arm um die Schultern und nickte. »Das sind Sachen, die vergisst man nicht so schnell, habe ich recht?«

»Ja, allerdings war ich auch nicht gerade unschuldig an diesem Streit. Ich war ziemlich störrisch, weil Papa andauernd über Sandie herzog und er war doch mein Freund.« Gerry verzog das Gesicht. »Obwohl ich nicht darauf gefasst war, zu erfahren, dass er mein leiblicher Vater ist.«

Corinna sah aus dem Fenster, während sie sich die Szene noch einmal ins Gedächtnis rief. Robert hatte die Beherrschung verloren, als er Sandie plötzlich vor sich gesehen hatte. Er hatte ihn beschimpft und ihn angeschrien, dass er die Hände von seiner Frau lassen solle. Es reiche, dass er, Robert, schon einen Bastard von Sandie habe aufziehen müssen. Das Schlimmste daran war gewesen, dass Gerry an der Wand gestanden und alles gehört hatte. Corinna schüttelte sich unwillkürlich, als sie an die schwere Zeit dachte, die dieser Szene gefolgt war.

»Das ist mehr als zehn Jahre her«, meinte sie besänftigend. »Robert hat keinen Grund, immer noch eifersüchtig zu sein. Er hat doch jetzt seine Karin.«

»Und außerdem wird man nicht nur älter, sondern auch weiser«, grinste Gerry. »Aber glaubst du, das trifft auch auf Sandie zu?«

»Stell nur nicht meine Weisheit in Frage.« Sandie stand in der Tür und zog eine grimmige Miene »Sandra verlangt genauere Auskünfte über Robert. Da bin ich der Falsche. So viel Gutes kann ich über ihn nicht erzählen.« Er wandte sich Gerry zu. »Vielleicht kannst du das übernehmen.«

»Mach ich.« Gerry drückte sich an ihm vorbei und lief ins obere Stockwerk.

»Na, du Zwetschge«, neckte er seine Schwester liebevoll, als er in ihr Zimmer trat. »Was willst du wissen?«

Sandra richtete sich auf. »Wieso ist Papa so sauer auf diesen Robert?«

Gerry setzte sich auf die Bettkante. Er überlegte kurz. »Du weißt doch, dass Robert früher mein Papa war. Und dann kam Sandie. Ist doch klar, dass die beiden Männer nicht gerade Freunde waren, oder?«

»War Robert eifersüchtig auf Papa?«

»Na, das kannst du laut sagen. Obwohl es überhaupt keinen Grund gab. Mama war mit Sandie nur befreundet, mehr nicht. Aber Papa, das heißt Robert, wollte ihr das nicht glauben.«

»Ich denke nicht, dass ich ihn mag«, behauptete Sandra.

»Ach, er ist schon in Ordnung. Du wirst ihn ja kennenlernen, dann merkst du schnell, ob du ihn magst oder nicht.«

»Freust du dich darauf, dass er wiederkommt?«

»Klar freue ich mich. Und jetzt leg dich hin, es ist schon spät. Sonst kommst du morgen nicht aus den Federn.«

»Macht auch nichts. Dann mach ich eben krank.«

Gerry musterte seine Schwester irritiert. Sie war immer gern zur Schule gegangen, doch seit einiger Zeit schien sie sich dagegen zu sträuben. Er erinnerte sich an die Zeit kurz nach dem Umzug zu Sandie, als er neu in dieser Schule gewesen war. Ein Mitschüler hatte ihn gehänselt, weil sein Vater behindert war. Aber Sandra ging schon in die vierte Klasse und es hatte nie Schwierigkeiten gegeben.

»Sag mal, hast du Probleme in der Schule?«

»Wie kommst du darauf?« Gerry hatte das Gefühl, dass seine Schwester auf Abwehr stellte.

»Könnte doch sein. Mich haben sie früher manchmal wegen Sandie verspottet.«

»Wieso denn das?« Sie sah ihn verwundert an.

»Weil er nicht laufen kann.«

»So ein Blödsinn.« Sandra hatte für diese These nur ein verächtliches Schnauben übrig.

»Dann ist es ja gut.« Gerry sah seine kleine Schwester für einen Moment nachdenklich an, bevor er ihr eine gute Nacht wünschte. Dann ging er seufzend in sein Zimmer, um sein Vorhaben auszuführen und noch zu lernen.

 

Unterdessen hatte sich Corinna auf Sandies Schoß gesetzt. »Robert hat Probleme.«

»Schön«, feixte er.

Sie puffte ihn in die Seite. »Sei nicht so gemein. Anscheinend ist seine Versetzung ziemlich schnell gegangen und seine Firma hat Schwierigkeiten, ein Hotelzimmer für ihn zu finden.«

»Es gibt doch in München Hotels wie Sand am Meer.«

»Aber es ist Messezeit und du weißt selber, dass da schon Monate vorher alles ausgebucht ist.«

»Tja, dann muss er sich halt mit etwas weniger als einem Fünf-Sterne-Hotel zufriedengeben.«

Corinna lächelte nachsichtig. »Anscheinend ist die Dame in seiner Firma hier in München, die seine Unterbringung bearbeitet, nicht mal fähig, eine einfache Pension aufzutreiben. Robert schreibt, dass er die ständigen fruchtlosen Anrufe und Mails mittlerweile leid ist und fragt mich, ob ich ein kleines Hotel weiß, in dem er unterkommen kann.«

»Er fragt dich?« Sandie schüttelte den Kopf. »Sogar von Japan aus hat man mit einem Klick alle Hotels in München vorliegen.«

»So einfach ist es anscheinend doch nicht. Er hat auch nicht die Zeit, jedes Hotel und jede Pension durchzuklicken, ob es freie Zimmer gibt.«

»Also wälzt er die Arbeit lieber auf dich ab.« Sandies Miene verfinsterte sich.

Corinna stand abrupt auf. »Er wälzt gar nichts ab, er fragt nur, ob ich zufällig ein Hotel weiß, das nicht unbedingt auf dem Radar von Tausenden von Messeteilnehmern liegt. Er meint damit auch durchaus Häuser in unserer Nähe.«

»Weil es ja bei uns im Dorf 5-Sterne-Hotels gibt.« Sandies Kiefermuskeln wurden hart, doch allmählich verlor Corinna die Geduld. Sie fixierte ihren Mann.

»Ich habe vorhin schon gesagt, dass Robert auch mit einer Pension zufrieden ist. Du solltest ab und zu mal zuhören.«

Sandie schnaubte verächtlich.

»Ich habe überlegt, ob wir ihnen nicht für ein paar Tage bei uns Quartier anbieten könnten.«

Corinna wusste, dass es der völlig falsche Zeitpunkt war, um Sandie ihre Idee schmackhaft zu machen, aber das war ihr im Moment egal. Sandie blockte alles, was mit Robert zu tun hatte, sowieso mit kindischer Sturheit ab, da spielte es keine Rolle, ob sie ihren Vorschlag in entspannter oder in dieser bereits aufgeheizten Stimmung machte.

Sandie sah sie an, als wäre ihr plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen. »Das ist ein Witz«, schnaufte er.

»Nein, es ist mein voller Ernst.« Corinna stemmte die Hände in die Seiten, bereit, ihren Standpunkt durchzusetzen.

»Du willst tatsächlich, dass sie hier wohnen?« Entsetzt riss Sandie die Augen auf. »Das kommt nicht in Frage.«

»Nur für ein, zwei Tage. Mehr ist es nicht, dann können sie in unser altes Haus zurück. Wie Robert schreibt, sind die jetzigen Mieter Ende letzten Monats ausgezogen. Aber sie müssen sich doch erst mal einen Überblick verschaffen, feststellen, ob sie renovieren müssen. Und wer weiß, wann ihre eigenen Sachen ankommen. Wenn nötig, wird Robert sicher ein passendes Hotel finden, sobald er selbst vor Ort ist. Ich möchte sie nur beherbergen, bis sie wieder Fuß gefasst haben. Sie zur Ruhe kommen lassen. Ist das zuviel verlangt?«

»Ja, das ist es«, gab Sandie gereizt zurück. Er hob die Stimme. »Ich will diesen Mann nicht in meinem Haus haben.«

»Diesen Mann?«, wiederholte Corinna langsam. »Vergisst du, dass ich sechs Jahre lang mit ihm verheiratet war? Eigentlich sogar sieben, wenn man das Trennungsjahr dazurechnet.«

»Ganz bestimmt nicht. Das lässt du mich schon nicht vergessen.«

»Was willst du damit sagen?« Sie ärgerte sich über diesen Spruch und hob ebenfalls die Stimme. »Wann hätte ich dich das nicht vergessen lassen?«

»Ach, lass mich doch in Ruhe.« Wütend drehte Sandie sich um und wollte Corinna stehen lassen. Aber sie vertrat ihm den Weg. Mit verschränkten Armen starrte sie fragend auf ihn herunter. Er hielt ihrem Blick so lange stand, bis ihm die Nackenmuskeln weh taten. Er fühlte sich ihr unterlegen, weil er zu ihr hochsehen musste, und das verstärkte seinen Zorn. Frustriert schwor er sich, dass er Robert nie in sein Haus lassen würde. Entschlossen griff er in die Räder seines Rollstuhls und fuhr so knapp an Corinna vorbei, dass er fast ihre Zehen touchierte.

»Sag mal, tickst du noch richtig?«, schrie sie ihm nach, doch Sandie reagierte nicht. Er verzog sich in seine Werkstatt im Keller, wo er seinen Frust abreagierte.

Es war schon nach Mitternacht, als er endlich ins Schlafzimmer kam. Corinna hielt die Augen geschlossen, doch sie schlief nicht. Sie lauschte den vertrauten Geräuschen, die Sandie verursachte, als er sein Hemd auszog, den Rollstuhl zum Bett drehte und sich übersetzte. Er bemühte sich nicht, leise zu sein, als er seine Jeans von den Beinen streifte, doch er sagte kein Wort. Er zerrte die Beine unter die Bettdecke, löschte das Licht und drehte Corinna den Rücken zu.

Sie starrte in die Dunkelheit. Zwischen ihnen bestand das ungeschriebene Gesetz, nie im Streit einzuschlafen. Sie hatten nie darüber gesprochen, doch jeder hielt sich daran. Vermutlich wartete Sandie darauf, dass sie einlenkte, aber sie hatte keine Lust dazu. Sie fühlte sich im Recht und sie ärgerte sich maßlos über seine wütende und ihrer Meinung nach völlig überzogene Reaktion.

»Mit Robert hatte ich deinetwegen immer Streit«, murmelte sie in ihre Bettdecke. »Werden wir zwei jetzt ständig wegen Robert streiten? Ich dachte, dieses Kapitel wäre beendet.«

»Das dachte ich auch«, knurrte Sandie unwillig. »Aber du hast wieder angefangen.«

»Weil ich ihm und seiner Frau anbieten will, für zwei oder drei Tage bei uns zu übernachten? Sei doch nicht kindisch, Sandie.«

»Kindisch?«, fuhr er auf und drehte sich zu Corinna herum. Die Tatsache, dass er sich ohne die Kraft seiner Beine nicht so schnell und wütend umdrehen konnte, wie er wollte, sondern dafür eine Stütze, die zwischen Matratze und Bettrahmen befestigt war, zu Hilfe nehmen musste, gab ihm ein Gefühl der Schwäche. Er hob die Stimme, um dieses Manko auszugleichen. »Du bist kindisch, wenn du glaubst, du könntest deinen Robert und mich an einen Tisch bringen.«

»Er ist nicht mein Robert«, entgegnete Corinna ebenso heftig. »Und es steht dir frei, woanders zu essen.« Gekränkt drehte sie ihm nun ihrerseits den Rücken zu. Ihre Augen brannten. Sie hätte nicht gedacht, mit ihrem harmlosen Vorschlag eine solche Szene heraufzubeschwören. Aber sie hatte Sandies Sturheit nicht einkalkuliert. Er hatte Robert noch nie leiden können und sogar nach zehn Jahren dachte er nicht daran, auch nur einen Deut von diesem Urteil abzurücken. Aber sie konnte ebenso stur sein. Zum Teufel mit ihrem ungeschriebenen Gesetz. Dann schliefen sie eben dieses Mal im Unfrieden ein.

Nach einigen Minuten spürte sie, wie Sandie mit einer Hand unter das Oberteil ihres Pyjamas fuhr und ihr sanft den Rücken streichelte. Die Hand tastete sich zärtlich unter ihrer Achsel hindurch, bis sie auf ihrer Brust zu liegen kam. Corinna seufzte. Sie fühlte, wie sich ihre Brustwarzen aufrichteten und ihre Bauchmuskeln sich unwillkürlich zusammenzogen. Langsam drehte sie sich um. Sie ahnte den Blick der blauen Augen mehr, als sie ihn sah und hob ihre Hand an seine Wange. Sandie küsste ihre Handfläche. »Ich hasse es, wenn wir streiten«, murmelte er.

»Ich auch.« Corinna gab ihren Widerstand auf und kroch näher zu Sandie hin. »Aber ich werde Robert trotzdem das Angebot machen.«

»Das kann nicht gut gehen«, widersprach er in vernünftigem Ton. »Kannst du das nicht einsehen?«

»Warum nicht?«, hielt Corinna entgegen. »Ihr wart beide eifersüchtig aufeinander. Also, du hast mich bekommen und Robert scheint mit Karin auch glücklich zu sein. Der Grund für eure Rivalität ist schlichtweg nicht mehr vorhanden.«

Sandie schüttelte verständnislos den Kopf. »Du machst es dir verdammt einfach.« Vergeblich suchte er nach Argumenten, dann seufzte er und flüchtete sich in Sarkasmus. »Du kannst doch nicht erwarten, dass ich meine so sorgfältig erworbene Abneigung gegen Robert vergesse, nur weil du nicht mehr seine Frau bist.«

»Das ist aber genau der Punkt«, insistierte Corinna. »Du hast einfach nur Vorurteile. Ich gebe zu, dass er sich dir gegenüber unmöglich benommen hat und du keine Schuld an den Szenen trägst, die er mir deinetwegen gemacht hat, aber es ist nicht fair, dass du ihn dermaßen verdammst. Ihr habt euch nie richtig kennengelernt. Jeder dachte immer nur das Schlechteste vom anderen, du genauso wie er. Ich glaube, wenn ihr euch unter anderen Umständen getroffen hättet, ohne diese dumme Rivalität und Eifersucht, hättet ihr Freunde sein können.«

»Nie im Leben.«

»Warum nicht?« Corinna lächelte. »Ich weigere mich, zu glauben, dass zwei Männer, die ich beide geliebt habe, so verschieden sind, dass sie nicht miteinander auskommen können. Vielleicht solltest du ihm einfach eine Chance geben. Karin hat mir ja auch praktisch den Mann weggenommen und ich hege keinen Hass auf sie.«

»Zu der Zeit war dein Herz aber schon nicht mehr bei Robert.«

»Und das ist es jetzt auch nicht. Also warum bist du so unversöhnlich? Du hast mich doch gekriegt.«

Nun musste Sandie doch lachen und Corinna fühlte sich sofort viel wohler. Aber Sandie wäre nicht Sandie gewesen, wenn er nicht noch einen Trumpf im Ärmel gehabt hätte.

»Was hältst du eigentlich davon«, fragte er beiläufig, »wenn ich Monika mal zu uns einladen würde?«

Ein eisiger Schrecken durchzuckte Corinna bei dem Gedanken. Doch sie musste Sandie zugestehen, dass seine Frage berechtigt war. Wenn sie von ihm erwartete, sich mit Robert auszusöhnen, konnte er das gleiche von ihr und seiner Ex-Frau verlangen. Sie versuchte, ihre Gefühle auszuloten. Während sie glaubte, dass Sandie und Robert im Grunde ihres Herzens gar nicht so unterschiedlich waren, wusste sie, dass sie und Monika in zwei verschiedenen Welten lebten. Sandie hielt Robert für versnobt, aber das war er gar nicht. Er war nur strenger erzogen worden und seine Mutter hatte ihm von Kindheit an eingetrichtert, wie wichtig einwandfreie Manieren waren. Monika dagegen hatte sich für etwas Besseres gehalten, weil sie aus einem reichen Elternhaus stammte. Doch Corinna versuchte immer, beide Seiten zu sehen, und sie erkannte, dass ihre Rivalin einfach nur mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln um Sandie gekämpft hatte. Sie hatte diesen Mann nur mit üblen Tricks behalten können und auch das nicht lange. Am Ende hatte Corinna den Sieg davongetragen. Überrascht stellte sie fest, dass sie Monika inzwischen nicht mehr hasste, sondern eher bemitleidete.

»Mach das«, entgegnete sie Sandie endlich auf seine Frage. »Ich bin sicher, wir können uns bei einem Kaffeeklatsch großartig über dich austauschen.«

Ihre Antwort brachte ihn endgültig aus der Fassung. »Das meinst du nicht wirklich.«

Corinna drückte ihrem Mann einen Kuss auf den Mund. »Ich glaube nicht, dass ich mich mit Monika je gut genug verstehen würde, um mich mit ihr über dich zu unterhalten. Aber ich bin nicht mehr das unerfahrene Mädchen, das ihr hoffnungslos unterlegen ist. Sie kann mir keine Angst mehr machen. Weil ich die Siegerin bin. Ich hab dich jetzt. Ich könnte triumphieren, während sich die tolle Monika gedemütigt fühlen würde. Oder auch nicht. Sie hat dich schließlich gehen lassen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber auf jeden Fall kein Grund zur Panik.«

Sandie stützte sich auf seinen Ellbogen und schaltete das Licht an. Im fahlen Schimmer der gedimmten Deckenlampe sah er sie verwundert an. »Du bist unglaublich.«

»Deswegen musst du dich jetzt aber nicht auf die Suche nach Monika begeben. Zuerst kümmern wir uns um Robert. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich frage Christa, ob sie ihn und Karin zur Not unterbringen kann. Sie hat genug leere Zimmer. Und wenn es mit euch wirklich schief geht, dann können sie drüben Quartier beziehen.« Abwartend sah sie Sandie an. Sie fand die Idee nicht schlecht. Ihre Nachbarin war eine bereits etwas ältere Dame, die seit dem Tod ihres Mannes vor vielen Jahren allein in dem großen Haus lebte und bestimmt nichts gegen ein wenig Abwechslung einzuwenden hatte. Und Sandie hatte auf diese Art eine Notbremse, die er ziehen konnte.

»Tust du es?«, hakte sie nach, als keine Antwort kam. Als er immer noch still blieb, sah sie mit einem koketten Augenaufschlag zu ihm auf. »Für mich?«

Zärtlich streichelte er ihre Wange und seufzte. In den blauen Augen stand soviel Liebe, dass Corinna einen Moment lang glaubte, darin ertrinken zu können. Das war ihr Mann, den sie über alles liebte. Diese Liebe war größer als es Robert oder Monika jemals sein konnten.

Sandie zog sie in seine Arme und sie hörte das Klopfen seines Herzens. »Für dich«, flüsterte er und küsste sie.

7

 

Der Morgen startete für Corinna mit immer der gleichen Routine. Während Sandie im Badezimmer war, sorgte sie für’s Frühstück. Gerry konnte am Morgen mit Sandie nach München mitfahren, das sparte ihm einiges an Zeit. Wenn die beiden dann gegen sieben Uhr das Haus verließen, weckte sie ihre Tochter.

»Ich mag heute nicht«, brummte Sandra und zog sich die Bettdecke über den Kopf.

»Ich auch nicht, trotzdem musste ich aufstehen.« Corinna riss die Decke weg. »Na, komm schon, du Schlafmütze, es wird Zeit.«

Sandra gähnte und rappelte sich auf. Müde und unwillig sah sie ihre Mutter an.

Corinna setzte sich zu ihr, legte den Arm um sie und drückte sie an sich. »Bald ist Wochenende, und nächste Woche hast du Geburtstag«, tröstete sie ihre Tochter. »Na, komm schon, die Schule geht sicher schnell vorbei. Geh dich waschen und anziehen, ich richte dir unterdessen dein Pausenbrot her. Was möchtest du denn heute?«

»Macht es dir etwas aus, wenn ich nichts mitnehme und mir lieber was kaufe?«

Corinna runzelte die Stirn. Diesen Wunsch äußerte Sandra in letzter Zeit öfter. »Eigentlich sehe ich es nicht ein, dass du die teuren Sachen in der Schule kaufst, während ich die gleichen Dinge zu Hause habe. Möchtest du ein Wurstbrot?«

Sandra schluckte. »Nein, ich würde mir wirklich lieber etwas kaufen, Mama. Die haben jetzt so coole Käsebrezen, die sind total fein. Aber ich kann auch mein Taschengeld nehmen.«

Das Mädchen wusste genau, dass ihre Mutter bei diesem Angebot weich wurde. Und sie hatte auch dieses Mal Erfolg damit.

»Na gut. Aber das ist eine Ausnahme. Glaub nur nicht, dass sich das jetzt einbürgert.«

 

Corinna war froh, als sie endlich einige Minuten für sich hatte. Sie nahm sich noch einmal Roberts E-Mail vor und las sie genau durch. Wie kam es, dass sie sich nur noch an die schönen Zeiten ihrer Ehe erinnern konnte und die hässlichen Szenen ihres letzten gemeinsamen Jahres fast verblasst waren? Der Tag ihres Kennenlernens tauchte vor ihrem inneren Auge auf, als er Gerry vor einem herannahenden Auto gerettet hatte. Sie lächelte beim Gedanken daran, wie liebevoll er sich um ein Kind gekümmert hatte, das nicht sein eigenes war. Sie versuchte, sich ihre beiden Männer nebeneinander vorzustellen. Es gelang ihr kaum noch, sich ihren Ex-Mann ins Gedächtnis zu rufen. Immer korrekt gekleidet, glattrasiert, die schwarzen Haare ordentlich gescheitelt. Handwerklich unbegabt, aber ein Profi im Organisieren. Nach der kurzen leidenschaftlichen Zeit mit Sandie, die so abrupt geendet hatte, hatte sie bei Robert den sicheren Hafen gefunden, den sie zu diesem Zeitpunkt gebraucht hatte. Es war eine gute Ehe gewesen, nur belastet von ihrer Kinderlosigkeit. Corinna überlegte, ob dies der Grund gewesen sein mochte, dass Robert sich zunehmend in seine Arbeit gestürzt hatte. Er hatte Gerry zwar geliebt wie einen eigenen Sohn, trotzdem war er für ihn immer der Sohn seines Nebenbuhlers gewesen. Sandies Sohn. Corinna lächelte, als sie Sandie neben Roberts imaginäres Bild stellte. Größer, legerer, offener, deutlich unkonventioneller. Es waren die Kleinigkeiten, die sie so an ihm mochte. Das lausbübische Lächeln, seine Zärtlichkeiten, seinen Humor, die Kabbeleien zwischen ihnen und ja, auch sein bisweilen aufbrausendes Temperament liebte Corinna an ihrem Mann, weil es einfach zu ihm gehörte. Sandie konnte auch mal fünf gerade sein lassen, er lief am Wochenende unrasiert herum, aber er war immer da, wenn sie oder die Kinder ihn brauchten. Im Gegensatz zu Robert ließ er ihr die Freiheit, das zu tun, was sie selbst wollte. Nachdenklich kaute Corinna auf ihrer Unterlippe, als ihr die vergangene Nacht einfiel. Sie wusste durchaus, was an Sandie nagte. Es war nicht nur die Abneigung gegen seinen ehemaligen Rivalen, er fühlte sich ihm unterlegen. Wenn er auf den etwas kleineren Robert heruntersehen könnte, würde er völlig anders auftreten. Aber der Rollstuhl beschnitt seine Fähigkeiten und dämpfte seine attraktive Erscheinung. Die Tatsache, dass Sandie zu den Menschen neben sich aufblicken musste, schob ihm rein äußerlich die Rolle des Schwächeren zu. Im Laufe der Jahre hatte er sich daran gewöhnt, aber bei Robert würde er sich minderwertig vorkommen. Corinna konnte sich durchaus in ihn einfühlen, und sie wusste, wie viel ihn sein Zugeständnis gekostet hatte. Nur weil er sie liebte, würde er sich seinen Ängsten stellen und ihren Ex-Mann in seinem Haus dulden. Sie kam sich ein wenig schäbig vor, weil sie ihn zu dieser Entscheidung gedrängt hatte, aber sie hoffte, dass er ihre Argumentation nachvollziehen konnte. Sie wollte Robert gerne wieder in ihrem Leben haben. Nicht wie zuvor, sie wünschte ihn sich einfach als Freund. Was Karin anging, so hatte sie es noch nie geschafft, einen Groll gegen die Frau zu hegen, mit der er sie betrogen hatte. Schon damals war sie ihr sympathisch gewesen, obwohl sie sich das zu dem Zeitpunkt nie eingestanden hätte.

Sie bedankte sich für seine Mail und schrieb ihm dann, dass sie zwar kein geeignetes Hotel wüsste, er und seine Frau aber in ihrem Haus für die ersten Tage herzlich willkommen wären.

 

Mit gemischten Gefühlen sah Gerry an der alten, grauen Hausfassade hoch. Ein wenig mulmig war ihm schon, als er klingelte. Kurz darauf tönte eine raue, ungehaltene Stimme aus der Gegensprechanlage. »Ja, bitte?«

»Hier ist Gerry Wegener.«

»Sollte mir der Name etwas sagen?«

»Ich soll mich heute vorstellen.«

»Das ist ja interessant. Na, komm rauf. Zweiter Stock.«

Der Türöffner summte. Gerry verschmähte den Aufzug und lief die Treppen hinauf. Er hörte, wie sich über ihm eine Tür öffnete. Doch als er ankam, konnte er niemanden sehen. Er trat ein. Überrascht blickte er sich um. Das Haus war alt, aber diese Wohnung war hell und sauber und sehr ordentlich.

»Komm hier herein«, rief ihm eine Stimme zu. Nun klang sie weniger ungehalten, eher neugierig. Gerry folgte ihr in ein geräumiges Wohnzimmer, das sehr spärlich möbliert war. Eine durchgesessene, aber sehr gemütlich aussehende Couch stand in krassem Gegensatz zu dem Esstisch an der anderen Seite, dessen vier Stühle alle an der Wand abgestellt waren. Der Couch gegenüber befand sich ein niedriger Schrank mit einer Multimedia-Anlage. In einem Regal standen einige Bücher. Keine Pflanze zierte das Fensterbrett der breiten Glasfront, keine persönlichen Dinge oder Accessoires lagen herum. Das Zimmer wirkte kahl und lieblos. Gerry war ein guter Beobachter. All diese Eindrücke nahm er in dem Moment in sich auf, als er eintrat. Der Junge, der ihm in einem Aktiv-Rollstuhl ohne Armlehnen, der Sandies Modell ähnelte, gegenüber saß, war etwa Mitte Zwanzig. Er war sehr mager, hatte gut geschnittene Gesichtszüge, einen Dreitagebart und schulterlange hellbraune Haare.

»Gefalle ich dir?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.

Gerry ließ sich nicht provozieren, er wandte auch nicht den Blick ab. »Solange ich dich nicht zu heiraten brauche.«

»Dann verrate mir mal, was du hier willst.«

»Dein Vater hat mich angestellt.«

Das Gesicht, das ihn bisher relativ freundlich gemustert hatte, verzerrte sich. »Dann kannst du gleich wieder verschwinden. Ciao!«

»He, du weißt doch noch gar nicht …«, begann Gerry.

»Natürlich weiß ich«, wurde ihm brüsk das Wort abgeschnitten. »Du sollst Kindermädchen bei mir spielen. Aber ohne mich. Ich brauche keinen Aufpasser. Wenn du auf Samariter machen willst, geh ins Krankenhaus oder in irgendein Krüppelheim. Und jetzt hau ab.«

»Hör mal …«

Wieder konnte Gerry nicht ausreden. »Hau ab, sagte ich«, schrie der Junge ihn an. »Sag meinem Vater, er soll mich in Ruhe lassen. Er kümmert sich sonst einen Dreck um mich, also soll er diese idiotischen Spielchen lassen. Ich lasse mich nicht von ihm schikanieren. Und jetzt mach endlich die Fliege.«

Gerry zögerte noch, doch als der junge Mann seinen Rollstuhl drohend auf ihn zu lenkte, trat er einige Schritte zurück. »Ich gehe ja schon.«

»Vergiss nicht, dich von meinem Vater auszahlen zu lassen«, höhnte sein Gegenüber ihm nach. »Und lass dich hier nie mehr sehen.«

»Erfolg auf der ganzen Linie«, murmelte Gerry enttäuscht, als er wieder auf der Straße stand. So hatte er sich den Beginn seines neuen Jobs wahrhaftig nicht vorgestellt.

 

Sandie hatte mehr Glück. Als er am frühen Abend bei Frau Hanke eintraf, wurde er mit offenen Armen empfangen.

»Schön, dass Sie noch kommen konnten«, rief sie aus. »Ich habe gehört, dass Sie heute ziemlich viel Arbeit hatten.«

»So, das haben Sie gehört?« Sandie lächelte. »Eine Ihrer unerschöpflichen guten Quellen, nehme ich an.«

»Genau. Möchten Sie etwas essen?«

»Vielleicht hinterher. Zeigen Sie mir erst mal, was ich für Sie tun soll.«

»Oh, jede Menge. Kommen Sie bitte ins Wohnzimmer.«

»Gern. Nur sehe ich da ein kleines Problem.« Sandie wies auf ein altmodisches Telefonschränkchen, das an der Wand stand. »Da wird es ein wenig eng für mich.«

»Oh.« Frau Hanke warf einen Blick auf den Rollstuhl, dann auf das Möbelstück. Kurz entschlossen stellte sie das Telefon auf den Boden und hob das Schränkchen an einer Seite an. »Helfen Sie mir? Wir stellen es ins Schlafzimmer.«

Es war etwas umständlich, doch gemeinsam schafften sie es, den niedrigen Schrank beiseite zu schaffen. Dann war der Weg frei für Sandie. Die Türen waren schmal, aber wenn er die Arme anzog, kam er gerade durch, ohne anzustoßen.

Frau Hanke sah ihm dabei zu. »Sie haben ziemlich Erfahrung in solchen Dingen, nicht wahr? Wie lange benötigen Sie den Rollstuhl schon?«

»Ach, das haben Ihnen Ihre Quellen noch nicht zugetragen?«, spottete Sandie gutmütig. »Es werden bald zwölf Jahre.«

»Eine lange Zeit«, nickte Frau Hanke. »Erzählen Sie mir, was passiert ist?«

Ehe Sandie es sich versah, hatte er der sympathischen Frau die ganze Geschichte seines Unfalls erzählt. Und mehr noch. Er vertraute ihr an, wie schwer die Zeit danach für ihn gewesen war, wie er sich nicht mit den Veränderungen anfreunden wollte und mit dem Schicksal gehadert hatte.

»So, jetzt wissen Sie fast alles«, schloss er schließlich. Er war über sich selbst verblüfft. Über diese Zeit in seinem Leben redete er nur selten und schon gar nicht zu Fremden.

Frau Hanke sah ihn an. Sie schien zu fühlen, was in ihm vorging. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen«, sagte sie schlicht. »Sie sind ein sehr außergewöhnlicher Mann.«

Sandie lachte schon wieder. »Kann ich das bitte schriftlich haben? Das würde ich gerne meiner Frau geben.«

»Ich freue mich darauf, sie kennenlernen. Auch sie muss außergewöhnlich sein.«

»Ja, das ist sie. Das Beste, das mir je passiert ist. Aber jetzt zeigen Sie mir um Himmels willen, was ich tun soll, sonst sitzen wir morgen früh noch hier.«

Frau Hanke beobachtete ihn, als er den Receiver einstellte, was ihn etwas nervös machte. Er wunderte sich immer noch, wie leicht es ihm gefallen war, mit dieser doch relativ fremden Frau über persönliche Dinge zu sprechen. Es gab nicht viele Menschen, die ihm seine wahren Gefühle entlocken konnten. Meistens gelang es ihm, unbequeme Fragen mit einem Scherz zu überspielen. Doch Frau Hanke wollte er sich anvertrauen und er wusste auch, dass sie ihn verstehen würde.

»Hat Ihnen denn beim Umzug jemand geholfen?«, fragte er, um wieder ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Mein Schwager hat mir eine Umzugsfirma besorgt. Gehört einem Onkel von unserem Kollegen Achim Lehmann. Herr Lehmann hat mir auch mit den Möbeln geholfen. Ein angenehmer Mensch.«

»Finden Sie?«

»Sie nicht? Na ja, Geschmäcker sind eben verschieden.«

Er konnte sie gut verstehen. Lehmann war ein attraktiver Mann Ende Dreißig. Sandie fand ihn schmierig, doch Frauen hielten ihn sicher für sehr charmant.

»Wie kam es, dass Sie hierher gezogen sind?«

»Ach, wissen Sie«, Frau Hanke nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben ihn, »als vor drei Jahren mein Mann starb, war ich am Boden zerstört. Es ging mir ähnlich wie Ihnen, ich konnte und wollte mich nicht damit abfinden. Dabei war es abzusehen. Er war schon vorher lange krank. Aber dann kam das Ende doch so plötzlich. Ich war wie in Schockstarre. Ich wusste mit mir nichts mehr anzufangen.« Sie lächelte Sandie wehmütig an. »Sie sehen, wir haben viel gemeinsam. Sie haben um die Beweglichkeit Ihrer Beine getrauert und ich um meinen Mann. Oder vielmehr um mich selbst. Auch bei mir war es eher Selbstmitleid. Mein Mann hat mir großzügige Geldmittel hinterlassen, so dass ich nicht zu arbeiten brauchte. Vielleicht war das ein Fehler. Es hätte mich abgelenkt. Werner, mein Schwager, besuchte mich oft und redete mir gut zu. Letzten Herbst fragte er mich, ob ich die Stelle seiner Sekretärin haben möchte, die in den Ruhestand gehen wollte. Zuerst sträubte ich mich dagegen. Der Gedanke, mein Haus, in dem ich so viele glückliche Jahre verbracht hatte, aufzugeben, erschien mir schrecklich. Aber ich war jahrelang Sekretärin in einer großen Firma gewesen und die Aussicht, wieder in meinem Beruf zu arbeiten, reizte mich. So habe ich Werners Drängen nachgegeben.« Frau Hanke machte eine ausladende Handbewegung, die die ganze Wohnung umfasste. »Ich muss zugeben, der Wechsel hat mir gutgetan. Ich komme wieder auf andere Gedanken. Es macht mir Spaß, neue Menschen zu treffen, eine Aufgabe zu haben.« Sie nickte bekräftigend. »Ja, es war richtig, was ich getan habe, auch wenn es mir schwergefallen ist.«

Sandie hatte den Schraubenzieher, mit dem er gerade eine Steckdose angebracht hatte, sinken lassen und ihr zugehört. Frau Hanke sah ihm in die Augen.

»Möchten Sie ein Bier?«, fragte sie dann.

»Nein«, lehnte er ab. »Ich muss noch fahren. Lieber ein Glas Wasser.«

»Ich kann auch Kaffee machen.«

»Danke, aber davon hatte ich heute schon genug.« Als Frau Hanke ihm sein Wasser reichte, lehnte er sich zurück. »Haben Sie bemerkt, dass die Tür zu Ihrem Schlafzimmer ein wenig klemmt?«

»Ja, natürlich.« Sie hielt inne. »Sagen Sie nur, das können Sie auch beheben?«

»Wenn Sie mir dabei helfen, kann ich es zumindest versuchen.«

»Oh Alexander, Sie sind ein Schatz.« Sie stutzte. »Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht vertraulich werden, das ist mir so herausgerutscht.«

»Wir können auch gern dabei bleiben«, schlug er vor. »Ich habe nichts dagegen, wenn man mich beim Namen nennt. Allerdings heiße ich für meine Freunde Sandie.«

»Eine schöne Abkürzung. Gefällt mir. Dann nennen Sie mich aber bitte Ulla.«

»Gern.« Sandie prostete Ulla zu und sie lächelte ihn an.

 

Gerry hatte seiner Mutter gerade eine gute Nacht gewünscht und war auf dem Weg in sein Bett, als er aus dem Zimmer seiner Schwester ein Schluchzen hörte. Vorsichtig öffnete er die Tür, um nachzusehen. Sandra weinte leise in ihr Kissen.

Er bahnte sich einen Weg durch ihre Unordnung, setzte sich neben sie und streichelte ihr über den Kopf. »Hey Zwetschge, was ist denn los?«

Sandra zuckte zusammen und wischte sich schnell über die Augen. »Gar nichts«, behauptete sie.

»Wegen gar nichts weinst du doch nicht. Willst du mir nicht sagen, welchen Kummer du hast?«

Entschieden schüttelte das Mädchen den Kopf.

»Schlechte Noten?«, tippte Gerry. Wieder ein Kopfschütteln.

»Was dann? Komm, sag es mir, vielleicht kann ich dir helfen.«

Sandra schniefte. »Sie verprügeln mich, wenn ich petze.«

Er horchte auf. »Wen meinst du mit ›sie‹?«

»Die zwei Jungs aus der Achten.« Sandra setzte sich auf und lehnte sich an ihren Bruder. Gerry legte den Arm um sie und zog sie an sich. Er strich die langen blonden Haare glatt, die über Sandras Rücken bis fast zur Taille fielen und ihr ganzer Stolz waren.

»Sie wissen es ja nicht«, wandte er ein. »Komm schon, erzähle es mir. Was haben sie dir getan?«

»Du sagst es aber nicht Mama und Papa.«

»Warum nicht?«

»Wenn sie sich in der Schule beschweren, dann haben mich die Zwei nur noch mehr auf dem Kieker.«

»Sehe ich ein. Aber wir müssen was dagegen tun. Ich übernehme das, wenn du magst.«

»Wirklich?«

Der ängstliche und doch vertrauensvolle Ausdruck im Gesicht seiner Schwester rührte Gerry und machte ihn gleichzeitig wütend. Niemand durfte ihr etwas tun, dafür würde er sorgen. Er nickte ihr aufmunternd zu. »Ich kümmere mich darum. Und jetzt schieß los.«

 

Corinna sah zum wiederholten Mal auf ihre Uhr. Es war fast Mitternacht. Sie saß mit einer Handarbeit vor dem Fernseher und hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Doch sie hatte sich vorgenommen, auf Sandie zu warten. Sie wollte hören, wie es bei seiner neuen Kollegin gewesen war.

Endlich hörte sie sein Auto in der Einfahrt.

»Hallo querida«, begrüßte Sandie sie, als er ins Wohnzimmer kam. »Hast du auf mich gewartet?«

Corinna unterdrückte ein Lächeln. Sie hörte den alten Kosenamen immer noch gerne, auch wenn Sandie ihn inzwischen oft benutzte, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte und um gut Wetter bitten wollte. Doch sie dachte nicht daran, ihn zu beruhigen.

»Es war wohl sehr schön?«, fragte sie gespielt säuerlich.

Sandie brauchte sie nur anzusehen, um zu wissen, dass sie nicht wirklich verärgert war. Er grinste sie an. »So kann man sagen.« Mit einem oft geübten Griff hievte er sich auf die Couch neben seine Frau, legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Sie ist ziemlich nett.«

»Ziemlich?«

»Ja, okay, wir verstehen uns sehr gut. Es gibt in ihrer Wohnung noch einiges zu tun. Ich habe versprochen, ihr zu helfen.« Sandie sah sie an. »Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich.«

»Ist es nicht ein bisschen spät, um mich das zu fragen?«

»Vermutlich. Aber wenn du nicht willst, dass ich mit Ulla befreundet bin …«

»Ach, ihr nennt euch schon beim Vornamen?«

»Du kennst mich doch. Große Förmlichkeiten sind nicht meine Sache. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Bist du einverstanden?«

»Solange du am Abend wieder in mein Bett zurückkommst, schon.«

Sandie schnaubte belustigt. »Keine Angst, für solche Zwecke sucht sie sich bestimmt einen Anderen.« Sein Lachen wurde sarkastisch. »Ich glaube, sie hätte bei einigen Männern in der Firma durchaus Chancen. Bei Achim Lehmann zum Beispiel. Ich bin sicher, dass er mehr von ihr annehmen würde als nur kollegiale Freundschaft.« Er fuhr sich über die Augen. »Ich weiß, es ist idiotisch, aber ich bin mir heute Abend manchmal so richtig klein neben ihr vorgekommen.«

»Du Armer«, spottete Corinna. »Es muss furchtbar deprimierend sein, wenn ein Mann einer schönen Frau mit seiner Kraft und Größe imponieren will, und kann seine eins neunzig nicht ausfahren, weil er an einem Stuhl festklebt.«

»Du hast eine herrliche Art, die Dinge beim Namen zu nennen, mein Schatz.« Sandie spielte mit einer Strähne von Corinnas dunklen Haaren. »Aber manchmal würde ich wirklich gern so wie früher auf meine Gesprächspartner heruntersehen, statt immer nur hinauf.«

Corinnas Spott war verflogen. Sandies Worte deckten sich mit ihren Gedanken vom Morgen. In stummem Trost umarmte sie ihn, bis er leise lachte.

»Lass mal, ich werde es überleben.« Er drückte sie an sich. »Wie ging es Gerry heute?«, wechselte er das Thema.

»Totaler Reinfall. Der Junge hat ihn hochkant rausgeworfen.«

Sandie hob die Augenbrauen. »Unser Sohn hat sich rauswerfen lassen?«

»Er sagte, bevor er die Fußrasten eines Rollstuhls in die Schienbeine kriegt, geht er lieber freiwillig.«

»Sehe ich ein. Und was hat er jetzt vor?«

»Er versucht es morgen nach der Schule noch einmal.«

»Glaubt er, dieses Mal hat er mehr Erfolg?«

»Zumindest ist er besser vorbereitet.«

Sandie sah auf die Uhr. »Lass uns ins Bett gehen, Schatz. Ich bin hundemüde. Oder gibt es noch etwas Wichtiges?«

»Ich habe an Robert geschrieben und ihn und Karin eingeladen.«

Corinna sah, wie Sandies Miene kurz versteinerte. Nur weil er ihrem Vorschlag zugestimmt hatte, hieß das natürlich nicht, dass er ihm plötzlich auch gefiel. Sie fühlte sich schuldig und beschämt, weil sie ihn so lange bearbeitet hatte, bis er nachgab.

Sandie lächelte, als er ihre Miene sah. »Ich habe gesagt, du sollst es machen und dazu stehe ich. Aber du bist mir jetzt wohl was schuldig.« Er zog sie am Handgelenk näher zu sich heran und schob seine Hand unter ihr Sweatshirt.

Diese Art von Schuld beglich Corinna gerne. Sie spielte mit seinen blonden Haaren. »Mach dir nicht allzu viel Gedanken wegen Robert. Wenn es ungemütlich wird, schicken wir ihn und Karin zu Christa.«

»Ich weiß nicht, was du erwartest, aber es wird mit Sicherheit in dem Moment ungemütlich, in dem wir uns sehen.«

»Kann sein. Trotzdem glaube ich, euch beide gut genug zu kennen, um immer noch Hoffnung zu haben.« Sie legte die Hand an seinen Nacken und drückte sanft seinen Kopf zu sich, bis sie ihn küssen konnte. Seine Hand unter ihrem Sweatshirt glitt höher und sie seufzte auf. »Es ist schon spät«, wandte sie ohne Überzeugung ein.

»Egal«, murmelte Sandie an ihrem Mund. »Aber nicht hier auf der Couch. Hier ist es mir zu schmal. Lass uns ins Bett gehen.«

Seufzend stand Corinna auf. Während Sandie den Rollstuhl heranzog, stellte sie sich mitten ins Zimmer und begann, mit langsamen Bewegungen ihr Sweatshirt hochzuziehen. Er lachte über ihr neckisches Spielchen, doch seine Augen saugten sich an ihren Brüsten fest, die sie nun ansatzweise entblößte. Er wollte sich in seinen Rollstuhl ziehen, war jedoch weder mit den Gedanken noch mit den Augen bei der Sache. Er merkte noch, wie das Gefährt unter ihm wegrutschte und schon landete er auf dem Teppichboden.

Corinna lachte laut auf. »Ich dachte, man hat dir in der Reha beigebracht, wie das geht«, spottete sie.

Sandie streckte die Arme nach ihr aus und mit einem Lachen warf sie sich auf ihn, drückte ihn auf den Boden und küsste ihn. »Jetzt hab ich dich«, murmelte sie.

»Das wollen wir erst mal sehen«, flüsterte er heiser. Er gab dem Rollstuhl einen Stoß, damit er aus dem Weg war und versuchte, Corinna von sich herunter zu werfen. Doch seine Position unter ihr war denkbar ungünstig und sie nutzte seine Behinderung schamlos aus. Mit den Knien hielt sie seine Hüften umklammert und drückte ihn mit ihrem Gewicht am Boden fest. Langsam fing sie an, ihn zu entkleiden. Schließlich gab Sandie auf und überließ sich ganz ihrer Initiative. Er sah ihr zu, wie sie ihm die Hose von den Beinen zog und lachte über ihre Ungeduld, als sich sein Fuß darin verfing. Corinna begann, seine Beine zu massieren. Er spürte es nicht und doch elektrisierten ihn diese Bewegungen. Eine Gänsehaut lief über seinen Rücken, als sie sich höher arbeitete. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er fasste sie bei den Armen und zog sie zu sich hoch. »Lass mich auch was tun«, flüsterte er und drehte sich mit ihr zur Seite. Mit Mund und Händen erkundete er ihren Körper, bis sie leise stöhnte.

»Hast du dich mit Robert auch mal auf dem Teppich geliebt?«, wollte er wissen.

Corinna kicherte. »Was für eine Vorstellung«, schnaufte sie. »Sein Anzug hätte dabei doch ein Fusselchen abbekommen können. Nein, für solche Aktionen war er nicht zu haben.«

»Und du willst mir wirklich erzählen, dass wir uns gar nicht so sehr voneinander unterscheiden?« Sandie drehte sich auf den Rücken und streckte die Arme nach ihr aus.

Sie rutschte auf seinen Bauch. Nicht zum ersten Mal dachte sie, dass Robert doch ein furchtbar trockener Knochen gewesen war. Sie fühlte sich schuldig dabei, dennoch entlockte ihr der Gedanke ein anzügliches Grinsen, das sie auch beibehielt, als sie sich von Sandie langsam nach unten schieben ließ.

8

 

Am nächsten Morgen, als sie zu dritt beim Frühstück saßen, rührte Gerry nachdenklich in seinem Kakao. »Kann ich mit euch mal über etwas reden?«

»Du kannst mit uns über alles reden, das weißt du doch.« Verwundert sah Corinna ihren Sohn an.

»Ja, aber offiziell dürft ihr gar nichts davon wissen. Sandra hat sich mir nämlich gestern Abend anvertraut.«

»Sie hat also doch einen versteckten Kummer«, sah sie ihre Ahnung bestätigt.

»Nicht nur Kummer. Zwei Jungen aus der achten Klasse belästigen sie.«

Sandie fuhr alarmiert auf. »Was meinst du mit belästigen?«

»Nicht das, was du jetzt denkst«, beruhigte Gerry ihn sofort. »Aber es ist schlimm genug. Sie knöpfen ihr das ganze Taschengeld ab und drohen ihr Prügel an, wenn sie es nicht herausgibt. In letzter Zeit werden sie immer unverschämter und fordern jeden Tag Geld.«

»Deswegen will sie ständig Geld für ein Pausenbrot«, entfuhr es Corinna erschrocken. »Mein Gott.«

»Sie traut sich nicht, sich zu weigern, weil die Zwei in ihren Augen ziemlich groß und kräftig sind. Sie haben ihr auch schon einige Male weh getan.«

Sandies Miene wurde grimmig. »Ich spreche gleich heute noch mit der Schulleitung.«

»Nein, das tust du nicht«, widersprach Gerry bestimmt. »Ein Rüffel von oben hat doch überhaupt keinen Sinn. Das muss dann nur Sandra wieder ausbaden.«

Corinna schüttelte verständnislos den Kopf. »Achte Klasse, sagst du? Wie alt sind die Kinder? Dreizehn? Vierzehn? Es ist eine Schande.«

»Die werde ich mir greifen«, beschloss Sandie ärgerlich. »Das machen die nicht noch mal.«

Gerry winkte ab. »Lass das mal meine Sorge sein. Bei solchen Typen kommt ein großer Bruder deutlich besser an als aufgebrachte Eltern. Ich wollte sie heute von der Schule abholen, doch dann ist mir eingefallen, dass ich heute Nachmittag Unterricht habe. Die Zeit am Mittag reicht nicht aus, um heimzukommen. Aber morgen werde ich die Sache klären.«

»Du bist doch auch morgen noch gar nicht hier, wenn Sandra Schulschluss hat.«

»Dann muss ich eben einen Teil der letzten Stunde schwänzen. Das ist kein Problem.«

Gerry fing den Blick seines Vaters auf. Er konnte gut verstehen, dass Sandie am liebsten sofort zur Schule gehen und sich die beiden Rabauken persönlich vorknöpfen wollte. Aber Sandie wusste auch, dass ein Auftritt im Rollstuhl nicht gerade respekteinflößend auf die Rowdies wirken würde. Bei einer Auseinandersetzung würde er möglicherweise sogar gegen halbwüchsige Jungen den Kürzeren ziehen. Er hätte dieses Risiko für seine Tochter bedenkenlos auf sich genommen, doch mit einem Reinfall konnte er ihr nicht helfen.

Gerry stand auf. Mit wohlüberlegten Worten versuchte er, Sandie aus seinem Dilemma zu helfen. »Ich denke, ein elterlicher Auftritt beim Rektor bringt gar nichts«, sagte er. »Da steht Sandra nur als Petze da. Lasst mich mal die Sache regeln. Blöd, dass ich heute nicht kann, aber den einen Tag wird es schon noch gehen.« Er wandte sich an seine Mutter. »Es ist vermutlich nicht richtig, aber vielleicht gibst du ihr trotzdem ein oder zwei Euro mit, damit sie sich die Typen vom Leib halten kann. Morgen mache ich der Sache dann ein Ende.«

Corinna nickte. Das Geld opferte sie gern, wenn ihre Tochter dafür in Ruhe gelassen wurde.

Sandie kaute finster auf seiner Unterlippe. Es gefiel ihm nicht, dass er es Gerry überlassen musste, die Sache zu regeln, doch er sah ein, dass es die beste Lösung war. »Hoffen wir, dass du Erfolg hast. Und zu diesem Jungen willst du auch noch einmal?«

»Ja, gleich heute Nachmittag nach der Schule.« Gerry zog eine Grimasse. »Ich weiß zwar nicht, warum ich mir das antue, aber irgendwie reizt mich die Sache.« Er sah seinen Vater an. »Bist du soweit? Die Zeit drängt langsam.«

 

Sandie zog gerade die Schlüssel seines Audis aus der Tasche, als er die Kratzer sah.

»Gerry, schau dir das mal an.«

Gerry kam um den Wagen herum. Von der Fahrertür bis zum Kofferraum zogen sich zwei tiefe Furchen durch den dunkelblauen Lack.

»Scheiße«, entfuhr es ihm. »Sieht aus, als wäre heute Nacht jemand mit einem Nagel darüber gegangen.« Er überprüfte Corinnas Auto, doch das war unversehrt. »Nur bei deinem«, berichtete er knapp.

»Verdammt, wenn ich den in die Finger kriege …« In stiller Wut ballte Sandie die Fäuste.

Corinna, die ihre Männer hatte reden hören, trat vor die Tür. »Was ist denn los? Warum seid ihr noch nicht weg? Gerry wird zu spät kommen.«

Sandie deutete nur stumm auf die Fahrerseite seines Autos.

Corinna verschlug es für einen Moment die Sprache. »Das sieht nicht nach einem Unfall aus«, konstatierte sie dann zögernd.

»Ein Unfall in unserer Hofeinfahrt?«, knurrte Sandie. »Wie soll das denn passieren?«

Gerry nickte. »Das war Absicht.«

»Aber wer tut so etwas?« Entsetzt starrte Corinna auf das beschädigte Auto.

Auch Sandie sah verdrießlich auf die tiefen Kratzer. »Keine Ahnung. Vielleicht haben sich ein paar Jugendliche einen tollen Streich erlaubt.«

»Dann wäre es aber logisch, wenn Mamas Auto ebenfalls Lackschäden hätte«, wandte Gerry ein. Er strich mit dem Fingernagel über die Furchen. »Die sind ziemlich tief. Da hat sich einer mächtig angestrengt.«

»Du solltest Anzeige erstatten«, schlug Corinna ihrem Mann vor.

»Das bringt doch nichts«, meinte Sandie wegwerfend. »Wo wollen die anfangen zu suchen?« Er seufzte. »Ich rufe gleich nachher in der Werkstatt an, wann ich das Auto bringen kann. Steig ein, Gerry, ich fahre dich bis zur Schule. Jetzt drängt die Zeit wirklich.«

 

Sandie war verlegen, als er Ulla auf dem Flur begegnete. Doch sie lächelte ihm freundlich zu. »Hallo Sandie, haben Sie den gestrigen Abend gut verdaut?«

»Ich bin nur etwas müde«, erwiderte er, gestand sich jedoch ein, dass es nicht an Ulla lag, dass er so wenig geschlafen hatte.

»Möchten Sie Kaffee?«

»Nein, danke, ich komme gerade aus der Kantine. Ich kann nicht ständig bei Ihnen Kaffee trinken, das würde mit der Zeit auffallen.«

»Na und? Wir haben doch nichts zu verbergen.« Ulla schüttelte ihre Locken in einer anmutigen Bewegung. »Auf jeden Fall melden Sie sich bitte, wenn Sie mal ordentlichen Kaffee brauchen.«

»Gern.«

»Ich möchte Sie übrigens auch einmal zum Essen einladen. Als kleines Dankeschön, nachdem Sie kein Geld angenommen haben. Haben Sie Lust?«

»Das ist wirklich nicht nötig«, wehrte Sandie ab. »Ich habe Ihnen gern geholfen.«

»Ich möchte es aber. Bitte gestatten Sie mir diese Freude.«

»Wenn Sie es so sehen, nehme ich gerne an.«

»Gut. Sprechen wir noch einmal darüber, wenn meine Arbeit ein wenig nachlässt. Zurzeit bin ich ziemlich im Eingewöhnungsstress.« Ulla winkte Sandie zu und ging dann forschen Schrittes weiter.

Er sah ihr noch einen Moment nach, dann machte auch er sich auf den Weg zu seinem Büro. Als er an der geschlossenen Tür eines kaum benutzten Abstellraums vorbeikam, glaubte er, ein Stöhnen zu hören. Er verhielt kurz und lauschte. Wieder stöhnte jemand, aber es klang durchaus nicht, als hätte dieser Jemand Schmerzen. Sandie grinste. Da wollte er lieber nicht stören. Doch er war nur ein paar Schritte weiter, als ein unterdrückter Schrei ihn alarmierte. Er drehte um und öffnete leise die Tür, damit er sich diskret zurückziehen konnte, falls er sich geirrt hatte.

Doch was er sah, bestätigte seinen Verdacht. Eine Frau, von der er nur die zappelnden Beine sah, wurde von einem Mann auf einen Tisch gedrückt. Mit einer Hand hielt er ihre Hände fest, die andere hatte er wohl auf ihren Mund gelegt, denn Sandie hörte erstickte Laute.

»Jetzt hab dich nicht so, Schätzchen«, flüsterte der Mann rau. »Was hast du denn gegen ein wenig Vergnügen einzuwenden? Hier stört uns doch keiner.«

»Doch, ich.« Sandie packte den Kerl am Hosenbund und riss ihn zurück. Als der Mann stolperte und unsanft auf dem Boden landete, erkannte er Achim Lehmann. Die junge Frau rappelte sich unterdessen verstört hoch und versuchte krampfhaft, ihre zerrissene Bluse zusammenzuhalten.

Lehmann stand fluchend auf. »Was soll das, Wegener, weißt du nicht, dass man anklopft?«

»Hab ich wohl vergessen.« Sandie wartete auf einen Angriff, der auch prompt kam. Als Lehmann sich auf ihn stürzte, drehte er nur den Rollstuhl auf die Seite, und der blonde Mann fiel über ihn. Sandie schickte ihn mit einem harten Schlag in den Rücken zu Boden.

Verwunderung und blanker Hass mischten sich im Blick des jüngeren Mannes, als er zu ihm hochsah. Er schien zu überlegen, ob er sich noch einmal mit ihm anlegen sollte, doch bei Sandies wütender Miene entschloss er sich für den Rückzug. »Das wirst du mir büßen, du verdammter Krüppel«, murmelte er, dann suchte er das Weite.

»Ja, schau zu, dass du verschwindest.« Sandie sah ihm einen Moment lang grimmig nach, dann wandte er sich um und musterte die Kollegin, der Tränen über das Gesicht liefen. »Wie geht es dir, Birgit? Hat er dir etwas getan?«

»Nein. Du bist gerade rechtzeitig gekommen.« Die junge Frau schniefte. »Ich hätte ihn nicht mehr lange abwehren können.«

Sandie warf einen Blick auf die Tür, die Lehmann mit einem lauten Knall hinter sich geschlossen hatte. »Ich frage mich, was in ihn gefahren ist. Ich habe ihn immer eher für einen Duckmäuser gehalten.«

Birgit lachte nervös. »Vermutlich bin ich selber schuld daran. Er war immer sehr nett zu mir und ich habe ein paar Mal mit ihm geflirtet. Wahrscheinlich dachte er, er könnte sich ungehindert Freiheiten herausnehmen. Dabei weiß er, dass ich einen Freund habe.« Sie suchte ein Taschentuch und schnäuzte sich kräftig. »Mein Gott, ist das peinlich.«

»Gib dir bloß nicht selbst die Schuld daran«, widersprach Sandie. »Man kann doch nicht über alle Frauen herfallen, die einen mal freundlich anlächeln.« Er besah sich den ramponierten Zustand der jungen Kollegin. »Hast du eine Jacke, die du über deine zerrissenen Sachen anziehen kannst? Ich sage schnell Frau Hanke Bescheid, dass du dich nicht gut fühlst und ich dich nach Hause bringe.«

»Bitte sage ihr nicht, was passiert ist, ja? Ich schäme mich so.« Birgit schluchzte trocken.

»Du kannst wirklich nichts dafür«, versuchte Sandie sie zu beruhigen. »Aber ich erzähle niemandem etwas, keine Sorge. Bleib hier, ich hole deine Sachen.«

Von Birgits Telefon aus rief er Frau Hanke an und meldete die Kollegin krank. In ihrer Abteilung erzählte er, dass ihr schlecht geworden wäre. Dann ließ er sich Birgits Jacke und Tasche geben und machte sich wieder auf den Weg zu dem kleinen Abstellraum.

Als die junge Frau mit gesenktem Kopf neben ihm herlief, wünschte Sandie sich, er könnte beim Gehen den Arm tröstend um sie legen. Doch das ging nun mal nicht. Außerdem erregten sie schon Aufsehen genug. Sie begegneten nicht vielen Kollegen, aber die sahen sie sehr seltsam an. Birgit konnte ihre Verfassung nicht verbergen und Tränen rannen gemeinsam mit schwarzer Wimperntusche über ihre Wangen. Als sie sich über das Gesicht wischte, verschmierte sie ihr Make-up nur noch mehr.

Sandie war froh, als sie endlich bei seinem Auto angelangt waren. »Warte bitte einen Moment.« Er stieg ein, kippte seine Stuhllehne nach hinten und hievte den zusammengeklappten Rollstuhl über sich hinweg auf den Rücksitz. Dann schob er den Beifahrersitz zurück und öffnete die Tür für Birgit, die ihm teilnahmslos zugesehen hatte. Als sie eingestiegen war, fragte er sie nach ihrer Adresse, fischte eine Packung Papiertaschentücher aus dem Handschuhfach, die er ihr reichte, und ließ sie dann in Ruhe.

Zwanzig Minuten später hielt er auf dem Parkplatz eines Hochhauses an.

»Wirst du ihn anzeigen?«, wollte er wissen.

Entsetzt starrte Birgit ihn an. »Anzeigen?«

»Er wollte dich vergewaltigen.«

Sie sah aus dem Fenster. »Unfassbar, oder?«, murmelte sie tonlos. »Aber zur Polizei gehen? Einen Kollegen anzeigen? Ich meine, es ist ja nichts passiert. Vielleicht wäre es gar nicht zum Äußersten gekommen. Achim muss doch einen totalen Blackout gehabt haben. Vielleicht wäre er noch rechtzeitig zur Besinnung gekommen.«

Oder auch nicht, dachte Sandie grimmig, doch er sagte es nicht laut. Er hatte den Ausdruck in Lehmanns Augen gesehen und er war einfach nur froh, dass er rechtzeitig zur Stelle gewesen war. Aber er konnte Birgits Widerstreben, zur Polizei zu gehen, verstehen. Es würde Fragen geben, peinliche Fragen, denen sie sich nicht aussetzen wollte.

»Am liebsten würde ich die ganze Sache vergessen«, seufzte sie. »Ich will nicht, dass sich das in der Firma herumspricht. Das Gerede kann ich echt nicht brauchen.«

»Du willst es nicht einmal Hanke sagen? Willst du wirklich weiter in der gleichen Firma mit Lehmann arbeiten?«

»Weiß ich nicht.« Birgit seufzte tief. »Im Moment bin ich viel zu durcheinander. Ich meine, hey, vielleicht sollte ich mich ja geehrt fühlen, dass mir in meinem Alter so was überhaupt passiert.«

Es war ein kläglicher Versuch von Galgenhumor, doch Sandie lächelte pflichtschuldig. »Stimmt, mit Mitte Dreißig gehört man schon zum alten Eisen.« Er nahm ihre Hände. Sie waren eiskalt. »Leg dich hin und ruh dich aus«, riet er ihr ernst. »Wenn du dich nicht bald besser fühlst, solltest du zum Arzt gehen. Vielleicht hast du einen Schock.«

»So schlecht geht es mir nicht.« Birgit bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln, doch es gelang ihr nicht ganz. Sie zog die Achseln hoch. »Es ist ja nichts passiert. Ich bin schließlich kein Teenager mehr. Es ist nur der Schreck, der mich so mitnimmt.«

Sandie sah sie einen Moment prüfend an. »Hör auf«, sagte er dann warmherzig. »Rede es nicht runter. Was da fast passiert wäre, ist eine schlimme Sache.«

»Ja, ich weiß.« Birgit umklammerte ihre Handtasche. »Trotzdem wäre es mir lieber, wenn es niemand erfahren würde.«

»Okay.« Er nickte. »Soll ich dich noch raufbringen?«

»Lieb von dir, aber ich glaube, das geht nicht. Ich wohne im dritten Stock und der Aufzug hält zwischen den Stockwerken. Es bleibt immer eine Treppe übrig.«

»Dann geht es wirklich nicht.« Sandie lächelte bedauernd. »Hast du jemanden, der sich um dich kümmert?«

»Schon, aber ich glaube, ich muss jetzt erst einmal allein sein.« Sie öffnete die Tür. »Nochmal vielen Dank, auch fürs Herfahren.«

»Keine Ursache.« Sandie wartete noch, bis Birgit im Hauseingang verschwunden war, dann fuhr er nachdenklich wieder zurück.

 

Corinna kochte gerade, als sie ihre Tochter nach Hause kommen hörte. »Hallo, mein Schatz«, rief sie durch die Tür, doch Sandra kam nicht zu ihr in die Küche. Stattdessen vernahm sie eilige Schritte auf der Treppe.

Sie schob die Töpfe zur Seite und ging in den ersten Stock, um nach ihrer Tochter zu sehen. Schon vor der Tür hörte sie das herzzerreißende Weinen. »Sandra, was ist passiert? Haben sie dich wieder geärgert?«

Das Mädchen antwortete nicht. Sie kniete vor ihrem Bett und hatte den Kopf unter der Decke vergraben.

»Sandra, Schatz, was ist los?« Behutsam versuchte Corinna, die Decke wegzuziehen, doch Sandra hielt sie fest.

»Komm schon, du kriegst doch gar keine Luft da drunter.« Corinna schlug die Decke zurück. »Oh Sandra.«

Erschrocken sog sie die Luft ein. Sandras Haare waren abgeschnitten. Nur noch unregelmäßige Zotteln hingen ihr über die Schultern. Tröstend nahm sie ihre Tochter in die Arme. »Ach Schätzchen. Gerry hat uns von diesen Jungs erzählt. Waren die das?«

Das Mädchen nickte schniefend. Sie schluckte, doch als sie etwas sagen wollte, begann sie wieder zu weinen.

Corinna strich ihr über die Schulter. Sie war wütend. Sandra war so stolz auf die langen Haare gewesen. Es tat ihr weh, ihre Tochter unter diesem Verlust leiden zu sehen. Doch nach einer Weile raffte sie sich auf. »So, mein Mädchen, jetzt hörst du auf zu weinen. Es lässt sich ja nicht mehr ändern. Wir gehen heute Nachmittag zum Friseur und lassen die Haare gerade schneiden.« Sie besah sich die ungleichmäßigen Strähnen. »Bis zu den Schultern reichen sie ja noch alle. Du wirst sehen, das schaut auch sehr gut aus.«

»Meinst du?« Sandra sah ihre Mutter aus verquollenen Augen an.

»Natürlich. Und sie wachsen doch wieder. Wie ist das passiert?«

»Ich wollte ihnen kein Geld geben. Da hat mich der eine festgehalten und der andere hat mich bei den Haaren gepackt und wild mit einer Schere rumgeschnippelt. Da habe ich mich losgerissen und bin weggerannt.«

»War denn keiner da, der dir geholfen hat?«

»Nur ein paar aus meiner Klasse, aber die haben sich nicht getraut, was zu machen.«

Corinna hatte harte Worte auf der Zunge, doch sie schluckte sie hinunter. »Du warst sehr tapfer, dich zu weigern«, sagte sie stattdessen. »Man darf sich von solchen Typen nicht erpressen lassen. Ich verspreche dir, dass das aufhört. Gerry wird sich morgen darum kümmern. Und wenn er keinen Erfolg hat, gehen Papa und ich zum Schulleiter.«

»Aber dann schlagen sie mich.«

»Lass das unsere Sorge sein, mein Schatz.« Corinna lächelte, obwohl ihr überhaupt nicht danach zumute war. »Wir lassen nicht zu, dass irgendjemand dir was tut. Also hab keine Angst. Wir regeln das schon.«

»Wirklich?« Aus Sandras blauen Augen sprach vollstes kindliches Vertrauen.

»Natürlich.« Corinna war gerührt. Aber auch wild entschlossen. Niemand durfte sich an ihrem Kind vergreifen. Absolut niemand.

Sie lächelte ihre Tochter an. »Weißt du, du musst auch die gute Seite daran sehen. Wir brauchen in Zukunft nicht mehr so viel zu kämmen. Denk doch nur mal, wie lange es immer gedauert hat, deine Haare nach dem Waschen zu entwirren. Das geht jetzt bestimmt einfacher. Vielleicht gefällt es dir mit kürzeren Haaren sogar besser.«

Sandra sah ihre Mutter skeptisch an. Doch Corinnas Worte waren auf fruchtbaren Boden gefallen. Das Mädchen nahm die ganze Angelegenheit schon nicht mehr so tragisch. »Und wir gehen wirklich gleich heute zum Friseur?«

»Aber klar. So kann ich dich doch nicht herumlaufen lassen.« Corinna lachte sie aufmunternd an. »Und jetzt wasch dir das Gesicht und komm runter. Essen ist in fünf Minuten fertig.«

 

Als Gerry auf den Klingelknopf mit dem Namen Jürgen Schaffrath drückte, hatte er zwar Herzklopfen, aber er fühlte auch eine grimmige Entschlossenheit.

»Wer ist da?«, tönte die Stimme aus der Sprechanlage.

»Hier ist noch mal Gerry Wegener.«

»Hau ab!« Das leise Surren der Anlage verstummte. Gerry seufzte und begrub den Klingelknopf unter seinem Zeigefinger.

»Verdammt, was soll das?« Die Stimme klang zornig, aber Gerry ließ sich nicht einschüchtern.

»Ich läute so lange, bis du mich reinlässt.«

»Na, dann viel Vergnügen.« Die Verbindung wurde wieder unterbrochen.

Gerry grinste. Der Kerl war hartnäckig. Aber er auch. Er lehnte sich gegen die Hauswand und drückte mit dem Daumen auf den runden Knopf. So war es eine ganze Weile auszuhalten. Nach etwa einer Minute ging plötzlich der Türsummer und er konnte die Haustür aufdrücken. Fröhlich pfeifend lief er über die Treppe nach oben.

Jürgen erwartete ihn an der Wohnungstür. »Was soll der Terror, du Arsch?«, fuhr er Gerry wütend an. »Bist du nicht ganz dicht, oder was?«

»Ich will einfach mit dir reden. Lässt du mich rein?«

Widerwillig gab der schmale Junge die Tür frei. »Du hast fünf Minuten.« Abcheckend sah er auf die Uhr.

»Du siehst wohl zu viele Krimis, wie? Außerdem, wer selber sitzt, sollte seinen Gästen auch einen Platz anbieten.«

»Du kommst dir richtig großartig vor, was?« Jürgen sah Gerry verächtlich an, doch dann rollte er an ihm vorbei und winkte ihn ins Wohnzimmer. »Also setz dich und sag deinen Spruch auf.«

»Warum bist du so sauer, weil dein Vater jemanden sucht, der dich ab und zu besucht?«

»Was würdest du sagen, wenn dein Vater Leute bezahlt, damit sie sich um dich kümmern?«

»Ich würde sie zum Teufel schicken und meinen Vater hinterher«, gab Gerry unumwunden zu.

Jürgen starrte ihn einen Moment lang sprachlos an, dann lachte er. Das Lachen veränderte sein finsteres Gesicht völlig. Bisher war sich Gerry nicht sicher gewesen, warum er den Auftrag unbedingt durchziehen wollte, aber jetzt merkte er, dass Jürgen ihm sympathisch war. Ein wenig zumindest, schränkte er ein.

»Also, dann verstehst du mich doch, oder?«, fragte Jürgen wieder mit einer düsteren Miene.

»Klar, aber jetzt lass mal deinen alten Herrn aus dem Spiel. Was hast du dagegen, wenn wir uns ein bisschen unterhalten? Einfach so. Wenn es dir nicht passt, kann ich ja wieder gehen.«

»Na gut, unterhalte mich.« Jürgen lehnte sich zurück und sah Gerry abwartend an.

»Hast du was zu trinken?«

»In der Speisekammer steht eine Kiste Bier. Kannst mir auch eine Flasche mitbringen.«

Gerry ging auf Entdeckungstour. Das Bier hatte er schnell gefunden. Die Speisekammer machte ihrem Namen jedoch keine Ehre. Die Regale waren ziemlich leer. Aber die Küchenschränke, in denen er nach Gläsern und einem Flaschenöffner suchte, waren tadellos aufgeräumt und sauber ausgewischt.

»Hältst du die Wohnung selber in Ordnung?«, fragte er, als er ein Glas vor Jürgen hinstellte und ihm einschenkte.

»Nein, zweimal in der Woche kommt eine Putzfrau. Du weißt doch, dass Daddy für alles sorgt.«

Gerry ging über den ätzenden Ton hinweg. »Nicht schlecht, die Bude«, stellte er fest. Er deutete auf die teure Multimedia-Anlage. »Du kannst dir anscheinend allerhand leisten.«

Ein Lächeln umspielte Jürgens Mundwinkel, von dem Gerry nicht wusste, ob es nun amüsiert oder sarkastisch war. »Hast du die Villa meines Vaters gesehen?«

»Diesen Palast? Da könnte ich es keine Stunde aushalten.« Gerry hatte sich dazu entschlossen, ehrlich zu sein. Er hatte das Gefühl, dass er damit am ehesten Erfolg hatte.

Jürgen musterte ihn. »Und was hat dir mein geliebter Vater über deine Aufgabe als Kindermädchen gesagt?«

»Nicht viel.« Gerry nahm einen Schluck von dem Bier. »Nur, dass sich die Familie deines Onkels bisher um dich gekümmert hat.«

Jürgen zuckte mit den Schultern. »Er bildet sich ein, dass ich aufgeschmissen bin, weil ich nicht mehr laufen kann.« Er sah auf seine Beine, so dass Gerry sein Gesicht nicht sehen konnte, aber seine Stimme verriet seine Gefühle. Als er aufsah, blitzten die braunen Augen vor Wut. »Aber da hat er sich verdammt noch mal geirrt«, rief er laut. »Ich brauche niemanden. Meinen Alten nicht und dich auch nicht.«

Gerry ging nicht darauf ein. »Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen?«, fragte er stattdessen. »Kocht deine Putzfrau auch für dich?«

»Nein, kochen steht nicht in ihrem Arbeitsvertrag und freiwillig tut die keinen Strich.«

Den Eindruck hatte Gerry nicht, sonst wäre es nicht so sauber in der Wohnung gewesen. Er konnte sich allerdings gut vorstellen, dass jeder Mensch froh war, wieder zu gehen, wenn Jürgen zu allen so unfreundlich war. »Und du selber hast keine Lust zum Kochen«, stellte er fest.

»Ist doch reine Zeitverschwendung.« Jürgen zündete sich eine Zigarette an und bot auch ihm eine an.

»Danke, aber ich rauche nicht.«

»Du bist bestimmt Mamis Liebling, nicht wahr?«, höhnte Jürgen. »Verrate mir eines: Was bringt einen lieben braven Buben wie dich auf den Gedanken, sich mit einem Krüppel abzugeben? Das ist doch mit Sicherheit unter deinem Niveau.«

»Seit wann hat es mit Niveau zu tun, wenn man mit einem Behinderten redet?«

Jürgen schnaubte. »Behinderter darf man nicht mehr sagen. Das heißt jetzt ›Mensch mit Behinderungen‹.« Er sah Gerry lauernd an, doch der ging auf die Provokation nicht ein.

Er zuckte mit den Schultern. »Sorry, aber ich bin nicht so politisch korrekt, das ist mir zu übertrieben. Ich bezeichne mich auch nur als Schüler und nicht als Mensch mit Schulpflicht.«

Ein schmales Lächeln umspielte Jürgens Mundwinkel. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Was willst du hier? Hast du irgendeinen Helferkomplex, den du an mir ausleben willst?« Der Junge studierte Gerrys Miene, dann wurde das Lächeln breiter. »Du brauchst die Kohle«, stellte er fest.

»Ich will mir ein Auto kaufen«, gab Gerry zu. Er wollte Jürgen nicht erzählen, dass er sich für seinen Fall interessierte, genauso wenig wie er ihm auf die Nase binden würde, dass sein Vater im Rollstuhl saß. Er hatte das Gefühl, dass seine Erfahrungen von Vorteil sein konnten, aber nur, wenn Jürgen noch nicht so schnell davon erfuhr.

»Ein Auto, mein Gott.« Jürgen kicherte irre. »Wenn ich meinen Alten anrufe, stellt er mir jeden Tag ein Auto vor die Tür.« Sein Blick wurde lauernd. »Und wie gedenkst du, mir die Zeit zu vertreiben, du Fußgänger?«

Gerry sah ihn nur an.

»Mensch, du hast doch überhaupt keine Ahnung«, schrie Jürgen ihn plötzlich unbeherrscht an. »Typen wie du denken immer, sie müssten uns missionieren. Uns der Gesellschaft wiedergeben und so ein Quatsch.« Er schlug auf die Räder seines Rollstuhls, dass es schepperte. »Was glaubst du eigentlich, wie lange es dauert, bis man mit so einem Ding umgehen kann? Das ist nicht so einfach, wie es aussieht. Das ist eine Kunst für sich.«

»Glaube ich dir.«

»So, das glaubst du? Dann schmink dir mal den überheblichen Ton ab. Du hockst da in deiner ganzen Selbstgefälligkeit und denkst, dass ich ein armes Schwein bin.« Jürgen senkte die Stimme, bis sie sich fast drohend anhörte. »Aber es gibt Dinge, die du nicht kannst, mein Engelchen.« Er kippte den Rollstuhl und balancierte auf den Hinterrädern. »Das zum Beispiel.«

»Käme auf einen Versuch an«, meinte Gerry gleichmütig. Mit innerer Befriedigung sah er, dass er Jürgen aus der Fassung gebracht hatte. Hart ließ der behinderte Junge die Vorderräder wieder auf den Boden knallen.

»Was du nicht sagst.« Jürgen grinste gehässig. »Fußgänger setzen sich nicht in einen Rollstuhl. Berührungsängste, verstehst du? Außerdem könnte es ansteckend sein.«

Gegen seinen Willen musste Gerry laut lachen. Ähnliche Erfahrungen hatte auch Sandie schon gemacht. Doch Jürgen fühlte sich von ihm ausgelacht und lief vor Wut rot an.

»Komm her, du Klugscheißer«, rief er aufgebracht. »Jetzt will ich sehen, was du kannst.« Er zog sich auf die Kante der Couch und deutete herausfordernd auf den Rollstuhl.

Gerry zögerte absichtlich, doch als Jürgen triumphierend zu grinsen begann, setzte er sich hinein, ließ den Rollstuhl probeweise vor und zurück rollen und kippte ihn dann auf die Hinterräder. Elegant vollführte er zwei Drehungen und fuhr dann auf Jürgen zu, der ihm mit großen Augen zusah.

Gerry stand auf. »Ist doch kinderleicht«, behauptete er wegwerfend. »Also spiel dich nicht so auf.« Jürgen brauchte schließlich nicht zu wissen, dass er sich mit Sandies Rollstuhl überschlagen hatte, als er das Kippen zum ersten Mal versucht hatte. Er sah auf seine Uhr. »Ich habe noch Zeit. Soll ich dir was zu essen herrichten?«

Jürgen war noch immer sprachlos. »Wie hast du das geschafft?«

»Gefühlssache.« Gerry grinste. Eigentlich müsste Jürgen auf die Idee kommen, dass er das womöglich schon mal geübt hatte, doch dafür war der magere Junge viel zu verblüfft. Seine ganze Argumentation war ins Wanken geraten.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739373041
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
Querschnittslähmung Drogensucht Freunde Liebesroman Behinderung Familie Schicksal Rollstuhl

Autor

  • Gabriele Popma (Autor:in)

Gabriele Popma ist Jahrgang 1963 und als wissenschaftliche Bibliothekarin ein alter Hase im Büchergeschäft. Bereits 1996 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Nach längerer Pause arbeitet sie nun wieder als Autorin. Mit ihrem niederländischen Mann lebt sie im südlichen Bayern und liebt neben dem Schreiben ihren Garten, große Stickbilder, die sie aus Zeitmangel nie beenden wird, und ihr altes Akkordeon.