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Flammender Abgrund

von Gabriele Popma (Autor:in)
388 Seiten

Zusammenfassung

In ihrem geerbten Haus in Arizona sucht die junge Deutsche Jessica Abstand von ihren Problemen. Als sie sich in den charismatischen, aber undurchsichtigen Vagabunden David verliebt, hängt ihr Himmel voller Geigen. Doch ein alter Brief ihrer Mutter zerstört ihr Liebesglück und stellt ihre Welt komplett auf den Kopf. Zusammen mit David begibt sie sich auf die Suche nach der Wahrheit und deckt Geheimnisse auf, die sie nach San Francisco führen. Dort gerät sie unvermittelt in eine gefährliche Intrige, bei der ihre Familie alles verlieren könnte. Und plötzlich steht auch Davids Leben auf dem Spiel.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

Gabriele Popma

Flammender Abgrund

 

Roman

 

Impressum

 

Copyright © Gabriele Popma

2. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Eventuelle Ähnlichkeiten zu realen Personen wären rein zufällig.

 

Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung von Bildmaterial von BERNATSKAYA OXANA; Lukas Gojda; Mettus / shutterstock.com sowie huci /Adobe Stock

 

 

Verfasst und herausgegeben von:

Gabriele Popma

Gablonzer Str. 6

87677 Stöttwang

1

 

Mein Gott, worauf hatte ich mich da nur eingelassen? In stummer Verzweiflung sank ich auf einen Stuhl und starrte den leeren Koffer an. Warum um alles in der Welt hatte ich nur so übereilt gehandelt? Völlig aus dem Nichts war der Entschluss gekommen und für einen Plan war er immer noch erschreckend planlos. Ich sah hinaus in den regenverhangenen Abend, der meine Laune weiter drückte und die freudige Erregung der letzten zwei Tage verschwinden ließ. Je näher die Abreise rückte, umso unsicherer wurde ich.

Dabei wusste ich nicht einmal, was mir die Schmetterlinge im Bauch bescherte. Eigentlich freute ich mich auf den Trip. Es war meine eigene Entscheidung gewesen, ihn ganz allein, ohne Begleitung zu unternehmen, also sollte ich deshalb nicht das große Nervenflattern bekommen.

Es klingelte an der Wohnungstür. Ich kannte dieses besondere Klingeln. Mein Bruder Christian deutete damit sein Kommen an. Obwohl er einen Schlüssel hatte, drückte er immer kurz auf den Klingelknopf, bevor er hereinkam, um mich vorzuwarnen.

Kaum eine Minute später klopfte es an der Tür zu meinem Schlafzimmer. »Und? Schon alles gepackt?« Chris grinste, als er den Koffer sah. »Du reist wirklich mit leichtem Gepäck, oder?«

Ich warf ihm einen Blick zu, der zwischen Belustigung und Ärger schwankte. »Ich habe keine Ahnung, was ich einpacken soll«, gestand ich.

»Arizona ist um diese Jahreszeit recht warm«, antwortete er leichthin. »Die dicken Pullis kannst du größtenteils daheim lassen.«

»Danke, das hilft mir ungemein.«

Chris nahm mich bei den Schultern, drehte mich zu sich herum und drückte mich brüderlich an seine Brust. »Du bist ganz schön nervös«, stellte er fest.

»Ich fliege morgen allein nach Amerika«, murmelte ich in sein Hemd. »Ich gebe zu, das macht mich durchaus ein wenig kribbelig.«

»Du wolltest unbedingt alleine fliegen. Du weißt, ich hätte Urlaub nehmen und dich begleiten können.«

Ich drückte mich von ihm weg. Auch wenn ich meinen Bruder sehr mochte, mit ihm zusammen in Urlaub fliegen wollte ich nicht. Das wäre kontraproduktiv zu meinen Vorstellungen einer Auszeit gewesen. »Bist du mein Babysitter?«, fragte ich spöttisch. »Oder hast du nur Angst, dass du niemanden findest, der dir jetzt die Wäsche macht?«

Er kicherte vergnügt. »Erwischt. Deine Dienste werde ich wirklich sehr vermissen.«

Lächelnd wandte ich mich ab. Chris hatte seinen Junggesellenhaushalt gut im Griff, aber waschen und bügeln waren zwei Dinge, die er einfach nur hasste, während ich nichts dagegen hatte und ihm diesen schwesterlichen Dienst ab und zu gerne erwies.

»Dann such mir einen neuen Job und ich bleibe hier.«

Was so leicht dahin gesagt war, hatte eine unglaubliche Wirkung auf mich selbst. Ich war wieder in der Realität angekommen. Wie schon so oft in den letzten Wochen stieg das Gefühl in mir auf, ein Versager zu sein. Warum hatte man ausgerechnet mir gekündigt? Als die kleine Bankfiliale, in der ich seit Jahren arbeitete, geschlossen werden musste, wurde ein großer Teil der Belegschaft in die Hauptstelle übernommen. Ich war mir sicher gewesen, dass auch ich dazu gehören würde. Meine Beurteilungen waren stets gut und ich war bei Kunden und Kollegen beliebt gewesen. Als mir mein Abteilungsleiter in einem vertraulichen Gespräch mitteilte, dass man für mich leider keine neue Stelle gefunden hatte, wurde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Das Gefühl, dass ich am Rand eines Abgrunds stand, hatte ich nun, nach vier Wochen, immer noch. Ich hatte mich bei allen Banken der Umgebung beworben, doch auch dort wurde eher Personal abgebaut und Filialen geschlossen. Niemand konnte mich brauchen. Meine halbherzigen Versuche, anderweitig Arbeit zu finden, blieben ebenfalls ergebnislos. Ich konnte mich nicht so schnell umstellen. Bisher war ich mit Leib und Seele Bankkauffrau gewesen und ich konnte mir nicht vorstellen, irgendetwas anderes zu tun. Doch es war nicht abzusehen, wann die Banken wieder Bedarf hatten.

So hatte ich den Entschluss gefasst, endlich mein Erbe anzutreten. Die Tante meines Vaters hatte mir vor drei Jahren ihr Haus in Arizona vermacht. Es war nie die richtige Zeit oder Gelegenheit gewesen, mir mein Eigentum anzuschauen und zu entscheiden, was ich damit machen sollte. Meine Eltern hatten mir vorgeschlagen, das Haus zu verkaufen, aber das wollte ich nicht tun, ohne es vorher wenigstens gesehen zu haben. Meine Arbeitslosigkeit sorgte dafür, dass ich keine Ausrede mehr hatte. Wann sollte ich mich um mein Erbe kümmern, wenn nicht jetzt? Die Abfindung, die ich bekommen hatte, würde mich noch eine Weile über Wasser halten. Ein paar Wochen Urlaub, um auf andere Gedanken zu kommen, war genau das Richtige. Ich hatte einfach keine Lust, hier herum zu hängen und darauf zu warten, dass mir das Leben in Deutschland wieder eine Perspektive bieten wollte. Mehr als je zuvor spürte ich, dass es Zeit für Veränderungen war und dass ich diese Veränderungen selbst herbeiführen musste. Ich hatte allerdings keine Ahnung, was ich in Amerika zu finden gedachte oder wie sich diese Auszeit auf mein Leben auswirken sollte. Es war ja nicht so, dass sich meine Probleme auf wundersame Weise lösen würden, wenn ich ihnen nur genug Zeit gäbe. Bei meiner Rückkehr würde ich keinen Stapel Briefe vorfinden von Banken, die plötzlich meinen Wert erkannt hatten und sich um mich rissen.

Chris sah mich nachdenklich an. »Du weißt, dass es nicht deine Schuld war«, sagte er ernst, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Du findest schon wieder einen guten Job. Und bis dahin lässt du es dir einfach gut gehen. Wer weiß, vielleicht wartet in Amerika ja die große Liebe auf dich.«

Ich war ihm dankbar für den Versuch, mich abzulenken. »Meinst du, amerikanische Männer sind besser als deutsche?«

Er zuckte mit den Schultern. »Schadet nichts, die Augen offen zu halten. Wird Zeit, dass du wieder jemanden findest.«

Ich nahm einen Stapel T-Shirts aus dem Schrank und sortierte sie in meinen Koffer. »Nimm ruhig mal einen Schluck von deiner eigenen Medizin, Herr Doktor«, riet ich ihm.

»Meinst du?« Er zog spöttisch die Augenbrauen hoch.

»Ja, das meine ich«, erklärte ich energisch. »Chris, du bist dreißig und hast schon vier gescheiterte Beziehungen hinter dir. Du darfst nicht immer gleich in Deckung gehen, wenn es Probleme gibt.«

»Das sagt die Richtige«, lachte Chris und grinste mich wissend an. Seufzend sah ich ihm ins Gesicht, in diese vertrauten Züge unter dem vollen blonden Haar. Mein Bruder war ein attraktiver Mann, nach dem sich die Frauen umdrehten. Doch mit seinen Beziehungen hatte er genauso viel Pech wie ich. Als Assistenzarzt hatte er wenig Zeit für Freundinnen und bisher hatte noch keine genügend Verständnis für seine wechselnden Schichten und ständigen Überstunden aufgebracht.

»Du hast ja recht«, seufzte ich einlenkend. »Aber ich gehe nicht nach Amerika, um mir einen Mann zu angeln. Was hätte das auch für einen Sinn? Ich bleibe doch nur ein paar Wochen. Du weißt, dass ich nicht der Typ bin für One-Night-Stands.«

»Tja, dann wirst du dort drüben wohl sehr einsam sein.« Chris grinste wieder und deutete auf meinen Schrank. »Komm, ich helfe dir, sonst wirst du ja nie fertig. Unsere Eltern erwarten uns in einer halben Stunde zum Abschiedsessen.«

 

Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Ich schwankte zwischen froher Erwartung und tiefen Zweifeln, ob ich wirklich das Richtige tat. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, zu warten, bis meine Eltern Zeit hätten, mich zu begleiten. Wenigstens für die ersten paar Wochen. Dann schalt ich mich wieder eine dumme Gans, weil ich mich mit fünfundzwanzig noch so sehr an meine Eltern klammerte. Ich konnte das auch allein. Ich machte mich auf in unbekanntes Terrain, na und? Die ganze Nervosität war nur freudige Erregung, weiter nichts.

Meine Mutter hatte alles Mögliche für mich geregelt, angefangen bei einem Anruf in Sedona, um die Hausverwalterin von meinem Kommen zu informieren. Ich war ihr dankbar dafür, dennoch hatte ich das Gefühl, ich hätte mich selbst darum kümmern müssen. Wenn ich schon unabhängig sein wollte, dann richtig. Aber ich würde vermutlich noch genügend Gelegenheit bekommen, mir selbst meine Unabhängigkeit zu beweisen.

Der Abschied von meinen Eltern kam unaufhaltsam näher. Ich hatte den Eindruck, dass meine Mutter mir noch etwas sagen wollte und sich nicht traute. In ihren Augen stand eine Besorgnis, die mich zusammen mit ihren Worten beunruhigte. »Sei vorsichtig, Jessica«, riet sie mir. »Vergiss nie, dass wir dich lieb haben, ganz egal, was passiert.«

Verwirrt sah ich sie an. Was sollte schon passieren? Ich wollte einfach für eine Weile ins Haus meiner verstorbenen Großtante nach Arizona ziehen und mir die Umgebung ansehen. Auch wenn ich ziemlich nervös war, war das im Grunde weder aufregend noch abenteuerlich. Und doch schien sie sich wegen irgendetwas Sorgen zu machen.

Mein Vater dagegen lachte zuversichtlich. »Du wirst es schon schaffen. Aber du wirst uns fehlen.«

Auch ich würde sie vermissen. Meine Eltern, Chris, meine Freunde, meine gewohnte Umgebung. In Arizona kannte ich keine Menschenseele und für einen kurzen Moment schnürte mir ein Anfall von Panik die Kehle zu.

»Wirst du Marc anrufen?«, riss mich mein Vater aus den trüben Gedanken.

»Marc?« Mit jähem Entsetzen dachte ich an meinen ältesten Bruder, der in Los Angeles lebte. »Nein, ich glaube, ich kann gut ohne ihn auskommen.« Ich schüttelte mich fast bei dem Gedanken an ihn. Allerdings war Marc für mich der einzige Bekannte unter diesen Millionen von fremden Menschen. Vielleicht konnte er mir doch eine Hilfe sein. »Na, mal sehen, wie sich alles entwickelt«, schränkte ich ein.

»Okay. Gib uns Bescheid, wenn du angekommen bist.«

Nickend ließ ich mich neben Chris auf den Beifahrersitz seines Autos sinken und drehte mich sogleich um, um meinen Eltern zum Abschied noch einmal zu winken.

»Hast du dein Handy dabei?«, fragte mein Bruder, als er startete. Er hatte sich extra den Vormittag frei genommen, um mich zum Flughafen zu fahren, und ich war ihm sehr dankbar dafür.

Ich schüttelte den Kopf. »Hat keinen Sinn. Das ist so alt, das funktioniert in Amerika nicht.«

»Du könntest meines haben. Ich habe ein neues Quadband-Handy, das geht dort drüben.«

Warum wunderte mich das nicht? Chris war nicht unbedingt sehr technisch veranlagt, trotzdem hatte er immer die neuesten Spielereien. »Was soll das bringen?«, wehrte ich ab. »Ich kann mir drüben auch ein Wegwerfhandy kaufen, obwohl ich nicht glaube, dass ich es nötig habe. Den Kontakt mit Zuhause werde ich einfach per E-Mail halten. Meinen Laptop habe ich ja dabei.«

»Du lässt von dir hören, ja?«, mahnte Chris mich. »Ich will wissen, was meine kleine Schwester im großen fernen Land so treibt.«

»Als wenn dich das was anginge.« Ich grinste, obwohl mir gar nicht danach zumute war. Chris war nicht nur mein Bruder, der immer eine schützende Hand über mich hielt, er war auch mein bester Freund und ich würde ihn vermissen. Aber Amerika war auch die Chance, mich abzunabeln. Gerade von ihm, der gerne mal überfürsorglich werden konnte. »Kümmere du dich mal brav um deine Patienten«, lächelte ich tapfer. »Das große Abenteuer kannst du getrost mir überlassen.«

Chris erwiderte mein Lächeln und ich fühlte wieder dieses nervöse Prickeln. Es war wirklich ein Abenteuer, zu dem ich mich aufmachte, doch ich war bereit, es in allen Zügen auszukosten.

2

 

Aufseufzend klappte ich mein Buch zu und verstaute es in dem Netz vor meinem Sitz. Der Versuch, mich mit Lesen abzulenken, war fehlgeschlagen. Ich war viel zu aufgeregt. Fliegen war für mich immer wieder ein großartiges Erlebnis. Kurzstrecken war ich schon öfter geflogen, zu Urlaubszielen wie Kreta oder Mallorca. Doch nun war ich zum ersten Mal allein unterwegs und das war ein seltsames Gefühl. Seit zwei Stunden waren wir schon in der Luft. Wir flogen über einer dichten Nebeldecke, die kein Ende zu nehmen schien. Neben mir saß ein beleibter Mann, der nach Knoblauch roch und ständig seine verschwitzten Hände an der Sitzlehne abwischte. Wir hatten einige Worte gewechselt, doch ich war froh, als er sich in ein Magazin vertiefte.

So konnte ich meinen Gedanken nachhängen. Seufzend starrte ich aus dem Fenster in das undurchdringliche Weiß der Wolken. Ich spürte immer noch dasselbe Kribbeln wie vor der Zollabfertigung. Die Sicherheitsvorkehrungen hatten mich nervös gemacht. Ich hatte schon zu viele Schauergeschichten gehört. Chris hatte mich gewarnt, dass ich die Nagelfeile aus meiner Handtasche unbedingt in den Koffer verbannen musste, und darauf achten, dass ich mich als Tourist ausgab und nicht als Terrorist. Natürlich wollte er mich nur auf den Arm nehmen, aber wer wusste denn, ob nicht irgendein Sicherheitsbeamter auf die geniale Idee kam, dass mein Laptop eine hervorragende Schlagwaffe war und ihn konfiszierte? Es waren unsinnige Gedanken, trotzdem war ich heilfroh, als ich wohlbehalten mit Laptop und unbehelligter Handtasche durch den Zoll war. Das Kribbeln, das ich jetzt verspürte, hatte einen anderen Ursprung. Obwohl es eher stickig warm im Flugzeug war, waren meine Hände eiskalt. Dumme Pute, schalt ich mich insgeheim. Ich konnte doch nicht den ganzen Flug lang aufgeregt sein. Schließlich flog ich nicht zu meiner Hinrichtung, sondern in Urlaub. Ich fragte mich, was mir die nächste Zeit wohl bringen würde. Natürlich hatte ich mich über die Sehenswürdigkeiten rund um Flagstaff informiert und hatte mir dahingehend ein Programm aufgestellt, doch im Moment war meine Zuversicht nicht besonders groß. Ich war allein. All diese schönen Parks und interessanten Orte würde ich mir alleine ansehen müssen und dazu hatte ich zumindest im Augenblick überhaupt keine Lust. Ich fühlte mich einsam und vermisste mein Zuhause. Der Abschied von meinen Eltern und besonders von Chris war schwer gewesen. Doch ich war immer noch fest davon überzeugt, das Richtige zu tun. Ich wollte endlich sehen, wo ich meine Wurzeln hatte.

Ich flog nach Amerika. Das Land meiner Geburt. Allerdings hatte ich nur noch sehr verschwommene Erinnerungen an meinen Aufenthalt dort, und die basierten ziemlich ausschließlich auf den Fotos im Familienalbum. Meine Heimat war Deutschland und beim Namen Los Angeles dachte ich viel eher an Hollywood und Starrummel als an meine Geburtsstadt.

An meinen ersten Flug, den Flug nach Deutschland, konnte ich mich nicht mehr erinnern. Aber nach den Aussagen meiner Mutter musste er zumindest für sie sehr anstrengend gewesen sein. Mein Bruder Marc konnte es einfach nicht fassen, dass unsere Mutter den Streit um das Sorgerecht für ihn gewonnen hatte und ihn nun gegen seinen Willen in ein fremdes Land schleppte. Er war zwar in Deutschland geboren, doch seine Heimat war Los Angeles. Vor allem aber liebte er seinen Vater abgöttisch und mit einer Trennung konnte und wollte er sich nicht abfinden. Mir war das egal. Ich war mit vier Jahren noch zu klein, um schon eine Bindung zu dem Land, in dem ich lebte, aufbauen zu können, und meinen Vater hatte ich auch nicht allzu häufig gesehen. Solange ich bei meiner Mutter sein konnte, ging es mir gut.

Marc sah das ganz anders. Er maulte und stänkerte, wo es nur ging. Er weigerte sich schlicht und einfach, sich in Deutschland einzuleben. Dreimal riss er aus und einmal erwischte ihn meine Mutter gerade noch am Flughafen, bevor er in ein Flugzeug nach Los Angeles steigen konnte. Mit einer gefälschten Vollmacht hatte er Geld von ihrem Konto abgehoben und ein Flugticket gekauft. Es war reiner Zufall, dass unsere Mutter den Verlust rechtzeitig entdeckt und dann anhand seiner fehlenden Kleidung und persönlichen Gegenstände richtig kombiniert hatte, wo sie ihren Sohn finden könnte. Sie bezweifelte zwar, dass es ihm wirklich gelungen wäre, die Fluggesellschaft zu täuschen, aber es erschreckte sie, wie weit ihr 12-jähriger Sohn gehen würde, um zurück zu seinem Vater zu kommen. Marc machte jedoch nicht nur ihr das Leben schwer, sondern auch mir. Durch die acht Jahre Altersunterschied waren wir uns nie sehr nahe gestanden, aber nun begann er, seinen Frust bevorzugt an mir auszulassen.

Besonders schlimm wurde es, als sich Mama wieder verliebte. Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich an meine erste Begegnung mit ihrem neuen Freund dachte. Mit meinen damals knapp sieben Jahren war ich total hingerissen von dem großen blonden Mann mit den fröhlich funkelnden Augen. Ich hatte noch genau meine Stimme im Ohr, wie ich schüchtern zu ihm aufsah und leise ein »Guten Abend, Herr Fehrmann« flüsterte. Daraufhin zwinkerte er mir freundlich zu und kniete sich neben mich. »Nicht so förmlich, Jessica«, lachte er. »Du kannst mich Rüdiger nennen, oder auch Richey, wenn dir das gefällt. So nennen mich meine Freunde und wir wollen doch Freunde werden, nicht wahr?«

Ich platzte fast vor Stolz. Marc dagegen weigerte sich, ihn anders anzusprechen als mit »Herr Fehrmann«. Wenn es sich vermeiden ließ, sprach er überhaupt nicht mit ihm, dafür versuchte er alles, um seine Beziehung zu unserer Mutter zu sabotieren. Jeder andere Mann hätte vermutlich aufgegeben, aber Richey ließ sich von Marcs Intrigen zum Glück nicht beirren.

Als ich aus dem Fenster sah, stellte ich fest, dass die Wolkendecke sich verflüchtigt hatte und wir gerade über Grönland flogen. Ich konnte große Eisschollen im Wasser entdecken, jede einzelne von den Ausmaßen einer ganzen Stadt. Unwillkürlich fröstelte ich. So konnte man auch Marcs Verhältnis zu uns anderen bezeichnen. Wie eine Eisscholle im Meer. Viele Jahre später hatte meine Mutter mir anvertraut, dass sie gedacht hatte, ihr gespanntes Verhältnis zu Marc würde sich durch Richeys Anwesenheit einrenken. Sie wollte wieder ein normales Familienleben führen und hoffte, dass Marc in ihm eine neue Vaterfigur sah, die er sich zum Vorbild nehmen könnte. Doch sie hatte nicht mit Marcs abgöttischer Liebe zu seinem leiblichen Vater und auch nicht mit seiner wilden Eifersucht gerechnet. Es verging kein Tag ohne heftigen Streit. Marc verschloss sich zusehends, verbarrikadierte sich meistens in seinem Zimmer und ließ keinen mehr an sich heran. Unsere Mutter war oft verzweifelt, doch auch fest entschlossen, sich ihr neues Glück nicht von ihrem Sohn ruinieren zu lassen.

Als Richey uns dann endlich seinen eigenen Sohn vorstellen wollte, war ich sehr gespannt. Ich bildete mir ein, er müsse so sein wie sein Vater. Groß, blond und sehr nett. Nun, nett und blond stimmte schon, aber sonst war alles an ihm klein und dick. Marc begann laut zu lachen, als er ihn sah und nannte ihn einen Fettkloß. Ich fand meinen Bruder wieder einmal widerwärtig und beschloss, zu Chris zu halten. So wurden wir schnell zu guten Freunden. Wir freuten uns, als unsere Eltern planten, zu heiraten. An meinem achten Geburtstag fragte Richey mich, ob ich ihn nicht nur als Freund, sondern auch als Papa haben wollte. Und wie ich wollte. Marc dagegen machte eine regelrechte Szene. Er warf Mama einmal mehr Treuebruch unserem Vater gegenüber vor und redete sich so in Rage, dass er sie eine Hure nannte. Das Klatschen der Ohrfeige, die Richey ihm daraufhin versetzte, war noch im nächsten Zimmer zu hören, in das ich mich verkrochen hatte. Nicht gerade der ideale Anfang für eine neue Familie.

Das Zusammenleben mit Marc gestaltete sich immer schwieriger. Unser neuer Vater hätte uns gern beide adoptiert, aber Marc weigerte sich. »Ich lasse mir doch meinen guten Namen nicht wegnehmen«, protestierte er. Klar, Marc Tremaine, das hatte schon etwas Edles, aber Jessica Fehrmann fand ich auch nicht so übel. Meine Eltern ließen ihm seinen Willen. Mit sechzehn Jahren war Marc alt genug, um diese Sache selbst zu entscheiden.

Chris hatte am meisten unter ihm zu leiden. Er wurde von ihm gehänselt und gepiesackt, wo es nur ging. Mehr als einmal stellte ich mich schützend vor ihn, denn im Gegensatz zu ihm hatte ich keine Skrupel, Marc zu beißen und zu treten. Im Lauf der Jahre hatte ich gelernt, mich gegen ihn zu wehren.

Chris hatte meinem großen, sportlichen Bruder körperlich nichts entgegenzusetzen. Obwohl er schon dreizehn war, hatte er immer noch die Größe eines Zehnjährigen und oft genug beschwerte er sich bei mir, dass in seiner Klasse nur noch der Papierkorb kleiner war als er. Dazu kam der Kummerspeck, den er sich nach dem Tod seiner Mutter angefuttert hatte und einfach nicht mehr losbrachte. Im Gegenteil, aus lauter Frust stopfte er nur noch mehr Schokolade und Gummibärchen in sich hinein. Meine Mutter ging sofort daran, das zu ändern. Sie meldete uns zum Tennisunterricht an, ging mit uns schwimmen und Rad fahren und verbannte alle Süßigkeiten aus den Schränken. In den nächsten Monaten wurde Chris ansehnlicher. Er war zwar immer noch ein übergewichtiger Teenager, doch er wurde beweglicher und konnte Marc sogar manches Mal Kontra geben.

Dann wurde Marc in der Schule mit Haschisch erwischt. Unsere Mutter war völlig mit den Nerven fertig und wusste keinen Rat mehr. Schließlich taten meine Eltern Marc den Gefallen und schickten ihn für ein halbes Jahr nach Los Angeles zu seinem Vater. Auch für uns war es die beste Lösung. Marc hätte es sicher über kurz oder lang geschafft, der jungen Ehe unserer Eltern den Todesstoß zu versetzen. So hatten wir eine Weile Zeit, zu einer richtigen Familie zusammen zu wachsen. Chris half mir bei den Hausaufgaben und ich ihm in Englisch, in dem er eine totale Niete war. Es hatte seine großen Vorzüge, zweisprachig aufgewachsen zu sein, und ich war stolz darauf, dass ich in dem Fach so viel besser war als er. Wochenlang sprach ich nur Englisch mit ihm und unsere Mutter half dabei kräftig mit. »Say it in English«, wurde zum meistgesprochenen Satz in unserem Haus, gefolgt von Chris’ verzweifeltem Stöhnen. Doch nach ein paar Monaten war er so perfekt, dass sein Lehrer meinte, er solle sich schnellstens den amerikanischen Akzent abgewöhnen.

Als Marc zurückkam, war leider alles wieder beim Alten. Er war noch unausstehlicher geworden, und wieder verging kaum ein Tag ohne Streit. Aber auch Chris war älter geworden und konnte sich besser wehren. Öfters kam es zwischen den beiden Jungen zu Prügeleien. Einmal rammte Marc Chris sein Taschenmesser in die Seite. Der Stich war nur oberflächlich, aber die Tatsache, dass mein Bruder so brutal sein konnte, erfüllte mich mit Entsetzen.

Wir sehnten den Tag herbei, als Marc endlich sein Abitur machte. Er hatte den Eltern das Versprechen abgerungen, dass er dann wieder zu seinem Vater dürfe, und zwar für längere Zeit. Nach seinem Abflug war das Aufatmen in unserem Haus förmlich greifbar. Sogar unsere Mutter gab zu, dass das Leben ohne Marc deutlich einfacher war.

Und dann geschah es: Urplötzlich begann Chris zu wachsen. Hatte er bislang der Natur jeden einzelnen Zentimeter abkämpfen müssen, schoss er jetzt regelrecht in die Höhe. Die Fettpölsterchen verteilten sich, seine Gesichtszüge wurden glatter und sein Körper sehniger. Er überholte unsere Mutter und unseren Vater. Als er Marcs eins achtundachtzig erreichte, feierten wir ein Fest. Wir witzelten, dass er jetzt wahrscheinlich ins andere Extrem falle und tatsächlich legte er im Lauf der Zeit noch drei Zentimeter drauf. Marcs entgeisterter Blick, als er Chris bei seiner Rückkehr nach fast zwei Jahren sah, gehört zu meinen schönsten Erinnerungen. Aus seinem Stiefbruder war während seiner Abwesenheit ein attraktiver Mann geworden, der ihm nun problemlos den Rang ablaufen konnte.

Aber auch Marc hatte sich weiterentwickelt. Er war vernünftiger geworden. Sogar mit Richey konnte er nun normale Gespräche führen, ohne sofort in Rage zu geraten und mit Beleidigungen um sich zu werfen. Vielleicht war er tatsächlich erwachsen geworden, vielleicht lag es aber auch daran, dass nun nicht mehr von ihm verlangt wurde, Richey als Vater anzuerkennen.

Nur mit Chris kam es nach wie vor zu Reibereien. Sobald sich die beiden begegneten, begann die Luft vor unterschwelliger Spannung zu knistern und nicht immer konnten sie ihre gegenseitige Abneigung im Zaum halten. Da sich Marc allerdings zum Studium eine eigene Wohnung suchte, konnten sie sich einfacher aus dem Weg gehen. Wir alle wunderten uns über den Ehrgeiz, den Marc entwickelte. Er war regelrecht besessen davon, einen hervorragenden Abschluss zu machen. Was ihm auch gelang. Er schloss das Studium der Betriebswirtschaft als Bester seines Jahrgangs ab. Meine Mutter war unheimlich stolz auf ihren Sohn und auch Richey äußerte sich anerkennend. Umso größer war unser aller Erstaunen, als Marc drei Tage später verkündete, er werde nach Los Angeles ziehen und in die Baufirma seines Vaters einsteigen.

Ich glaube nicht, dass Richey sehr traurig war, als Marc die Familie verließ, aber er ließ sich nichts anmerken. Chris dagegen feierte am gleichen Abend ein übermütiges Freudenfest, was unsere Mutter ihm drei Tage lang übel nahm. Meine Gefühle waren gemischt. Ich hatte mich einfach an meinen Bruder gewöhnt. Es fehlte etwas ohne ihn. Langweilig war es in seiner Gegenwart nie gewesen. Marc hatte mir Eislaufen und Skifahren beigebracht, denn mit Wintersport brauchte ich meinen Eltern nicht zu kommen. Beim gemeinsamen Sport konnten wir unsere Meinungsverschiedenheiten unterdrücken und ich hatte Marc auch von seiner charmanten und fröhlichen Seite kennengelernt. Ich sah die Blicke, die ihm die Mädchen zuwarfen und musste zugeben, dass er ungemein attraktiv aussah mit seinen tiefschwarzen Haaren und diesem anziehenden Lächeln. In diesen Momenten war ich dann doch immer sehr stolz auf meinen großen Bruder gewesen.

Träge blickte ich aus dem Fenster. Die Nervosität hatte sich glücklicherweise endlich gelegt. Ich war müde, aber es war draußen viel zu interessant, um zu schlafen. Wir flogen gerade über Kanada. Aus zehn Kilometern Höhe wirkte die Landschaft wie eine Reliefkarte mit einigen Wolkentupfen, die wie Sahnehäubchen darauf lagen. Auf dem Gebirge unter mir lag Schnee und die angrenzenden Gebiete sahen aus wie eine große Patchworkdecke. Viele verschieden grüne Karos und Rechtecke nebeneinander, die ab und zu von blauen Strichen getrennt wurden. Chris würde angesichts meiner stümperhaften Beschreibung sicher nachsichtig den Kopf schütteln. Er konnte Orte und Personen mit einigen Worten treffsicher charakterisieren. Diese Landschaft unter uns würde ihm gefallen. Ich vermisste Chris. Zwar wollte ich mir das nicht eingestehen, aber ich sehnte mich nach dem sicheren Gefühl, das ich an seiner Seite immer hatte. Für einige Momente fühlte ich mich schutzlos und schrecklich allein. Doch dann schob ich diese dumme Empfindung entschlossen zur Seite und nahm mir vor, mich auf die kommenden Tage zu freuen.

3

 

Im strahlenden Sonnenlicht kam ich in Los Angeles an. Allerdings hatte ich zu einer Stadtbesichtigung keine Zeit. Schon eine knappe Stunde später startete mein Flugzeug nach Flagstaff. Ich bedauerte das sehr, denn ich hätte gern mehr von Los Angeles gesehen. Andererseits war ich aber froh, dass es ohne großen Aufenthalt weiter ging. Ich war inzwischen entsetzlich müde. Meine innere Uhr stand auf elf Uhr abends, und hier war es erst früher Nachmittag.

Als ich dann endlich den freundlichen Taxifahrer entlohnte, der mich vor einem kleinen weißen Haus in dem bei Flagstaff gelegenen Ort Sedona abgesetzt hatte, fühlte ich mich wie nach einer mehrwöchigen Weltreise. Das war also Tante Marys Haus. Es lag am Stadtrand, am Ende einer Seitenstraße, die hier einen Bogen machte und zur Hauptstraße zurückführte. Obwohl das Haus seit drei Jahren unbewohnt war, sah es gepflegt aus. Der weiße Anstrich blätterte zwar schon an manchen Stellen ab, doch auf mich machte das zweistöckige Gebäude einen freundlichen und einladenden Eindruck. Durch die blau gestrichenen Fensterläden erhielt es eine pfiffige Note, die mir sehr gut gefiel. Ein kleiner Anbau, der wohl eine Garage war, war ebenfalls in hellem Blau gehalten. Eine breite Veranda führte auf der Südseite in den Garten, der das gesamte Haus umrahmte. Das Gras schien ab und zu gemäht zu werden, trotzdem sah der Garten verwildert aus. Hier gab es viel zu tun.

Ich sah mich um. Hier hatte ich also den Großteil meiner ersten Lebensjahre verbracht. Zwar kannte ich die Umgebung von Fotos und den Erzählungen meiner Mutter, hatte jedoch nur noch ein paar sehr verschwommene aktive Erinnerungen an diese Zeit. Das Nachbarmädchen Cathy war damals meine beste Freundin gewesen und angeblich hatten wir zusammengehalten wie Pech und Schwefel. Seit dem Tod meiner Großtante verwaltete sie das Haus. Meine Mutter hatte sie auf mein Kommen vorbereitet, doch ich hatte keine Ahnung, wo ich die Frau nun finden konnte. Im Grunde grenzte nur ein einziges Haus direkt an mein kleines Anwesen. Ein Schild am Gartenzaun verriet mir, dass hier eine Tierärztin namens Catherine Gardener wohnte. Na also. Ich nahm meinen Mut zusammen und öffnete die kleine Gartentür, als eine schlanke, junge Frau mit einem Strauß Blumen um die Ecke kam. Sie war barfuß und trug eine verblichene Jeans, ein buntes Hemd und auf den langen schwarzen Haaren einen grauen Schlapphut, der einen dunklen Schatten auf ein oval geschnittenes Gesicht warf. »Hallo«, begann ich ungeschickt.

Die Frau sah hoch und blickte mich freundlich an. Kecke Sommersprossen zierten die schmale Nase in ihrem ungeschminkten Gesicht und in den großen braunen Augen stand ein unbeschwertes Lachen, als sie mich kurz musterte. »Du bist Jessica, nicht wahr? Schön, dich wiederzusehen. Ich bin Cathy. Erinnerst du dich noch an mich?«

»Nein, tut mir leid«, musste ich zugeben und kam mir unheimlich dumm dabei vor.

»Na, macht nichts. Du warst damals noch ziemlich klein.« Cathy schwang ein Paar langer Beine über den Gartenzaun. »Aber wir werden uns sicher schnell wieder kennenlernen. Jetzt zeige ich dir zuerst mal dein Haus.«

Ich musste leicht den Kopf heben, als sie neben mir stand. Cathy war bestimmt fünf Zentimeter größer als ich. Und ein Stück schlanker, stellte ich nicht ohne Neid fest.

»Ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet«, erklärte sie mir, während sie den Schlüssel ins Schloss steckte. »Ich habe die Möbel abgedeckt und wollte gerade noch ein paar Blumen auf den Tisch stellen, damit das Ganze nicht so trostlos aussieht.« Sie öffnete die Tür. »Willkommen im Heim deiner Kindheit«, lud sie mich mit einer ausladenden Handbewegung ein. »Stell deine Koffer hier ab, wir kümmern uns nachher darum.«

Neugierig sah ich mich in dem kleinen Haus um. Wie in Amerika üblich, kam man von der Eingangstür gleich in einen großen Raum, der vermutlich als Wohn- und Esszimmer genutzt worden war. In einer gemütlichen Nische stand eine betagte Couch vor einem alten Fernseher. Ein Durchgang führte in die Küche. Beherrscht wurde das Zimmer jedoch von einem Eichentisch, an dem problemlos zehn Menschen Platz fanden. Der Tisch und auch die Stühle sahen nach Handarbeit aus. Linkerhand führte eine geschwungene Treppe nach oben. Dies alles kam mir nicht sehr bekannt vor, aber plötzlich wusste ich, dass mein damaliges Zimmer im oberen Stock gelegen hatte, und ich konnte es auch auf Anhieb finden. Überrascht blieb ich stehen. Tante Mary schien nach meinem Auszug nicht viel verändert zu haben. Der Raum war voller Kinderbücher und Spielzeug, allerdings war da auch eine große Schachtel mit einer Autorennbahn, die ich sicher nicht besessen hatte.

»Die gehörte David«, schmunzelte Cathy, die mir gefolgt war. »Mary war mit seiner Mutter befreundet und hat ihn in allen Ferien eingeladen.«

»Ich glaube, sie war eine sehr nette Frau«, sagte ich mehr zu mir selbst.

»Ja, das war sie«, bekräftigte Cathy. »Ich mochte sie sehr gern. Hier war immer etwas los. Mary war eine sehr gesellige alte Dame. Die Partys hier im Haus haben einen legendären Ruf.«

»Warum hat sie ausgerechnet mir das Haus vererbt?«, stellte ich Cathy die gleiche Frage, wie ich sie schon oft mit meinen Eltern erörtert hatte.

»Sie liebte dich und deine Mutter.« Cathy zuckte mit den Schultern. »Viel mehr Verwandte hatte sie nicht und deinem Vater und deinem Bruder wollte sie kein Stück mehr vererben als unbedingt nötig.«

Ich grinste. Meinen Vater kannte ich nicht, aber was Marc betraf, konnte ich Tante Mary gut verstehen.

»Aber jetzt komm hinunter«, schlug Cathy vor. »Du musst doch hundemüde sein. Ich habe die Vorratsschränke nur notdürftig gefüllt, aber für einen Kaffee reicht es. Möchtest du etwas essen?«

»Nein danke. Im Flugzeug gab es so viel, dass ich heute nichts mehr brauche.«

»Gut. Aber Kaffee trinkst du doch, oder?«

Eigentlich war ich kein Kaffeeliebhaber, doch eine Tasse würde vielleicht meine Lebensgeister wieder anregen. Ich bejahte also und folgte Cathy nach unten ins Esszimmer. Im Vorbeigehen sah ich, dass in allen anderen Räumen die Möbel mit großen Tüchern zugedeckt waren.

»Ich habe erst mal ein Zimmer hergerichtet«, erklärte Cathy. »Zu mehr hat die Zeit leider nicht gereicht. Du hättest deine Ankunft früher mitteilen sollen, dann hätte ich ordentlich putzen können.«

»Ach lass nur, das habe ich gar nicht erwartet«, winkte ich ab. »Ich bin sowieso froh, dass meine weise Mutter dir Bescheid gesagt hat, dass ich komme. Bis vor einigen Tagen wusste ich nämlich selbst noch nichts davon.«

»Ach.« Cathy, die mit der Kaffeemaschine hantierte, hielt inne und sah mich an. »Ein so überstürzter Entschluss?«

»Ziemlich«, gab ich zu.

»Wieso denn das? Bist du vor einem Mann geflüchtet?« Cathy nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben mich. Ihre braunen Augen musterten mich neugierig, während sie den Hut auf den Tisch warf und die langen Haare mit einer eleganten Bewegung nach hinten schleuderte.

»Nein, da gibt es gerade niemanden. Der einzige Mann, von dem mir der Abschied schwer fiel, ist mein Bruder.«

»Marc?« Cathy riss die Augen auf.

Ich musste lauthals lachen. Die Vorstellung war absurd. »Nein«, schnaufte ich, noch immer lachend. »Gott bewahre mich vor Marc.«

»Na, da bin ich ja beruhigt«, schmunzelte Cathy. »Du hast also noch einen Bruder? Stiefbruder?«

Ich nickte lächelnd.

»Aha, jetzt wird es interessant.« Cathy stellte Milch und Zucker auf den Tisch und holte die Kaffeekanne. »Ich glaube, wir haben uns eine ganze Menge zu erzählen. Wie heißt er?«

»Chris. Eigentlich Christian. Aber nur Marc hat ihn so genannt. Als Schimpfwort. Christian Fettkloß, sagte er ständig.« Ich musste kurz überlegen, um das Wort einigermaßen sinngemäß zu übersetzen. Mit dem normalen Englisch hatte ich keine Schwierigkeiten und mit dem Dialekt dieser Gegend hatte ich meine ersten Jahre verbracht, aber bei solchen Worten musste ich doch kurz nachdenken. Doch ehe ich es mich versah, hatte ich Cathy die ganze Geschichte von Chris, Marc und mir erzählt. »Wir hatten Mama gebeten, ihm nichts davon zu schreiben, dass Chris so in die Höhe schoss«, schloss ich meinen Bericht. »Sie war sowieso die Einzige, die den Kontakt zu ihm aufrecht erhielt.«

»Du magst ihn nicht besonders, oder?«

»Marc? Doch, sicher, ich liebe ihn. Ich kann ihn bloß nicht leiden.«

Cathy lachte. »Aber er ist dein Bruder, willst du damit sagen.«

»Er hat es nicht leicht gehabt. Irgendwie kann ich ihn sogar verstehen. Er war bei der Scheidung meiner Eltern schon zwölf. Es muss sehr hart für ihn gewesen sein, plötzlich den Vater und alle Freunde verlassen und in ein fremdes Land ziehen zu müssen.«

»Kann sein«, antwortete Cathy nachdenklich. »Aber gemein war er früher auch schon.«

»Hast du einschlägige Erfahrungen?«

»Ich kam mal dazu, wie er eine kleine Katze quälte, und ich habe ihm meine Fingernägel durchs Gesicht gezogen. Das hat er mir vermutlich übel genommen, denn mit der großen Freundschaft wollte es nie was werden.«

»Das klingt ganz nach Marc«, nickte ich und gähnte herzhaft. »Entschuldige, ich bin furchtbar müde.«

»Das ist klar. Du bist doch seit ewigen Zeiten auf den Beinen. Bei euch daheim ist es schon mitten in der Nacht.« Cathy stand auf. »Ich habe dir Marys Zimmer hergerichtet. Morgen komme ich herüber und helfe dir beim Aufräumen. Dann müssen wir auch unbedingt einkaufen gehen. Mit dem, was ich besorgt habe, kommst du nicht weit.«

»Das ist lieb von dir.« Ich konnte plötzlich meine Augen kaum noch offen halten.

»Geh schon rauf. Ich kümmere mich noch um das Geschirr.«

»Ach, lass es stehen. Die zwei Tassen kann ich morgen auch noch abspülen.« Ich brachte Cathy an die Tür. »Danke, Cathy.«

Sie drehte sich lachend um. »Wofür?«

»Dafür, dass wir immer noch Freundinnen sind.«

»Klar sind wir das. Wart’s nur ab, du wirst eine tolle Zeit hier haben.«

Langsam glaubte ich auch daran. So einsam und allein, wie ich befürchtet hatte, war ich nicht. Ich hatte bereits eine Freundin gefunden. Selten war mir ein Mensch auf Anhieb so sympathisch gewesen wie diese junge Frau mit dem fröhlichen Lachen. Plötzlich trat aus den Tiefen meiner Erinnerung ein Bild vor meine Augen. Das Bild von zwei kleinen Mädchen, die lachend auf einem Baumstamm saßen und sich gegenseitig mit Schokoladenpudding fütterten, wobei mehr Pudding in den Gesichtern landete als im jeweiligen Mund. Ich lächelte. Es war schade, dass ich nicht mehr Erinnerungen an meine Kindheit hier hatte, doch ich fühlte mich bereits zu Hause. Als ich mich in das weiche Doppelbett sinken ließ, dachte ich dankbar an Tante Mary, die mir all dies vermacht hatte.

4

 

Ich lag schläfrig im Liegestuhl auf der überdachten Veranda und döste vor mich hin. Seit knapp einer Woche war ich nun hier. Die Tage waren anstrengend gewesen. Mit Cathys Hilfe hatte ich den größten Teil des Hauses auf Vordermann gebracht. Wir hatten Schränke ausgeputzt, Fußböden geschrubbt und zentnerweise Staub gewischt. Ich wusste, wie die Waschmaschine funktionierte und hatte mich auch schon mit dem alten Kochherd angefreundet. Cathy hatte mich gefragt, ob ich das Telefon wieder anmelden wollte, aber das hatte ich verneint. Wen sollte ich hier denn anrufen? Marc? Im Moment war ich eher froh, dass er nicht wusste, dass ich hier war. Mit meinen Eltern und Chris hielt ich den Kontakt per E-Mail, was völlig ausreichend war. Nur der Fernseher hatte seinen Geist aufgegeben, aber das störte mich nicht besonders. Meine Tage waren auch so restlos ausgefüllt. Seit dem frühen Morgen war ich dabei, die völlig eingestaubten Fenster zu putzen, eine auf die Dauer ziemlich anstrengende Arbeit, weswegen ich mir gerade eine Pause auf der Veranda gönnte. Aber ich war zufrieden, wie gut ich vorankam. Was jetzt noch fehlte, war ein guter Elektriker, der mir einige Steckdosen und heraushängende Kabel reparieren konnte.

»Und ein guter Gärtner«, murmelte ich vor mich hin, als ich meinen Blick über den verwilderten Garten schweifen ließ.

»Führst du Selbstgespräche?«

Ich fuhr hoch. Cathy war vermutlich einfach über den Zaun gestiegen, deshalb hatte ich sie nicht gesehen.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Macht nichts.« Ich deutete auf die Gartenmöbel, die ich gerade aufgestellt hatte. »Setz dich doch. Hast du denn keine Sprechstunde?«

Cathy strich sich die schwarzen Haare unter dem unvermeidlichen Schlapphut zurück. »Doch«, meinte sie achselzuckend, »nur keine Patienten.«

»Wieso? Sind die Hunde hier alle gesund?«

Cathy lachte, doch es klang etwas gezwungen. »Die Hunde nicht, aber die Konkurrenz.«

»Gibt es hier in Sedona so viele Tierärzte?«

»Im Ortskern ist eine völlig neue Tierklinik eröffnet worden. Eine Gemeinschaftspraxis von drei Tierärzten. Modernste Geräte. Dagegen kann ich natürlich einpacken. Über kurz oder lang muss ich mir was Neues überlegen. Vielleicht modernisieren. Weißt du, ich denke manchmal …«

»Wieso bist du ausgerechnet Tierärztin geworden?«, fragte ich sie neugierig. Cathy sah mich an. Ein kaum wahrnehmbarer Schatten huschte über ihr Gesicht.

»Ach, das lag nahe«, meinte sie dann. »Ein Tiernarr war ich schon immer. Mit Tieren komme ich besser aus als mit manchen Menschen.«

»Du würdest gut zu Marc passen«, grinste ich.

»Hör bloß auf.« Cathy verdrehte die Augen. »Der Junge ist nicht so ganz nach meinem Geschmack.«

»Mach ihn nicht so schlecht. Vielleicht hat er sich seit damals gebessert.« Warum um alles in der Welt verteidigte ich Marc? Ich wunderte mich über mich selbst. Trotzdem fuhr ich fort. »Es ist schließlich eine Ewigkeit her, seit du ihn gesehen hast.«

»Nicht so lang, wie du denkst. Er war vor ein paar Jahren mal hier.«

»Was?« Ich fuhr in die Höhe. »Wann?«

»Ach, ich weiß nicht genau. So vor vier, fünf Jahren vielleicht.«

»Interessant. Und was wollte er hier?«

»Sich einschmeicheln, nehme ich an. Es war nach Marys erstem Herzinfarkt. Er hat das Erbe gerochen.«

»Meinst du?« Es passte zu Marc, trotzdem war ich weiterhin bereit, ihn zu verteidigen. Mir selbst tat es furchtbar leid, dass ich keine Gelegenheit gehabt hatte, die Beziehung zu meiner Großtante aufzufrischen. Möglicherweise hatte Marc genau das getan, bevor es zu spät war. Doch als ich Cathy von meiner Vermutung erzählte, gab sie einen Laut von sich, der zwischen Schnauben und Lachen lag. »Das glaubst du doch selbst nicht. Er hatte zwar bessere Manieren als früher, aber Ekel bleibt Ekel. Tut mir leid, aber dein Bruder ist absolut nicht mein Fall. Und Marys auch nicht. Sonst hättest du dieses Haus wahrscheinlich nicht bekommen.«

»Stimmt.« Mit Schaudern erinnerte ich mich an Marcs Wutausbruch, als er von meiner Erbschaft erfahren hatte. Er hatte von Los Angeles aus angerufen und dabei so geschrien, dass unsere Mutter den Hörer zwanzig Zentimeter von ihrem Ohr entfernt halten musste.

»Ich bin froh darüber.« Cathy lächelte mich warm an. »Marc als Nachbar wäre furchtbar.«

»Und ich?«

»Wir sind immer noch Freundinnen. Ich freue mich, dass du eine Weile hier bleibst. Was willst du übrigens mit dem Garten machen?«

»Eine gute Frage. Es würde mir Spaß machen, hier Gemüse zu pflanzen und Blumen zu setzen. Nur wofür? Wenn ich weg bin, verwildert wieder alles.«

Cathy nickte. »Um den Rasen solltest du dich allerdings kümmern.«

»Ich weiß. Aber für heute habe ich mir die Fenster vorgenommen. Vielleicht morgen.«

Cathy machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich sollte dir sagen, dass der Rasenmäher kaputt ist. Er hat einfach den Geist aufgegeben.«

»Vielleicht kriege ich ihn wieder in Schuss«, murmelte ich undeutlich, denn ich konnte nur noch mit Mühe die Augen aufhalten.

»Du?« Cathys Miene war ein einziges Fragezeichen.

»Ja, ich. Ich habe durchaus ein wenig technisches Geschick.« Richey war nie der Meinung gewesen, dass Mädchen nicht zu wissen bräuchten, wie ein Gerät von innen aussah und hatte mir allerhand gezeigt. Ich war auf diesem Gebiet nicht sonderlich begabt, aber durchaus imstande, einen Defekt zu erkennen und manchmal auch zu reparieren. Cathys erstaunter Miene nach zu urteilen, besaß sie dieses Talent nicht.

Als wir ein lautes Bellen hörten, stand sie auf. »Ein Patient«, seufzte sie. »Ausgerechnet jetzt.«

»Ist doch gut, wenn Arbeit kommt.«

»Aber ich wollte dir doch helfen.«

»Kannst du später auch noch.« Es war schade, dass Cathy gehen musste. Ich war gerne mit ihr zusammen und sie hätte es mit ihrer Energie vermutlich geschafft, mich aus meiner momentanen Trägheit zu reißen. Aber ihre Arbeit hatte immer noch Vorrang.

Erst nach einer Stunde quälte ich mich aus meinem Stuhl. Meine Lust, die Fenster zu putzen, war völlig verflogen. Stattdessen holte ich den uralten Benzinrasenmäher aus der Garage. Cathy hatte mich neugierig gemacht. Ich wollte wissen, was an dem Gerät nicht funktionierte. Meine Geduld und meine mageren technischen Kenntnisse wurden jedoch auf eine harte Probe gestellt. Ich war kurz davor, den Mäher mit einem derben Stoß zurück in die Garage zu befördern, als ich auf der Straße ein gleichmäßiges Tuckern hörte. Ein beigefarbenes Wohnmobil mit einigen bunten Streifen auf der Seite fuhr langsam an Cathys Grundstück vorbei und verschwand aus meinem Blickfeld, als es um die Ecke bog. ›Hat sich wohl verfahren‹, dachte ich mit einem Schulterzucken. Mit einem bösen Blick sah ich wieder den Rasenmäher an. Mit der mir eigenen Sturheit wollte ich unbedingt die Ursache finden, warum er nicht ansprang, aber ich musste erkennen, dass mir hierbei Grenzen gesetzt waren. Ich ärgerte mich, dass ich mich geschlagen geben musste und spürte, dass mein Blick dabei immer finsterer wurde.

»Kann ich helfen?«

Erschrocken sah ich hoch. Am Gartenzaun stand ein junger Mann und lachte mich freundlich an. Für einen Moment war ich verwirrt und der verärgerte Blick klebte regelrecht in meinem Gesicht. Wo kam der denn auf einmal her?

»Ups!« Der Fremde lächelte, was ein kleines Grübchen in seiner Wange erscheinen ließ. »Werden Besucher hier erschossen?«

»Nicht sofort.« Mein Gesichtsausdruck wurde automatisch freundlicher, als ich sein entwaffnendes Lächeln sah. »Wenn sie helfen wollen, kriegen sie eine Chance. Verstehst du dich auf unwillige Rasenmäher?«

»Möglich.« Mühelos schwang er sich über den Gartenzaun.

Ich trat zurück und ließ ihn an das Gerät.

»Ist Benzin drin?«, fragte er, während er sich ins Gras kniete.

»Natürlich«, antwortete ich leicht pikiert.

»Entschuldigung. Sollte keine Beleidigung sein.« Er grinste mich von unten her an.

Ich beobachtete den Fremden, wie er an dem Rasenmäher hantierte. Er war ungefähr in Chris’ Alter, ebenfalls blond, groß, wenn auch nicht ganz so groß wie mein Bruder. Lächelnd schüttelte ich den Kopf, als mir auffiel, dass ich alle Männer, die mir begegneten, an Chris maß. Trotzdem gefiel mir, was ich sah. Sein Körper war schlank und muskulös und von der Sonne gebräunt. Eine feine weiße Narbe zog sich über seine rechte Wange und gab dem ansonsten gleichmäßig geschnittenen Gesicht ein verwegenes Aussehen. Die Tatsache, dass er sich anscheinend seit ein paar Tagen nicht rasiert hatte, unterstrich diesen Eindruck noch. Die dunkelblonden Haare ringelten sich in seinem Nacken und einige Strähnen fielen ihm in die Stirn, was unbeschwert und jungenhaft wirkte. Unwillkürlich begann mein Herz schneller zu schlagen.

»Mein Name ist übrigens David Hanford«, sagte er zu dem Rasenmäher.

»Ich heiße Jessica Fehrmann«, antwortete ich und machte einen Schritt zurück, als der Motor ansprang.

»Na also.« David freute sich sichtlich, dass es ihm gelungen war, die Maschine zum Laufen zu bringen. »Und jetzt?«, wandte er sich mir zu. »Soll ich den Rasen für dich mähen?«

Ich war erstaunt. Es war noch nicht oft vorgekommen, dass mir ein fremder Mann so selbstlos seine Hilfe angeboten hatte. Noch nie, um genau zu sein.

»Ich kann aber nicht viel bezahlen«, erklärte ich.

»Wie wäre es mit einem Abendessen? Meine Vorräte sind zurzeit ein wenig knapp.«

»Ach, gehört dir das Wohnmobil, das ich vorhin gesehen habe?«, kombinierte ich.

»Hmm, ja. Ich bin sozusagen auf der Durchreise.« Er lächelte mich entwaffnend an. »Also wie steht’s mit unserem Deal?«

Ich überschlug in Gedanken den Inhalt meines Kühlschranks. Das wäre kein Problem. Aber sollte ich wirklich einen wildfremden Mann zum Essen einladen? Ein netter Kerl schien er ja zu sein. Aber gerade deshalb. Er gefiel mir und plötzlich wurde mein Mund trocken. Meine letzte Begegnung mit einem sympathischen jungen Mann lag schon eine Weile zurück. Aber ich konnte ja zur Sicherheit auch Cathy dazu bitten.

»Na gut. Rasen mähen für ein Abendessen. Ist ein faires Angebot.«

»Prima. Dann fang ich am besten gleich mal an.«

»Einverstanden.« Ich sah David noch eine Weile zu, dann wusste ich, dass mein Garten bei ihm in den besten Händen war. Ich wurde verlegen, weil ich ihm so prüfend nachsah, und ging hinein. David. Der Name gefiel mir. Und er sah wirklich verteufelt gut aus. Der Abend konnte durchaus interessant werden.

Ich kehrte zu meinen Fenstern zurück. Von hier hatte ich einen ausgezeichneten Blick auf den vorderen Teil des Gartens. Ich ertappte mich dabei, dass ich David anstarrte. Er hatte das Hemd ausgezogen und ich bewunderte seine kräftigen Oberarme. Sein Körper war gut proportioniert. Durchaus ein Mann, der mein Interesse wecken könnte, dachte ich, um mir anschließend einzugestehen, dass das besagte Interesse längst schon geweckt war.

5

 

Ich deckte gerade den Tisch, als David hereinkam. »›Ich würde mich gerne waschen«, sagte er und fuhr sich durch die Haare. »Ich bin total verschwitzt.«

»Kein Wunder, bei der Hitze. Das Badezimmer ist oben. Die letzte Tür rechts. Du kannst auch duschen. Nimm einfach ein Handtuch aus dem Schrank.«

»Mach ich. Danke.«

Hatten wir uns wirklich erst vor zwei Stunden kennengelernt? Kopfschüttelnd ging ich zum Herd zurück. Es kam mir viel länger vor.

Wir saßen schon einige Minuten beim Essen, als Cathy hereingewirbelt kam. »Entschuldigt bitte, ich wurde noch aufgehalten.« Sie stutzte, als sie meinen Gast sah und starrte ihn verwirrt an. »David?«, fragte sie dann zögernd.

David grinste breit und stand auf. »Hallo Cathy. Wie schön, dich zu sehen.« Er freute sich anscheinend diebisch über ihr verdattertes Gesicht. Wobei meine Gesichtszüge mit Sicherheit weit mehr entgleist waren als Cathys. Woher kannten sich die beiden?

»David!« Mit einem Freudenschrei fiel Cathy ihm in die Arme. Ich begriff gar nichts mehr. Dann fielen mir Cathys Worte über die Rennbahn in meinem ehemaligen Zimmer ein: »Ach, die gehörte David.« Meine neue Bekanntschaft hatte mir anscheinend einiges verschwiegen. Und sein Auftauchen hier war vermutlich kein Zufall. Ich seufzte innerlich. Da hatte ich doch tatsächlich angenommen, dass er mir seine Hilfe um meinetwillen angeboten hatte.

»Was tust du denn hier?«, fragte Cathy gerade. Ihr Gesicht war vor Freude gerötet und das Strahlen in ihren Augen hätte eine Christbaumbeleuchtung ersetzen können.

»Ach, ich will mal wieder zum Grand Canyon rauf, und hielt es für eine gute Gelegenheit, hier vorbeizuschauen und unsere Freundschaft aufzufrischen.«

»Guter Gedanke«, pflichtete Cathy bei. »Und du hast dich schon mit Jessica bekannt gemacht?«

»Ja, auch wenn er verschwiegen hat, dass er in diesem Haus anscheinend nicht so ganz fremd ist«, mischte ich mich ein und konnte zu meinem eigenen Ärger einen leicht spitzen Ton nicht unterdrücken.

»Ich hoffe, du bist nicht sauer.« David sah mich entschuldigend an. »Ich wusste ja nicht, ob du schon mal von mir gehört hast. Ich dachte mir, für Erklärungen ist auch später noch Zeit.«

»Ich bin nicht sauer«, behauptete ich. Trotzdem sah ich nicht hoch, sondern beschäftigte mich damit, Cathy einen Teller mit Essen herzurichten. Nein, ich war nicht sauer, gestand ich mir selbst ein, aber vielleicht eifersüchtig? Die Vertrautheit, mit der David und Cathy sich unterhielten, versetzte mir einen Stich. Dabei ging es mich doch überhaupt nichts an. Ich sollte mich eher für Cathy freuen, die von David gerade bewundernd gemustert wurde.

»Als ich zum letzten Mal hier Ferien machte, warst du ein fünfzehnjähriger Teenager«, sagte er, während er sich wieder an den Tisch setzte und seinen Teller heranzog. Schelmisch sah er zu Cathy, die ebenfalls Platz nahm. »Damals hätte ich nicht gedacht, dass du dich mal so rausmachst.«

»Hast du mich denn für hässlich gehalten?« Cathy zog die Augenbrauen hoch und dankte mir mit einem Nicken für ihren Teller.

»Nein, das nicht, aber du warst eben noch ein Kind.«

»Gib nicht so an, David Hanford. Du bist gerade mal zwei Jahre älter als ich. Außerdem ist das zwölf Jahre her. Ich hätte wirklich gedacht, dass du wenigstens zu Marys Beerdigung kommst.« Ein leiser Vorwurf schwang in Cathys Stimme mit. »Ich habe dir doch von ihrem Tod geschrieben.«

»Ja, und dafür danke ich dir. Aber ich hatte gerade in New York zu tun und hätte es zeitlich nicht rechtzeitig geschafft. Ich wäre gern gekommen, um Mary die letzte Ehre zu geben. Du weißt doch, was sie mir bedeutet hat.« David wandte sich mir zu. »Kann ich noch mal was haben? Du kochst gut.«

»Danke.« Ich kam mir ein wenig ausgeschlossen vor als Neuling unter diesen alten Freunden. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass Cathy mehr für David empfand als nur Freundschaft. Aber vielleicht war das auch gut so, denn es würde meinen eventuell aufkeimenden Gefühlen gleich einen Riegel vorschieben. Ich konnte hier schließlich keine Beziehung anfangen, wenn ich in ein paar Wochen wieder nach Hause fuhr. Ich schnaubte unhörbar in mich hinein. Ich kannte David gerade ein paar Stunden und schon spukten mir Wörter wie Beziehung im Kopf herum. Nur gut, dass mich die beiden anderen kaum beachteten und die leichte Röte nicht sahen, die ich auf meinen Wangen fühlte.

»Wie lange bleibst du?«, fragte Cathy gerade.

»Eigentlich wollte ich morgen wieder weiter. Es kommt drauf an, ob ihr mich bittet, zu bleiben.« Mit einem frechen Grinsen, das ihn unglaublich anziehend machte, pendelte Davids Blick zwischen Cathy und mir hin und her.

»Verstehst du was von Strom?«, wollte ich wissen.

»Ich bin kein Elektriker, wenn du das meinst. Aber für den Hausgebrauch reicht es.«

»Ich habe da ein paar Leitungen, die erneuert werden müssten, und einige Steckdosen funktionieren nicht mehr. Du kannst dir noch ein Essen verdienen.«

»Abgemacht. Ich werde mich drum kümmern.«

Ein Telefon läutete. Cathy zog ihr Handy hervor und meldete sich. Sie hörte einen Moment zu, dann stand sie auf. »Ich komme sofort. Führen Sie es herum. Es darf sich auf keinen Fall hinlegen.« Sie steckte ihr Smartphone weg. »Tut mir leid, Freunde, ich muss weg. Ein Pferd mit Kolik. Schafft ihr es auch ohne mich?«

»Kaum. Aber es wird gehen«, sagte David mit sichtlichem Bedauern. »Ich komme morgen mal auf einen Sprung bei dir vorbei.«

Als Cathy gegangen war, schien sich eine unangenehme Stille im Raum auszubreiten. Ich war verlegen.

»Tut mir leid, dass ich nicht gleich erzählt habe, dass ich schon ein paar Mal hier war«, entschuldigte David sich.

»Macht nichts«, wehrte ich ab. »Du hast ja recht mit dem, was du vorhin gesagt hast.« Wir verstummten wieder. Warum war es plötzlich so schwer, ungezwungen miteinander zu reden?

»Was macht denn deine Familie so?«, fragte David. Auch er schien nach Gesprächsstoff zu suchen.

Froh, ein Thema zu haben, erzählte ich bereitwillig von meiner Mutter und Richey, Chris und Marc. David hörte aufmerksam zu, interessierte sich auch für die mageren Details, die ich über meinen leiblichen Vater zu bieten hatte. Ich sprach auch von diesem Haus, das ich geerbt hatte, weil Tante Mary meinen Vater nicht leiden konnte, der als ihr Neffe in der Erbfolge vor mir stand und auch, dass sie Marc ausgeschlossen hatte. Über dessen Neid hatte ich mich anfangs diebisch gefreut, doch seitdem verfolgte Marc mich mit einem Hass, der mich ängstigte. Und das wegen eines Hauses, von dem ich immer noch nicht wusste, was ich in Zukunft mit ihm anfangen sollte.

Unterdessen hatten wir den Tisch abgeräumt und begonnen, das Geschirr zu spülen. Was ich in diesem Haus wirklich vermisste, war eine Spülmaschine, doch es hatte keinen Sinn, für meinen Aufenthalt eine anzuschaffen. »Und was machst du so?«, erkundigte ich mich, während ich die fettige Pfanne schrubbte. »Beruflich, meine ich.«

»Ach, eigentlich nichts Bestimmtes. Meistens bin ich unterwegs.«

»Aber du musst doch einen Job haben?«

David wich meinem fragenden Blick aus und konzentrierte sich auf die Teller, die er abtrocknete. »Warum? Ich komme ganz gut zurecht. Ein paar Gelegenheitsarbeiten hier, Rasen mähen da, es lebt sich ganz gut, wenn man auf Achse ist.«

»Das glaube ich nicht.« Es störte mich, dass David keine Lust auf eine geregelte Arbeit zu haben schien. In meiner Familie hatte sich jeder um einen guten Beruf bemüht, für mich gehörte das einfach dazu. Meine Vorstellung von David sah auch einen ordentlichen Job vor. Doch er schien sich nicht an meine Vorstellungen zu halten.

»Und was tust du, wenn du zu alt zum Herumreisen bist?«

»Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist.«

Ich war enttäuscht. Ich hatte Vertrauen zu David gefasst und ihn als verantwortungsbewusst eingeschätzt, doch das schien er nicht zu sein.

»Schlimm?«, fragte er mich mit einem kleinen Lächeln.

»Nein«, log ich. »Es geht mich auch nichts an. Woher kommst du?«

»Aus Tucson. Meine Mutter wohnt da in einem Seniorenheim. Ich habe sie gerade mal wieder besucht. Es geht ihr nicht besonders gut.«

»Ist sie krank?«

Ich konnte förmlich sehen, wie sich Davids Miene verschloss. »Lass uns ein anderes Mal darüber reden, ja? Ich bin müde.« Er hängte das Geschirrtuch an den Haken und verabschiedete sich. »Ich schaue morgen Vormittag mal nach deinen Steckdosen. Gute Nacht.«

Schon war er verschwunden. Ich konnte kaum seinen Gruß erwidern. Mit gemischten Gefühlen sah ich auf die Tür, die er hinter sich geschlossen hatte. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Wir hatten uns doch ganz gut unterhalten, erst bei der Frage nach seiner Mutter war er so abweisend geworden. Stirnrunzelnd ging ich nach oben. David beherrschte meine Gedanken schon mehr, als ich zugeben wollte.

 

Obwohl ich müde war, konnte ich lange nicht einschlafen. Immer wieder spukte mir David im Kopf herum. Dieser Mann hatte mich beeindruckt. Ich wusste so wenig von ihm und wollte doch alles erfahren. Er schien so offen und ehrlich zu sein und hatte doch etwas Rätselhaftes an sich. Aber vielleicht bildete ich mir das nur ein.

Als ich endlich in einen leichten Schlaf fiel, hatte ich einen verworrenen Traum. Chris umarmte mich und versuchte, mich zu küssen. Ich wehrte ihn ab. »Lass das, spinnst du denn?«, protestierte ich, doch er drückte mich nur noch fester gegen seine Brust. Als ich ihn von mir wegstieß, begann er sich zu verändern. Seine Haare wurden länger, unordentlicher und etwas dunkler, die blauen Augen rauchgrau, das Gesicht kantiger und aus dem Nichts wuchs ihm plötzlich ein Dreitagebart. »Gefalle ich dir so besser?«, fragte er mich lächelnd.

Mit klopfendem Herzen fuhr ich hoch. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich beruhigt hatte. Was für ein seltsamer Traum. Chris hatte sich in David verwandelt. Dabei sahen sich die beiden Männer nicht mal ähnlich. David war kompakter und derber als Chris, der trotz seiner Größe nicht besonders kräftig wirkte. Davids Hände waren das Zupacken gewohnt und die Schwielen, die ich bei seinem Händedruck gefühlt hatte, kamen wohl von den verschiedenen Gelegenheitsarbeiten, von denen er mir erzählt hatte. Chris sah man seine Kraft nicht an. Seine Hände waren schmal und feingliedrig, wie geschaffen für einen Arzt.

Ich schüttelte den Kopf und versuchte zu ergründen, warum David mich so beeindruckte. Lag es an seinem Äußeren? Ich hatte schon schönere Männer gesehen, die mich völlig kalt ließen. Lag es an seiner Art, dem schiefen Lächeln, bei dem die oberen Zähne zu sehen waren, oder einfach nur daran, dass er zur Stelle gewesen war, als ich Hilfe benötigt hatte? Ich wusste nur, dass dieser Mann mir gefiel und ich ihn gern näher kennenlernen wollte. Doch Cathy schien ebenfalls ein Interesse an ihm zu haben. Es war für mich ausgeschlossen, meiner Freundin in die Quere zu kommen. Und doch. Als ich mich in der nächsten Stunde verzweifelt bemühte, Schlaf zu finden, stand ständig Davids lächelndes Gesicht vor meinem inneren Auge.

6

 

Es war schon nach zehn Uhr, als ich mich zum Frühstück setzte. Übernächtigt, wie ich war, hatte ich keinen großen Hunger und rührte nur nachdenklich in meinem Tee herum.

»Guten Morgen, Jessica. Ausgeschlafen?«

Die muntere Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Unvermittelt begann mein Herz schneller zu klopfen. Ich kaschierte es mit einem Lächeln.

»Morgen, David. Setz dich. Du hast hoffentlich besser geschlafen als ich.«

»Es ging.« David gähnte demonstrativ, als er sich einen Stuhl nahm.

»Magst du Frühstück? Ich könnte dir schnell etwas richten.«

»Nein danke, ich habe schon bei Cathy gegessen.«

»Ach so.« Ich war erstaunt, dass mir diese kurze Mitteilung einen Stich versetzte. Was hatte ich denn erwartet? Dass er lieber mit mir frühstücken würde?

»Du magst Cathy wohl sehr?«, fragte ich ihn nebenbei und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie brennend mich seine Antwort interessierte.

»Mhm, ja, ich mochte sie schon immer. Sie war nie so zickig wie andere Mädchen in dem Alter.« David runzelte die Stirn. »Es ist nicht fair, dass sie solche Probleme hat.«

»Cathy hat Probleme?« Ich war erschrocken. »Was ist denn los?«

»Ihre Praxis geht nicht mehr so gut.«

»Ja, das hat sie mir erzählt. Ich hatte allerdings nicht den Eindruck, dass es wirklich kritisch ist.«

»Noch nicht. Aber ihr laufen immer mehr Kunden davon. Hat sie dir von dieser neuen Tierklinik mit den modernen Geräten und dem ganzen Ärztestab erzählt? Da kann Cathy nicht mithalten.«

»Sie hat es erwähnt, aber eher am Rande.« Ich erinnerte mich, dass ich vor Müdigkeit kaum zugehört hatte, was Cathy mir am Vortag erzählt hatte. Vielleicht hatte sie mir ihre Nöte anvertrauen wollen und ich hatte vom Thema abgelenkt. Betroffen dachte ich daran, wie ich ihr ins Wort gefallen war.

David schien von meinem Gewissenskonflikt nichts zu bemerken. »Cathy hat schon eine Stelle als Assistentin in dieser Klinik angeboten bekommen«, fuhr er fort. »Aber das wäre für sie ein Abstieg. Natürlich würde sie am liebsten selbständig bleiben. Doch in Sedona gibt es keine Zukunft mehr für sie. Ihre Eltern haben ihr vorgeschlagen, zu ihnen zu ziehen.« David zog die Augenbrauen hoch, als er sah, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach. »Sie leben inzwischen irgendwo im Mittelwesten«, erklärte er mir. »Cathy würde sie sehr gerne öfter sehen, aber dort müsste sie wieder ganz von vorn anfangen. Außerdem gehört das Haus jetzt ihr und sie möchte es ungern aufgeben.« David zuckte mit den Schultern. »Irgendwann in der nächsten Zeit muss sie sich entscheiden, und das gefällt ihr gar nicht. Deswegen schiebt sie es immer weiter hinaus.« Abrupt wechselte er das Thema. »Habe ich mich gestern eigentlich für das Essen bedankt?«

»Nein, du bist ziemlich schnell verschwunden.« Es war nicht als Vorwurf gedacht, aber ich konnte mir die Worte nicht verkneifen.

»Tut mir leid. Habe ich dich damit gekränkt?«

Ich überging die Frage. »Du sprichst nicht gern über deine Familie, oder?«, fragte ich stattdessen.

»Ich habe nur meine Mutter.«

»Und dein Verhältnis zu ihr ist nicht besonders gut. Oder täusche ich mich?«

Davids Miene verzog sich schmerzlich. »Ich rede wirklich nicht gern darüber, Jessica. Lass mir Zeit. Irgendwann erzähle ich es dir.«

»Irgendwann?«, wiederholte ich fragend. »Ich dachte, du willst heute schon wieder weiter?«

Da war es wieder, dieses entwaffnende Lächeln, das mir so zu Kopf stieg. »Eigentlich habe ich gar keine Lust, jetzt schon weiterzufahren«, bekannte er.

Mein Herz machte einen Luftsprung, und ich ärgerte mich darüber. »Du änderst deine Meinung wohl ziemlich schnell?«, fragte ich vorwurfsvoll, um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich mich über seinen Entschluss freute.

»Das kann ich mir auch leisten. Ich bin schließlich frei wie ein Vogel. Und jetzt zeig mir mal deine Steckdosen.«

Bevor ich noch etwas erwidern konnte, stand David auf und sah mich erwartungsvoll an. Also zeigte ich ihm, was alles zu reparieren war und ließ ihn dann allein.

Ein verdrossenes Gefühl breitete sich nach der ersten Euphorie in mir aus. Ich freute mich wirklich, dass David noch bleiben wollte, und doch wäre es vermutlich besser gewesen, er wäre weitergezogen. Intuitiv wusste ich, dass dieser Mann mein Leben auf den Kopf stellen würde und ich war nicht sicher, ob ich das zulassen wollte.

Als ich hinausging, schlug mir eine schwüle Hitze entgegen. Schon die paar Schritte zu Cathys Haus waren anstrengend. Doch ich musste mit ihr reden. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihre Probleme nicht ernst genug genommen hatte. Das musste ich aus der Welt schaffen. Schlurfend ging ich die Treppe hinunter in den Keller, wo Cathy ihre kleine Tierarztpraxis eingerichtet hatte. Nur zwei Leute saßen mit einem Hund und einer Katze in dem freundlichen, gelb gestrichenen Wartezimmer. So lange konnte ich warten. Ich setzte mich und griff nach einer Zeitschrift, als Cathy aus der Tür kam. Sie führte mit beruhigenden Worten eine alte Dame zu einem Stuhl und winkte mir zu.

»Jessica, gut, dass du da bist. Du kannst mir helfen.«

Bereitwillig folgte ich ihr in den Behandlungsraum. Auf dem Tisch lag ein kleiner zitternder Pudel mit einer blutenden Pfote.

»Kannst du Blut sehen?«, fragte Cathy.

»Machst du Witze?« Ich streichelte den Hund und fühlte deutlich, wie sein kleines Herz jagte.

»Zugegeben, eine dumme Frage«, gab Cathy in sarkastischem Ton zu. »Ich vergaß, dass Marc dein Bruder ist.«

Ich sah hoch. »Jetzt hör aber auf«, schmunzelte ich. »So schlimm ist Marc auch nicht. Wie kann ich dir helfen?«

»Indem du den kleinen Kerl festhältst, während ich ihm eine Beruhigungsspritze gebe.« Cathy lachte. »Seine Besitzerin hätte fast selbst eine gebraucht, als ich das von ihr verlangt habe.«

Ich nickte verstehend. Sehr robust hatte die alte Dame wirklich nicht ausgesehen. Beruhigend streichelte ich den Pudel und redete auf ihn ein, während Cathy die Pfote versorgte.

»David will noch eine Weile bleiben«, sagte ich unvermittelt.

»Ja, ich weiß.«

»Ihr mögt euch recht gern, oder?« Ich bemühte mich, meiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben.

»Ja, klar. Wir sind schon seit ewigen Zeiten Freunde.«

»Du hast ihm von dieser Tierklinik erzählt.«

Cathy warf mir einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder dem Hund zuwandte. »Dir auch«, sagte sie kurz.

Ich schluckte. »Ja, ich weiß«, bekannte ich leise. »Es tut mir leid, Cathy, ich …« Vergeblich suchte ich nach Worten.

»Ist schon gut.« Cathy wickelte einen Verband um die Hundepfote. »Es war ein schlechter Zeitpunkt, um davon zu reden. Vergiss es. Wir holen es nach.«

»Wirklich? Du bist mir nicht böse?«

»Quatsch.« Sie lächelte mich freundlich an. »Dazu braucht es mehr, als fast einzuschlafen, wenn ich dir gerade mein Herz ausschütten will. Das wusstest du ja nicht.«

»Nächstes Mal bin ich wach«, versprach ich ihr kichernd. Ich war ungemein froh darüber, dass Cathy mir meine Unaufmerksamkeit verzieh. »Liebst du ihn?«, fragte ich und wandte mich dem Pudel zu, weil ich die Antwort fürchtete.

»David?« Sie streckte sich. »Du kannst ihn loslassen. Ich bin fertig. Wie kommst du auf die Idee?«

»Du hast so gestrahlt, als du ihn gestern gesehen hast.«

»Es war auch eine sehr unerwartete Überraschung. Wir waren immer gut befreundet, obwohl unsere letzten gemeinsamen Ferien zwölf Jahre zurückliegen. Wir haben uns manchmal gemailt, um den Kontakt zu halten, trotzdem weiß ich kaum noch etwas von ihm. Er hat sich ziemlich rausgemacht, muss ich zugeben. Aber lieben?« Cathy lächelte nachsichtig. »Jessica, ich kenne diesen Jungen, seit er zehn Jahre alt war. Ich will mich in einen Mann verlieben und nicht in ein Kind, das jetzt erwachsen ist. Wir sind wirklich nur Freunde. In der letzten Zeit hat er nicht mal mehr meine Nachrichten beantwortet.«

»Du schreibst ihm immer noch?«

»Nicht wirklich. Manchmal schicke ich ihm eine kurze E-Mail, um den Kontakt nicht ganz zu verlieren.« Cathy zuckte mit den Schultern. »Aber das ist auch eher spärlich. Vor ein paar Tagen habe ich ihm geschrieben, dass du gekommen bist.« Sie lächelte mich an. »Ich fand, dass das durchaus eine mitteilenswerte Nachricht war. So, und jetzt muss ich weitermachen.« Sie nahm den Pudel auf die Arme. »Ich muss dich leider rauswerfen, aber wir sehen uns heute sicher noch.«

 

David war mir eine große Hilfe. Er sah die elektrischen Leitungen nach, prüfte die Geräte und brachte sogar den altersschwachen Fernseher wieder zum Laufen. Weil ich ihm nicht dauernd im Weg sein wollte, beschäftigte ich mich im Garten. Doch es war so schwül, dass mir schon nach kurzer Zeit die Sachen am Leib klebten. Es hatte keinen Sinn. Bei dem Wetter holte ich mir noch einen Hitzschlag.

»Ich gehe duschen«, verkündete ich David, der gerade eine Stromleitung verputzte. »Und dann mache ich uns was zu essen.«

»Prima. Sagst du mir Bescheid, wenn du fertig bist? Ich würde auch gern kurz unter die Dusche.«

Ich nickte. »Klar. Ich beeile mich.«

Nach zehn Minuten fühlte ich mich um einiges wohler. Ich rief zu David hinunter, dass er jetzt ins Bad könne und ging in mein Schlafzimmer. Dort stieg ich in meine Shorts, streifte ein leichtes T-Shirt über und begann, meine widerspenstigen Haare auszukämmen. Ich war fast fertig, als ich hinter mir eine Bewegung wahrnahm. Im Spiegel meines Schrankes sah ich, wie David hereinlugte, bevor er die Tür vollends aufstieß und eintrat. Im ersten Moment wollte ich ihn fragen, ob er noch nie etwas von anklopfen gehört hatte, doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Er hatte sich ein Badetuch um die Hüften geschlungen, das jeden Moment abzurutschen drohte. Aus seinen Haaren tropfte Wasser und perlte über seinen feuchten Körper. Unbewusst hielt ich den Atem an. Er bot einen elektrisierenden Anblick. Im Spiegel beobachtete ich, wie er mit geschmeidigen Bewegungen näher kam. Wie erstarrt stand ich da, unfähig, mich zu rühren, als ein angenehmes Kribbeln meinen Körper bis in die Zehen erbeben ließ.

David blieb hinter mir stehen und nahm mir die Bürste aus der Hand. »Du hast wunderschöne Haare«, sagte er, während er sie mit sanften Strichen durchbürstete.

Das Kribbeln verpuffte. Ich war enttäuscht. Aber was hatte ich denn erwartet? Annäherungsversuche? Wäre ich denn bereit gewesen, darauf einzugehen? Ich wusste keine Antwort auf diese Fragen. Ich betrachtete mein Spiegelbild, versuchte, mich mit Davids Augen zu sehen. Ob er mich attraktiv fand? Im Grunde war ich mit meinem Aussehen einigermaßen zufrieden, meistens zumindest. Von meinen grünbraunen Augen hatte Richey früher immer behauptet, sie sähen aus wie in mein Gesicht hineingeschossen. Sie waren groß und ausdrucksvoll und insgeheim war ich stolz darauf. Dafür war meine Himmelfahrtsnase eine Spur zu kurz für mein ovales Gesicht. In meiner Kindheit hatten die Leute meine Nase süß gefunden und ich hatte mich immer wahnsinnig darüber geärgert. Inzwischen hatte ich mich damit abgefunden, dass meine Mutter mir nicht nur ihre Augen, sondern auch leider diese Nase vererbt hatte. Und dann waren da noch diese langen, roten Haare, von denen ich mich seit Jahren fragte, wer mir um Himmels willen diese Farbe vermacht hatte.

David sah mich im Spiegel auffordernd an. Er schien eine Antwort auf seine Feststellung zu erwarten. »Wenn Marc mich ärgern wollte, rief er mich Karottenkopf«, vertraute ich ihm an und verdrehte die Augen. »Keine Ahnung, von wem ich diese unmögliche Haarfarbe habe. Meine Mutter ist blond und mein leiblicher Vater hat schwarze Haare, genauso wie Marc. In unserer Familie kenne ich niemanden, der solche Haare hat wie ich.« Ich schnitt meinem Spiegelbild eine Grimasse. Meine Tante hatte mir immer geraten, meine Haare färben zu lassen. Aber das hatte ich immer von mir gewiesen. Auch wenn es eine unmögliche Farbe war, es war meine Farbe und sie machte mich zu etwas Besonderem. Wegen meines durchschnittlichen Gesichtes sah mir niemand nach, wohl aber wegen meiner Haarfarbe.

»Wer weiß, welcher Urahn da durchschlägt«, sinnierte David. Er nahm eine dicke Strähne meines Haares und roch daran. »Hmm, Aprikose.«

»Pfirsich«, korrigierte ich. Ich musste mich räuspern, plötzlich schien es, als hätte ich meine Stimme nicht mehr unter Kontrolle. David schien es nicht zu bemerken, er sprach einfach weiter:

»Meine erste Freundin und ihre Zwillingsschwester hatten schwarze Haare, während der Rest der Familie blond war.«

»Deine Freundin?« Mein Interesse war geweckt. »Was ist aus ihr geworden?«

»Sie hat mich mit einer erschreckenden Plötzlichkeit aus ihrem Leben verbannt.« David lachte leise.

»Warum?«

»Ich habe sie mit ihrer Zwillingsschwester verwechselt.«

»Das kann bei Zwillingen doch mal passieren, oder?«

»Ja, aber im Bett ist es eher fatal.«

Ich drehte mich um. »Du hast …?«

»… mit der Falschen geschlafen«, beendete David meinen Satz spöttisch lächelnd. »Zumindest hätte ich, wenn sie die Verwechslung nicht noch rechtzeitig aufgeklärt hätte. Das war etwas peinlich.«

Ich lachte mit ihm und plötzlich fand ich mich in seinen Armen wieder. Ich roch den Duft von Seife, der sich mit dem eines herben Deodorants vermischte und spürte, wie ich unwillkürlich schneller zu atmen begann. Die Vernunft sagte mir, dass ich mich nicht auf ein Abenteuer einlassen sollte, aber meine Gefühle waren dabei, die Vernunft zu überrennen. Ich versuchte, mich Davids Griff zu entziehen, solange ich noch konnte, doch er hielt mich nur noch fester.

»Weißt du nicht, warum ich noch bleiben möchte?«, fragte er leise. Fragend sah ich zu ihm hoch und diese Gelegenheit nutzte er, um mich zu küssen. Nach der ersten kurzen Überraschung explodierte ein wildes Verlangen in mir, das alle Schranken niederriss. Ich erwiderte den Kuss, und plötzlich rannen Tränen über meine Wangen.

»Was ist los?« Besorgt ließ David von mir ab. »Warum weinst du?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich wusste es wirklich nicht. Vielleicht war es die einfache Erkenntnis, dass ich mich Hals über Kopf verliebt hatte.

»Hast du einen Freund in Deutschland?«

»Nicht mehr. Er hatte gleichzeitig noch eine Andere. Als ich ihm das vorwarf, hat er Schluss gemacht.« Dieses Kapitel gehörte zu den Schmerzvollsten in meinem Leben und ich wollte genauso wenig darüber reden wie David über seine Mutter. Er schien dies zu spüren, denn er fragte mich nicht weiter aus.

»Hast du was dagegen, wenn ich noch ein paar Tage bleibe?«

Ich lächelte in mich hinein. Er hatte schon am Morgen beschlossen, zu bleiben. Nein, diese Frage beinhaltete etwas ganz anderes. Er wollte wissen, ob ich unsere Beziehung vertiefen wollte. Doch konnte sie eine Zukunft haben? Im Grunde war er doch nur ein besserer Landstreicher, ein Herumtreiber, der das Leben und vermutlich auch die Mädchen, die ihm begegneten, auf die leichte Schulter nahm. So einen konnte ich nicht brauchen. Ich wollte einen Mann, der fest im Leben stand und wusste, was er wollte. Wäre es also nicht am besten, wenn David so schnell wie möglich wieder verschwinden würde? Ein flüchtiges Abenteuer hatte sicher seinen Reiz, aber am Ende würde ich nur verstört zurückbleiben. Das hatte mir einmal gereicht. Ich wollte nicht noch einmal derart verletzt werden. Und je eher David das erfuhr, umso besser war es für uns beide.

»Nein, ich habe nichts dagegen«, hörte ich mich sagen und verbannte die leise Stimme der Vernunft in den hintersten Winkel meines Gehirns.

David fuhr mit der Hand über meine nackten Arme. »Du bist eine schöne Frau, Jessica«, murmelte er an meinem Hals.

»Wie bitte?« Ich bemühte mich, ihm nicht ins Gesicht zu lachen. Mit dem Wort schön verband ich andere Vorstellungen. »Ich habe viel zu viel Speck auf den Hüften«, widersprach ich mit ein wenig absichtlicher Übertreibung.

»Finde ich nicht«, widersprach David sanft.

»Und meine Brüste sind zu klein.«

»Genau richtig, um etwas in der Hand zu haben.« Seine Stimme wurde undeutlich, als er meinen Hals küsste. Er stand so nah hinter mir, dass ich merkte, wie sein Handtuch rutschte. Ich bekam eine Gänsehaut, meine ganze Haut schien zu prickeln wie von tausend Nadelstichen. Atemlos wartete ich darauf, was jetzt geschehen würde. Ich spürte seine Hände überall. Und nicht nur seine Hände. Einen Moment lang lehnte ich mich an ihn und genoss das schöne, prickelnde Gefühl. Doch genau diesen Moment suchte sich die leise Stimme der Vernunft aus, um sich mit Gewalt wieder in den Vordergrund zu drücken.

»David?«, murmelte ich heiser.

»Hmm?«

»Ich glaube, ich bin noch nicht soweit.«

Seine Hände verharrten auf meinen Hüften. Dann, abrupt, nahm er sie weg. »Dann gehe ich mich jetzt anziehen.« Er angelte nach seinem Handtuch und wandte sich zur Tür, doch ich hielt ihn noch mal zurück, erstaunt und auch enttäuscht darüber, dass er sich so protestlos zurückzog.

»Bist du mir böse?«

»Nein, ich versteh dich schon. Wir kennen uns noch zu wenig. Deswegen gehe ich mich jetzt auch anziehen.« Er drehte sich um, hielt aber noch einmal inne. »Jessica?«

»Ja?«

»Ich liebe deine Haare.«

»Hau ab.« Lachend ließ ich mich aufs Bett fallen, doch eigentlich war mir gar nicht nach Lachen zumute. Was sollte ich nur tun? Meinen Gefühlen freien Lauf lassen? Eine Beziehung beginnen, die zwangsläufig nach ein paar Wochen enden musste, wenn ich wieder nach Hause flog? Wenn es David überhaupt so lange hier aushielt. Aber andererseits, warum sollte ich mir nicht eine Liebe gönnen, die vielleicht kurz, aber sehr schön sein konnte? Ein Urlaubsabenteuer, ein Strohfeuer, das in sich zusammenfiel, sobald ich Amerika den Rücken kehrte. Warum nicht? Das Problem dabei war nur, ob ich dann noch fähig sein würde, David einfach zu vergessen. Müde schloss ich die Augen. Warum machte ich mir Gedanken? Ich war sowieso nicht mehr in der Lage, dem Geschehen eine andere Richtung zu geben, selbst wenn ich es gewollt hätte.

 

Ich sah David an diesem Tag nicht mehr. Als ich nach unten kam, war er fort. Ein Blick um die Ecke zeigte mir, dass sein Wohnmobil verschwunden war. Eine unbestimmte Angst kroch in mir hoch. Die Angst, ihn schon wieder verloren zu haben. Und doch gab mir seine Abwesenheit auch Zeit zum Nachdenken. Wenn sich nur meine Gedanken nicht ständig im Kreis gedreht hätten, um den einen Mittelpunkt namens David.

7

 

In dieser Nacht schlief ich tief und traumlos, bis ein Geräusch mich aus dem Schlaf hochfahren ließ. Erschrocken lauschte ich, hörte jedoch nichts mehr. Dann bemerkte ich einen sanften Lichtschein, der zur Tür hereinfiel und in diesem Schimmer sah ich David, der lässig am Türrahmen lehnte und mich beobachtete.

»Wie kommst du hier herein?« Unwillkürlich zog ich die Bettdecke hoch.

»Ich bin eben nicht nur Gärtner und Elektriker, sondern auch professioneller Einbrecher.« David zuckte vielsagend mit den Schultern. »Das Schloss an der Haustür war kein Problem für mich. Darf ich hereinkommen?«

»Nein!«, wollte ich ihm entgegenschleudern. Was dachte der Mann nur? Glaubte er wirklich, er könne einfach in mein Schlafzimmer kommen und ich würde ihn in mein Bett lassen?

Doch das Wort wollte nicht über meine Lippen kommen. Ich knipste die Nachttischlampe an. David war nur mit seinen Shorts bekleidet und ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich das Spiel seiner Muskeln beobachtete. Er setzte sich auf die Bettkante.

Unwillkürlich rückte ich ein Stück ab. »Was willst du?«

»Kannst du dir das nicht denken?«

Natürlich wusste ich es. Die Frage hatte ich nur gestellt, um Zeit zu schinden, damit ich meine Gedanken sortieren konnte. Seine Anziehung auf mich war nicht zu leugnen. Ich mochte ihn, aber war das genug? Wie ich Chris daheim erklärt hatte, war ich nicht die Frau für One-Night-Stands und daran wollte ich auch festhalten.

»Nicht so schnell, David. So weit sind wir noch lange nicht. Ich bin nicht der Typ Frau, der sofort mit einem Mann ins Bett geht.«

»Es hat mich heute Nachmittag meine ganze Selbstbeherrschung gekostet, einfach so zu gehen«, gab er zu. »Bitte schick mich jetzt nicht weg. Ich will dich.«

Ich wollte ihn auch. Aber das war unvernünftig. Eine überstürzte, kurzlebige Beziehung war doch das Letzte, das ich wollte.

David fröstelte und automatisch hob ich meine Bettdecke an, um ihm etwas Wärme anzubieten. Er schmiegte sich an mich und ließ damit alle meine guten Vorsätze wie einen Wasserfall den Bach hinunterrauschen. Jetzt war es sowieso schon zu spät für einen Rückzieher. Ich rieb ihn mit meinen Händen warm, erkundete dabei jede Stelle seines muskulösen Körpers. David drückte mich an sich und schaffte es dabei, mir mein langes T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Als er tiefer rutschte, um an meinen Brustwarzen zu knabbern, jagte ein wilder Schauer durch mich hindurch, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Ich krallte meine Hand in seine Haare und zog seinen Kopf zurück, bis ich seine Augen sehen konnte. Mir wurde heiß, als ich die Leidenschaft darin erkannte und spürte, wie der Funke auf mich übersprang. Der herbe Duft seines Deodorants kitzelte mich in der Nase, ließ mich den Geruch seines Körpers noch intensiver aufnehmen. Ein buntes Feuerwerk an Gefühlen explodierte in mir, als ich seinen Mund zu einem atemlosen Kuss fand. Davids Hände streichelten meinen Rücken und wie von selbst rutschten meine Hände nach unten, um seine Shorts zu öffnen. Meine Vernunft war komplett ausgeschaltet. Ich wollte diesen Mann, mein ganzer Körper verlangte danach, ihn zu spüren. Davids Augen glänzten dunkel, als er sich über mich beugte und ich hatte nicht mehr den Hauch eines Zweifels, dass es gut und richtig war, was wir taten.

 

»Warst du schon mal am Grand Canyon?«, fragte David unvermittelt.

Ich gab keine Antwort. Es war so gemütlich an seiner Schulter und ich hatte keine Lust auf ein Gespräch. Ich fühlte mich wohlig erschöpft. Noch nie hatte ich solche Gefühle erlebt. Auch nicht mit meinem Freund, den ich sogar hatte heiraten wollen. Sex mit ihm war eher eine langweilige Angelegenheit gewesen. Die abendliche Routine, ohne große Erregung. Mit David war das völlig anders. Ich war erstaunt, dass ich überhaupt zu einer solchen Leidenschaft fähig war. Nach meinen bisherigen Erfahrungen hatte ich das bezweifelt. Ich hatte mir schon ernsthaft die Frage gestellt, ob ich frigide war. Nun wusste ich allerdings, dass es nicht an mir gelegen hatte, sondern am Mann.

David hob den Kopf. »Schläfst du?«

»Nein.«

»Warum antwortest du dann nicht?«

Vielleicht, weil ich mit meinen Gedanken ganz woanders war. »Nein, ich war noch nie am Grand Canyon.«

»Dabei wohnst du hier keine hundert Meilen davon entfernt. War eure Mutter denn nie mit euch dort?«

»Sie hat hier bei Tante Mary meistens einen Zufluchtsort gesucht, da war ihr nicht nach Reisen zumute. Außerdem war ich damals noch zu klein dafür.«

»Zufluchtsort? Wovor?«

»Sie hat sich nicht mehr so gut mit meinem Vater verstanden.«

»Das Ende von so vielen Ehen«, nickte David.

»War es bei deinen Eltern auch so?«, fragte ich mitfühlend.

»Ich habe meinen Vater nie gekannt.« Er starrte an die Decke. »Meine Mutter hat mir nie gesagt, wer er ist.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Erzähl mir von deinen Eltern. Wie haben sie sich kennengelernt?«

»Mein Vater war eine Weile in Deutschland stationiert. Er und meine Mutter müssen sich wohl ziemlich schnell ineinander verliebt haben.«

»Und sie ging mit ihm nach Amerika?«

»Ja. Marc kam noch in Deutschland zur Welt.« Ich kicherte. »Dabei ist er mit jeder Faser Amerikaner. Er hat sich in Deutschland nie so richtig heimisch gefühlt.«

»Welches Verhältnis hast du zu deinem Vater?«

»Mein leiblicher Vater ist für mich nicht viel mehr als ein Name. Matthew Tremaine. Ich weiß nur, dass er das Baugeschäft seines Vaters übernommen hat und wohl auch ziemlich erfolgreich ist.«

»Matthew Tremaine ist einer der größten Bauunternehmer in Kalifornien.«

»Tatsächlich? Wenn ich es recht bedenke, hat Marc mal etwas Derartiges erwähnt. Aber weißt du, es interessiert mich nicht so besonders. Ich habe an diesen Mann keine einzige persönliche Erinnerung. Von den Fotos meiner Mutter weiß ich, wie er vor zwanzig Jahren ausgesehen hat und letztes Weihnachten hat Marc per E-Mail ein Bild von sich und seinem Vater geschickt. Das ist alles. Erzähl mir von deiner Familie.«

»Möchtest du mit mir zum Grand Canyon fahren?«

Die Abfuhr war deutlich. David wollte nach wie vor nicht über seine Mutter reden. Warum machte er ein solches Geheimnis daraus? In meinen Augen bedeutete gemeinsamer Sex auch so etwas wie Vertrauen. Ich war gekränkt.

»Zum Grand Canyon? Nein, ich habe hier noch so viel zu tun.« Ich gab mir keine Mühe, den verschnupften Ton in meiner Stimme zu kaschieren.

David lächelte mich an. Ich hatte das Gefühl, dass er sich über mich amüsierte und das ärgerte mich noch mehr. Doch er ließ es nicht zu, dass ich von ihm abrückte. Er hielt mich fest und streichelte zärtlich über meine Wange.

»Du ahnst gar nicht, was du damit verpasst«, sagte er leise. »Komm schon, das ist eine großartige Gelegenheit für uns.«

Zugegeben, ich würde gern einige Tage nur mit David allein verbringen. »Ich werde darüber nachdenken«, versprach ich ihm. »Und jetzt lass mich schlafen. Ich bin müde.«

8

 

In einem von Tante Marys Schränken hatte ich eine Menge alter Sachen gefunden. Vorwiegend Kleider, aber auch Erinnerungsstücke und eine ganze Schachtel voller Briefe, die meine Mutter einst an sie geschrieben hatte. Zuerst von Los Angeles aus, später auch aus Deutschland. Die Aufräumarbeiten halfen mir, Tante Mary besser kennenzulernen. Gleichzeitig konnte ich in Ruhe über David und mich nachdenken. Ich war mir immer noch nicht sicher, was ich tun sollte. Vernunft und Gefühl sprachen in dieser Angelegenheit zwei sehr verschiedene Sprachen. Die letzte Nacht war so schön gewesen, dass es mir am Morgen vorkam, als würde die Sonne heller scheinen und die Vögel fröhlicher zwitschern. Ich war glücklich. Und doch konnte ich mich nicht mit ganzem Herzen auf diese Beziehung einlassen. Denn David lebte hier in Amerika und ich in Deutschland. Es war eine Liebe ohne Zukunft und bekam damit den Charakter des Sinnlosen. Ich wusste, dass ich mir nur selbst weh tun würde, wenn ich diesen Kurs beibehielt. Aber ich war zu egoistisch, um mir diese schönen Gefühle zu versagen. Ich wollte die erwachende Liebe in mir entdecken. Eine Liebe, wie ich sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Meine Gedanken drehten sich im Kreis, während ich einige der Briefe studierte. Meine Mutter musste sehr einsam gewesen sein. Sie klagte Tante Mary ihr Leid, dass Matthew sie vernachlässigte und sie ihn kaum zu Gesicht bekam. Dann schrieb sie wieder von dem starken Heimweh, unter dem sie litt, besonders, wenn eine Dunstglocke über Los Angeles sie zu erdrücken drohte. Sie berichtete von einigen Gemeinheiten ihres Mannes und von ihrer Angst, seine Liebe zu verlieren. Es stimmte mich traurig und ich war froh, dass meine Mutter all das längst hinter sich hatte.

Ich sah auf, als David hereinkam und meine Stimmung besserte sich schlagartig. »Was treibst du denn hier so lange?«, fragte er. »Weißt du überhaupt, wie spät es ist?«

Ich sah auf meine Armbanduhr. »Auf jeden Fall höchste Zeit, mich ums Essen zu kümmern.«

»Hab ich schon gemacht.«

Ich sah David überrascht an. »Kochen kannst du auch? Sag mal, bist du wirklich so perfekt, wie du tust?«

Er lachte laut. »Das hat nichts mit perfekt zu tun, ich will schließlich nicht verhungern. Aber komm jetzt, sonst wird es kalt.«

 

Als David in der folgenden Nacht neben mir im Bett aufschreckte und das Licht anknipste, blinzelte ich verwirrt. »Was ist los?«, fragte ich schläfrig. Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es zwei Uhr nachts war.

»Ich weiß nicht.« Davids Körper war gespannt, in voller Alarmbereitschaft. Er hatte die Augenbrauen finster zusammengezogen, während er lauschte. »Hast du Ratten im Keller?«

»Natürlich nicht«, entrüstete ich mich.

»Dann ist es vielleicht eine menschliche Ratte.« Er schlug die Decke zurück.

»Ein Einbrecher?« Erschrocken hielt ich den Atem an.

»Möglich. Ich gehe mal nachsehen.« Er nahm eine Taschenlampe und wandte sich zur Tür.

»David?«

»Was ist denn noch?«

»Vielleicht solltest du dir was anziehen.« Trotz der gespannten Stimmung konnte ich ein Kichern nicht unterdrücken. »Wir wollen ja nicht, dass sich der arme Einbrecher zu Tode erschreckt.«

David grummelte vor sich hin, während er hastig in seine Jeans schlüpfte und sich ein T-Shirt über den Kopf zog, ohne sich darum zu kümmern, dass er es verkehrt herum trug.

Ich machte Anstalten, ihm zu folgen, doch er bedeutete mir, im Bett zu bleiben. Atemlos lauschte ich auf jedes kleine Geräusch. Meine Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Aber nur mein Wecker unterbrach mit leisem Ticken die bedrohliche Stille. Ich wagte gar nicht, mir auszumalen, was passieren konnte, wenn wirklich ein Einbrecher im Haus war. In den amerikanischen Krimis im Fernsehen ging eine solche Situation selten gut aus. Vor allem nicht für die Bewohner des Hauses. Ich hatte Angst um David. Doch sein Auftreten war weder nervös noch verängstigt gewesen. Er schien zu wissen, was er zu tun hatte und darauf vertraute ich. Langsam entspannte ich mich, als ein Schrei wie ein Peitschenknall durchs Haus schallte, gefolgt von einem lauten Poltern. Erschrocken sprang ich aus dem Bett, griff nach meinem Morgenmantel und stürmte die Treppe hinunter. Eine große Gestalt flüchtete gerade durch die Haustür. David lag am Boden. Ich stürzte auf ihn zu. »David! Ist dir etwas passiert?«

»Nein.« Mein Freund richtete sich auf. »Er hat mir einen Stuhl entgegengeschleudert, sonst hätte ich ihn gekriegt. Verdammter Lump.« David fluchte zornig, aber ich zitterte vor Angst am ganzen Körper.

»Was kann er nur gewollt haben?« Meine Stimme war nur ein raues Flüstern.

»Ein paar Wertgegenstände stehlen, vermute ich.« David nahm mich in die Arme. »Beruhige dich, Jessie. Er ist weg.«

»Hast du ihn gesehen? Ich meine, weißt du, wie er aussah? Vielleicht sollten wir es der Polizei melden.«

»Ich habe ihn sogar genau gesehen.« David berührte stöhnend einen Punkt an seinem Kinn. »Und gespürt auch.«

»Du Armer.« Der Schrecken ließ mich frösteln. Was wäre passiert, wenn David in dieser Nacht nicht bei mir gewesen wäre? Ich wollte gar nicht darüber nachdenken. »Beschreibe ihn mir«, forderte ich ihn auf. »Ich schreibe gleich alles auf, was dir einfällt.«

»Brauchst du nicht. Gib mir das Blatt. Ich zeichne dir ein schönes Bild von ihm.«

»Du kannst zeichnen?« Mein Staunen ließ das Entsetzen ein wenig verebben.

»Ich habe viele Talente. Gärtnern, Kochen, Steckdosen setzen, Einbrechen und auch ein bisschen Malen.« David lächelte mich an, während er ein Gesicht skizzierte. »Deshalb fällt es mir so schwer, mich für etwas zu entscheiden. Könntest du mir ein Glas Wasser holen?«

»Klar, mache ich.« Ich schenkte ein großes Glas Mineralwasser ein und stellte es ihm auf den Tisch. Er reichte mir im Gegenzug das Papier. »Hier, das ist unser Freund. Nicht genau, aber ich glaube, dass es für eine Fahndung reichen könnte.«

Ich nahm das Blatt und starrte es fassungslos an. David konnte wirklich zeichnen. Das Bild, das ich vor mir hatte, wirkte sehr lebendig. Doch das war nicht der Grund, warum sich meine Beine plötzlich anfühlten wie Gummi. Langsam ließ ich mich auf einen Stuhl sinken.

»Was ist los, Jessica?«, fragte David zwischen zwei großen Schlucken. »Du bist auf einmal wieder so blass.«

»Wir brauchen keine Fahndung«, erklärte ich ihm. »Und auch keine Polizei.« Aufseufzend legte ich das Porträt auf den Tisch. »Das ist mein Bruder Marc.«

 

»Was will Marc denn hier?«, fragte Cathy kopfschüttelnd am nächsten Morgen, als sie auf das Porträt starrte, das David von unserem nächtlichen Besucher gezeichnet hatte. Sie wandte sich an mich. »Weiß er, dass du hier bist?«

»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Schon möglich, aber ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen. Er hat den Kontakt zu uns fast komplett abgebrochen. Wir hören nur noch zu Weihnachten und dem Geburtstag meiner Mutter von ihm. Ich glaube nicht, dass sie ihn angerufen und informiert hat.«

»Ein Glück, dass David ihn verscheucht hat.« Cathy sah ihn mit einem anzüglichen Blick an. »Da keimt in mir doch die Frage auf, was du mitten in der Nacht bei Jessica zu suchen hattest.«

David und ich sahen uns ratlos an, doch Cathy winkte ab. »Lasst nur, ich kann es mir denken. Und es überrascht mich auch nicht besonders.« Sie studierte wieder das Blatt mit Marcs Konterfei. »Wie ist er ins Haus gekommen?«

»Ganz einfach: durch die Tür. Wir glauben, dass er einen Schlüssel hat.«

»Ja, das wäre denkbar«, nickte Cathy. »Er könnte sich bei seinem letzten Besuch bei Tante Mary einen Nachschlüssel besorgt haben.«

»Möglicherweise war sein Auftauchen hier ganz harmlos«, überlegte ich. »Wenn er einen Schlüssel hat und nicht weiß, dass ich hier bin, dann könnte er das Haus doch einfach als Quartier nutzen, oder? Vielleicht hatte er in der Gegend zu tun und wollte schlichtweg hier übernachten.«

Cathy kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe. »Wenn das stimmt, dann dürfte er von Davids Angriff mehr als überrascht worden sein. Wenn er jetzt zur Polizei geht?«

»Das wäre ein schöner Witz.« David lehnte sich bequem zurück und legte die Füße auf den Tisch. Ich warf ihm einen strengen Blick zu. Daraufhin grinste er mich zwar unverschämt an, nahm seine Beine jedoch herunter.

»Na, abwarten«, entschied ich.

Als Cathy gegangen war, teilte ich David mit, dass ich nicht mit zum Grand Canyon fahren würde.

»Wegen Marc?«

»Ja, ich will jetzt nicht weg. Vielleicht kommt er zurück.«

»Gut, warten wir noch einige Tage. Aber dann kommst du mit, ja?« David küsste mich, als es an der Tür klopfte.

 

Ich konnte es nicht glauben. Es stand tatsächlich die Polizei vor der Tür. Die zwei jungen Beamten schienen überrascht zu sein, dass ihnen so selbstverständlich geöffnet wurde. Einer der beiden spannte sich und schien nach einer Waffe greifen zu wollen, doch der andere hielt ihn mit einer mahnenden Geste zurück. Er erklärte uns, dass der Besitzer des Hauses, Marcus Tremaine, Anzeige wegen Einbruchs erstattet hätte, und fragte höflich, aber sehr bestimmt nach dem Grund unserer Anwesenheit. David stieß einen deftigen Fluch aus, während ich die Polizisten nur mit großen Augen anstarrte. Für einen Moment war mein Herz vor Schreck bis in den Keller gerutscht und obwohl ich wusste, dass ich im Recht war, konnte ich meine Aufregung nur schwer unterdrücken.

»Es tut mir leid, meine Herren, aber ich fürchte, Mr. Tremaine befindet sich da im Irrtum«, begann ich mit fester Stimme und war froh, dass man mir mein Zittern nicht anhörte. »Die frühere Besitzerin, Mary Tremaine, war meine Großtante und hat dieses Haus mir vermacht. Marcus Tremaine, mein Bruder, wollte das nie akzeptieren und ich nehme an, er weiß nichts von meiner Anwesenheit hier.«

Die beiden Polizisten musterten mich skeptisch. »Können Sie das beweisen?«

»Natürlich. Einen Moment bitte.«

Mein Herz klopfte immer noch ungewöhnlich heftig, als ich nach oben lief und in meiner Tasche wühlte. Ich schickte einen lautlosen, aber innigen Dank an Richey, der darauf bestanden hatte, dass ich alle notariellen Papiere und Urkunden mitnahm. Als ich wieder nach unten ging, sah ich, dass David die Beamten inzwischen hereingebeten hatte und ihnen erzählte, wie wir in der Nacht erwacht waren und in Marc einen Einbrecher vermutet hatten.

»Mr. Hanford kannte meinen Bruder bisher noch nicht und ich kam erst nach Ablauf der Geschehnisse ins Zimmer«, fügte ich erklärend hinzu.

Die zwei Beamten prüften meine Dokumente, ließen sich unsere Ausweise zeigen und verabschiedeten sich dann mit einer Entschuldigung und der Versicherung, dass alles in Ordnung wäre und sie dieses an Marc weitergeben würden.

David stieß laut die Luft aus, als er dem Polizeiwagen nachsah. »Oh Mann, das war vielleicht ein Spaß«, grinste er.

»Findest du?« Meine Knie waren plötzlich ganz weich. »So spaßig fand ich es nicht. Stell dir nur vor, ich hätte nicht beweisen können, dass das Haus mir gehört.«

»Ach, dann wäre mir auch etwas eingefallen«, gab David leichthin zur Antwort. »Ich habe noch einige Tricks auf Lager.« Er lachte übermütig, umfasste mich mit den Armen und hob mich hoch. »Aber du hast die armen Kerle schon allein mit deiner geschraubten Sprache aus dem Konzept gebracht. Nach Ablauf der Geschehnisse, oh Mann.«

»Und du mit deiner Flucherei«, konterte ich.

»War vielleicht nicht gerade taktisch klug«, räumte David ein, »aber durchaus angemessen. Dein Bruder ist abgebrühter, als ich gedacht hatte. Uns einfach die Bullen auf den Hals zu schicken und zu behaupten, dass es sein Haus ist. Dazu gehört schon was. Na, der wird sich wundern, wenn die Polizei ihm von uns berichtet.« Er lachte glucksend in sich hinein, während er seine Hände schon wieder auf Wanderschaft gehen ließ.

 

»Glaubst du, er kommt wieder?«

David saß im Bett und beobachtete mich beim Ausziehen. »Soll er doch«, brummte er. »Ich freue mich schon darauf.«

Ich zog mein langes T-Shirt mit dem AC/DC-Motiv auf der Vorderseite bis auf die Schenkel hinunter, wohl wissend, dass David es nicht lange an seinem Platz lassen würde. Dann kuschelte ich mich eng an ihn. Ganz wohl war mir bei dem Gedanken nicht, dass Marc möglicherweise wiederkam. Es war ein beunruhigendes Gefühl, dass er einen Schlüssel zu meinem Haus besaß. Wie zur Bestätigung meiner Befürchtungen begann es in der Ferne dumpf zu grollen.

David hob den Kopf. »Ein Gewitter. Hoffentlich kommt mal ein bisschen Regen. Wäre wirklich nötig.«

Es war eine seltsame Atmosphäre. Während wir uns liebten, kam das Gewitter immer näher und begleitete uns mit gewaltigen Donnerschlägen. Bei einem besonders lauten Krachen ging das Licht aus. Mit einem Schrei fuhr ich hoch.

»Alles in Ordnung, mein Schatz«, beruhigte David mich. »Wahrscheinlich hat ein Blitz die Stromversorgung lahmgelegt. Kein Grund zur Sorge.«

»Ich bin nur von dem Schlag erschrocken.« Nackt wie ich war, trat ich ans Fenster und beobachtete das Spektakel. Blitz um Blitz zuckte über den schwarzen Himmel und erleuchtete die Wolken, die drohend über dem Land lagen. David trat hinter mich und schlang seine Arme um mich, während dicke Regentropfen an der Scheibe zerplatzten.

»Als ich klein war, habe ich mich immer vor Gewittern gefürchtet«, gestand ich. »Marc prophezeite mir ständig, dass der nächste Blitz ganz sicher unser Haus treffen würde. Ich bin dann meistens zu Chris ins Bett gekrochen, und er hat mich getröstet.«

»Ich bin also nicht der erste Mann, bei dem du im Bett liegst?«

»Wenn ich mich richtig erinnere, liegst du eher in meinem«, korrigierte ich und schmiegte mich an ihn.

»Erzähl mir von deinem Freund«, bat er mich.

»Jetzt?«, fragte ich überrascht. Dann zuckte ich mit den Schultern. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich lernte ihn kennen, als ich neunzehn war und verliebte mich bis über beide Ohren in ihn. Dachte ich zumindest. Wir waren vier Jahre zusammen. Ich plante unsere Hochzeit und mir fiel gar nicht auf, dass er zu diesen Plänen gar nichts sagte. Und dann war Schluss. Ich erwischte ihn mit einer Anderen und wir trennten uns im Streit. Seitdem bin ich solo.«

»Jetzt nicht mehr«, murmelte David an meinem Hals.

»Nein, aber unsere Beziehung hat keine Zukunft.«

»Möchtest du nicht hierbleiben?«

»In Amerika?« Der Gedanke war so neu für mich, dass ich David erstaunt ansah. Es war für mich immer klar gewesen, dass dies nur ein kurzer Besuch war und ich bald wieder nach Deutschland zurückkehren würde. Aber was wartete dort auf mich? Ich hatte keine Arbeit, keinen Mann, der mich zurückerwartete, nur meine Familie und einige Freunde. Ich beschloss, die Idee, dass ich mein Leben radikal ändern und in die USA übersiedeln konnte, nicht sofort zu verwerfen. Noch wurde ja keine Entscheidung von mir verlangt.

Das Gewitter verzog sich, aber der Regen steigerte sich zu einem harten Staccato. »Komm wieder ins Bett«, flüsterte David hinter mir. »Es wird langsam ungemütlich.« Ich drehte mich gerade zu ihm um, als wir es hörten. Ein schabendes Geräusch kam von unten. Ich erschrak. Es konnte doch nicht wahr sein! Sollte Marc es wirklich wagen? Unverfroren genug war er sicherlich. Mir stockte der Atem. Auch wenn es nur mein Bruder war, kroch eine kalte Angst in mir hoch.

Davids Miene nahm einen grimmig entschlossenen Ausdruck an. Im Flackern eines Blitzes schimmerten seine Augen eiskalt. Er knipste seine Taschenlampe an, schlüpfte in seine Jeans und ging dann zu seiner Seite des Bettes, um ein Päckchen aus dem Nachttisch zu holen, das er nachmittags hineingelegt hatte. Mir blieb vor Schreck der Mund offen stehen, als ich in dem fahlen Lichtschein sah, was er da auswickelte.

»David«, flüsterte ich heiser. »Was willst du denn mit einer Pistole?«

»Ist manchmal ganz nützlich, wenn man so durch die Gegend zieht«, brummte er grimmig und begann, den Revolver zu laden.

»Du spinnst wohl?«, fuhr ich ihn an. »Leg das Ding weg.«

»Dein Bruder ist nicht ganz ungefährlich.«

»So ein hirnrissiger Quatsch! Marc ist vielleicht nicht gerade ein umgänglicher Typ, aber doch nicht gefährlich. Wehe, wenn du anfängst, hier im Haus herumzuballern wie ein verkappter Wild-West-Sheriff.« Ich war wütend und dabei völlig fassungslos über Davids Kaltblütigkeit. Diese Reaktion war absolut übertrieben. Amerikaner hatten vielleicht eine gesteigerte Affinität zu Waffen, aber ich würde das nicht erlauben. Ich hielt seinen Arm krampfhaft umklammert, bis er einlenkte.

»Gut, weil du es bist. Aber mein Messer nehme ich mit. Er ist selber schuld, wenn er was abkriegt.«

Stumm und mit gemischten Gefühlen sah ich zu, wie er sich das lange Fahrtenmesser an seinen Gürtel schnallte. Ich sah hier einen völlig veränderten David. Er hatte die Kiefer fest zusammengepresst und im Licht der Taschenlampe wirkten seine Augen kalt und erbarmungslos. Die Entschlossenheit in seinem Gesicht machte mir mehr Angst als der Gedanke an Marc.

»Du bleibst hier«, befahl er mir, als ich nach meinem Bademantel griff.

»Aber ich …«

»Bitte Jessica«, schnitt er mir das Wort ab. »Ich weiß, er ist dein Bruder, aber ich bin sehr vorsichtig mit Leuten, die mitten in der Nacht bei anderen einbrechen. Bruder hin oder her, ich will, dass du hier bleibst.«

Ich nickte, doch ich dachte nicht daran, mich zu fügen. Wenn wirklich Marc hier umhergeisterte, war es meine Sache, ihm die Tür zu weisen. Mit Davids aggressiver Methode war ich nicht einverstanden. Und wenn ich noch so viel Angst vor einer Konfrontation hatte, mit meinem Bruder konnte ich gut allein fertig werden.

Automatisch drückte ich auf den Lichtschalter und stöhnte, als nichts geschah und ich nach wie vor in absoluter Dunkelheit stand. Als ich tastend um die Ecke bog und vorsichtig meinen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, sah ich das Licht von Davids Taschenlampe unter mir suchend umherhuschen. Plötzlich fiel der schwache Schimmer auf eine große Gestalt. Keinen Sekundenbruchteil später klapperte die Lampe auf den Boden und erlosch, als David sich auf den Mann stürzte. Ich schlug mir beide Hände vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien.

Vergeblich versuchte ich, das Dunkel zu durchdringen. Ich wollte wissen, was da unter mir vor sich ging. Marc hatte wirklich Nerven, hier noch einmal aufzutauchen. Hoffentlich ließ David sich nicht zu unnötigen Gewaltakten hinreißen.

Stufe für Stufe tastete ich mich nach unten. Ein Stuhl fiel scheppernd um. Ein Mann stöhnte. Wo war nur das verdammte Licht? Es machte mich wahnsinnig, dass ich nichts sehen konnte und nur bedrohliche Geräusche hörte. Als jedoch die Deckenlampe unvermittelt direkt über mir aufleuchtete und alles in gleißendes Licht tauchte, erschrak ich derart, dass ich für einen Moment die Augen schloss. Als ich sie wieder öffnete, glaubte ich, Eiswasser würde durch meine Adern rinnen. Fassungslos starrte ich auf die kämpfenden Männer vor mir. Die Szene wirkte wie eingefroren, ich sah nur das Messer in Davids Hand, mit dem er blitzschnell auf seinen unter ihm liegenden Gegner einstach. Ich konnte den Mann nicht sehen, doch sein Schmerzensschrei ließ mich erstarren. Diese Stimme kannte ich nur allzu gut. Mein eigener Schrei, der mir laut und unnatürlich schrill in den Ohren gellte, riss David auf die Beine. Schwer atmend sah er mich an, das blutige Messer in der Hand, während sich sein Opfer stöhnend auf dem Boden wälzte. Davids Unterlippe war aufgeplatzt und blutete. Doch ich empfand kein Mitleid mit ihm. Im Gegenteil. Ich stürzte die restlichen Stufen hinunter und stieß ihn grob beiseite, als ich mich neben meinem Bruder auf die Knie fallen ließ.

»Chris! Verdammt noch mal, was tust du denn hier?«

9

 

Etwas noch Banaleres konnte mir angesichts der Situation nicht einfallen. Doch ich fühlte mich völlig überfahren. Wieso war Chris plötzlich hier? Er lag mit geschlossenen Augen und schmerzverzerrtem Gesicht vor mir auf dem Boden. Sein Atem ging hektisch. Er triefte vor Nässe und auf seiner Jeans breitete sich in Höhe des linken Oberschenkels ein hässlicher roter Fleck aus.

Ich musste ihm helfen. Doch ich kniete nur bewegungslos neben meinem Bruder und starrte ihn immer noch ungläubig an. David hatte ihn einfach niedergestochen. Das konnte nur ein schrecklicher Alptraum sein. Jeden Moment würde ich aufwachen und darüber den Kopf schütteln.

Doch ich wachte nicht auf. Ich warf einen kurzen Blick auf David, der sich hilflos durch die Haare fuhr. »Wieso Chris?«, stammelte er. »Wieso ist das plötzlich ein anderer? Habe ich etwa den Falschen erwischt?«

»Und wie du das hast«, schrie ich ihn an, als sich meine Fassungslosigkeit in heiße Wut verwandelte. »Verdammt, David, bist du immer so schnell mit dem Messer?«

»Wenn ich mich angegriffen fühle, schon«, entgegnete er aufgebracht. »Wie sollte ich in der Dunkelheit wissen, dass es diesmal ein anderer ist? Hier spazieren die Einbrecher anscheinend ein und aus.«

»Von fragen hältst du wohl nicht viel, du Idiot? Ich weiß nicht, ob es dir schon in den Sinn gekommen ist, dass man sogar mit Marc reden kann.« Am liebsten wäre ich David an die Kehle gegangen. Wie konnte ein Mann, der so zärtlich sein konnte und es schaffte, in mir eine lang verschüttete Leidenschaft zu wecken, so brutal handeln?

»Hi Jessica.« Die dunkle Stimme meines Bruders brachte mich wieder zur Besinnung. Er lächelte mich schwach an. »Bereitest du jedem Gast einen solchen Empfang? Du hast dir ja sogar schon einen Wachhund zugelegt.«

»Ja.« Ich lachte unter Tränen, als ich auf Deutsch umschaltete. »Das ist David. Er ist …« Ich brach ab und sah David an. »Ach, ich weiß nicht, was er ist«, beendete ich meinen Satz unwirsch. »Ist im Moment auch egal. Wie geht es dir? Ist die Wunde tief?«

Indem ich mich auf Chris’ Verletzung konzentrierte, fand ich meine Ruhe wieder. Jetzt musste ich ihn erst einmal versorgen, dann war immer noch Zeit für die Frage, was er hier wollte.

»Tut nicht mal besonders weh«, versuchte er mich zu beruhigen, aber ich sah an seinen Augen, dass er log. »Hilf mir, die Hose auszuziehen, dann werden wir sehen.«

Es war ein hässlicher Stich. Fast zehn Zentimeter lang und ziemlich tief. Ich sah David vorwurfsvoll an, doch er zuckte nur hilflos mit den Schultern.

»Ich glaube, das muss genäht werden«, sagte ich zu Chris.

»Ja, aber zuerst muss ich die Blutung stoppen. Hast du dafür etwas da? Ein sauberes Handtuch würde genügen.«

»Ja, klar.« Ich stand auf.

»Das muss genäht werden«, sagte David neben mir. Ich sah ihn verständnislos an. Genau das hatte ich doch gerade gesagt, oder? Dann fiel mir ein, dass Chris und ich Deutsch sprachen und er vermutlich kein Wort verstanden hatte. Im Moment hatte ich aber nicht viel Lust, mit ihm zu reden, also nickte ich nur.

»Ich rufe Cathy an«, schlug er mit sichtlich schlechtem Gewissen vor. »Sie kennt sich mit solchen Dingen aus.«

Chris auch, wollte ich einwenden, doch David hatte bereits sein Handy aus der Hosentasche gezogen und klingelte unsere Freundin aus dem Bett. Ich hörte ihn sagen, dass wir unerwarteten Besuch bekommen hatten und ihre ärztliche Hilfe benötigt wurde. Sie kam mit ihrer Ausrüstung, als Chris und ich es gerade geschafft hatten, die Blutung einigermaßen zu stoppen.

»Hey, ich dachte, es geht um Marc«, sagte sie überrascht. »Aber wer ist denn das? Etwa ein echter Einbrecher?«

Ich schüttelte den Kopf, doch sie hatte sich schon über Chris’ Bein gebeugt und begutachtete den Stich. »Nicht schlecht«, nickte sie in Davids Richtung. »Na, dann wollen wir mal.« Ich sah ihr zu, wie sie die Stelle lokal betäubte und die Wunde säuberte. Als sie Nadel und Faden zusammensuchte, lief mir eine Gänsehaut über den Rücken.

»Ich gehe uns mal Kaffee kochen«, schlug ich nervös vor. »Ich glaube, den können wir nachher alle vertragen.«

Erst als mir die Gesprächsfetzen mitteilten, dass Cathy mit ihrer Arbeit fertig war, wagte ich mich wieder ins andere Zimmer.

»Die Wunde muss jeden Tag neu verbunden und immer sauber gehalten werden«, sagte sie gerade, während sie eine Binde straff um Chris’ Oberschenkel wickelte. Sie war dabei ungewöhnlich grob und auch ihre Stimme hatte einen verächtlichen und schroffen Klang.

»Ja, ich weiß«, antwortete mein Bruder ihr. »Darum kümmere ich mich schon.« Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich ihn Englisch sprechen hörte. Das weckte Erinnerungen an unsere Kindheit. Zumindest bewährte es sich jetzt, dass wir Chris praktisch den Dialekt dieser Gegend eingepaukt hatten.

»Ach ja?« Cathys Stimme wurde schneidend. »Das haben wir gern. Bei anderen Leuten einbrechen, keine Ahnung haben und sich dann auch noch für den Größten halten.« Sie wandte sich David zu. »Habt ihr denn überhaupt schon die Polizei benachrichtigt?«

Mit offenem Mund starrte ich sie an. Cathy hielt Chris tatsächlich für einen gewöhnlichen Einbrecher. Ich war der Meinung gewesen, dass entweder David oder Chris selbst das Missverständnis längst aufgeklärt hatten. Deshalb war sie so unfreundlich zu ihm. »Darf ich euch erst einmal vorstellen«, sagte ich begütigend zu ihr. »Das ist Chris, du weißt schon, mein Lieblingsbruder.«

Cathy fiel die Binde aus der Hand, als sie mich, dann Chris und wieder mich entgeistert ansah. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, meinte sie dann. »Dein Bruder? Der Arzt?«

»Ja.«

»Na, bravo.« Cathy beendete ihr Werk und stand auf. »Und wieso steigt dein Bruder mitten in der Nacht bei dir ein?«

»Das wüsste ich auch gern, aber ich hoffe, er wird es uns erzählen. Wer will Kaffee?«

 

Müde fuhr sich Chris mit der Hand über die Augen. Während ich ihm geholfen hatte, trockene Sachen anzuziehen, hatte er kaum ein Wort gesagt. Trotz des Mittels, das Cathy ihm gegeben hatte, schien er noch Schmerzen zu haben. Als er den Kaffeebecher nahm, sah ich, dass seine Hand zitterte. Beruhigend lächelte er mir zu. »Die Verwaltung hat mich gebeten, meinen alten Urlaub zu nehmen und Überstunden abzubauen. Da haben sich mittlerweile insgesamt acht Wochen angehäuft und ich hatte keine Ahnung, was ich damit anfangen sollte. Ich weiß, dass du mein Angebot, dich zu begleiten, abgelehnt hast, aber ich dachte, es wäre doch schön, die Zeit mit dir zusammen zu verbringen. Die ganzen Sehenswürdigkeiten hier sind doch fade, wenn man niemanden hat, mit dem man seine Eindrücke teilen kann.« Er warf einen misstrauischen Blick auf David. »Aber wie ich sehe, bist du nicht mehr allein.«

Sein bitterer Ton tat mir weh. In seinen Augen sah ich deutlich die Skepsis, die Frage, wie nah mir David stand. Doch ich wusste auch, dass Chris diese Frage erst aussprechen würde, wenn wir allein waren.

»Warum hast du denn nicht Bescheid gesagt?«, fragte ich frustriert.

»Weil du hier kein Telefon hast?« Chris’ Ton schwankte zwischen Aggressivität und Müdigkeit.

»Eine Mail hätte es auch getan.« Ich kaufte ihm die Antwort nicht ab. Ich wusste genau, warum er sich nicht vorher gemeldet hatte. Ihm war klar, dass ich ihm sein Vorhaben ausgeredet hätte, ihm schlichtweg gesagt hätte, dass ich ihn hier nicht haben wollte. Ich wusste, dass er mir nachgereist war, weil er sich Sorgen um mich machte und bei dem Gedanken, dass ich allein in Amerika war, Bauchschmerzen bekam. Chris hatte schon immer einen überentwickelten Beschützerinstinkt gezeigt, wenn es um mich gegangen war. Aber das war nicht mein Problem. Ich wollte nicht überall mit meinem Bruder im Schlepptau auftauchen, ganz egal, wie gut wir uns verstanden. Und noch viel weniger wollte ich mich seinen Plänen unterordnen, seiner sicherlich gut ausgearbeiteten Liste von Sehenswürdigkeiten und anderen Dingen, die man besucht oder getan haben musste. Kurzum, ich wollte unabhängig von meiner Familie werden und das schloss ihn mit ein. Er hatte sich gedacht, dass ich ihn kaum fortschicken würde, wenn er mich vor vollendete Tatsachen stellte. Ich fühlte mich von ihm überrumpelt und begann langsam eine enorme Wut auf ihn zu entwickeln. Er hatte sich das fein ausgedacht, sich bestimmt ausgemalt, wie ich mich freute, ihn zu sehen. Kam es ihm gar nicht in den Sinn, dass mir seine Anwesenheit vielleicht gar nicht passte? Was hätte er getan, wenn ich gar nicht zu Hause gewesen wäre, sondern eine kleine Reise unternommen hätte? In meinem Ärger hörte ich kaum, was Chris erzählte.

»Ich wäre schon am Abend hier gewesen, aber wir hatten Verspätung und ich habe meinen Anschluss nach Flagstaff verpasst. Es gab nur noch einen Flug nach Phoenix. Ich dachte, ich komme von da nach Flagstaff, aber die Flüge sind wegen des Unwetters gecancelt worden.«

»Warum bist du nicht einfach dort geblieben?«, warf ich ein, nur um irgendetwas zu sagen. Im Grunde interessierte es mich wenig, ich war viel zu sehr damit beschäftigt, meinen Groll auf die beiden Männer an diesem Tisch unter Kontrolle zu bekommen.

»In Phoenix? Ich hatte keine Lust, mir dort ein Quartier für die Nacht zu suchen, wo ich schon so nahe an meinem Ziel war.«

»Du Ärmster«, spottete ich.

Chris runzelte die Stirn, als er mich ansah. Anscheinend dämmerte es ihm, dass ich von seinem unerwarteten Auftauchen nicht besonders begeistert war. »Ich bin mit einem Trucker mitgefahren, der nach Flagstaff wollte. Er hat mich an der Hauptstraße abgesetzt und sogar noch herausgefunden, wo ich hin musste.«

»Also bist du hier eingestiegen«, meinte David.

»Ja. Ich habe geklopft, aber das hat niemand gehört. Eine Klingel hat dieses Haus ja nicht. Einen Moment lang war ich ziemlich ratlos, ich hatte nämlich wenig Lust, bei diesem Wetter im Garten zu kampieren. Dann sah ich, dass ein Fenster offen stand und habe dieses Angebot dankbar angenommen. Zuerst wollte ich rufen, aber es kam mir blödsinnig vor, Jessica zu wecken. Ich wollte mir für den Rest der Nacht eine Couch suchen und sie morgen früh überraschen. Das hat ja auch prima geklappt.« Chris zuckte mit den Schultern, als er mich herausfordernd ansah. »Wenn ich gewusst hätte, dass du dir einen Leibwächter engagiert hast, wäre es mir scheißegal gewesen, ob ich deine Nachtruhe störe oder nicht.«

Ich zuckte zusammen. Chris sprach jetzt ausschließlich Englisch, um die beiden anderen nicht auszuschließen, aber ich war schon immer hervorragend darin gewesen, seine Subtexte zu verstehen. Mit diesem einen Satz und seinem Blick sagte er mir so viel mehr. Chris war gekränkt. Er hatte den langen Flug und die ganzen Umstände auf sich genommen, um mich zu überraschen, um mich in Amerika nicht allein zu lassen und mir beizustehen. Er hatte sich Sorgen gemacht und wollte nicht, dass ich hier nur auf mich selbst gestellt war. Doch jetzt fand er mich keineswegs allein vor und mein Begleiter hatte ihn sogar niedergestochen. Dazu zeigte ich keinen Funken Freude über sein Kommen und mittlerweile fragte er sich, wo meine Loyalitäten lagen. Das hatte er nicht verdient. Ich fühlte mich schuldig, aber ich war zu müde und aufgewühlt, um das Chaos in meinem Kopf zu sortieren. Doch zum Glück kam David zu meiner Rettung.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich und klang auch gebührend kleinlaut. »Aber es wäre besser gewesen, wenn du dich bemerkbar gemacht hättest. Wir haben nämlich auf einen ungebetenen Gast gewartet, allerdings auf einen, der durch die Tür kommt.«

»Marc scheint einen Schlüssel zu haben«, klärte ich meinen Bruder auf. »Er kam gestern Nacht so einfach hier hereingeschneit. Wir sind ganz schön erschrocken.«

Chris nickte mit grimmiger Miene und schnaubte. »Verdammt, Marc kommt mir sogar in die Quere, wenn er gar nicht da ist.« Er versuchte, sein verletztes Bein zu strecken, und verzog das Gesicht.

»Das wird noch eine ganze Weile wehtun«, meinte Cathy. »Du solltest dich jetzt lieber hinlegen und ein wenig schlafen.«

»Stimmt.« Ich stand auf. »Ich richte dir ein Bett her. Lasst uns morgen weiterreden.«

 

Eine Stunde später hatte ich noch immer kein Auge zugetan. Ich hörte Davids regelmäßige Atemzüge, doch unser Verhältnis war nicht mehr wie vorher. Ich fragte mich, wie er so einfach hatte einschlafen können, als wäre nichts passiert, als hätte er nicht einen Menschen niedergestochen. Immer wieder hatte ich seine ausgestreckte Hand mit dem Messer vor Augen. Das Bild vom unbeschwerten Jungen war zerstört. Wer war David? Warum schleppte er gefährliche Waffen mit sich herum? Die eigentliche Frage war, wieso er so bereit war, sie zu benutzen. Das konnte nur er mir erklären, doch ich wollte ihn nicht fragen. Ich hatte Angst vor der Antwort.

Und Chris? Sein Auftauchen setzte allem die Krone auf. Und dann hatte er auch noch die Stirn, mich vorwurfsvoll anzusehen, weil ein anderer Mann hier im Haus war.

Seufzend stand ich auf und verließ das Zimmer. Auch wenn ich wütend auf Chris war, ließ mir sein Zustand doch keine Ruhe. Zaghaft klopfte ich an das kleine Gästezimmer, in dem mein Bruder schlief. Fast augenblicklich kam die Antwort. »Komm rein.«

»Wie geht’s dir?«, fragte ich und setzte mich auf die Bettkante.

»Den Umständen entsprechend«, antwortete Chris und lachte gezwungen, als ich bei dieser Phrase das Gesicht verzog. »Nur keine Angst, Jessica, in ein paar Tagen ist das vergessen.«

Ich legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie fühlte sich heiß an und seine Haare waren feucht. »Du hast Fieber.«

»Nur ein bisschen erhöhte Temperatur. Kein Grund zur Sorge.«

»Schmerzen?«

»Die Wunde pocht, aber es ist auszuhalten. Und jetzt Schluss mit der Fragestunde. Hast du mir nichts zu sagen?«

»Sollte ich?«, stellte ich mich ahnungslos.

»Wer ist dieser David?«

»Ein Freund.«

»Und was tut er mitten in der Nacht hier? Läuft da was zwischen euch?«

»Und wenn?«, gab ich zurück. »Warst nicht du es, der mir geraten hat, mich umzusehen?«

»Warum bist du denn gleich so aggressiv?« Chris sah mich nachdenklich an. »Habe ich da einen wunden Punkt berührt?«

Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. »Warum bist du gekommen, Chris?«

»Ich machte mir Sorgen um dich.«

»Ich bin fünfundzwanzig, ich kann auf mich selbst aufpassen.«

»Soll ich wieder gehen?«

Seufzend rieb ich mir mit beiden Händen über das Gesicht. »Nein«, lenkte ich ein. »Natürlich nicht.« Wenn ich ehrlich war, freute ich mich über seine Anwesenheit. »Es tut mir leid, dass der Empfang nicht so war, wie er hätte sein sollen.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Es ist schön, dich zu sehen. Ich habe dich vermisst.«

Ich wusste, dass Chris genau das hatte hören wollen, aber ich meinte es auch so. Amerika hatte mich nicht so verändert, dass ich meinen besten Freund einfach vergaß. Mein Ärger verebbte und plötzlich merkte ich, wie ich lächelte. Neckisch fuhr ich ihm durch die Haare, eine Geste, die er hasste, und die dennoch unsere gegenseitige Verbundenheit ausdrückte. »Du bist ein Idiot«, sagte ich inbrünstig.

Er grinste. Auch Chris war gut im Verstehen von Subtext. »Gut. Nachdem das also nun geklärt ist, was ist mit diesem David? Taugt er was?«

Ich wollte diese Frage einfach nicht beantworten. Nicht in diesem Moment, wo ich selbst voller Zweifel war. »Hör auf, mich bevormunden zu wollen«, sagte ich stattdessen.

»Tu ich doch gar nicht«, seufzte mein Bruder. »Ich möchte nur nicht, dass du in dein Unglück rennst. Ich bin wirklich der Letzte, der dir eine gute Beziehung nicht gönnt, aber ich weiß nicht, ob es ein Mann sein sollte, der mit dem Messer auf andere los geht.«

»Das kommt eben davon, wenn man in ein Haus einbricht. Die Amerikaner handhaben das etwas anders als wir.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Du verteidigst ihn also. Scheint doch eine tiefergehende Sache zu sein.«

Ich öffnete den Mund zu einer Antwort, aber mir fiel keine ein. Chris beobachtete mich stumm. Meine widersprüchlichen Gefühle waren mir vermutlich ins Gesicht geschrieben. Und mit der ihm eigenen Feinfühligkeit wusste er mit Sicherheit genau, was ich dachte.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gestand ich ihm leise.

»Das ist offensichtlich«, murmelte er und zog mich in seine Arme. »Du suchst dir auch immer zielgerichtet die Probleme aus. Aber du wirst schon das Richtige tun, da bin ich sicher. Jetzt sag mal, was ist denn mit deiner hübschen Nachbarin?«

»Cathy? Wieso? Was soll mit ihr sein?« Verständnislos sah ich von seiner Schulter auf.

»Sie war so herrlich kratzbürstig. Es wäre interessant, zu erkunden, was unter den Stacheln steckt.«

Er schloss die Augen, sein Atem ging schwer.

»Kann ich etwas für dich tun?«, fragte ich ihn besorgt und strich ihm die schweißverklebten Haare aus der Stirn.

»Du könntest gehen und mich schlafen lassen. Wir vertagen die Unterhaltung auf morgen, ich bin fix und fertig.«

Ich nickte und stand auf. Chris’ Augen folgten mir, als ich zur Tür ging. »Sag mal, was hast du da eigentlich an?«, fragte er unvermittelt.

Ich sah an dem schwarzen T-Shirt mit dem AC/DC-Aufdruck hinunter, das ich als mein Schlafshirt auserkoren hatte und das mir knapp über die Oberschenkel ging. »Ups«, murmelte ich.

Chris stöhnte. »Weißt du, dass ich dieses T-Shirt seit Monaten suche? Ich dachte echt schon, die Waschmaschine hat es gefressen.«

»Dein Problem, wenn du mich deine Wäsche machen lässt.« Als ich seinen Blick sah, schien mir ein rascher Ortswechsel dringend angeraten zu sein. »Gute Nacht, schlaf gut.« Hastig verdrückte ich mich und schloss die Tür hinter mir.

Lächelnd schlurfte ich die Treppe hinunter und holte mir aus dem Kühlschrank eine Flasche Wasser. Ich wollte im Moment nicht zurück in mein Bett und zu David. David! Da war ich wieder angelangt am Auslöser meiner Schlaflosigkeit. Was war nur geschehen, dass er mir plötzlich so fremd geworden war? Hatte ich denn wirklich geglaubt, ihn nach ein paar Tagen schon genau zu kennen? Was wusste ich denn eigentlich von ihm? Gar nichts. Was Cathy mir erzählen konnte, bezog sich zumeist auf seine Kindheit, auch sie wusste nicht, was er in den letzten Jahren getrieben hatte. Doch Cathy vertraute David. Bedingungslos. Und ich vertraute Cathy. Aber war das genug, um mich diesem Mann zu öffnen? David war in mein Leben gefallen wie ein Meteorit. Mit der gleichen verheerenden Wirkung. Aber diese Nacht hatte alles verändert. Immer wieder hatte ich das Bild vor Augen, mit welcher Professionalität er seine Pistole geladen hatte und mit welcher Kaltblütigkeit er Chris ohne Federlesens niedergestochen hatte. Konnte ich einen solchen Mann lieben? Mein größtes Problem war, dass sich diese Frage gar nicht mehr stellte. Ich liebte ihn bereits, auch wenn mein Verstand sich gegen diese Tatsache wehrte und tatsächlich noch glaubte, entscheiden zu können. Was ich wollte, war diese Leidenschaft, die David in mir wecken konnte und gleichzeitig dieses tiefe Vertrauen, das ich mit Chris teilte. Aber Vertrauen war nicht wie Liebe. Vertrauen musste wachsen, verdient werden. Und das brauchte Zeit. Zeit, die ich nicht unbedingt im Überfluss hatte, wenn ich mein Leben in geordnete Bahnen bringen wollte.

10

 

Ich wachte auf, als mir der Duft von frischem Kaffee in die Nase stieg. Verwundert stellte ich fest, dass ich nicht in meinem Bett lag, sondern auf der Couch. Ich war anscheinend über meiner Grübelei eingeschlafen. Gähnend setzte ich mich auf.

»Guten Morgen, Murmeltier«, begrüßte mich David lächelnd. Er saß keine zwei Meter von mir entfernt auf einem Stuhl und beobachtete mich.

»Guten Morgen«, brummte ich verschlafen. Vergeblich versuchte ich, Chris’ Lieblings-T-Shirt über meine Knie zu ziehen, wofür es aber eindeutig zu kurz war.

»Lass das ruhig.« David reckte den Hals. »Die Aussicht ist großartig.«

Als ich aufstand, sprang er ebenfalls auf und nahm mich in die Arme. »Entschuldige, ich wollte dich nicht ärgern. Die Sache mit gestern tut mir sehr leid, aber ich dachte natürlich, dass dein Bruder Marc wiederkommt und uns eventuell bedroht. Bist du mir noch böse?«

»Nein«, gab ich zu. »Böse war ich dir nie. Ich kann nur immer noch nicht verstehen, wie du Chris einfach niederstechen konntest. Sogar wenn es Marc gewesen wäre, ist das doch kein Grund, ihn mit dem Messer anzugreifen.«

»Ich habe schon schlechte Erfahrungen gemacht. Ja, ich weiß, das ist keine Entschuldigung. Aber manchmal ist es wirklich besser, zuerst zu handeln und später zu fragen. Hoffentlich trägt mir dein Bruder die Sache nicht allzu sehr nach. Mir ist das ziemlich unangenehm.«

Ich hob den Kopf und sah den unsicheren, verlegenen Ausdruck in Davids Augen.

»Chris ist nicht nachtragend«, beruhigte ich ihn. »Ich hatte nicht mal den Eindruck, dass er besonders sauer ist. Obwohl er Grund genug dazu hätte.« Ich hob die Stimme zu einem erneuten Vortrag.

»Magst du Frühstück?« David küsste mich auf die Wange und brachte mich aus dem Konzept. Auch gut. Er wusste sowieso, was ich sagen wollte. Durch ständige Wiederholung wurde es auch nicht besser. Als ich nickte, lächelte er mich an. »Dann geh dich waschen und ich richte alles her.«

 

Wir setzten uns gerade, als Cathy anklopfte. »Darf ich reinkommen? Oh, Frühstück. Großartig. Bin ich eingeladen?«

»Klar.« David deutete auf einen Stuhl. »Fühle dich bitte weiterhin wie zu Hause.«

»Wie geht es eurem Einbrecher?«, fragte sie, als sie sich Kaffee einschenkte. »Hat er das Attentat gut überstanden?«

»Einigermaßen. Danke der Nachfrage.« Die dunkle Stimme kam von der Treppe her. Ich fuhr herum. Chris hinkte die Stufen herunter. Er trug ein verwaschenes T-Shirt und Shorts, die seinen Verband nur zur Hälfte bedeckten. Seine Haare waren ungekämmt und die hellen Bartstoppeln ausgeprägter als in der Nacht. Doch trotz des verschlafenen Aussehens schien er recht attraktiv zu wirken, wenn ich Cathys verstohlene Blicke richtig deutete.

»Was tust du denn hier?« Ich versuchte, meine Stimme streng klingen zu lassen.

»Ich dachte, ich hätte diese Pension mit Frühstück gemietet.« Chris lachte unbeschwert und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die blonden Haare, die davon aber auch nicht ordentlicher wurden.

»Du gehörst ins Bett«, rügte ich.

»Komm schon, Jessica, mach keinen Invaliden aus mir. Der kleine Schnitt ist schon fast verheilt.«

»Ja, bestimmt«, höhnte ich. »Was würde denn Dr. Christian Fehrmann einem Patienten mit einer solchen Stichwunde empfehlen?«

Mein Bruder setzte sich. »Ein paar Tage Bettruhe, was sonst?«

»Und du willst nicht auf diesen grandiosen Doktor Fehrmann hören?«

»Nein, keineswegs. Ich traue diesen Quacksalbern nicht.« Er sah mich an. »Darf ich jetzt frühstücken? Mein Magen steht schon fast auf Abendessen.«

Cathy schenkte ihm Kaffee ein. »Lass ihn doch, Jessica«, meinte sie gleichmütig. »Er muss selber wissen, was er tut. Wenn ihm das Bein weh tut, wird er sich schon hinlegen.«

»Danke.« Chris lächelte sie so freundlich an, dass sie den Blick senkte.

Ich grinste in mich hinein. Irgendetwas knisterte hier. Und das war nicht die leichte Spannung, die immer noch zwischen David und mir herrschte. Während des Frühstücks sah Chris immer wieder verstohlen zu Cathy und auch sie musterte meinen Bruder neugierig, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Das konnte noch interessant werden.

David und Cathy erboten sich, das Geschirr zu spülen, um Chris und mir Gelegenheit zu geben, uns zu unterhalten.

»Bist du sauer?«, fragte ich ihn.

Er hob die Augenbrauen. »Wegen des stichhaltigen Empfangs? Sollte ich vielleicht sein. Aber ich kann dich beruhigen.«

»Ich dachte eher wegen des AC/DC-Shirts.«

Mein Bruder nickte gewichtig. »Das wäre schon eher ein Grund.« Er musterte mich so übertrieben finster, dass ich wusste, dass mir verziehen worden war. »Du kannst es behalten«, grummelte er. »Aber ich werde dich nie wieder an meine Wäsche lassen.« Er stutzte, als er seinen eigenen Satz hörte und dann brachen wir beide in Lachen aus. Schließlich seufzte er. »Was soll ich jetzt machen? Ich wollte dich hier aus der Einsamkeit erretten, aber das hast du gar nicht nötig. Soll ich wieder heimfliegen?«

»Nein.« Ich legte meine Hand auf seinen Arm. »Ich freue mich, dass du hier bist. Wirklich. Und wenn du sowieso Urlaub hast …«

Chris sah Cathy nach, die gerade das letzte Geschirr vom Tisch abtrug. »Ja, wäre ganz nett, ihn hier zu verbringen.«

»Du willst dich hoffentlich nicht an meine Freundin ranmachen«, mahnte ich ihn.

Chris grinste, doch er nahm den Blick nicht von Cathy, die uns nun den Rücken zukehrte, während sie spülte. »Heute war sie gar keine solche Kratzbürste«, stellte er fest.

»Cathy ist voll in Ordnung«, bestätigte ich. »Ich mag sie furchtbar gern.«

Chris nickte. »Glaube ich. Aber wahrscheinlich hält sie mich immer noch für einen Einbrecher.«

Cathy wandte sich zu uns um. »Der Fairness halber sollte ich euch vielleicht sagen, dass ich in der Schule genügend Deutsch gelernt habe, um euch zu verstehen.«

»Auweia.« Chris zog den Kopf ein. »Die Fremdsprachen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«

Cathy blieb hinter ihm stehen. »Wenn du willst, kannst du dir heute mal meine Praxis ansehen«, schlug sie ihm vor. »So von Arzt zu Arzt. Aber bitte gewaschen und rasiert, sonst laufen mir noch die letzten Patienten weg. Und jetzt muss ich gehen.« Sie warf mir das Geschirrtuch zu und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. »Sag mal, Jessica, was ist denn eine ›Kratzbürste‹?«

 

»Mensch, da ist ja auch einer von mir.«

Ich saß im Schneidersitz auf dem Boden und schmökerte in Tante Marys alten Briefen. Chris lag auf der Couch und ruhte sich aus. Er hatte sich nur widerstrebend von mir davon überzeugen lassen, dass das ständige Herumlaufen nicht gerade gut für sein Bein war. David las in einem Kriminalroman und sah mich jetzt fragend an.

»Ein Brief von dir an Tante Mary?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739328881
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Liebesroman Action USA Geheimnis Thriller Romantik Spannung Liebe Familiengeheimnisse Krimi

Autor

  • Gabriele Popma (Autor:in)

Gabriele Popma ist Jahrgang 1963 und als wissenschaftliche Bibliothekarin ein alter Hase im Büchergeschäft. 1996 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Nachdem ihre erwachsenen Kinder ausgeflogen sind, arbeitet sie nun wieder als Autorin. Mit ihrem niederländischen Mann lebt sie im südlichen Bayern und liebt neben dem Schreiben ihren Garten, große Stickbilder, die sie aus Zeitmangel nie beenden wird, und ihr altes Akkordeon.