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Agitare der Todesschweiß

Dadord in Frangn - Band V der Schorsch Bachmeyer Krimi-Reihe

von Roland Geisler (Autor:in)
384 Seiten

Zusammenfassung

Im Nürnberger Reichswald werden Jäger zu Gejagten. Der oder die Täter gehen bei der Auswahl ihrer Opfer akribisch vor und hinterlassen keine Spuren am Tatort. Gehören die Täter zum Kreis der „Animal Liberation Front“, kurz ALF, also zu einer autonomen Zelle radikaler Tierschützer? In welche Machenschaften und dunklen Geheimnisse sind manche der regionalen Waidmänner verstrickt? Oder wurzeln die Taten in völlig anderen Motiven und verfolgen ein ganz anderes Ziel? Das Ermittlerteam rund um Schorsch Bachmeyer steht in einem Wald voller Rätsel. Als dann Ben Löb vom israelischen Generalkonsulat in München seinen Freund Schorsch mit einer Eilmeldung des Mossad konfrontiert, geraten die Jägermorde in den Hintergrund. Ein Anschlag, der nicht nur die Frankenmetropole, sondern die gesamte westliche Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern droht, könnte bevorstehen. Die Zeit rennt … Auch im fünften Fall um Kriminalhauptkommissar Schorsch Bachmeyer lässt der Autor den Leser tief in die Abgründe der menschlichen Seele blicken. Ein authentischer Fall – mit kulinarischen Geheimtipps, eigenwilligen Ermittlern und überraschenden Wendungen –, fesselnd bis zur letzten Seite. "Wieder ist es Ihnen gelungen, eine fesselnde Geschichte so zu verpacken, dass der Leser sich schwer tut, das Buch auf die Seite zu legen, ohne zu wissen, wie die Geschichte endet. Dank Ihrer Erfahrung auf dem Gebiet der Ermittlungen geben Sie dem Leser auch wieder eine Vielzahl von Einblicken in die Polizeiarbeit, die mit der Realität übereinstimmt". Dr. Walter Kimmel, Generalstaatsanwalt Nürnberg

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Roland Geisler
Agitare – der Todesschweiß

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Dieser Franken-Krimi ist ein Konstrukt aus Fiktion und abgewandelten Kriminalfällen der kriminalistischen Praxis und Forensik. Beides verschmilzt ineinander und führt den Leser durch die Geschichte.

Alle Figuren, bis auf manche zeitgeschichtlichen Personen, sind frei erfunden, teilweise wurden sie über einen »Fake Name Generator« inspiriert. Sofern diese Personen der Zeitgeschichte handeln oder denken wie Romanfiguren, ist auch dies ein Produkt der Autorenfantasie. Die einzige Ausnahme hierbei sind die geschäftsführenden Personen von Mercedes Benz in Wendelstein. Fiktiv sind ebenso einige der Handlungsorte in der Gegenwart.

Der Autor möchte dem Leser eine Handlung vermitteln, die eine gewisse Authentizität beinhaltet. Deshalb muss dem Geschichtenerzähler erlaubt sein zu sagen: Es ist zwar nur eine Geschichte, sie beruht aber auf realen Informationsquellen über verschiedene Verbrechenstatbestände, die in Teilen und unabhängig voneinander tatsächlich so oder so ähnlich vorgefallen sind. Lediglich manch taktischer und kriminalistischer Handlungsablauf der Gegenwart könnte im wahren Leben so erfolgt sein.

Alle Informationen über polizeiliche und strafprozessuale Ermittlungshandlungen sind als »offen« einzustufen, da diese für die Öffentlichkeit frei zugänglich sind – z. B. BGBl. I, 2005, 3136. Alle diese Maßnahmen werden zudem im Internet durch verschiedene deutsche und ausländische Strafverfolgungsbehörden ausführlich beschrieben.

Roland Geisler

Dadord in Frangn

Band 5

Agitare …
der Todesschweiß

Ein Kriminalroman
aus der Schorsch-Bachmeyer-Reihe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dadord in Frangn 2019 © by Roland Geisler
Veröffentlicht im Dadord-Frangn-Verlag, Inhaberin Lydia Hederer, Narzissenweg 10, 90530 Wendelstein.
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Verlegerin und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet oder vervielfältigt werden.
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Umschlagmotive: © Thinkstock
Abbildungen: © Thinkstock und Roland Geisler
963493564: © Manjurul/istock
815624554: © spaxiax/Getty Images
508296537: © Nixxphotography/Getty Images

Lithografie von Louis Kramp – Wilddiebe – gemeinfrei
Lektorat: Astrid Leder, Schwaig b. Nürnberg
Druck: CPI books GmbH, Leck
Made in Germany
Erstausgabe 2019
ISBN 978-3-00-063429-1

2. Auflage

Alle Begierden, die nicht zum Schmerz führen, wenn sie nicht befriedigt werden, sind nicht notwendig, sondern sie enthalten ein Verlangen, das schnell schwindet, sobald sich zeigt, dass sie zu den schwer erfüllbaren gehören oder Schaden verursachen.

– Epikur –

Du bist der schönste Zufall meines Lebens.

Prolog

Montag, 30. April 2018, 02.35 Uhr,
Lorenzer Reichswald, nahe Brunner Straße,
90475 Nürnberg

Der Erdtrabant leuchtete hell, die Vollmondnacht würde ihm den Weg weisen. Der Himmel war kaum bewölkt, die Temperaturen waren auf vierzehn Grad zurückgegangen und man konnte schon fast von einer klaren, ja für diese Jahreszeit zu warmen Nacht sprechen, der Wonnemonat war im Anmarsch.

Er verlangsamte seine Fahrtgeschwindigkeit und verließ die Fischbacher Hauptstraße nahe dem Sportgelände des TSV Fischbach und folgte der Brunner Straße, wo er nach kurzer Zeit rechts in einen Waldweg abbog und seinen Wagen abstellte. Er hatte für diese Nacht alles gründlich vorbereitet. Seit Wochen beobachtete er das Waldstück. Er hatte in der Nähe von vier Jagdkanzeln Wildkameras positioniert, die ihm in regelmäßigen Zeitabständen anzeigten, wann die Schlächter des Waldes ihre jagdlichen Einrichtungen bezogen. Seit Anfang April beobachteten sie fast täglich, wo die besagten starken Rehböcke standen, die zum Auftakt der Bocksaison ihr Leben lassen mussten. Ihr Leben für zartes, wohlschmeckendes Fleisch und deren unersättlichen Jagdtrieb.

Mit Ablauf des Tages würde das Töten unschuldiger Tiere, das alljährliche Gemetzel in dieser Jagdsaison beginnen. Nun aber würde sich das Blatt wenden. Denn schon heute sollte seine Jagdsaison beginnen, die Jäger sollten zu Gejagten werden. Er würde ihnen auflauern wie ein Wolf seiner Beute. Ihr Sterben, der Übertritt aus dem Leben in den Tod, würde allgegenwärtig sein. Dabei würden ihre Muskelkräfte erlahmen, eine allgemeine Mattigkeit würde sich über ihre Körper ziehen. Das Eigenvermögen, ihr Leben in einer bestimmten Sphäre selbst zu bestimmen, würde versagen. Ihre Herzen würden entweder schneller oder schwächer schlagen, ihr Lebensturgor würde entströmen zu einem eingefallenen hippokratischen Gesicht. Dessen spitze Nase, hohle Augen, eingefallene Schläfen, kalte und zusammengezogene, nach unten eingebogene Ohren sowie eine harte, gespannte, trockene Stirnhaut zeigen das Ende des Lebens an. Des Jägers Atmung wird dabei stöhnend und ängstlich, langsam bedeckt ein kalter, klebriger Schweiß seine Gliedmaßen. Sein Todesschweiß.1

Und er würde nicht eher ruhen, bis die Wut mit seiner Jagd, seiner Menschenjagd auf die verhassten Jäger, mit einem lang ersehnten Aufschrei im Lorenzer Reichswald verhallte.

Prolog 2

Freitag, 27. April 2018, 09.47 Uhr,
Goma, Provinz Nord-Kivu, Demokratische Republik Kongo

Es dauerte nicht mehr lange, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Das nahegelegene Hôtel Cap Kivu war nur gut fünf Kilometer vom Flughafen entfernt. Der Langstreckenflug von Frankfurt nach Goma hatte seine Spuren hinterlassen. Beide würden sich einen Tag Erholung gönnen, bevor sie den nächsten Schritt ihres Plans in Angriff nähmen, der die Menschheit in Europa in ihren Grundwerten erschüttern sollte.

Es war kurz nach zehn Uhr am Vormittag, als sie den grauen Land Rover beladen hatten und auf der Hauptstraße in Richtung Beni fuhren. Bis zu ihrem Ziel waren es annähernd vierhundert Kilometer, im besten Fall neun Stunden mit dem Auto, falls nichts dazwischenkam. Anspannung machte sich breit. Seit Monaten hatten sie alles minutiös vorbereitet. Sie waren die Auserwählten. Kalif Ibrahim, der Führer des Kalifats, das am 29. Juni 2014 ausgerufen worden war, setzte auf sie. Die kumulativen Fallzahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 4. April 2018 bestätigten insgesamt neunundzwanzig Todesfälle in der Provinz Nord-Kivu. Es handelte sich um eine Variante derselben Virusspezies wie beim Ausbruch 2013/2014 in Zentralafrika. Das Sterben ging weiter.

Sie durften ihren Führer nicht enttäuschen. Durch ihr abgeschlossenes Studium der Biowissenschaften an der University of Chicago und der New Yorker Columbia University waren ihnen die Gefahren ihres Tuns bekannt. Denn nur ein klitzekleiner Fehler in der Umsetzung ihres Vorhabens würde ihr teuflisches Projekt gegen die Ungläubigen zum Scheitern verurteilen.

»Mein Bruder, die Zeit, unsere Zeit ist gekommen«, bemerkte der ältere der beiden. Mit festem Griff umklammerte er das Lenkrad des Jeeps und chauffierte seinen Begleiter bravourös auf der holprigen Straße Richtung Beni, die zusehends nach dem Verlassen der Provinzhauptstadt immer schlechter wurde und dem Fahrer sein ganzes Können abverlangte. Es war eine Staub- und Dreckpiste, auf der jede Spur innerhalb kürzester Zeit verweht wurde.

»Wohl wahr Bruder, wenn alles nach Plan verläuft, werden wir kommendes Wochenende wieder in Deutschland sein. Mit dem im Gepäck, worum uns unsere Brüder beneiden werden«, entgegnete der Jüngere. Seine funkelnden Augen waren auf seinen Begleiter gerichtet, dabei hob er seine rechte Hand in die Höhe, streckte seinen Zeigefinger in Richtung Himmel und deklamierte mit feierlichem Ernst: »Allahu Akbar!

Denn wie es in der Sure 25, Vers 55 geschrieben steht:

Dennoch verehren sie statt Allah das,

was ihnen weder nützen noch schaden kann.

Der Ungläubige ist ein Helfer

wider seinen Herrn.«2

Nach knapp zehn Stunden, es war kurz nach zwanzig Uhr, erreichten sie die Zufahrtsstraße zu einem abgelegenen Dorf nahe Beni. Schilder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit den Hinweisen:

Attention, Fièvre Ebola!

und

EBOLA SIGNS AND SYMPTOMS:

IF YOU HAVE FEVER,

DIARRHOEA AND VOMITING,

WITH AND WITHOUT BLEEDING,

GO IMMEDIATELY TO THE NEAREST HEALTH FACILITY.

ließen die ankommenden Besucher unschwer erkennen, dass sie sich in einem Ebola-Endemie-Gebiet befanden. Sie waren angekommen.

Die Dämmerung setzte ein und wie von Kalif Ibrahim angekündigt, sollte es eine klare Nacht werden. Der zunehmende Halbmond kündigte bereits die anstehende Vollmondphase an. Es war hell genug, der leicht verschleierte Erdtrabant würde ihnen den Weg zur Quelle des Bösen weisen. Der Zufahrtsbereich zum Friedhof war ebenso mit mehrsprachigen Hinweisschildern bestückt. Sie parkten ihr Fahrzeug unweit eines kleinen Pfades, der von einer Marula-Baumreihe abgeschirmt wurde. So waren es nur noch zirka 30 Meter, als vor ihnen ein Hinweisschild

CEMETERY/CIMETIÈRE

MAKABURI

auftauchte. Hier lagen sie also, die Opfer mit der Diagnose virales hämorrhagisches Fieber, dessen Infektion bis zu neunzig Prozent tödlich verlief.

Im Schein des Mondlichts suchten sie nach frisch aufgeschütteten Gräbern. Alle Opfer im Provinzbezirk Beni wurden nach ihrem Tod in einen virendicht versiegelten Leichensack verpackt und hier auf diesem abgelegenen Friedhof begraben. Sie zogen sich ihre extraterrestrisch anmutenden Schutzanzüge über und begannen im Schweiße ihres Angesichts ein augenscheinlich neues Grab aufzugraben.

Es war kurz vor Mitternacht, als der ältere Biologe den Leichensack mit einem Teppichmesser öffnete. Hörbar trat Luft aus, die fäulnisbedingte intravasale Gasbildung des männlichen Opfers setzte sich fort. Dann ging alles sehr schnell. Der Jüngere öffnete mit einem Skalpell die Bauchdecke des Verstorbenen und legte mit einem chirurgischen Spreitzer seine Bauchhöhle frei. Der Austritt von Fäulnisflüssigkeit und die Gasblähung von Abdomen und Skrotum verursachte ein hörbares Grummeln, Glucksen und Knacksen. Dann öffnete er mit einem gekonnten Schnitt den Dickdarm und entnahm neben den Exkrementen etwas Körperflüssigkeit. Denn genau hier konnte sich der Erreger des Virus ausreichend im Endwirt vermehren. Es war ihr Schlüssel zum Erfolg, daraus die tödliche Substanz in Deutschland zu extrahieren, das Virus weiter zu kultivieren und es dann gezielt zu verbreiten.

Es war bereits weit nach Mitternacht, der neue Tag hatte begonnen, als sich die Grabstätte wieder in ihrem ursprünglichen Zustand befand. Nichts deutete darauf hin, dass hier und heute der Anfang eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit begonnen hatte. Sie blieben unentdeckt. Nachdem sie sich gegenseitig dekontaminiert hatten, verstauten sie ihre Utensilien zur Bergung des Virus in einem blauen Müllsack, der kurze Zeit später in einem nahegelegenen Müllcontainer in Flammen aufging. Das kostbare Erregermaterial deponierten sie sicher verpackt unter dem Rücksitz ihres Geländewagens.

Es war vollbracht. Der ältere der beiden holte sein Satellitentelefon hervor und wählte die Nummer seines Herren und Auftraggebers, der kurze Zeit später das Gespräch annahm. »Gott ist am Größten, kommt nach Hause, wir sind alle stolz auf Euch«, entgegnete Yazeed Fadl Allah Shadid.

1. Kapitel

Dienstag, 1. Mai 2018, 05.11 Uhr, Lorenzer Reichswald,
nahe Netzstaller Weg, 90475 Nürnberg

Es war kurz nach fünf Uhr, knapp vor Morgengrauen, als Joseph Gottlieb, ein leicht untersetzter Mitfünfziger, von seinen Jagdgenossen nur Sepp genannt, seinen Suzuki Jimny hinter einer Schwarzdornhecke parkte. Vorsichtig öffnete Sepp die Heckklappe, zog sich seinen olivfarbenen Jagdparka über und holte seinen olivgrünen Rucksack und seine Repetierbüchse hervor. Er stellte den Rucksack am Waldboden ab und lehnte sein Gewehr an eine angrenzende Buche. Dann griff er in die aufgesetzte Seitentasche seiner Jagdhose und holte ein Seifenblasenbehältnis hervor, um kurz danach festzustellen, ob sich möglicherweise der Wind gedreht hatte. Der Wind passte, wie es ihm seine Wetter-App gestern Abend noch vorausgesagt hatte. Sepp grinste, seine Augen funkelten und er kraulte sich zufrieden seinen grauen Spitzbart, der sein kantiges und spitz zulaufendes Gesicht unterstrich. Zufrieden schulterte er seinen Rucksack und sein Gewehr, bevor er seinen Hut aufsetzte und leise die Türen seines Geländewagens verschloss.

Die Windrichtung zu bestimmen, war das A und O jedes Jägers, denn im falschen Wind saß man vergeblich. Das Wild witterte den Menschen bereits auf große Distanzen und heute sollte sein Tag sein. Der Tag, an dem ein drei- bis vierjähriger Rehbock auf seiner Abschussliste stand, den er seit Wochen beobachtete. Es war ein starker Bock, dessen Wildkörper sich deutlich von den herkömmlichen ein- oder zweijährigen Böcken abhob. Er war muskulös, bullig und konturenreich, seine Gesichtsmaske war daher nicht mehr bunt und auch nicht mehr scharf gezeichnet, da seine Farbränder ineinander verliefen. Durch sein kantiges, kurzes Haupt wirkte zudem sein Gesichtsausdruck deutlich ernster gegenüber Jungböcken. Sein Körperwachstum war abgeschlossen.

Der Lorenzer Reichswald hatte einen sehr guten Bestand an Rehwild. Es war daher nicht nur bei Jägern ein beliebter Gaumenschmaus, dieses edle Wildbret zu genießen, auch die umliegende Gastronomie schätzte es, diese Wildsorte auf ihrer Speisekarte zu führen. Für seinen ersten Abschuss in der neuen Jagdsaison hatte er die »Schlehenkanzel« ausgewählt. Diese Jagdeinrichtung lag in der Nähe einer Waldlichtung fernab von Gehwegen und war daher in der Morgendämmerung auch ohne Lichtquelle gut anzupirschen.

Er hatte sich darüber mit seinen Jagdkollegen abgesprochen, heute am 1. Mai 2018 würde ihn hier keiner beim Ansitz stören. Kein anderer Jagdkollege würde die Schlehenkanzel besetzt haben. Heute war er allein im Revier und würde warten, bis der starke Bock, wie in den vergangenen Tagen beobachtet, frühmorgens aus dem Dunkel des Waldes hervortrat und zum Äsen den Wildacker an der Waldlichtung aufsuchte.

Gottlieb hasste es zudem, von Joggern oder Mountainbikern beim Ansitz gestört zu werden. Diese auserwählte Reviereinrichtung lag daher abseits möglicher Wanderwege. Sie gehörte mit einer Leiterhöhe von 7 Metern im Revier zu den höchsten Jagdkanzeln und verschaffte meist einen guten Anblick auf Reh-, Schwarz- und Raubwild, wie sie es in der Waidmannsprache nannten. Gottlieb schaltete sein Mobiltelefon auf lautlos und pirschte sich unter dem Morgengesang verschiedener Waldvögel vorsichtig an die Schlehenkanzel heran. Es waren meist männliche Singvögel, die im frühen Morgengrauen, abhängig von den jeweiligen Mondphasen, mit ihrem Gezwitscher den Wald weckten und lebendig machten, ihm sozusagen neues Leben einhauchten.

Sepp war angekommen. Er schulterte den Gewehrgurt um die rechte Schulter und führte dabei bäuchlings die Waffe vor sich her, um zu verhindern, dass der Gewehrkolben an den einzelnen Leitersprossen anschlug und so möglicherweise das Wild vergrämte. Aber Sepp Gottlieb war nicht der Einzige in seinem Revier, der das Wild vergrämen konnte. Bereits seit vier Uhr morgens hatte sich jemand auf die Lauer gelegt. Jemand, der diesen Tag genau so sehnlichst erwartet hatte wie Sepp Gottlieb.

Es war kurz vor halbsechs. Sepp Gottlieb hatte nur noch zwei Sprossen zu überwinden, bis er die Kanzelplattform erreichte und die Tür der Schlehenkanzel öffnen konnte. Plötzlich und unvermittelt beendete ein Krachen und Bersten die Idylle. Kurz zuvor, als Gottlieb mit seiner rechten Hand den sicheren Haltebügel der Kanzelplattform erreichte und er seinen linken Fuß nachzog, um mit beiden Füßen die drittletzte Sprosse zu betreten, krachte diese unter Gottliebs Last weg. Sepp Gottlieb verlor sein Gleichgewicht und stürzte seitwärts nach rechts samt seiner Jagdausrüstung sechs Meter in die Tiefe. Dabei fiel er so unglücklich, dass er sich durch die Wucht des Aufpralls die Gewehrmündung durch den Unterkiefer und weiter durch den Oberkiefer rammte. Die Folgen dieser massiven Gewalteinwirkung waren verheerend. Sepp Gottlieb erlitt eine Schädelbasisfraktur und blieb schwer verletzt am Boden liegen.

Dienstag, 1. Mai 2018, 05.42 Uhr, Lorenzer Reichswald,
nahe Netzstaller Weg, 90475 Nürnberg

Vorsichtig trat er an sein Opfer heran, das mit starrem Blick und weit aufgerissenen Augen röchelnde Laute von sich gab. Erkennbar hielt es dabei in seinem Todeskampf mit seinen beiden Händen den Gewehrlauf umklammert und versuchte, diesen aus seinem Unterkiefer zu ziehen. Vergebens. Beide Augen waren blau unterlaufen und aus seiner Nase trat schwallartig Blut hervor. Offensichtlich hatte die schwere Verletzung ein Blutgefäß getroffen, was zum baldigen Tod des Jägers führen würde.

Stille kehrte ein, die ersten Sonnenstrahlen zeigten sich im Osten des Reichswalds. Er griff in seine Jackentasche, holte ein paar Gummihandschuhe hervor und zog sie über. Dann riss er dem Schwerverletzen den Gewehrriemen von der Schulter. Mit einem kräftigen Ruck entfernte er den Büchsenlauf aus dem Schädel seines Opfers und legte das Gewehr auf dem Boden ab. Kurz darauf durchsuchte er den Rucksack sowie die Jacken- und Hosentaschen des Waidmanns. Abgesehen von einem mitgeführten Revolver, den er aus dem Schulterholster von Gottlieb zog, förderte er aus dessen Rucksack neben einem Fernglas nicht nur ein Nachsichtgerät zutage. Im Rucksack befanden sich außerdem noch Munition, der Jagdschein des Opfers sowie eine Revierkarte, welche die Reviergrenzen und die einzelnen Jagdeinrichtungen angab. Er packte alle Utensilien in den Rucksack, begab sich zu einer angrenzenden Fichtenreihe und schnitt eine Zweigspitze ab, die er unmittelbar danach mit den Worten: »Hier, dein letzter Bissen«, in den Mund des Opfer steckte.

Es war kurz nach sechs, als er mit der Jacke des Opfers den blutigen Gewehrlauf abwischte, den Rucksack schulterte und schnellen Schrittes die Unglücksstelle verließ.

Dienstag, 1. Mai 2018, 12.45 Uhr,
Friedrich-Luber-Str. 72, 90592 Schwarzenbruck

Traudl Gottlieb drückte erneut die Wahlwiederholung ihres Telefons. Ihr Ehemann war seit zwölf Uhr mittags überfällig. Die Klöße waren zerkocht und Traudl Gottlieb hatte ein mulmiges Gefühl, da Sepp immer pünktlich zum Mittagessen erschien. Seit 28 Jahren war auf ihn Verlass, Sepp war immer überpünktlich und wenn er einmal im Stau stand oder eine Besprechung länger dauerte, dann meldete er sich. Heute war alles anders. Traudl spürte insgeheim, dass etwas passiert sein musste. Wenn ihr jetzt jemand helfen konnte, dann war es sein Jagdkollege Bruno Sugula.

Sepp und Bruno hatten sozusagen ein gemeinsames Jägerleben. Sie kannten sich seit über 30 Jahren, hatten gemeinsam ihren Jagdschein gemacht und waren beide im Jagdschutz- und Jägerverein Nürnberger Land sehr aktiv. Alle möglichen Events der Jagdgenossen im Nürnberger Land wurden von den beiden organisiert und vorbreitet. Ihr Engagement für die Jägerei fand nicht nur bei Waidmännern in Mittelfranken große Beachtung, Sepp und Bruno waren auch für den Bayerischen Jagdverband sehr aktiv, zumal Bruno auch als Lehrender für angehende Jungjäger bei der Jagdschule Frankenland in Erscheinung trat.

»Servus Traudl, hat Sepp seinen Bock?« Sugula erkannte die Telefonnummer auf dem Display.

»Hallo Bruno, ich rufe dich an, weil ich mir Sorgen um Sepp mache. Du weißt doch, er ist heute Morgen zur Bockjagd ins Revier gefahren. Normalerweise meldet er sich dann über WhatsApp, wenn er etwas geschossen hat oder gibt durch, wenn er wieder zurückfährt. Wie immer wollten wir heute um zwölf Uhr Mittagessen. Sepp meldet sich nicht, da muss was passiert sein«, klagte Traudl.

»Du Traudl, ich kenne die Stelle, wo Sepp auf den Bock ansitzt, ich fahre mal raus und sehe nach«, entgegnete der Jäger.

Dienstag, 1. Mai 2018, 14.11 Uhr, Kriminaldauerdienst,
Polizeipräsidium Mittelfranken

Heidi Baumann hatte es wieder einmal erwischt, der Feiertag am Dienstag wurde abermals zum Diensttag. Es war kurz nach vierzehn Uhr, als sie den Notruf eines Jägers annahm, der ihr einen tragischen Unfall mit Todesfolge im Lorenzer Reichswald mitteilte. Die zweiundvierzigjährige Kriminaloberkommissarin griff zum Telefon und informierte den Bereitschaftskollegen vom Nürnberger K11.

Schorsch Bachmeyer und seine Lebensgefährtin Rosanne hatten es sich gerade auf ihrer großen Couch gemütlich gemacht. Der Wonnemonat weckte nicht nur bei der Tier- und Pflanzenwelt gewisse Triebe. Rosanne und Schorsch hatten daher für den Nachmittag nichts Spezielles eingeplant. Sie lagen halbnackt auf dem Sofa, Flagalutzi war angesagt. Rosanne hatte gerade eine Flasche Rotkäppchen geköpft und zwei Gläser eingeschenkt, als das Telefon klingelte.

»Servus Heidi, ich sehe, du hast schon wieder die Arschkarte am Feiertag gezogen und ich habe schon eine kleine Vorahnung, dass mein Feiertag auch gelaufen ist. Was gibt es?«

»Hallo Schorsch, da hast du gar nicht so unrecht. Wir haben einen toten Jäger im Lorenzer Reichswald. Eine Streife ist schon vor Ort und hat mir soeben die Angaben des mitteilenden Jägers bestätigt. Ein Jagdkollege wurde tot aufgefunden. Dem ersten Anschein nach stürzte der von der Jagdkanzel und hat sich dabei eine massive Gesichtsverletzung zugezogen, die vermutlich auch zu seinem Tod geführt hat. Soeben hat ein Notarzt den Tod des Geschädigten bestätigt. Also da ist Handlungsbedarf angesagt. Fahrt mal raus und seht nach, denn dummerweise fehlt dem Opfer nicht nur sein Gewehr, auch andere mitgeführte Utensilien sind laut des vor Ort befindlichen Hinweisgebers verschwunden. Da stimmt was nicht. Die genaue Wegbeschreibung schick ich dir aufs Handy. Robert und sein Team habe ich schon mal vorausgeschickt«, beendete Heidi das Telefonat.

Es war kurz nach fünfzehn Uhr, als Schorsch Bachmeyer und seine Kollegin, Gunda Vizthum, den Lorenzer Reichswald erreichten. Schon von Weitem konnten sie einen Rettungswagen, zwei Einsatzfahrzeuge ihrer uniformierten Kollegen und den weißen Mercedes Sprinter ihrer Tatortgruppe sehen. Zwei Kollegen waren gerade dabei, mit Absperrband die Zufahrt zum Waldgebiet zu blockieren. Schorsch legte die Anhaltekelle mit der Aufschrift »Polizei« auf die Frontablage und näherte sich im Schritttempo und mit heruntergelassener Scheibe den Einsatzkräften.

»Servus miteinander, Vizthum und Bachmeyer vom K11, wir wurden verständigt, dass es hier einen Toten gibt.«

»Ja, ihr werdet schon erwartet.« Die Kollegin hob das Absperrband an und zeigte in Richtung der Unglückstelle. »Dorthin fahren, bis zu dem grünen Jimny, dann geht es fußläufig noch zirka zweihundert Meter in den Wald hinein. Wir haben den Weg gerade farblich gekennzeichnet,« erläuterte sie.

Schorsch und Gunda stellten ihr Dienstfahrzeug ab und orientierten sich am Absperrband, wo sie kurze Zeit später an einer Waldlichtung eintrafen.

»Servus Gunda, Servus Schorsch«, begrüßte sie Robert Schenk, der Leiter ihrer Spurensicherung, »wir sind fast fertig mit unserer Tatortarbeit. Da hat jemand ganze Arbeit geleistet und die letzten drei Sprossen vom Hochsitz von hinten angesägt. Der Geschädigte ist dann von zirka fünf bis sechs Meter gestürzt und hat sich dabei tödliche Verletzungen am Schädel zugezogen. Der Täter muss vor Ort gewesen sein. Das Makabre an der Geschichte, dem Geschädigten wurde ein Fichtenzweig in die Mundhöhle gesteckt.« Robert schüttelte nachdenklich seinen Kopf und blickte in die Runde.

»Unter Jägern sagt man dazu letzter Bissen«, antwortete ein unbekannter grauhaariger Mann, Ende fünfzig, der in Jagdbekleidung unweit des Tatorts auf einem Baumstumpf saß. Sichtlich schockiert stützte er mit seinen beiden Handflächen seine linke und rechte Wange und verfolgte mit starrem Blick die Arbeit der Tatortgruppe.

Robert Schenk nickte bejahend und deutete auf ihn: »Das ist Bruno Sugula, ein Jagdkollege des Geschädigten und ein ehemaliger Kollege von uns. Bruno hat früher bei der PI West seinen Dienst verrichtet, bis er vorzeitig in den Ruhestand wechselte. Er hat das Opfer, Joseph Gottlieb, so vorgefunden. Dieser wollte heute Morgen auf die Bockjagd. Hier seine mitgeführten Ausweispapiere und sein Autoschlüssel.« Robert überreichte Schorsch eine Asservatentüte mit den persönlichen Gegenständen des Opfers und fügte hinzu: »Seine Jagdwaffen und mögliche Gegenstände, die man zur Jagd eigentlich immer mitführt, also das Fernglas oder ein Jagdrucksack, fehlen jedoch. Es sieht so aus, als ob sich diese Gegenstände jemand widerrechtlich angeeignet hat.«

In diesem Augenblick klingelte Sugulas Mobiltelefon. Es war Traudl Gottlieb, die Frau des Opfers. Sugula drückte die Anruferin wiederholt weg und bemerkte: »Das ist schon wieder die Traudl, seine Frau. Die will wissen, was mit Sepp los ist. Ich kann ihr das am Telefon nicht sagen.«

Schorsch und Gunda sahen nachdenklich zu ihm herab. »Wir machen das schon«, sagte Gunda und fasste den trauernden Kollegen an seine rechte Schulter.

»Aber Robert, wie kommt es zu den massiven Verletzungen im Kopfbereich?«, fragte Schorsch, der sich zwischenzeitlich mit Gunda einen Schutzoverall übergezogen hatte und kniend neben der Leiche dessen Gesichtsverletzung betrachtete.

Robert begann: »Schorsch, diese markanten Verletzungen, die vermutlich zum Tod von Gottlieb geführt haben, dazu kann uns nur Doc Fog etwas Genaueres sagen. Es sieht so aus, als wäre da ein stumpfer Gegenstand in den Unterkiefer eingedrungen. Zuerst dachte ich an einen Schuss, also einen herkömmlichen Jagdunfall. Aber wir konnten keine Schusswaffen am Tatort vorfinden. Fest steht zumindest, dass die Sprossen durch einen Dritten angesägt, also manipuliert wurden. Der Geschädigte hat meines Erachtens in der Dämmerung beim Aufbaumen diese Manipulation nicht bemerkt. Das sieht mir nach einem vorsätzlichen Kapitalverbrechen aus«, schloss Robert.

»Wie, beim Aufbaumen?«, fragte Schorsch.

»Aufbaumen bedeutet in der Waidmannsprache das Besteigen der Jagd-einrichtung, also hier der Kanzel«, antwortete Robert, der selbst seit achtzehn Jahren diesem Hobby frönte.

»Du wieder mit deiner Jägersprache«, schmunzelte ihm Schorsch entgegen. »Aber Robert, ganz ehrlich, ich wollte auch schon immer mal die Jägerprüfung machen. Mein Großvater war damals als Jäger bei einem Rittergutbesitzer in Schlesien angestellt. Sehr oft war damals mein Vater als Kind bei der Pirsch dabei, wusste also schon als kleiner Junge über die Jagd Bescheid. Er selbst hatte nie einen Jagdschein besessen, aber die Jagd in seiner Kindheit mit seinem Vater hat ihn dazu geprägt, selbst auf die Jagd zu gehen. Allerdings ohne Jagdschein. Er war schlichtweg ein Wilderer, der sich nie hatte erwischen lassen. Sein Revier lag direkt vor unserer Haustüre. Der Faberwald. Aber nun wieder zurück zu unserer Leiche«, schloss Schorsch nachdenklich.

Gunda kniete vor dem Toten und betrachtete die klaffende Wunde am Unterkiefer, als sie kurze Zeit später anmerkte: »Was sind das für Ausscheidungen hier?« Sie ergriff mit ihrer rechten Hand den Unterkiefer von Sepp Gottlieb. Die eintretende Erstarrung seiner Kaumuskeln aufgrund der einsetzenden Leichenstarre machte sich bereits bemerkbar, Gunda benötigte beide Hände, um den Kiefer nach unten zu drücken. Sie entfernte vorsichtig den Fichtenzweig, Gottliebs Mundhöhle und sein Rachenraum war mit Erbrochenem gefüllt. Gunda richtete ihren Blick zu Robert und Schorsch und erläuterte: »Es könnte sein, dass er sich durch den Sturz eine Schädelbasisfraktur zugezogen hat und dann an seinem Erbrochenem erstickt ist. Oder er verlor durch den Sturz und durch die massive Gewalteinwirkung im Unter- und Oberkiefer sofort sein Bewusstsein. Über die genaue Todesursache werden wir aber erst aufgeklärt, wenn ihn Doc Fog auf seinen Tisch hatte.«

»Ja, Alois wird das herausfinden«, entgegnete Schorsch, der noch einmal die Sprossen der Leiter in Augenschein nahm. »Robert, der Täter wusste genau, was er machte und was er damit wollte. Er nahm den Sturz und den Tod unseres Opfers nicht nur billigend in Kauf, unser Täter hat diese Tat perfide geplant und den Tod von Gottlieb beabsichtigt. Aber warum gerade hier?«, fragte Schorsch in die Runde.

Bruno Sugula, der immer noch sichtlich betroffen auf dem Baumstamm saß und den Ausführungen der Kollegen lauschte, entgegnete: »Wieso wusste der oder vielleicht auch die Täter, dass Sepp genau diese Kanzel für seine Bockjagd nutzte? Wir haben noch fünf andere Jagdeinrichtungen hier in diesem Abschnitt, vielleicht sollten wir dort auch mal nachsehen.«

Robert Schenk bestätigte ihm nickend sein Anliegen und sagte dann in die Runde: »Das sollten wir in jedem Fall gleich im Anschluss tun. Wer sagt uns, dass unser Täter nicht noch Gehilfen hatte und diese noch andere Manipulationen vorgenommen haben? Vielleicht finden wir zudem noch verwertbare Spuren, mögliche DNA oder sonstige Beweismittel.«

»So machen wir das, wenn die beiden Herren ihre Arbeit getan haben«, erwiderte Gunda, die ihren Blick auf die ankommenden Bestatter warf, die mit einem Leichenbergesack nahe der angrenzenden Fichtenschonung sich gerade einen Weg durch das unwegsame Gelände frei kämpften.

Es dauerte keine fünf Minuten, bis Sepp Gottlieb eingetütet war und einer der Bestatter fußwärts von Gottlieb mit seinem Mittelfinger in einen silbernen Metallring griff und mit einem kratzenden Geräusch den Reißverschluss nach oben zog, um den Bergungsvorgang des Opfers abzuschließen.

Schorsch bemerkte: »Meine Herren, der kommt nach Erlangen in die Rechtsmedizin, Professor Dr. Nebel wird sich den ansehen.« Dann holte Schorsch sein Telefon hervor und wählte dessen Mobilfunknummer.

»Ja Schorsch, was gibt es? Ich bin gerade an der Wiesent, heute ist die Schonzeit für die Forellen vorbei. Ich habe schon eine Rotgetupfte im Körbchen liegen.« Der Doc erkannte Schorschs Mobilfunknummer.

»Nicht nur die Forellen«, entgegnete Schorsch, »auch der Bock ist heute offen, seine Jagdsaison hat heute ebenso begonnen.«

»Bist edzerdla unter die Jäger ganga?«, fragte Alois Nebel nach, der von allen Ermittlern nur Doc Fog genannt wurde.

»Wäre ich gerne, aber ich habe heute mit Gunda Bereitschaft. Ich rufe dich wegen eines Opfers an, das du dir morgen mal anschauen solltest.« Als er dem Doc die Auffindesituation von Gottlieb erklärt hatte, machten sie sich unter Führung von Sugula auf den Weg zu den weiteren Kanzeln im Reviergebiet.

Dienstag, 1. Mai 2018, 16.02 Uhr, Lorenzer Reichswald

Bruno Sugulas Furcht, dass noch an anderen Kanzeln im Revier ein Anschlag vorgenommen wurde, hatte sich bestätigt. Bei allen fünf Jagdkanzeln wurden an den letzten drei Stufen Manipulationen vorgenommen. Der oder die Täter sägten die Sprossen bis zur Hälfte durch und kaschierten dann heimtückisch die Sägestellen mit einer brau-grauen Masse, sodass diese später nicht auffielen und jeder, der diese Leiter besteigen würde, in die Falle tappte, sein Gleichgewicht verlor und mit großer Wahrscheinlichkeit abstürzte.

Robert Schenk und sein Team sicherten Teile dieser undefinierbaren Masse, dokumentierten und asservierten die angesägten Sprossen und kennzeichneten die defekten Leitern mit einem Polizeiabsperrungsband, das sie gut sichtbar an den beschädigten Hochsitzen anbrachten.

Schorsch, Gunda, Robert mit seinem Team und Jäger Sugula waren wieder an Gottliebs Jimny angelangt. Schenk durchsuchte den Geländewagen, um kurze Zeit später festzustellen: »Es sieht wirklich so aus, als ob der oder die Täter die Waffen und sonstige jagdlichen Utensilien des Opfers mitgenommen haben. Wir müssen wissen, was Herr Gottlieb heute Morgen dabeihatte.«

Bruno Sugula, der aufmerksam das Geschehen mitverfolgte, begann: »Sepp hatte zur Bockjagd immer seine .308 Repetierbüchse der Marke Blaser dabei. Sein Revolver, einen Smith & Wesson im Kaliber .357 Magnum, fehlt ebenso. Zudem fehlen sein Rucksack und sein Fernglas. Diese Gegenstände muss jemand mitgenommen haben. Es wird uns Gewissheit geben, wenn wir in seinem Waffenschrank nachsehen. Wir müssen ja sowieso seiner Frau die traurige Nachricht überbringen«, schloss der Jagdkollege.

Nickend sah Gunda zu Sugula und fügte hinzu: »Am besten wäre es, wenn wir das gemeinsam machen, Sie kennen seine Frau ja persönlich. In solch einer schmerzlichen Stunde braucht man jemanden, der einem seelisch beisteht und tröstende Worte findet. Ein guter Freund und Weggefährte scheinen hier am besten angebracht zu sein. Es wäre nett, wenn Sie uns hierbei unterstützen und gerade im Hinblick auf die entwendeten Waffen ist ein Fachmann und Jagdkollege sehr hilfreich für uns«, sah ihn Gunda mit fragendem Blick an.

»Natürlich, das ist meines Erachtens die beste Lösung, denn Traudl braucht jetzt jemanden, der ihr in dieser schmerzlichen Zeit nahesteht, also fahren wir«, schloss Sugula in sich gekehrt und schlenderte mit gesenktem Kopf zu seinem Fahrzeug.

2. Kapitel

Mittwoch, 2. Mai 2018, 17.28 Uhr,
N’Djili International Airport, Kinshasa

Sie hatten es geschafft und das Check-in hinter sich gelassen. Hier in der ehemaligen Kolonie Belgisch-Kongo und späteren Republik Zaire wurden die Sicherheitsvorkehrungen nicht so strenggenommen. Über ihre belgischen Reisepässe brauchten sie sich ohnehin keine Gedanken machen, diese hielten jeder Kontrolle stand. Ihr Kontaktmann in der kongolesischen Botschaft – Rue Marie de Bourgogne 30, 1000 Brüssel – hatte ganze Arbeit geleistet, denn die visarechtlichen Einreisedokumente für ihren Aufenthalt waren Originale, ausgestellt auf den belgischen Staatsangehörigen Dr. Mohamed Goossens, geboren am 05.01.1979 in Antwerpen, und Hassan Ibrahim Buhari, geboren am 05.06.1977 in Zaire. Hatten sie die belgische Hauptstadt einmal erreicht, würde der Weiterreise nach Franken nichts mehr im Wege stehen. Innerhalb der Europäischen Union war man zwischenzeitlich unter den muslimischen Glaubensbrüdern gut vernetzt, man konnte nicht nur schnell untertauchen, sondern es bestand seit Ende 2015 zudem die Möglichkeit, ohne Überwachung Kontakt mit Führungsgrößen des IS aufzunehmen.

Denn die Flüchtlingsströme der Asylbewerber bestanden nicht nur aus überwiegend jungen Männern aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Nordafrika, die in Europa Schutz oder ihr Glück suchten. Auch der Islamische Staat hatte diesen Weg, ihren Glauben in die westliche Welt zu exportieren, entdeckt und wusste ihn zu nutzen. So wurden bestimmte Glaubensbrüder ausgewählt, welche sich in den Strom der tatsächlich Asylsuchenden oder der regulären, auch akademischen Zuwanderer mischten. Die schiere Menge und heterogene Struktur der Neuankömmlinge begünstigte es, in der Masse unterzutauchen. Die sogenannten Schläfer des Islamischen Staates konnten sich etablieren.

Nur mit ihnen konnte man ein Terrornetzwerk bei den Ungläubigen unterhalten und gezielt durchdachte Terroranschläge im Namen Allahs durchführen. Egal ob dies nur kleine gezielte Nadelstiche beinhaltete, einen Anschlag mit dem Auto oder LKW in einer Menschenmasse oder einen Sprengstoffanschlag. Terror zu verbreiten, die Ungläubigen im Namen Allahs in Angst und Schrecken zu halten und dafür noch in den Medien die passende Plattform zu gewinnen, das war das große Ziel. Genau diese Strategie verfolgte der Islamische Staat.

Als perfektes Kommunikationsmittel hierfür standen auch dem IS die seit Beginn der 2000er-Jahre zunehmend ausgebauten mobilen Breitbandnetze in seiner ursprünglichen Heimat zur Verfügung. Der Rückstand an technologischer Infrastruktur – Telefon, Computer, Internet – wurde auch in weiten Teilen Afrikas und des Nahen Ostens durch einen Sprung direkt in die mobile Kommunikationstechnologie aufgeholt. Wozu aufwändig Kabel bis in entlegene Gegenden und jedes Haus verlegen, wenn der Mobilfunk doch längst oft bessere Lösungen bietet? Auch der Geldverkehr wird in manchen Ländern weit selbstverständlicher über mobile Anwendungen erledigt, als in Europa üblich. Der damit entstandene Markt für Mobiltelefone war so attraktiv, dass alle großen Hersteller mit regional erschwinglichen Gerätevarianten oder Second-Hand-Ware die Nachfrage deckten. Nahezu jeder Asylsuchende brachte so bereits ein Smartphone oder wenigstens ein Handy mit, oft als einzigen Wertgegenstand und überlebenswichtigen Begleiter auf der Reise. Der Minicomputer für die Hosentasche ersetzt die Brieftasche, den Straßenatlas, den Postkasten, das Telefonbuch und das Fotoalbum. Kommunikation ist ein Grundbedürfnis. Sei es mit Verbliebenen im Heimatland oder mit denjenigen, die sich noch auf der Flucht befanden oder an einem anderen Ort gestrandet waren. Sei es mit Schleppern oder anderen Helfern oder Behörden.

Die Kommunikationsmöglichkeiten von WhatsApp, Viber, Facebook und Co. ermöglichten ein günstiges oder kostenfreies, mitunter verschlüsseltes Telefonieren, wenn man nur eine Prepaid-Sim-Karte und einen öffentlichen WLAN-Hotspot für den Internetzugang hatte. Jeder Hauptbahnhof, viele Fastfood-Restaurants und einige Modeketten oder Discounter bieten in Deutschland längst unbegrenzt oder zumindest für eine Stunde kostenlosen Netzzugang. Diese Option machte sich auch der Islamische Staat zu eigen. Wer sollte schon in der Menge der VoIP-Gespräche ins Ausland gezielt ihre Telefonate herausfiltern? Lediglich in dortigen Führungspositionen griff man vereinzelt noch auf die Satellitentelefonie zurück.

Das große Ziel des IS war jedoch, ein globales Netzwerk im Darknet aufzubauen, um mit verschiedenen Terrororganisationen, wie z. B. Al Qaida, ein gemeinschaftliches, schlagkräftiges Terrornetzwerk zu etablieren, welches dann unter gewissen Strukturabläufen weltweit operieren konnte.

Es war kurz nach achtzehn Uhr, als die Boeing 777-300 der Ethiopian Airlines abhob. Erst nach einem fast zwanzigstündigen Nachtflug mit einem Zwischenstopp in Wien würden sie ihr Ziel, den Flughafen Brüssel Zaventem, erreichen. Ihre tödliche Fracht hatten sie sicher vor einer möglichen Zollkontrolle in einem Geheimversteck deponiert. Dazu nutzten sie eine Cola-Dose, die als präparierter Flaschentresor diente. Solche industriell angefertigten Geheimverstecke dienten nicht nur Kriminellen als mögliches Drogenversteck, auch in so manchem Haushalt wurde dieser getarnte Gegenstand zur Aufbewahrung von Geld oder Wertgegenständen benutzt. Der Erwerb war ziemlich einfach. Bei Amazon und Co. gab es hierfür unter dem Schlagwort »Dosensafe« oder »Geldversteck« eine große Auswahl. Von der Cola- und Raviolidose bis zum Energiegetränk, das einem Flügel verlieh, fand jeder sein passendes Geheimdepot.

Donnerstag, 3. Mai 2018, 14.28 Uhr, Flughafen Brüssel Zaventem

Es lief alles wie am Schnürchen. Auch hier in Belgien war, wie in der Bundeshauptstadt, das Sicherheitssystem von muslimischen Clans unterwandert. Hatte man im November 2017 bei der Berliner Polizei das Problem der gesteuerten Unterwanderung durch kriminelle arabische Clans erkannt, die im Bereich der organisierten Kriminalität eingesetzt waren, wurde hier in Brüssel diese Thematik weitgehend verdrängt. Zu groß waren die Bedenken der dortigen Regierenden, dass aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Kulturen in diesem Land der Rassismus in den Sicherheitsbehörden neu aufleben würde. Belgien war neben Frankreich sehr multikulturell geprägt, zumal erst 1962 die letzten Kolonien von Belgien ihre Unabhängigkeit erhielten und der Zustrom von Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien allgegenwärtig war.

Kurz nach den grenzpolizeilichen Einreiseformalitäten begaben sich Mohamed Goossens und Hassan Ibrahim Buhari zum Gepäckband, wo sie unbehelligt ihr Reisegepäck aufnehmen konnten und die Zollkontrolle passierten. Es war geschafft, sie hatten wieder die Europäische Union erreicht. Ab hier war man sicher, man hatte den Tod der Ungläubigen im Gepäck, den Stoff, der bald schon ein neues teuflisches Kapitel in der Geschichte des Abendlandes schreiben würde. Der ältere der beiden zog sein Mobiltelefon aus seiner Jackentasche, scrollte nach einer Telefonnummer. Kurz nachdem sich die Verbindung aufgebaut hatte, sprach er sein Losungswort: »Die Kāfir würden zu Lämmern werden und ihr Weg zur Schlachtbank würde von Blut und stinkenden Exkrementen begleitet werden.«

Sein Gegenüber antwortete: »Allahu Akbar, fahrt vorsichtig zurück. Unsere ganze Hoffnung, euer aller Tun wird getragen vom Allmächtigen!« Die Zufriedenheit von Kalif Ibrahim war allgegenwärtig, als er das Telefonat beendete.

Kurz nach fünfzehn Uhr hievten sie ihr Gepäck in den Kofferraum ihres Leihwagens und kurze Zeit später wurde eine Nürnberger Zieladresse im Display ihres Navigationsgeräts berechnet.

3. Kapitel

Mittwoch, 2. Mai 2018, 08.07 Uhr, PP Mittelfranken,
K11, Besprechungsraum 1.102

Der Feiertag war vorbei und die K11er saßen zur Frühbesprechung zusammen. Neben den üblichen Tagesgeschäften sowie dem Verlauf der aktuellen Ermittlungen gab es Neues zu berichten. Außer Kommissariatsleiter Schönbohm war auch Polizeipräsident Dr. Mengert anwesend. Mengert, der selbst der Jägerei nachging, hatte bereits am späten Abend des 1. Mai von einem Jagdkollegen von dem Verbrechen gehört und sich Einzelheiten über den Kriminaldauerdienst mitteilen lassen.

Der Polizeipräsident ergriff, nachdem Schönbohm sein Team begrüßt hatte, das Wort: »Tja liebe Kollegen, das gestern im Lorenzer Reichswald war ein geplanter heimtückischer Mord. Ich kannte den Geschädigten sehr gut, Sepp war ein Jagdfreund, der für jedermann da war. Der Täter hat mit Wissen und Wollen diese Tat geplant. Sepp Gottlieb konnte nichts Böses ahnen und in keiner Weise diesen feigen Anschlag vorhersehen oder sich schützen. Zum Tatzeitpunkt herrschte Dunkelheit. Er war somit dem Täter und dessen Tatvollendung hilf- und schutzlos ausgeliefert.« Bedacht griff sich Mengert an sein Kinn und zog nachdenklich mehrmals an seiner Kinnspitze, als er kurz darauf fortfuhr und einen Blick auf Schorsch richtete: »Herr Bachmeyer, Sie und Frau Vizthum waren gestern vor Ort. Ich möchte, dass Sie den Täter finden und die Tat zeitnah aufklären. Aufgrund der vorliegenden Tatumstände – der Täter hat sich mit großer Wahrscheinlichkeit die Schusswaffen von Sepp Gottlieb angeeignet – ist nicht auszuschließen, dass er womöglich weitere Straftaten gegen uns Jäger planen wird. Es ist daher Eile geboten, dem Täter habhaft zu werden. Ich möchte deshalb bitte täglich über jeden neuen Sachstand in diesem Verfahren unterrichtet werden. Die Aufklärung dieses Kapitalverbrechens hat äußerste Priorität. Die Wahrscheinlichkeit, dass nichts passiert, ist ungefähr so, als wenn Sie einem alten, erwachsenen Gorilla, also einem Silberrücken, unbescholten mit einer Pinzette seine Augenbrauen zupfen«, gab der Polizeipräsident mit ernster Miene in die Runde.

Schönbohm ergänzte: »Ja, dieser Täter hat es auf die Jägerschaft abgesehen. Das ist unstrittig. Wir werden daher neben unserem alltäglichen Tagesgeschäft mit Hochdruck an diesen Fall rangehen und eine Mordkommission einrichten. Der Kollege Bachmeyer wird mit der Leitung der Ermittlungen betraut«, stimmte Schönbohm seinem Polizeipräsidenten zu.

Zufrieden nickte Schorsch Schönbohm und Dr. Mengert zu. Er hatte Witterung aufgenommen wie ein Bayerischer Gebirgsschweißhund, der soeben auf Schalenwild angesetzt wurde. Horst Meier, sein langjähriger Zimmerkollege aus dem Nürnberger Land, der neben Schorsch saß, tippte ihm mit der Hand auf den Arm: »Gell, ich bin fei a dabei«, flüsterte er ihm zu.

Schorsch nickte erneut zustimmend und bekräftigte in die Runde: »Dann sollten wir in jedem Fall unverzüglich an Presse und Medien herantreten. Denn wer sagt uns, ob der Täter seine Sabotageakte nur bei uns in Nürnberg oder dem Nürnberger Land umsetzt? Dieser Fall muss präventiv überregional an die Öffentlichkeit. Alle privaten Jagdpächter und auch die staatliche Bundesforstverwaltung müssen umgehend darüber unterrichtet werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben wir es mit einem Wiederholungstäter zu tun, der in einer Nacht- und Nebelaktion versuchen wird, weitere Jäger oder Jägerinnen zu töten.«

»Sehr guter Vorschlag Herr Bachmeyer, das sollten wir gleich umsetzen nachdem Sie Ihr Team zusammengestellt haben«, gab Schönbohm in die Runde. Alle K11er blickten erwartungsvoll zu Schorsch, der es sich nun nicht mehr nehmen ließ, sein eigenes Team zusammenzustellen: »Waltraud, du bist leider diesmal nicht mit dabei. Ich würde dich lieber in das übliche Tagesgeschäft mit einbinden. Die allgemeinen Abklärungen dürfen wir nicht schleifen lassen, du wirst dich daher mit unseren Cold Cases auseinandersetzen. Da muss unbedingt jemand dranbleiben«, ordnete Schorsch an, der für diese Entscheidung insgeheim große Zustimmung der übrigen Kollegen erntete.

Waltraud Becker, die immer makellos studiogebräunte Mitdreißigerin der K11er, war erst seit ein paar Jahren im Team und böse Zungen behaupteten, dass sie nur über ihren Onkel mütterlicherseits das notwendige Vitamin B dazu erhalten hatte. Polizeipäsident Dr. Johannes Mengert schätzte seine Nichte tatsächlich sehr. Das wusste und schätze wiederum die Kriminaloberkommissarin Becker, die ihre besondere Stärke und Anziehungskraft allerdings eher dem Beauty-Bereich zuschrieb. Kurzum, sie stand ihren Kollegen mehr mit Puderquaste und Haarspray im Weg herum, weshalb Schorsch sie lieber mit der Aufbereitung von alten, nicht abgeschlossenen Tötungsdelikten betraute, bei denen ihr mangelndes berufliches Engagement weniger Schaden anrichten konnte.

Ganz anders hingegen waren die anderen angestammten Kollegen, auf die Georg Bachmeyer auch dieses Mal unter keinen Umständen verzichten wollte.

Gunda Vizthum, die brünette Mitfünfzigerin, hatte viele Jahre beim Bundeskriminalamt ihren Dienst verrichtet und dort sehr gute Kontakte zu in- und ausländischen Strafverfolgungsbehörden sowie zu Geheimdiensten aufgebaut. Sie war eine Bereicherung im Team der Nürnberger Mordkommission und gehörte eindeutig zum Inventar.

Ebenso war Sebastian »Basti« Blum, ein ausgefuchster Oberpfälzer, fester Bestandteil der K11er. Überstunden zogen ihn geradezu magisch an, er war überaus engagiert.

Aber auch der Erlanger Hubert Klein, von allen »Hubsi« genannt, war wieder in Schorschs Team. Hubsi, der seit sechs Jahren in einer festen Lebenspartnerschaft mit seinem Freund Oliver war, hatte knapp noch sieben Jahre bis zu seinem Ruhestand. Mit seinem Partner Olli, wie er seine bessere Hälfte nannte, wollte er auf Gran Canaria eine Bar für Gleichgeschlechtliche eröffnen. Das war ihr großer Plan. Hubsi war bei der Arbeit grundsätzlich sehr bei der Sache, hatte immer einen guten Spruch parat und war aus beiden Gründen beliebt. Mit seiner markanten nasalen Aussprache verheimlichte er keineswegs seine sexuelle Orientierung. Hubsi stand dazu.

Nicht wegzudenken war natürlich Blacky. Der Deutschamerikaner und Womanizer, dessen Ausstrahlung bei so mancher Polizeianwärterin Begehrlichkeiten entfachte, wurde nicht nur für seine Hilfsbereitschaft geschätzt bei den K11ern. Roland Löw, wie er im richtigen Leben hieß, war zudem immer für unvorhergesehene Ermittlungen einsatzbereit. Egal ob am Wochenende oder bei Durchsuchungsaktionen zu später Stunde. Blacky war dabei.

Schorschs Blick galt auch Eva-Maria Flinn. Die Oberkommissarin, erfolgreiche Violinistin, stand zwar vereinzelt an den Wochenenden mit einem namhaften Orchester auf der Bühne, aber Eva-Maria glich bei den K11ern ihr künstlerisches Engagement dadurch aus, dass sie unter der Woche keine Überstunden scheute. Sie war da, wenn man Leute für spontane Einsätze brauchte.

Speziell für diesen Fall war Günther Gast mit seinem »Ermittlungs- und Analyseunterstützendem EDV-System«, kurz EASy genannt, ein wichtiger Bestandteil des diesmaligen Teams, wenn es darum ging, Beziehungen zwischen Personen, Informationen und Sachen in Schaubildern darzustellen. Dieses Programm, die bayrische Variante der länderübergreifend verwendeten Software rsCASE, erlaubte es den Ermittlern nicht nur, eine vereinfachte Telekommunikationsüberwachung durchzuführen, diese Technik gestattete zudem eine ganz neue Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Polizeidienststellen. Wird zum Beispiel eine Telefonüberwachung in Würzburg und Sonthofen durchgeführt und von beiden Telefonanschlüssen aus wird dieselbe Nummer angewählt, dann bekommen beide Polizeidienststellen eine Treffermeldung. Die Beamten können sich dann absprechen, ob die Telefonnummer wichtig ist und ob vielleicht ein kausaler Zusammenhang mit ihren jeweiligen Verfahren und den Anrufern besteht. Ein weiterer Vorteil dieser EDV: Der zuständige Provider übermittelt nicht nur automatisch die Verbindungsdaten, sondern auch die akustischen Daten, also die Telefonmitschnitte, welche dann von den Beamten abgehört und bei Relevanz für das Ermittlungsverfahren protokolliert werden. Zugleich erfolgt über rsCASE bzw. EASy eine automatische Anschlussinhaberfeststellung im System. Ein möglicher Mittäter, Gehilfe oder Zeuge steht somit sofort fest. Günther war daher beim aktuellen Fall der K11er ein wichtiger Pfeiler für die Aufklärung dieses Kapitalverbrechens. Damit waren die K11er wieder einmal komplett.

»Die Aussage, dass der Täter erneut zuschlagen wird, irritiert mich ein wenig«, griff Gunda die Überlegungen zum bisherigen Wissenstand wieder auf. »Bisher haben wir zwar einen toten Jäger, aber wer sagt uns, ob Gottlieb nicht ganz persönliche Feinde hatte und der Anschlag nur ihm gegolten hat? Wer sagt uns, dass ein zweiter Anschlag folgen wird? Wir sollten sein Umfeld und die Jägerschaft unter die Lupe nehmen, vielleicht haben wir es ja wirklich nur mit einem gezielten Anschlag zu tun. Wir sollten daher seinen Freund und Jagdkollegen Bruno Sugula näher befragen, vielleicht gab es in der Vergangenheit irgendwelche Hinweise auf mögliche Feindschaften, sei es im Bereich der Jagdausübung oder eben rein persönlicher Natur.«

Schönbohm ergriff das Wort: »Ja Frau Vizthum, diese möglichen Ansatzpunkte sollte in jedem Fall in die Ermittlungen mit einfließen, das übliche Prozedere gehört ja mit dazu. Aber was mich vor allem irritiert, ist die Tatsache, dass man das Opfer mit diesem letzten Bissen drapiert hat. Das lässt meines Erachtens schon darauf schließen, dass sich der Täter mit der Thematik Jagd zumindest auseinandergesetzt hat.«

Schorsch entgegnete: »Natürlich sind solche Zeichen Hinweise darauf, Herr Schönbohm, aber Frau Vizthum hat hier gar nicht so unrecht. Eine Abklärung seines persönlichen Umfelds und im jagdlichen Bereich scheint in jedem Fall sinnvoll. Schon möglich, dass wir mit den Spuren nur auf eine falsche Fährte gelockt werden sollen und es tatsächlich um etwas ganz anderes geht. Vielleicht gab es aber trotzdem in der Vergangenheit irgendwelche Zwischenfälle in deren Revier. Einen Wilderer oder einen fanatischen Tier- und Umweltaktivisten, einen Jägerhasser sozusagen, der auch nicht vor einem Mord zurückschreckt.« Schorsch blickte fragend in die Runde.

Robert Schenk, der in der hintersten Reihe Platz genommen hatte, erwiderte: »Ja Schorsch, an so etwas mache auch ich meinen ersten Verdacht fest. Trotzdem ist Gundas Einwand, ob es sich nicht nur um einen Einzelfall handeln könnte, nicht von der Hand zu weisen. Gottliebs Umfeld ist also ein wichtiger Ansatz, zumal ja andere Jagdeinrichtungen in deren Revier ebenso manipuliert wurden. Vielleicht hatte es jemand tatsächlich nur auf Joseph Gottlieb abgesehen und um sicher zu gehen, hat er alle Kanzeln, die er in seinem Revier nutzen könnte, sabotiert«, schloss Robert.

Hier schaltete sich Horst ein: »Gut, dann setzen wir bei dem Kollegen Sugula und bei der Witwe an. Ich kenne beide flüchtig und wäre daher gerne bei der Befragung dabei.« Sein Blick galt Schorsch, der ihm nickend zustimmte.

»Also dann fahren wir ins Nürnberger Land«, übernahm Bachmeyer die Aufgabenverteilung. »Hubsi und Eva-Maria, ihr klärt mal ab, ob es in den vergangenen sechs Monaten gleich gelagerte Fälle in Bayern gab, wo irgendwelche Aktivisten Anschläge im jagdlichen Bereich verübt haben. Also Unfälle mit und ohne Todesfolgen. Und Günther übernimmt wie immer die Abklärung der Einloggdaten aller Handys an den dort befindlichen Funkmasten zur möglichen Tatzeit. Also wann hat sich Gottliebs Mobiltelefon dort zuletzt mit welchen anderen fraglichen Handys eingeloggt. Und Günther, wenn du schon dabei bist, wäre ein zweistündiges Bewegungsbild vor Gottlieb Tod anhand der Daten seines Mobiltelefons gar nicht verkehrt. Vielleicht hat er jemanden vorher getroffen oder unser Täter hat ihm aufgelauert. Vielleicht hat sich unser Täter sogar vor ihm in den besagten Funkmasten eingeloggt und unmittelbar nach seinem Tod wieder ausgeloggt. Wer weiß? Deshalb geh bitte alle möglichen Varianten an Registrierungen bei den Funkmasten durch. Also pack mers!«, schloss Schorsch die Besprechung.

Mittwoch, 2. Mai 2018, 11.09 Uhr,
Friedrich-Luber-Str. 72, 90592 Schwarzenbruck

Es war kurz nach elf Uhr, als Horst und Schorsch bei Frau Gottlieb eintrafen. Vor dem Anwesen stand ein schwarzer Mercedes mit der Aufschrift:

Moschewski Bestattungen aller Art
– auch dein letzter Weg führt zu uns –

»Edzerdla kommen wir vermutlich ein wenig unpassend, oder was meinst Du?« Schorschs Blick galt Horst, der gerade versuchte, ihren Dienstwagen einzuparken.

»Freilich, edzerdla, weil du des sagst, vielleicht sollten wir lieber zuerst diesen Sugula aufsuchen«, entgegnete Horst.

»Des wird schwierig werden, denn der parkt genau vor uns. Der ist bei der Witwe«, bemerkte Schorsch trocken.

»Also, was machen wir?« Horst streichelte sich nachdenklich über seinen Seehundbart, den er schon seit dreißig Jahren trug, und blickte auf seine Armbanduhr. »Dann ziehen wir halt unser Mittagessen vor. Wohin gehen wir?«

»Wohin wohl, zu Leos Cousin! Wenn wir schon im Nürnberger Land sind, dann sollten wir Angelo in Wendelstein einen Besuch abstatten.« Schorsch griff nach seinem Mobiltelefon und googelte nach der Adresse. »Hier, in der Schwander Straße 10, das Cucina Italiana. Angelo öffnet um halb zwölf Uhr.«

Sein Kollege war begeistert: »Super Idee, Schorsch, also lass uns beim Angelo einparken.«

Angelo Gullo, der Cousin von Leonardo Pinneci, kurz Leo, der bis 2017 sein Restaurant am Jakobsmarkt in Nürnberg unterhielt, hatte sich im Ortsteil Sorg zum Edelitaliener gemausert. Seine hervorragende Küche war über die Grenzen des Landkreises Roth bekannt. Schorsch kannte Angelo und Leo seit seiner Jugend. Damals waren alle drei im selben Vespa-Club gewesen und hatten an den Wochenenden gemeinsam an ihren Mopeds herumgeschraubt. Angelo war ein sehr guter Freund und Vertrauter von Schorsch. Der Kalabrese war zugleich ein wichtiger Informant für seine Ermittlungen. Er kannte viele dubiose Größen aus dem fränkischen Umland.

Für Schorsch und seine Lebensgefährtin Rosanne war Angelo einer der besten Edelitaliener schlechthin, denn das ehemalige Ristorante seines Cousins Leo gab es leider nicht mehr. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 2017 kam alles anders als erwartet, der blanke Horror. Es war kurz nach vier Uhr nachts, als im Keller und im Erdgeschoss seines Restaurants am Jakobsplatz Feuer ausbrach. Die Feuerwehr war zwar schnell zur Stelle und hatte das Feuer in kurzer Zeit unter Kontrolle, aber es war nichts mehr zu retten. Das Ristorante brannte vollständig aus. Die Stadt Nürnberg verschärfte daraufhin die bestehenden Feuerschutzrichtlinien, die Auflagen in der Nürnberger Altstadt waren nun zu streng. Und auch gesundheitlich hatte der Brand Leonardo Pinneci sehr mitgenommen. Leo erlitt einen Herzanfall. Nach einer Reha im März 2018 entschied er sich zu »back to the roots« und setzte sich in seinem Heimatdomizil in Sizilien zur Ruhe.

Mittwoch, 2. Mai 2018, 11.53 Uhr, Ristorante Cucina Italiana,
Schwander Str. 10,
90530 Wendelstein

Kurz vor zwölf erreichten sie das Ristorante Waldschänke in der Schwander Straße. Sie parkten den Wagen vor der Tür und traten ein. Im Hintergrund lief Toto Cutugno mit L’Italiano, ein Lied aus dem Jahr 1983, das sich neun Wochen in den Charts hielt und es auf Platz 36 brachte. Einmalig. In Schorsch wurden Erinnerungen wach. Erinnerungen an den Sommer 1984. Es war Schorschs Sturm-und-Drang-Zeit. Eine Zeit mit Höhen und Tiefen, wobei die Höhen überwogen.

Juli 84, es war das Jahr, in dem Angelos Tante Alessandra ihren Bruder Guiseppe, Angelos Vater, besuchte. Die zierliche Alessandra war Ende dreißig und strahlte etwas aus, was Männer anzog. Sie hatte langes dunkelbraunes Haar, ihre smaragdgrünen Augen hoben sich eindrucksvoll von ihrem dunklen, südländischen Teint ab. Alessandra verstand es, ihre Figur, ihre gesamte Erscheinung gekonnt zur Schau zu stellen. Sie war modebewusst, stilsicher und wusste genau, worauf es bei Männern ankam. Leder war unübersehbar ihre Leidenschaft und sie verstand es bravourös, ihren perfekt geformten Hintern, die atemberaubende Taille und ihre beachtliche Oberweite in Szene zu setzen. Es war die Zeit, in der sich die Szene Nürnbergs im Tanzpalast, Charlie M und im Ofenrohr präsentierte. So auch Alessandra. Angelo stellte sie Schorsch damals zu später Stunde im Tanzpalast vor. Sie tanzten, lachten, der Alkohol floss und ehe sich die beiden versahen, war es drei Uhr.

Schorsch war mit seinen knapp zwanzig Lenzen fasziniert von dieser Frau. Sie strahlte etwas aus, was er vorher noch nicht erlebt hatte. War es ihr Alter, also ihre sexuelle Erfahrung, die sie als Frau mitbrachte, was Schorsch ganz kribbelig werden ließ? Oder waren es ihre traumhaften Maße, der Charme, den sie versprühte? Oder war es das Lied L’Italiano von Toto Cutugno? Es war wohl alles in einem, die besondere Stimmung dieser berauschenden Nacht in Gesellschaft dieser imponierenden Frau, und bevor sich der junge Polizeianwärter versah, lag er eine halbe Stunde später bei ihr auf der Couch.

Die ersten Vögel hatten schon zu zwitschern begonnen und Schorsch wollte Alessandra natürlich nur vor ihrer Wohnung absetzen, als sie ihn fragte: »Nah mein Lieber, der neue Tag beginnt, kommst du noch auf einen Kaffee mit hoch?« Er konnte – und wollte – damals nicht Nein sagen, offenbar hatte es diese reife Frau auf ihn abgesehen.

Alessandra bewohnte eine große Zweizimmerwohnung in der Nordstadt, nicht weit von Schorschs Wohnung in der Pilotystraße entfernt. Ihre Einrichtung war geschmackvoll im italienischen Flair gehalten. Es war ein Spagat zwischen Antike und Moderne. Es war der Charme der »Dolce Vita«, der hier in ihren eigenen vier Wänden mit filigraner Designsprache herrschte. Es war eine einladende, luftige Wohnung mit sandigen Farben, bunten Kissen und mediterranen Pflanzen. Vom Wohnzimmer hatte man einen Blick in ihr Schlafzimmer, dessen Zimmerdecke, ebenso wie im Wohnzimmer, von einer großen Glaskuppel durchbrochen wurde. Die letzten Sterne und der Mond tauchten gemeinsam mit dem anbrechenden Tag ihre Wohnungseinrichtung in einen mystischen Schein. Schorsch war beeindruckt, solch eine architektonische Leistung und Vielfalt hatte er bisher noch nicht oft gesehen.

»Na mein Lieber, stoßen wir nochmal auf den schönen Abend an. Ein Cinzano auf Eis und ein Glas Schampus sind jetzt, für diesen Moment, genau das Richtige …

Comunque, al tuo secondo giorno, amico«

…, sagte sie leise, als sie das Getränketablett auf dem Tisch abstellte und der versprochene Filterkaffee in weite Ferne rückte.

Alessandras Augen funkelten im Kerzenschein ihrer Wohnung, sie genoss seinen Anblick. Schorsch war gefesselt von ihrem Auftreten, von ihrer Leichtigkeit im Umgang mit ihm, dem kaum Erwachsenen. Es kam ihm vor, als ob Angelos Tante ein Spiel mit ihn plante. Seine Neugier wuchs förmlich und das war nicht das Einzige. Es regte sich etwas. Er verspürte Lust und Begierde. Seine mangelnde Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht verunsicherte ihn, gleichzeitig war er gespannt auf das Hier und Jetzt. Jeder Schritt von Alessandra in diesem Spiel, das sie im Gegensatz zu Schorsch nach allen Regeln der Kunst beherrschte, reizte ihn.

Angelos Tante wiederum ließ sich durch seine Unschuld inspirieren, eine spezielle Rolle in einer für sie vorhersehbaren Sexsession zu übernehmen. Kurzerhand verschwand sie hinter einer Trennwand im Schlafzimmer, um wenige Minuten später zum Klang italienischer Schmusesongs nur mit einer schwarzen Lederkorsage, schwarzen Nahtstrümpfen und High Heels bekleidet vor Schorsch zu stehen. Offenbar war sie eine leidenschaftliche Rollenspielerin. Sie kniete sich nieder, öffnete seine Hose und entkleidete ihn genüsslich, bis er splitterfasernackt war. Dann nahm sie ihn wie ein Kind an der Hand und führte ihn ins Schlafzimmer. Ihr goldenes Metallbett war mittig im Raum platziert, ringsherum hatte Alessandra in einem Abstand von einem Meter rote Stumpenkerzen aufgestellt, die nun den Raum zusammen mit der schwindenden Nacht und dem anbrechenden Morgen stimmungsvoll illuminierten. Sie führte ihn zum Bett und schob ihn sanft bestimmend so hinein, dass Schorsch ausgestreckt auf dem Rücken auf dem Bett lag. Gekonnt stieg sie über ihn. Schorsch wollte seine Erektion zügeln. Aber egal, an welche abtörnenden Sachen er pflichtschuldig dachte, er ragte in die Höhe.

Alessandra griff über Schorsch und holte an der Stirnseite der Matratze mit den Worten: »Entspanne dich mein Lieber, vertrau mir«, ein bereits gefaltetes schwarzes Seidentuch hervor. Mit sanfter Stimme, »Du wirst diese Nacht nicht mehr aus deinem Gedächtnis verbannen können«, verband sie damit seine Augen, griff unter ein Kissen, holte zwei Erotik-Handschellen hervor und fixierte Schorschs Hände an ihrem Metallbett. Schorschs Aktionsmöglichkeiten waren damit plötzlich begrenzt, seine sinnlichen Wahrnehmungen stellten sich unwillkürlich auf die ungewohnte Einschränkung ein und verstärkten den Empfang der verbliebenen Sinneskanäle. Genau das wollte Alessandra erreichen. Gekonnt zog die Italienerin alle Register ihrer sexuellen Fantasien. So wurde aus der nach außen ehrbaren, netten und zuvorkommenden Mitdreißigerin hier – in dieser intimen Situation – eine verruchte Liebesgöttin. Ungezwungen entpuppte sich die scheinbar zurückhaltende Alessandra in dieser Nacht zu einer dezenten, aber bestimmenden Verbalerotikerin. Es gehörte nicht nur zu ihrem Repertoire, Schorschs Ohren mit ihrer Zunge zu stimulieren, Schorsch erlebte eine unanständige MILF, die es auskostete, einen willigen Jüngling vor sich zu haben. In lässiger Dirty-Talk-Manier und unter gezieltem Einsatz nicht nur ihrer flinken Zunge entdeckte sie Stellen an Schorschs Körper, die ihn nahezu zum Explodieren brachten. So etwas hatte Schorsch, bis zu dieser Zeit im Zwielicht am frühen Morgen, noch nicht einmal in seinen Fantasien erlebt. Einen Liebesakt mit einer erfahrenen Frau, die es verstand, ihr gefesseltes Gegenüber nicht nur mit ihrem Mund zu verwöhnen. Sie beherrschte ihn regelrecht. Sie verstand es, mit ihrem Lustsklaven all das zu tun, was jedem Mann Spaß bereitete. Ein Happy End bei Schorsch herbeizuführen, das er niemals vergessen würde. Es war genau der Moment der Welle voller Glückseligkeit, als Alessandra eine Stumpenkerze nahm und das heiße Wachs über Schorschs Brust und Bauchregion ergoss.

Kurz darauf lag er glückselig erschöpft, aber wieder vollkommen Herr seiner Sinne neben ihr. Angelos Tante lächelte und hielt ihm eine gefüllte Champagnerflöte entgegen. »Prost, mein Lieber, ich konnte nicht widerstehen. Du warst einfach zu verlockend.«

Angelo, der gerade an einem Tisch einem Ehepaar sein aktuelles Tagesangebot mit einer großen Schiefertafel präsentierte, wies sie auf einen freien Tisch hin und holte Schorsch damit abrupt in die Gegenwart zurück. Er trug eine graue Kochschürze und wie immer seine Entenschnabelmütze à la Gatsby, die ihm eine gewisse Einmaligkeit verlieh. Kurze Zeit später stand er vor den beiden Kommissaren und begrüßte sie: »Ciao, Schorsch, wie gehts dir? Was macht Rosanne? Servus, Horst, lange nicht gesehen!« Bei Angelo ging es nicht ohne Umarmung, also standen beide noch einmal auf. »Schön, dass ihr mich besuchen kommt, was treibt euch beide ins fränkische Umland?«

»Wir sind gerade dabei, ein Kapitalverbrechen aufzuklären und wollten dazu zwei Leute befragen. Aber es ist ja jetzt Mittagszeit und zudem haben wir vor dem Anwesen des Opfers das Fahrzeug des Bestatters gesehen, die besprechen vermutlich gerade die Trauerfeierlichkeiten. Da wollten wir nicht stören, stattdessen lassen wir uns lieber von dir und deiner Küche verwöhnen. Schön hast du es hier.« Schorsch betrachtete aufmerksam die Theke und das neue Interieur.

Die hellen holzgetäfelten Wände waren geschmackvoll mit Schwarzweißbildern von verschiedenen italienischen Musikern und Schauspielern dekoriert. Sie vermittelten den Gästen ein Italien im Flair der Sechzigerjahre. Angelos Küche war vorzüglich und hatte sich hier im Umland von Nürnberg und Roth prächtig entwickelt. Viele seiner Stammgäste schätzten die außergewöhnliche Küche, seine Speisekarte und die Kreidetafel boten Spezialitäten, die man kaum sonst fand. Egal ob Vor-, Haupt- oder Nachspeise, Angelo genoss es, seine Gäste zu verwöhnen.

»Was kann ich euch bringen?«

»Was kannst du uns heute zu Mittag empfehlen?«, wollte Horst wissen. Er wusste genau, auf Angelos Rat war Verlass.

»Naja, wenn ihr großen Hunger habt, dann würde ich euch beiden als Vorspeise ein Carpaccio vom Tintenfisch empfehlen, das ist reichlich und reicht für zwei Personen. Als Hauptspeise unbedingt meine Calamaretti mit dünnen Knoblauch-Spaghettini und zum Schluss meine Birnensäckchen aus Nudelteig.« Angelo betrachtete seine beiden Gäste, zog dabei seine buschigen Augenbrauen in die Höhe, hob seine rechte Hand, bildete mit seinem Daumen und Zeigefinger einen Kreis und fügte hinzu: »Picobello.«

Mittwoch, 2. Mai 2018, 13.36 Uhr,
Friedrich-Luber-Str. 72, 90592 Schwarzenbruck

Es war kurz nach dreizehn Uhr dreißig, als sie in der Friedrich-Luber-Straße in Schwarzenbruck eintrafen. Das Fahrzeug des Bestattungsinstituts war verschwunden, ledig der Geländewagen von Bruno Sugula parkte neben der Hofeinfahrt. Die Gottliebs besaßen einen kleinen Bungalow aus den Siebzigerjahren. Das Grundstück war kaum einsehbar, da es mit verschiedenen Nadelgehölzen umgeben war. In der Mitte hatte Sepp Gottlieb einen Gartenteich angelegt. Schorsch und Horst öffneten das Gartentürchen und betraten das Grundstück. Traudl Gottlieb saß mit Bruno Sugula auf der angrenzenden Terrasse, beide durchblätterten Aktenordner. Augenscheinlich waren sie so in deren Durchsicht vertieft, dass sie die herannahenden Kommissare nicht bemerkten.

Sichtlich erschrocken zuckten beide zusammen, als Schorsch mit einem »Grüß Gott« die unterste Terrassenstufe betrat.

»Mensch Meier, haben Sie uns jetzt erschreckt«, entgegnete Traudl Gottlieb, die schlagartig ihren Leitzorder schloss, ihren Stuhl nach hinten schob und auf die beiden Kommissare zulief. Sie streckte Schorsch ihre rechte Hand entgegen, ihre linke Hand hielt sie dabei noch sichtlich erschrocken unter ihrem Herzen fixiert.

»Kommen wir gerade ungelegen?«, bemerkte Horst, der aus seinem linken Augenwinkel Schorsch betrachtete.

»Nein, nein überhaupt nicht«, warf Bruno Sugula ein, der ebenso jäh seinen Leitzorder zuklappte, diesen ruckartig auf dem Gartentisch ablegte und sich sichtlich überrascht aus dem Gartenstuhl erhob, um sich den beiden Ermittlern zuzuwenden. Offenkundig verlegen fügte er hinzu: »Wir sind gerade dabei, ein paar Akten von Sepp durchzusehen, vielleicht finden wir was.«

»Und was wollen Sie finden?«, fragte Horst.

»Äh, naja, vielleicht irgendwelche Hinweise auf … Hinweise halt«, stammelte Traudl Gottlieb.

»Gab es denn irgendwelche Hinweise auf ein Verbrechen oder Ungereimtheiten?«, erkundigte sich Schorsch.

Zögerlich kam Traudls Antwort: »Hmhm, der Sepp hatte vor kurzer Zeit einen Z-Promi auf einer seiner Wildkameras. Es war eine äußerst pikante Situation, die eine der Kameras festgehalten hat, und vielleicht hat er ja noch Hinweise hierzu in seinen Akten vermerkt.«

»Was wissen Sie über diese pikante Situation denn?« bohrte Horst, der seine Lippen zusammenpresste und seinen Blick wechselseitig auf die Witwe und Bruno Sugula richtete, nach.

»Ja, wie soll man das näher beschreiben?«, begann Sugula verdruckst. »Wir, also unsere Jagdgemeinschaft, unterhalten im Revier mehrere Wildkameras. Diese werden meist an Kirrungen, das sind angelegte Lockfütterungen mit Mais, Getreide oder anderen pflanzlichen Stoffen, platziert, um exakt festzustellen, wann z. B. Schwarzwild dort auftaucht und wie lange es dort verweilt, also Nahrung zu sich nimmt. Bei einer dieser Kirrungen, sie liegt unweit der Stelle, wo man Sepp tot aufgefunden hat, wurde ein Pärchen in einer eindeutigen Situation gefilmt.«

»Im Klartext beim Poppen«, schob Traudl Gottlieb ein.

Bruno Sugula fuhr fort: »Jeder von unserer Jägerschaft hat natürlich diese Videosequenzen mit dem besagten Z-Promi und seiner Geliebten gesehen.«

»Warum hat er jedem das Video gezeigt und wurde der Aufgenommene darüber informiert?«, fragte Schorsch.

»Sepp musste das Filmchen nicht einzeln zeigen, jeder von unserer Jägerschaft bekommt per E-Mail die aufgezeichneten Videosequenzen. Also wenn sich etwas in diesem Überwachungsabschnitt bewegt, löst die Falle aus und jeder von uns bekommt das Bewegungsbild direkt auf sein Smartphone gepusht.« Bruno Sugula zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, tippte und wischte und hielt kurze Zeit später Schorsch und Horst das besagte Video vor die Nase. »Kennen Sie den? Einer von unseren ›Bunten‹, der seit Jahren jeden Jäger an den Pranger stellt, jedoch offensichtlich den Wald für gewisse Neigungen aufsucht«, schloss Sugula mit einer süffisanten Mimik.

»Das ist doch dieser Landtagsabgeordnete, na, wie heißt der gleich wieder …« Horsts Blick galt Schorsch, der mit gespannter Miene das Video betrachtete.

»Bert Reither oder auch der schöne Berti genannt«, schmunzelte Schorsch, hob den Kopf und blickte zu Sugula.

»Genau, der schöne Berti«, bestätigte der Jäger und drehte seinen Kopf in Richtung Traudl Gottlieb.

Mit leichter Empörung in der Stimme erläuterte die Witwe den beiden Kommissaren: »Seit Jahren engagiert sich Reither bei der Tierrechtsorganisation Bayerischer Tierrechts Verein (BTRV). Da sind teilweise richtige Tierrechtsfanatiker dabei, also Aktivisten, die auch nicht vor Gewalt zurückschrecken.«

»Das müssen Sie uns jetzt schon näher erklären, jeder Hinweis hierbei ist wichtig«, hakte Schorsch nach.

»Gut, dann fange ich mal an. Aber vielleicht sollten wir uns dazu setzen«, bemerkte Sugula und zeigte auf Stühle für Schorsch und Horst. »Es war im vergangenen Winter, unsere Drückjagd war vorbei und wir saßen alle beim Schüsseltreiben, also beim gemeinsamen Essen der Jäger und Treiber, als sich uns eine Gruppe von Leuten näherte, die Schweine- und Hasenköpfe aus Plüsch über den Kopf gezogen hatten und Plakate mit blutigen Tieren hoch hielten und sich grölend mit den Worten: ›Jäger sind ehrlose Mörder!‹, vor uns positionierten. Natürlich war alles generalstabsmäßig und medientechnisch perfekt verwertbar organisiert. Dazu brachten sie ein Fernsehteam und einen Professor der Biologie mit. Letzterer bestätigte natürlich in einem Interview vor Ort, dass es ein Skandal sei, wenn Hobbyjäger ihren grausamen Blutsport an wildlebenden Tieren umsetzen dürften. Jede Jagd sei überflüssig, denn die Natur regele sich von selbst. Unter Anleitung des schönen Bertis filmte das Team das erlegte und bereits aufgebrochene Wild. Es war in der Tat kein schöner Anblick, sie hatten genau das Bildmaterial gefunden, um uns Jäger in der Öffentlichkeit zu diskreditieren, denn in den Medien finden jagdkritische Positionen unverhältnismäßig große Resonanz und genau dieses Ziel verfolgten sie.« Sugula nickte mit nachdenklich-grimmiger Miene zu Schorsch und Horst.

»Und fünf Monate später trifft man den schönen Berti wieder an, diesmal ohne Filmteam, aber in eindeutigen Posen mit einem sehr jungen Mädchen. Ich würde mal sagen, die ist noch keine sechzehn Jahre alt«, bemerkte Traudl Gottlieb sichtlich angewidert.

»Ja, und genau das ist es ja«, bestätigte Sugula und fuhr fort: »Einige unserer Jagdkollegen haben natürlich sofort die Gelegenheit zur Revanche gewittert, dem schönen Berti eins auszuwischen. Reither ist doch seit Jahren mit der Unternehmerstochter Katja Bassin-Reither, von Bassin & Partner, verheiratet. Dieser Gesichtskrapfen ist bestimmt zwanzig Jahre älter als ihr schöner Berti. Und das hier, das ist definitiv nicht seine Frau. Dieses Mädchen ist meines Erachtens viel jünger, das hat noch kindliche Züge«, Sugula schüttelte offenkundig geschockt seinen Kopf und ergänzte: »Meines Erachtens ist das Mädchen minderjährig, dann sind wir ohne Umschweife beim sexuellen Missbrauch angelangt.«

»Aber mit dem Alter von Kindern nehmen es die Bunten nicht so genau, das ist Fakt und seit Jahren hinlänglich bekannt«, warf Traudl Gottlieb ein. »Das ging doch in den Achtzigern durch die Presse und war 2013 noch einmal öffentliches Thema. Das kann man überall im Internet nachlesen.«

»Kurzum, wir, also Sepp und ich, haben das brisante Filmmaterial vor drei Wochen der regionalen Presse zukommen lassen«, setzte Sugula zu weiteren Erklärungen an. »Mit dem Hinweis: ›Im Wald und auf der Heidi – unser Landtagsabgeordneter Bert Reither auf der Jagd nach jungem, sehr jungem Fleisch.‹ Reaktionen gab es bis dato noch nicht. Entweder hat man das unter den Tisch gekehrt oder man will partout verhindern, dass diese pikante Geschichte eines Bunten-Politikers an die Öffentlichkeit kommt. Am 14. Oktober stehen die Landtagswahlen an und die Bunten spielen, weil sie in fast allen Bundesländern das für die Jagd zuständige Ressort besetzen, eine jagdpolitische Schlüsselrolle. Denn unter den Jägern ist man sich nicht mehr sicher, ob man den Bunten und den ihr nahestehenden Naturschutzverbänden überhaupt noch trauen kann. Stimmen werden laut, die Jagd Schritt für Schritt abzuschaffen«, schloss Sugula.

»Das ist ja interessant. An wen genau haben Sie das Filmchen mit Herrn Reither denn geschickt?«, fragte Horst.

»Wir haben es Mitte April dem Chefredakteur vom Nürnberger Express zugeleitet«, kam die Antwort von Sugula.

»Rolf Müller, unter Kollegen auch als rasender Rolf bekannt«, schmunzelte Schorsch. »Der wittert eigentlich hinter jeder spannenden Kriminal- oder Sexgeschichte das ganz große Kino. Unter dem Motto ›Sex & Crime für Rolfi allein‹. Mich wundert es daher auch, dass der Schmierfink darüber noch nicht berichtet hat. Und wer genau ist ›Wir‹? Wer von Ihnen hat Müller und in welcher Form und unter welchem Namen das Filmchen zukommen lassen?« Schorschs fragender Blick richtete sich an Sugula und an Traudl Gottlieb.

»Jeder von uns hatte das Video, aber der Sepp hat ihm die Videosequenz per E-Mail geschickt. Und natürlich alle Jagdkollegen bei dieser Mail ins CC gesetzt. Warum Müller bis heute noch nichts darüber berichtet hat, ist uns allen schleierhaft. Wir haben eigentlich täglich damit gerechnet, dass die Presse darüber berichtet. Vergebens«, berichtete Traudl Gottlieb.

»Wir sollten also Müller unbedingt mal einen Hausbesuch abstatten«, Schorsch griff sich an sein Kinn, zupfte nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger daran und insistierte: »Aber um noch einmal auf ihren Mann zurückzukommen, hatte er irgendwelche Feinde, sei es in der Jägerschaft, privat oder beruflich?«

Schweigend und mit starrem Blick sah Traudl Gottlieb auf einen der zugeklappten Leitzorder. Es war so, als ob sie Schorschs Frage nicht verstanden hätte. Als dieser sie kurz darauf wiederholte, schaute sie Hilfe suchend zu Bruno Sugula.

»Ich glaube, die ganze Sache nimmt Traudl sehr mit. Sepp ist noch nicht begraben und Traudl wird mit Tausenden von Fragen konfrontiert. Es ist vielleicht gescheiter, nach der Trauerfeier die Befragung fortzusetzten. Wir haben bis dahin jede Menge vorzubereiten und sehen das jetzt irgendwie als Behinderung an. Können wir nicht nächste Woche weitermachen?«, versuchte Sugula die Sache zu beenden.

»Können wir, aber noch abschließend eine Frage. Können Sie es mit Gewissheit ausschließen, dass er keine Feinde in der Jägerschaft hatte?«, fragte Horst.

»Nein, diese Antwort habe ich Ihnen doch schon mehrmals gegeben. Es gab darüber keinerlei Hinweise. Sepp war unter Kollegen immer gern gesehen. Er war beliebt«, fügte Sugula abschließend hinzu.

4. Kapitel

Donnerstag, 3. Mai 2018, 22.11 Uhr,
Mittlere Kanalstraße 17c, 90429 Nürnberg

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als die beiden Wissenschaftler ihre gut sechshundert Kilometer von Brüssel nach Nürnberg hinter sich gebracht hatten und ihren Leihwagen am Airport Nürnberg zurückgaben. Von hier aus war es mit dem Taxi nur ein Katzensprung bis Gostenhof. Dieser Ortsteil, der lange Zeit als Nürnberger Bronx oder Glasscherbenviertel verschrien war, wurde überwiegend von ärmeren und ausländischen Familien bewohnt. Im Gostenhofer Kerngebiet sowie in der Bärenschanze betrug der Ausländeranteil nahezu fünfzig Prozent und setzte sich aus Angehörigen von über vierzig Nationen zusammen. Hier fiel man als Fremder nicht auf und die angemietete Wohnung unter der Hausnummer 17c diente primär nicht für Zwecke der wohnlichen Unterkunft. Diese Zweieinhalbzimmerwohnung im Hinterhaus eines alten Sandsteingebäudes aus der Gründerzeit diente Angehörigen des Islamischen Staats dazu, sich auf terroristische Aktionen vorzubereiten. Hier befand sich eine Sende- und Empfangsanlage, ausgestattet mit einem schnellen WLAN-Anschluss und zwei Laptops, auf denen VPN-Wechsler installiert waren, welche die offiziell zugewiesenen IP-Adressen online anonymisierten. Dadurch war garantiert, dass weder ihrem Internet-Service-Provider noch Cyber-Crime-Hackern – sei es von privater Natur oder aber von polizei- oder geheimdienstlicher Ebene – ihre Online-Aktivitäten bekannt wurden. Sie hatten alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, Kontaktaufnahmen mit Kalif Ibrahim sollten daher nur über diesen anonymisierten Anschluss erfolgen. Herkömmliche Internet-Cafés etwa waren für eine direkte Kommunikation mit ihrem Auftraggeber tabu, da bei diesen öffentlichen Internetzugängen seitens der Bundesnetzagentur kein VPN-Wechsler aktiviert werden konnte. Hakim Bin Shaheen, der jüngere der beiden Biologen, aktivierte das E-Mail-Programm und setzte folgende Nachricht ab:

»Wir sind angekommen. Es lief alles wie am Schnürchen, schon am Wochenende werden wir das Ergebnis präsentieren können. Gott ist groß und allmächtig.«

Kurz nach elf Uhr nachts verließen sie das Anwesen und starteten einen grünen Toyota mit Erlanger Kennzeichen, um kurze Zeit später auf die A 73 Richtung Fürth zu fahren.

Freitag, 4. Mai 2018, 06.55 Uhr,
Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Biochemie,
Fahrstraße 17, 91054 Erlangen

Es war kurz vor sieben Uhr, als Zahid Abu Takir und Hakim Bin Shaheen den Gebetsraum im Keller der Friedrich-Alexander-Universität verließen und sich in die Zeiterfassung des Instituts für Biochemie einloggten. Abu Takir und Bin Shaheen waren mit zwei unterschiedlichen wissenschaftlichen Studien beschäftigt. Zahid, der ältere der beiden, war Wissenschaftler im Bereich Biochemie und Molekularbiologie mit Schwerpunkt Mikrobiologie, Immunologie und Virologie. Seit drei Jahren lag der Schwerpunkt seiner Forschungsarbeiten im Wesentlichen im Bereich der medizinischen Mikrobiologie. Neben der Behandlung und Prävention von Virusinfektionen arbeitete Abu Takir vor allem an der Erforschung spezifischer Eigenschaften einzelner Virenstämme, insbesondere den Bedingungen der Pathogenese und Reproduktion, also der Verbreitung und Vermehrung der Mikroben. Seine wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung der Doktorwürde an der University of Chicago bezog diese Forschungsschwerpunkte auf den Bereich der Filoviridae, einer Virusfamilie, zu der meist fadenförmige, behüllte Einzel-Strang-RNA-Viren gehören wie auch der Ebola-Virus.

Sein Kollege Hakim Bin Shaheen dagegen war auf Grundlage seines Fachgebiets der molekularen Biomedizin spezialisiert auf die wissenschaftliche Disziplin der Epidemiologie, womit er in ihrem Zweierteam der Experte für Ursprungsbedingungen, Verbreitung und Auswirkungen von Erkrankungen war. In diesem Zusammenhang gehörte Shaheen an der New Yorker Columbia University einem interdisziplinären wissenschaftlichen Konsortium an, das den Ursprung der zentralafrikanischen Ebola-Epidemie genauer untersuchte. Beide Wissenschaftler waren daher mit den Anforderungen und Risiken im Umgang mit Erregern der Ordnung Mononegavirales bestens vertraut.

Kurz nach neun Uhr vormittags, viele der deutschen Kollegen und Kolleginnen waren in der Brotzeitpause, analysierte Abu Takir unter Schutzvorkehrungen eine Gewebeprobe der verstorbenen männlichen Person aus der Provinz Beni unter dem Elektronenmikroskop. Langsam hob er seinen Kopf vom Okular ab, seine rechte Hand umklammerte dabei weiterhin den Einstellknopf des Rastermikroskops. Blitzschnell senkte er seinen Kopf wieder, um das vorher Gesehene nochmals zu überprüfen. Dann richtete er sich auf, sein Blick wanderte zu Hakim, der gespannt neben ihm stand und Zahid mit gestochen scharfem Blick erwartungsvoll beobachtete. Dieser blinzelte, zog seine Augen zusammen und flüsterte seinem Gegenüber zu: »Der Strang, der fadenförmige, behüllte Einzelstrang bewegt sich, sieh Bruder. Allahu Akbar, er ist allgegenwärtig.«

Seit Wochen hatten die beiden Wissenschaftler ein befristetes Forschungsprojekt laufen, dessen Ziel es war, neue Erkenntnisse zu einem besonders aktuellen Thema der Forschung zu bekommen. Das Projekt beschäftigte sich jedoch nicht mit Marburg- oder Ebola-Viren. Ihr Forschungsauftrag sah vor, die Familie der Rhabdoviridae weiter zu erforschen, unter deren Vertretern das Rabies-Virus als Verursacher der Tollwut am bekanntesten ist.

Und genau hier konnten die beiden Wissenschaftler den bereits genehmigten Forschungsauftrag

6*19Q_Beni

für ihre Zwecke verfälschen. Hier konnten sie ihr Projekt nämlich in den Bereich der weiteren Erforschung des Mokola-Virus ausdehnen.

Bisher waren in Nigeria zwar nur zwei Fälle einer akuten Infektion durch das Mokola-Virus bekannt, das wiederum dieselben Symptome wie bei einer Tollwutinfektion aufwies. Die Betroffenen litten unter Lähmungen ihrer Extremitäten, außerdem stellte sich eine Enzephalitis, also eine Entzündung des Gehirns ein. Sie verstarben wenige Tage, nachdem sie ins Koma gefallen waren.3 Das wissenschaftliche Interesse, die bisher noch recht umfassenden Kenntnislücken über Wirtsspektrum sowie mögliche epidemiologische Auswirkungen auf den Menschen zu schließen, war aufgrund der Nähe von Mokola- und Rabies-Virus groß. Wie der Tollwuterreger ebenfalls ein Rhabdovirus aus der Untergruppe der Lyssa-Viren und wie die Filoviridea Ebola und Marburg ein Angehöriger der Mononegavirales, waren die Abweichungen im wissenschaftlichen Umgang klein genug, dass das Geheimprojekt nicht auffallen würde.

Ihr gefakter Forschungsauftrag, dessen Fördergelder von öffentlicher und industrieller Hand zur Verfügung gestellt wurden, gab vor, bei der weiteren Erforschung des Mokola-Virus eine Forschungsreihe mit fünf Primaten durchzuführen. Und da es bisher noch keinen Impfstoff gegen dieses Virus gab, waren diese Versuchstiere die beste Tarnung dafür, hier einen Zwischenwirt für das Ebola-Virus zu finden. Von den fünf zur Verfügung stehenden Berberaffen sollten zwei Primaten mit RNA-Viren des Ebola-Virus aus Beni infiziert werden. In ihren Zellen würde sich das tödliche Virus vermehren und sein Erbmaterial für die weitere Zucht im Bioreaktor bereitstellen. Nach dem Tod der Affen würden Zahid und Hakim die Tausenden neuen Ebola-Viren extrahieren und ihnen bei der Suche nach frischen Wirtszellen behilflich sein. Der neue Wirt sollten die Ungläubigen werden.

Yazeed Fadl Allah Shadids ideologisches Ziel war es, mithilfe seiner fanatischen Wissenschaftler einen Terroranschlag in der westlichen Welt umzusetzen, der die Ungläubigen in ihren elementaren weltanschaulichen Grundfesten erschüttern würde. Die Gefahr, bei dieser militärisch geplanten Aktion durch den Islamischen Staat auch muslimische Glaubensbrüder zu gefährden, ja ebenso einer tödlichen Gefahr auszusetzen, betrachtete der Kalif schlichtweg als Kollateralschaden. Ungläubige zu töten, der westlichen Welt aufzuzeigen, dass der Islam die einzig wahre Religion war und keine weitere neben sich duldete, war sein Ziel.

»Mein Bruder es ist bald so weit«, Abu Takir übereichte seinem Gegenüber eine Folienmappe mit der Aufschrift:

Versuchsreihe 6*19Q_Beni

und ergänzte: »Denn wie schon die Zahl 19 in der 74. Sure, Vers 30 und 31, über das göttliche Gericht geschrieben steht: 19 Engel bewachen den Ungläubigen und Frevler in der Hölle. Wenn die Posaune erschallt, wird dieser Tag für die Ungläubigen ein Tag des Kummers und der Not sein, 74. Sure, Vers 8 bis 10. Dieser Tag naht, mein Bruder, und es gibt kein Zurück mehr, Kalif Ibrahim gibt uns die Kraft und das Verständnis, die Ungläubigen mit diesem Virus zu bestrafen, bis sich über ihren Leibern ein kalter rauer Hauch bildet, der Hauch von Todesschweiß.«

5. Kapitel

Donnerstag, 3. Mai 2018, 08.47 Uhr, PP Mittelfranken,
K11, Besprechungsraum, 1.102

Alle Kollegen der neuen Mordkommission (MoKo) Isegrim hatten sich eingefunden. Auch Prof. Alois Nebel, von allen nur Doc Fog genannt, war gekommen, der am Vortag die Obduktion von Joseph Gottlieb durchgeführt hatte und nun bereit war, sein Ergebnis den Ermittlern vorzutragen. Fast alle hatten sich zur Besprechung aus dem Kaffeevollautomaten bedient und sich zu Gundas selbstgebackenem Mohnkäsekuchen überreden lassen. Gunda war nicht nur eine Ermittlerin mit Leib und Seele, sie verstand es auch mit ihren privaten Backkünsten, ihre Kollegen immer wieder zu begeistern und für ihr leibliches Wohl zu sorgen. So auch heute, als Schorsch und Horst den Raum betraten und sich die beiden letzten Kuchenstücke ergatterten, waren die Lobeshymnen über ihre Backkünste das gewohnte Hintergrundthema.

»Vorzüglich wie immer, Gunda, perfekt«, kauend sah Schorsch zu Gunda, die ihm dankend zunickte, als kurze Zeit später die Besprechung begann.

»Ja, wo fangen wir an? Am besten bei uns.« Schorschs Blick galt Horst, der neben ihm Platz genommen hatte. »Wir waren gestern ja in Schwarzenbruck bei Traudl Gottlieb und haben dort auch Herrn Sugula angetroffen, den Jagdkollegen des getöteten Jägers.« Schorsch erzählte von seinen Eindrücken auf der Terrasse – mit dem offensichtlich interessanten Leitzordner – und von der Tatsache, dass der Bunten-Politiker Bert Reither mit einer offenbar recht jungen Gespielin in eindeutiger Pose von einer Wildkamera aufgenommen wurde. Diese pikanten Aufnahmen seien durch Joseph Gottlieb dem Chefredakteur des Nürnberger Express zugespielt worden.

Gunda sprang sofort darauf an: »Ein Filmchen! Da hatten wir doch schon mal einen Fall, mit diesem Blaublüter, von und zu, auf und davon, wie hieß der gleich nochmal, der hat noch ein paar Jährchen abzusitzen, oder?«

»Freiherr zu Dunkerwald aus Bayreuth, ein bisschen bi schadet nie«, warf Hubsi lachend ein und ergänzte: »Na da ist doch schon mal ein möglicher Ansatz für ein Motiv vorhanden, diesen schönen Reither sollten wir mal näher unter die Lupe nehmen.«

»Ja Hubsi, das sehe ich auch so, was mich wundert, ist jedoch die Tatsache, dass die Presse hier stillhält«, stimmte Gunda grübelnd zu.

»Da stinkt was, wenn die Presse von so einem Vorfall erfährt, das Filmchen auch noch parat hat, dann ist das doch eine Story, die die Auflage hochpuscht, warum wurde darüber nicht berichtet«, bestätigte Basti.

»In der Tat Basti, da stimmt was nicht. Warum geht unser rasender Rolf damit nicht an die Öffentlichkeit? Das wäre eine Berichterstattung, die sich gewaschen hätte«, schloss sich auch Schorsch an, der sich nachdenklich am Hinterkopf kratzte und dabei seine Augen zusammenpresste. Dann fügte er hinzu: »Aber das ist in jedem Fall ein Ansatz, da bin ich voll bei euch. Wir sollten daher unserem rasenden Rolf und diesem schönen Berti mal einen Besuch abstatten, auf die Reaktionen bin ich gespannt. Andererseits gehen mir diese Aktenordner bei Traudl Gottlieb nicht aus dem Kopf. Warum klappen beide fast wie ertappt bei unserem Erscheinen diese Ordner zu? Haben die vielleicht etwas zu verbergen? Birgt einer der Ordner ein Geheimnis? Aber was auch immer Interessantes drinstehen mag, bisher gibt es keinerlei Hinweise auf einen konkreten Tatverdacht, der es rechtfertigen würde, einen richterlichen Beschluss zu erwirken, um diese Leitzordner mal näher unter die Lupe zu nehmen. Aber wir sollten das mal im Hinterköpfchen behalten. Gut, dann konzentrieren wir uns auf unseren Pressefritzen und auf unseren Abgeordneten. Gibt es schon Ergebnisse von einer Funkzellenauswertung?«, schloss Schorsch sein langes Resümee ihrer bisherigen Erkenntnisse. Sein Blick galt nun Günther Gast, der mit einer roten Umlaufmappe schon darauf wartete, mit seinen Ergebnissen loslegen zu können.

»Ja, wir sind dran. Bisher haben wir die Einwähldaten des Opfers von seiner Wohnanschrift bis zur Auffindesituation im Lorenzer Reichswald verifizieren können. Am letzten Einwahlpunkt seines Mobiltelefons, also am Funkmast TK90FB8, haben wir zum möglichen Tatzeitpunkt minütlich zirka einhundert Einloggsignale. Das Problem ist, dass sich das Handy unseres Opfers an diesem Funkmast nahe der Autobahn A 9 eingewählt hat. Schorsch, da fahren im Sekundentakt Fahrzeuge vorbei. Es war zwar jede Menge Arbeit, aber die konnten wir natürlich mit den nachfolgenden Einloggdaten abklären und sortiert filtern. Also die Fahrzeuge ausschließen, die in Richtung München und Berlin weitergefahren sind, und die Fahrzeuge listen, die die ersten beiden nachfolgenden Abfahrten runtergefahren sind. Die Mobilfunknummern, die nach dieser Ausschluss-Filterung für weitere Abklärungen in Frage kommen, da sind wir drüber, vorausgesetzt, der Täter hatte auch ein Mobiltelefon zum Tatzeitpunkt dabei. Also noch etwas Geduld«, schloss Günter.

Das war die Gelegenheit für den Gerichtsmediziner Doc Fog: »Also, wenn jetzt alle durch sind, dann würde ich euch gerne das Obduktionsergebnis präsentieren. Ich habe heute noch zwei Obduktionen vor mir, die Zeit läuft mir davon«, bat Doc Fog und sah mit fragendem und erschöpftem Blick in die Runde.

»Gerne Alois, wir sind so weit erst einmal durch«, entgegnete Schorsch.

Professor Nebel schritt zum Beamer, schaltete ihn ein und stellte sich dann hinter ein Stehpult, das rechts von der Eingangstür zum Besprechungsraum stand. Dann schlug er einen Schnellhefter auf, richtete seinen Laserpointer auf das erste projizierte Bild und begann mit seinen Ausführungen:

»Tja, unser Jäger hat einen furchtbaren und sehr schmerzvollen Tod erlitten. Es war eine stumpfe Gewalteinwirkung, die zu seinem Tod geführt hat. Nach der Rekonstruktion an der Leiter zum Hochsitz und der Auffindesituation zu urteilen, muss das Opfer beim Aufbaumen, also beim Hockklettern zur Kanzel, sein Jagdgewehr geschultert haben, und zwar mit dem Gewehrlauf nach vorne zur Holztreppe, also vor seinem Bauch. Beim Durchbrechen der angesägten Holzsprossen hat Gottlieb offensichtlich sein Gleichgewicht verloren. Sein Versuch, sich dabei seitlich an der Leiter festzuhalten, scheiterte. Er stürzte und fiel von der Kanzel herab. Sein Gewehr berührte dabei zuerst den Boden, hier einen der vier Betonsteine, auf der die jagdliche Einrichtung gestellt war.« Doc Fog zeigte mit dem Laserpointer auf einen der vier Betonsteine, welche die Füße der Kanzel vor Fäulnis oder sonstigen Witterungseinflüssen schützen sollten, bevor er mit seinen Ausführungen fortfuhr: »Gottlieb schlug dabei so unglücklich mit seinem Unterkiefer auf dem Gewehrlauf auf, dass sich dieser durch die große Wucht in seinen Schädel bohrte. Es müssen heftige Schmerzen gewesen sein, bis er dann vermutlich irgendwann sein Bewusstsein verlor. Der Gewehrlauf durchbohrte die Mandibula, also den Unterkiefer, und die Maxilla, den Oberkiefer, bevor er dann das Keilbein, die Os sphenoidale, durchschlug und dort stecken blieb. Plastisch gesagt: Der Gewehrlauf hat seinen Weg durch die Kinnlade und den oberen Gaumen bis weit in den Schädel in den Bereich hinter Nasen- und Augenhöhlen gefunden. Das sind verheerende Verletzungen. Da wir am Tatort kein Gewehr vorgefunden haben, gehe ich fest davon aus, dass der Täter nach seiner Tat das Opfer aufgesucht hat und die Schusswaffe aus dem Schädel des Geschädigten, durch kräftiges Herausziehen, entfernt hat. Ob der Geschädigte dabei noch bei Bewusstsein war, kann ich nicht sagen.« Der Doc zeigte nun auf ein Bild mit dem aufgesägten Schädel des Opfers und ergänzte: »Hier sehen wir am Schnittmodel die tödlichen Verletzungen an der Os sphenoidale, die den Tod herbeigeführt haben. Aufgrund der vorgefundenen Anhaftungen von Nitrocellulosepulver hier am Keilbein und der weiteren äußeren Verletzungsmerkmale muss es so gewesen sein. Eine andere Erklärung kommt mir nicht in den Sinn. Hinzu kommt, dass Gottlieb durch das heftige Einwirken zudem eine Schädelbasisfraktur erlitten hat. Er wäre durch diese Verletzungen, auch wenn man ihn zeitnah gefunden hätte, auf Lebzeit schwerstbehindert gewesen.« Der Doc machte eine kurze Gedankenpause und fuhr dann fort: »Beim inneren Verletzungsbild kann gesagt werden, dass der Geschädigte durch den Sturz sich zudem eine offene Fraktur am Oberschenkelhals, hier links, zugezogen hat. Außerdem führte der Sturz zu einem Riss der Bauchschlagader. Dabei kam es zu einem großen Blutverlust mit massiven Einblutungen in den Bauchraum, der zu Schwindel, Bewusstlosigkeit und schließlich zu einem Kreislaufzusammenbruch geführt hätte. Also zu einem hämatogenen Schock. Das Erbrochene verschloss zudem seine Luftzufuhr, er hätte also auch noch ersticken können. Entscheidend für seinen Tod waren aber die Verletzungen im Schädelbereich.«

Doc Fog sah in die, trotz aller Gewohnheit, betretene Runde. »Zum Zustand seiner Organe. Gottlieb hatte zudem ein Karzinom am Enddarm, noch nicht groß, aber in den kommenden Wochen hätte es sich durch Blutungen bemerkbar gemacht. Leute denkt also daran, alle paar Jahre zur Krebsvorsorge zu gehen. Ganz wichtig hierbei die Magen- und Darmspiegelung«, der Professor blickte mahnend mit erhobenem Zeigefinger sein Publikum an, bevor er den Knopf des Beamers betätigte und seinen Vortrag mit den Worten, »Fertig für heute, gibt es noch irgendwelche Fragen?«, schloss.

»Danke Alois für deine Ausführungen. Ja, mit einer letzten Ermahnung sollte man nicht schludern«, kam es trotz aller Praxis auch von Schorsch etwas mitgenommen. »Oberstaatsanwalt Dr. Menzel, als alter Jäger, hat es sich nicht nehmen lassen, dieses Tötungsdelikt an sich zu ziehen. Er wird dich bei Zeiten über die Freigabe der Leiche informieren«, beendete Georg Bachmeyer die geschätzte Anwesenheit des Gerichtsmediziners.

Donnerstag, 3. Mai 2018, 13.20 Uhr,
Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth

Schorsch und Gunda hatten mit Dr. Menzel einen Termin vereinbart. Seine Strategie, den Abgeordneten Bert Reither in seine Ermittlungen mit einzubeziehen, war eine heikle Angelegenheit, zumal dieser Immunität besaß und man sich daher mit einer gewissen Sensibilität an Reither herantasten musste. Zumindest war der Gedanke, dass Reither möglicherweise etwas mit der Sache zu tun hatte, nicht von der Hand zu weisen. Schorsch und Gunda mussten daher Dr. Menzel überzeugen, dass Reither, wenn er von dem Filmchen wusste, zumindest ein Tatmotiv haben könnte. Hinzu kam der Verdacht, dass der Abgeordnete mit minderjährigen Kindern sexuelle Handlungen vollzogen hatte. Allein dies rechtfertigte einen Ermittlungsansatz in beide Richtungen.

Es war kurz vor halb zwei Uhr, als sie in Dr. Menzels gemütlicher Besprechungsecke Platz genommen hatten. Der Oberstaatsanwalt hatte ein Faible für alte Stilmöbel. Seine Vorliebe galt dem Art déco, einer viele Gestaltungsbereiche prägenden Stilrichtung, die speziell ab dem Oktober 1925 in Paris bei der Ausstellung »Exposition Internationale des Arts Décoratifs« durch ihr einfaches, strenges und geometrisches Design die ornamentalen Formen und fließenden Konturen des Jugendstils ablöste und die industriellen Fertigungstechniken in den Vordergrund rückte. Was gab es daher für einen Liebhaber solcher Möbel Schöneres, als seine Gäste dort mit einer formvollendeten Tasse Tee oder Kaffee zu empfangen? Gunda und Schorsch hatten entsprechend in den beiden gegenüberliegenden Sesseln Platz genommen. Man saß tatsächlich angenehm in Menzels Besprechungsecke. Die beiden Sessel aus massivem Nussbaum – ebonisiert und mit Schellack aufpoliert – samt einem authentischen Federkerninnenleben, das gepflegt und neu mit blutrotem Stoff bezogen war, waren nicht nur eine ästhetische Wohltat. Selbst dem, dem sich der Stil nicht sofort erschloss, dessen modern geplagter Rücken aber für ein gutes Sitzmöbel zu haben war, konnte diesem zeitlos guten Gefühl nicht widerstehen. Zusammen mit einem Ölgemälde »Rehe im Schnee« von Ernst Zahn stellte sich dann neben dem Gefühl von vertrauter Geborgenheit auch eine Idee davon ein, was waidmännische Achtsamkeit bedeuten könnte. Dass gutes Jagdhandwerk viel mehr ist, als der bloße Abschuss.

»So Frau Vitzthum, Herr Bachmeyer, was gibt es Neues in Ihrer MoKo Isegrim?« Menzel nahm in seinem großen cognacfarbenen Ledersessel Platz, öffnete eine gelbe Umlaufmappe, zückte seinen Tintenfüller und richtete seinen Blick wechselseitig auf seine Ermittler.

»Dr. Menzel, wie schon am Telefon angekündigt, haben wir ein sehr pikantes Filmchen mitgebracht.« Schorschs Blick galt nun Gunda, die ihren Laptop aufklappte und kurz darauf dem Strafverfolger das besagte Filmchen vorspielte, der kurz darauf sichtlich geschockt in die Runde blickte und antwortete: »Das ist ja ekelhaft, ich fasse es nicht, der schöne Berti, unglaublich. Bei Geld mangelt es bei dem ja nicht. Warum nimmt der sich kein Hotel? Einfach widerlich!«

»Na ja, wenn der mit der Kleinen in ein Hotel will, dann könnte das weitere Fragen aufwerfen. Der ist bekannt wie ein bunter Hund. Wenn der dort mit einem jungen Mädchen was machen wollte, auch in beiderseitigem Einvernehmen, dann könnte so mancher Portier misstrauisch werden und das möglicherweise weitererzählen. Kommt natürlich immer darauf an, bei welcher Partei der ist. Wenn es die falsche ist, dann könnte unser schöner Berti bei einer Veröffentlichung gewaltige Bauchschmerzen bekommen. Im Wald ist es für ihn wesentlich ungefährlicher und zudem sehr unwahrscheinlich, dass dort jemand Verdacht schöpft. Gerade an diesem abgelegenen Ort, wo Reither unbemerkt diese Kamerafalle ausgelöst hat, kommen sehr selten Spaziergänger vorbei, sonst würde eine Wildkamera dort ja keinen Sinn machen. Und wie man hier schön sehen kann«, Schorsch tippte mit dem Kugelschreiber auf den Bildschirm, »hier im Hintergrund dieser Filmsequenz stehen zwei Fahrräder. Vermutlich haben sich die beiden abgesprochen, um sich dort zu treffen. Das ist am unauffälligsten für das Liebespärchen. Die beiden vergnügen sich und es kehrt wieder Stille ein«, schloss Schorsch.

Gunda ergänzte: »Das mit dem Treffpunkt Wald klingt plausibel und unser Abgeordneter hat dabei eine gute Tarnung als Radfahrer. Aber bis jetzt wissen wir ja gar nicht, wie alt das Mädchen überhaupt ist, vielleicht ist sie ja schon sechzehn Jahre alt und die Ermittlungen wegen sexuellen Handlungen an Minderjährigen laufen ins Leere.«

»Ja, schon klar, Frau Vitzthum, das müssen wir unbedingt abklären. Aber selbst wenn das Mädchen sechszehn Lenze hinter sich haben sollte, dann steht immer noch sein Ansehen in der Öffentlichkeit im Raum. Reithers Reputation könnte durch ein Techtelmechtel nicht unerheblich in Mitleidenschaft gezogen werden, denken wir zurück an das Tötungsdelikt mit unserem Freiherren aus Bayreuth«, bemerkte Dr. Menzel.

»Ja, das sehe ich auch so, wir sollten daher erst einmal mit unserem rasenden Rolf, dem Chefredakteur vom Express, anfangen. Wenn er tatsächlich von Gottlieb das Filmchen erhalten hat, sollten wir uns bzw. ihn fragen, warum er es nicht veröffentlicht hat. Mein erster Anlauf wäre daher der Nürnberger Express«, antwortete Schorsch.

»Nichtsdestotrotz sollten wir im Anschluss gleich an Reither herantreten. Bisher schützt ihn zwar seine Immunität vor Strafverfolgung, aber alleine schon der Gedanke, Reither über die Ermittlungen gegen ihn in Kenntnis zu setzen, veranlasst in mir ein innerliches Wohlbefinden, ja eine Genugtuung. Manche von diesen Politikern nehmen ihre Immunität so wichtig, als könnten sie machen was sie wollten. Frau Vitzthum, Herr Bachmeyer, sie kennen mich, mit mir nicht. Wir werden Reither und dieses pikante Filmchen mit seiner doch sehr jungen Gespielin lückenlos aufklären. Sie haben meine volle Rückendeckung«, stellte der Oberstaatsanwalt klar, der sich nun genüsslich, mit einer Kaffeetasse in der rechten Hand, in seinen wuchtigen Ledersessel zurücklehnte und einen Schluck Kaffee zu sich nahm.

Freitag, 4. Mai 2018, 09.37 Uhr, Nürnberger Express,
Winklerstraße, 90403 Nürnberg

Es war kurz nach halb zehn, als Schorsch und Horst das Foyer des Verlagshauses betraten und von Müller begrüßt wurden.

»Na, was treibt denn meine beiden Kommissare zu mir? Sie haben es aber spannend gemacht am Telefon, Herr Bachmeyer«, eröffnete Müller und führte beide in sein Büro, das er sich zwischenzeitlich, als Chefredakteur, in der obersten Etage mit Blick auf die Nürnberger Burg hatte einrichten lassen. »Nehmen Sie bitte Platz, ich habe für uns Kaffee und Bamberger Hörnchen geordert. Wir machen mal eine kleine Brotzeit. Greifen Sie zu, meine Herren, es kostet nix.« Gediegen ließ Müller seinen gönnerischen Blick über die beiden Kommissare schweifen und dirigierte sie zu einer nahegelegenen Sitzgruppe, wo für jeden bereits ein Kaffeegedeck mit dem angekündigten Schmalzgebäck stand. Dann griff er zu einer silbernen Kaffeekanne und schenkte seinen Gästen ein.

»Soderla, also was verschafft mir die Ehre?« Genussvoll biss Müller in das Hörnchen und richtete einen erwartungsvollen Blick auf Horst und Schorsch.

Schorsch zückte sein Mobiltelefon, tippte auf das Display und hielt es Müller mit den Worten: »Kennens des aah?«, vor die Nase.

Gespannt blickte Müller auf das Video, das ihm dann aber offensichtlich sofort bekannt vorkam. Er rutschte mit seinem Hinterteil hin und her, ähnlich dem Krankheitsbild von Hunden, welche von Bandwürmern befallen waren und dabei einen verstärkten Juckreiz am After verspüren. Mit einem süffisanten Grinsen und erhobenem rechten Zeigefinger entgegnete er: »Na, da haben sie wohl den schönen Berti drangekriegt. Wie peinlich aber auch. Und noch dazu mit einem jungen Mädchen. Oh, oh, wenn das seine Gattin, Frau Bassin-Reither, erfährt. Gar nicht gut. Gar nicht gut für seinen bevorstehenden Wahlkampf, sehr brisantes Material.«

»Genau deshalb sind wir hier. Kennen Sie das Video?«, ließ Horst nicht locker, wusste er doch nicht, ob er sich über das ungeschickt widersprüchliche Verhalten des rasenden Rolf ärgern oder amüsieren sollte.

»Äh, na ja, ich habe davon gehört.« Müllers Gesichtsfarbe hatte sich schlagartig von weiß in rosarot geändert.

»Was jetzt Herr Müller, mal Butter bei die Fische, wie das die Fischköpfe gerne sagen. Seit wann ist Ihnen das Filmchen bekannt und warum haben Sie daraus keine Story für Ihre Leser gezaubert, Sex and Crime geht doch immer, oder nicht?«, hakte Schorsch nach und sah Müller mit erwartungsvollem Blick in die Augen.

»Also, ich habe das Bildmaterial, besser gesagt Filmmaterial, vor ein paar Wochen zugespielt bekommen. Ja, ganz ehrlich, es sind da äußerst pikante Szenen dabei, die keineswegs für unseren Landtagsabgeordneten förderlich wären. Ich habe Bert Reither daraufhin kontaktiert und ihm auch da Filmmaterial zugesandt. Ich kenne den ja seit meiner Jugend. Berti ist ein guter Spezi von mir, daher habe ich darüber nicht berichtet. Der Berti hat schon immer alles mitgenommen, was nicht bei drei auf dem Baum war, Sie verstehen.« Rolf Müller grinste, klatschte sich in die Hände und rieb sich dabei die Handflächen. »Ganz ehrlich, bei dem Nachttopf, was der zu Hause hat, da würde ich mich auch nach etwas anderem umsehen.«

»Haben Sie Ihren Freund, wenn ich Herrn Reither mal so nennen darf, auf das Mädchen angesprochen?«, fragte Horst.

»Freilich, des interessiert doch jeden Moo, wo der so eine Junge widder aufgrissen hat. Der Berti is scho a alder Rumzuuch. Wenn der a mal Witterung aufgnommen hat, dann ghört dem die Chick, des könnens mer fai glahm, des war scho immer so«, konterte Müller im tiefsten Fränkisch und nickte den beiden Kommissaren zu.

»Gut, was hat er denn über das Video so alles erzählt und wie lange kennt er denn die, die …, sappradi edzerdla fällt mir der Name nicht mehr ein«, sah ihn Schorsch erwartungsvoll an.

»Die Schandal kommt aus Fischbach und was des Schneggerla in die Händ nimmt, des wächst und gedeiht, hat er gesagt«, Müller lachte und fuhr fort, »Aber des sehen Sie ja selbst gestochen scharf in dem Video.«

»Hat er etwas gesagt, wo und wann er die Schandal kennengelernt hat?«, hakte Schorsch nach.

»Erinnerlich dieses Jahr am Fasching. Der Berti war doch unser Faschingsprinz und die Schandal muss irgendwie in der Prinzengarde von ihm getanzt haben. Ein ganz junges Luder, ein richtiges Luder halt, die das erste Mal dabei war und die ein wenig in den Blickpunkt wollte, so der Berti. Das hat sich der Berti natürlich nicht nehmen lassen und hat zugeschlagen, verstehens?«, schloss Müller.

Horst war noch nicht zufrieden: »Aber um noch einmal auf das Video zurückzukommen, was hat denn Herr Reither dazu gesagt, als er erfahren hat, dass dem Nürnberger Express das Filmchen zugespielt wurde?«

»Der Berti brauchte sich doch darüber keine Gedanken zu machen. Der weiß genau, dass ich als Chefredakteur nichts veröffentlichen werde, was ihm schaden könnte. Ganz ehrlich, dazu kennen wir uns zu lange. Und als er dann noch ein wenig über Schandal aus dem Nähkästchen geplaudert hat, habe ich ihm versprochen, dass die Geschichte unter uns bleibt.« Rolf Müller hatte sich offenbar wieder gefangen und gab weiter bereitwillig Auskunft: »Wissen Sie, Herr Bachmeyer, ich bekomme von Berti immer die guten Hinweise, wenn es um irgendwelche Demonstrationen oder pressewirksame Einsätze von Aktivisten geht. Solch eine Quelle schätzt man natürlich.« Müller grinste zufrieden, hob beide Augenbrauen in die Höhe und fuhr fort: »Und als Chefredakteur bin ich darauf bedacht, meine Auflagen immer ganz oben zu halten, solch einen Informanten wie den Berti werde ich daher niemals verbrennen lassen. Oder um es auf den Punkt zu bringen, eine Hand wäscht die andere. Aber ganz ehrlich, ich habe heute schon viel zu viel gesagt und möchte mich jetzt lieber auf mein Zeugnisverweigerungsrecht als Journalist berufen und darüber keine Angaben machen.«

»So viel haben Sie uns ja nicht erzählt. Wir wollten lediglich wissen, ob Sie mit Herrn Reither diesbezüglich Kontakt aufgenommen haben und warum diese pikante Geschichte nicht pressewirksam vermarktet wurde«, gab ihm Schorsch zu verstehen und ergänzte: »Wenn einen eine jahrelange Freundschaft verbindet, dann kann man das gut verstehen, wenn Freunde mit ihrer öffentlichen Berichterstattung eine gezielte Auswahl treffen.« Schorsch hob verächtlich seine Augenbrauen, rümpfte seine Nase und gab Müller damit unmissverständlich zu verstehen, was er von dieser einseitigen Berichterstattung hielt.

»Gut, Herr Müller, das war es eigentlich schon«, gab sich auch Horst zufrieden, als sie sich kurz darauf erhoben und beide das Pressegebäude verließen.

Schorsch und Horst hatten erreicht, was sie wollten. Müller hatte gar nicht bemerkt, wie beide Kommissare ihn ausgefragt hatten. Der nächste Schritt gegenüber Reither war, dass sie ihn aufgrund seines Immunitätsstatus als Landtagsabgeordneter über die Ermittlungen gegen ihn informieren mussten. Schorsch kontaktierte Dr. Menzel und informierte ihn über Müllers Auskünfte, die Tatsache, dass der Chefredakteur freundschaftlich mit dem schönen Berti verbandelt war und dass dieser nunmehr von seinem Aussageverweigerungsrecht als Journalist gegenüber Reither Gebrauch mache.

Als weiterer Ansatz war nun abzuklären, ob ein möglicher sexueller Straftatbestand mit der gewissen »Schandal« vorlag. Wer also war das besagte Gardemädchen und vor allem, wie alt war sie? Horst googelte nach dem Faschingsprinzen »Berti« und wurde fündig. Die Unternehmerstochter Katja Bassin-Reither, von Bassin & Partner, war Hauptsponsorin der Narrhalla Faschingsgesellschaft Grün-Gelb e. V. Fischbach. Daher wunderte es auch keinen, dass just ihr Mann zum Faschingsprinzen auserkoren wurde. Aber nicht nur der Prinz und seine Vita waren im Netz zu finden, auch das Tanzmariechen und Gardemädchen Chantal Römming versprach mit ihren recht offenen und freizügigen Darstellungen in den sozialen Netzwerken, Licht in die fortlaufenden Ermittlungen zu bringen.

Samstag, 5. Mai 2018, 07.31 Uhr, Pilotystraße, Nürnberg

Schorsch drehte sich nochmal auf die andere Seite. Nur noch vage konnte er sich an den letzten Jacky-Cola erinnern, irgendwie hatte er einen leichten Filmriss. Rudi Mandlik, der Leiter ihres Mobilen Einsatzkommandos, kurz MEK, hatte zu seinem runden Geburtstag geladen. Es war spät geworden, als Angelo die letzten Gäste verabschiedete und sich die beiden letzten Sammeltaxis von Wendelstein in Richtung Nürnberg in Bewegung setzten. Es war ein schöner Abend, Angelo hatte seine große Terrasse festlich dekoriert und vorsorglich mit vier Heizpilzen bestückt, die bis weit nach Mitternacht eine wohlige Wärme verbreiteten. Keiner seiner Gäste hatte daher Ambitionen Rudis Einladung schon frühzeitig zu verlassen. Und so kam es wie es kommen musste, Rosanne und Schorsch hatten sich wieder als harter Kern der Runde geoutet. Heute, als keiner der beiden fahren musste, gehörte man zu denjenigen, die in das Wort »letzte Order« mit einstimmten und sich dann freudig vom Gastgeber verabschiedeten. Es war kurz nach drei Uhr, als sie im Bett lagen und nach einer kleinen Kuschelrunde beide in einen tiefen Schlaf fielen.

Rosanne öffnete ihre Augen und betrachtete ihren Liebsten, der mit seinem rechten Arm fest sein Kuschelkissen umklammerte und sichtlich entspannt mit einem leichten Schnarchen seine Liebste aus dem Schlaf holte. Rosanne blickte an die Zimmerdecke, an die durch einen LED-Wecker wechselnd die Zeit und eine Temperaturanzeige projiziert wurde. Es war kurz nach halb acht, durch das gekippte Fenster konnte man das Morgenkonzert verschiedener Singvögel hören. Eigentlich waren die vier Stunden Schlaf zu wenig, dachte Rosanne, die sich wegen Schorschs Schnarcherei abwechselnd von links nach rechts wälzte und nicht mehr einschlafen konnte. Aber es waren nicht nur Schorschs Schlafgeräusche, die sie wachhielten, es machten sich auch gewisse Frühlingsgefühle bei Rosanne bemerkbar. Sie hatte eine spontane Lust auf ihren Schorsch, der jedoch immer noch tief und fest schlummerte. Irgendwie musste sie ihn so weit bringen, dass auch ihn seine sexuellen Gelüste überkamen. Sie drehte sich zu ihrem Liebsten, der immer noch dabei war, seine Schäfchen zu zählen. Keine Chance, den jetzt wachzurütteln, dachte sie. Aber just in diesem Moment hatte Rosanne einen Geistesblitz: Vorsichtig zog sie ihr Bett zur Seite und schlich sich in das Gästezimmer, das ihr Schorsch zu einem kleinen Ankleidezimmer eingerichtet hatte.

Beide hatten immer noch ihre eigenen Wohnungen und wechselten daher wöchentlich ihre Aufenthaltsorte, einmal fuhr Schorsch für das Wochenende nach Bamberg, die kommende Woche hatte Schorsch seine Siemensianerin wieder bei sich in Nürnberg. Beide suchten seit geraumer Zeit nach einer passenden Wohnung, eine Vierzimmerwohnung mit großer Dachterrasse. Rosanne und Schorsch spekulierten natürlich auf einen Altbau mit hohen Wänden, schönen Stuckdecken, Echtholzparkett oder Holzdielen. Genau um diese bezahlbare Traumwohnung zu bekommen, studierten sie seit Wochen nicht nur die Tagespresse, sondern auch die speziellen Internetplattformen. Beide hassten es zudem, dass der Sonntagabend nicht wirklich für Entspannung sorgte. Entweder saß Schorsch in Bamberg auf Kohlen, um montags pünktlich zur Frühbesprechung in Nürnberg zu sein, oder Rosanne fing schon nach dem »Tatort im Ersten« am Sonntag an, ihre Sachen für den nächsten Arbeitstag vorzubereiten und stellte abmarschbereit ihre Taschen im Flur ab. Man suchte also nach einer Lösung, einer Lösung, die das Paar für immer zusammenführen sollte. Denn beide wollten mehr voneinander, die kleine Fernbeziehung war störend und beide hofften daher, ihr Glück in einer gemeinsamen Wohnung zu finden. Eine repräsentative Wohnung, die auf beide zugeschnitten war, in der man moderne Kunst mit antiken Möbeln kombinieren konnte. Eine Altbauwohnung. Und wie jeden Samstag waren so die regionalen Mietangebote zur Pflichtlektüre geworden.

Nur diesen Samstag, Rosanne wurde von einer gewissen Wuschigkeit übermannt, hatte sie sich eine kleine erotische Überraschung für ihren Liebsten ausgedacht. Sie wusste, Schorsch liebte erotische Rollenspiele. Rollenspiele, die beide in ihren sexuellen Fantasien befriedigten. Was also sprach dagegen, die beiderseitige Lustbefriedigung an einem Samstagmorgen mit seinem Partner auf eine imaginäre Schiene zu verlagern und ihn damit aus seinem Schlummerschlaf zu wecken?

Samstag, 5. Mai 2018, 04.12 Uhr, Lorenzer Reichswald,
Steckerlaswald nahe Feucht

Die ersten Vögel begannen ihr Morgenkonzert, als Frauke Ebersfeld mit ihrem Mercedes GL in Ochenbruck die Kuhbrücke über die Bahnlinie der S-Bahn S 3 nach Nürnberg passierte, rechts den Waldweg zum Dreibrüderberg hinauffuhr und kurze Zeit später 200 Meter vor dem nahe gelegenen Brunngraben ihr Fahrzeug abstellte. Hier, im Ausläufer des Lorenzer Reichswalds, hatten die Bayerischen Staatsforsten ihr Revier. Viele Jäger, die kein eigenes Revier hatten, übten mit einem Begehungsschein, also einer Jagderlaubnis für einen bestimmten Pirschbezirk, hier ihre Jagd aus. So auch Frauke Ebersfeld. Es war kurz vor halb fünf, Frauke überprüfte noch einmal die Windrichtung und pirschte sich an die nahegelegene Eichelkanzel heran. Seit Wochen hatte sie in ihrem Jagdbezirk Ausschau auf Reh- und Schwarzwild gehalten.

Frauke Ebersfeld gehörte zu einer Klientel, die von den sozialen Medien regelrecht beherrscht wurde. Kein Tag verging, an dem die 33-jährige Jungjägerin ihre neuen Jagderlebnisse nicht in den sozialen Netzwerken postete. Es war ihr schlichtweg egal, ob sie nach einem geposteten Fuchs-Abschuss von Naturschützern mit Shitstorm-Nachrichten regelrecht zugeschüttet wurde. Die Jägerin vertrat ihre Meinung im Netz und ließ sich auch durch Drohgebärden Dritter nicht davon abhalten, ihre jagdlichen Erfolge der Öffentlichkeit zu präsentieren. Frauke Ebersfeld war daher nicht nur in den sozialen Medien bekannt, auch seitens der Tier- und Umweltschützer hatte man in regionalen Zeitschriften von der burschikosen und rücksichtslosen Jägerin im Nürnberger Land berichtet. Sie war sprichwörtlich bekannt wie ein bunter Hund.

Die morgendliche Dämmerung setzte langsam ein, als die Jägerin ihre Kanzel bezog und anschließend mit ihrem Nachtsichtgerät und dem Infrarotstrahler die angrenzende Waldlichtung, den Wildacker und die nahe gelegene Schwarzdornhecke abscannte. Hier, in diesem dichten Geflecht, hatte sie schon so manchen kapitalen Keiler ausgemacht. Der kleine Waldbach, ein Ausläufer des nicht weit entfernten Gauchsbaches, der kurz vor der Dornenhecke das Waldstück teilte, war eine ideale Stelle, an der sich das Schwarzwild suhlen konnte. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sich ein Schwarzkittel zeigen würde. Weit und breit war nichts zu sehen, obwohl der Wind passte und in den vorangegangenen Tagen sich um diese Uhrzeit Wild zum Äßen gezeigt hatte. Es war kurz vor fünf, als das anhaltende Vogelkonzert durch ein lautes Knacken gestört wurde. Schwarzwild. Angespannt beobachtete Ebersfeld die Umgebung und strahlte dabei das Umfeld hin zur Schwarzdornhecke erneut aus, als Sekunden später ein lauter Schuss die Stille des Morgens zerfetzte. Ebersfeld sackte tödlich getroffen zusammen. Ruhe kehrte ein, die Dämmerung lockerte sich auf, es wurde hell, der leichte Bodennebel, der den Waldboden mit seiner Flora in eine gespenstische Landschaft verwandelte, hatte sich verzogen. Ein neuer, sonniger Tag brach an. Die vom vorangegangenen Schuss verursachte Stille endete, als der größte Singvogel, ein Kolkrabe, seinen Morgengruß in den düsteren Wald verhallen ließ.

5. Mai 2018, 12.57 Uhr, Osteria Da Nico,
Pyrbaum, OT-Oberhembach,
Grenzgebiet zum Moosbüffelland

Fast minütlich blickte Gunnar Ebersfeld auf das Display seines Mobiltelefons. Beide hatten sich bei Nico zum Mittagessen verabredet. Die Osteria in Oberhembach lockte ihre Besucher nicht nur durch das altertümliche Flair, den dieser Ort ausstrahlte. Das alte Sandsteingebäude und der lauschige Biergarten luden viele Fans der italienischen Küche ein, hier das hervorragende Preisleistungsverhältnis von Nico in Anspruch zu nehmen. Dafür war der Italiener mit seiner ausgewählten Speisekarte bekannt.

Eigentlich wollte sich Gunnars Frau bereits am frühen Vormittag bei ihm melden. Daher aktualisierte er halbstündlich seine Apps zu den sozialen Netzwerken, um die neuesten Nachrichten seiner Jungjägerin und ihres morgendlichen Jagderfolges abzurufen. Vergebens. Frauke Ebersfeld meldete sich nicht, ihr letzter Online-Kontakt war vor Stunden, seitdem war Funkstille eingekehrt. Ebersfeld machte sich Sorgen, eigentlich war seine Frau immer pünktlich. Heute jedoch sagte ihm sein Bauchgefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Als Beamtin hatte Frauke Ebersfeld ihren Tagesplan genau durchstrukturiert: Bei einem erfolglosen Ansitz wollte sie noch einem Kurs der Ausbildung zum brauchbaren Jagdhund des Jagdschutz- und Jägervereins Nürnberger-Land beiwohnen, der heute um neun Uhr vormittags auf der Waldnutzfläche unterhalb des Dreibrüderbergs stattfand. Geplagt von einer sichtlichen Unruhe und der Tatsache, dass Frauke eigentlich immer pünktlich ihre Termine und Absprachen einhielt, machte er sich Gedanken über ein mögliches Unglück. Hatte sie einen Jagdunfall, war sie in eine Notlage geraten, aus der sie sich nicht mehr befreien konnte? Oder lag es vielleicht doch an ihrem Mobiltelefon, das seinen Geist aufgegeben hatte, und sie würde nur leicht verärgert in den kommenden fünfzehn Minuten erscheinen?

Hoffnungsvoll blickte er auf seine Uhr. Dreizehn Uhr zweiundzwanzig. Noch acht Minuten, dann würde er sich auf die Suche in den Lorenzer Reichswald aufmachen, denn Fraukes jagdliche Einrichtung war nicht nur ihm, sondern auch vielen ihrer Follower in den sozialen Netzwerken, insbesondere auf Instagram bekannt.

Samstag, 5. Mai 2018, 08.22 Uhr, Pilotystraße, Nürnberg

Nach viermaligem Klingeln und schlaftrunken, ertastete Schorsch sein am Boden liegendes Mobiltelefon und guckte verdutzt auf das Display. Rosanne. Blitzschnell drehte er sich um, um im gleichen Augenblick festzustellen, dass Rosanne nicht mehr im Bett lag. Er nahm das Gespräch an.

»Servus Mausl, hast du mich erschreckt, ich dachte du liegst neben mir. Wo bist Du?«

»Schorsch, ich habe gerade frische Brötchen und die Nürnberger Zeitung für uns geholt, der Haustürschlüssel liegt aber noch auf dem Sideboard neben der Wohnungstüre. Lässt du mich rein?«

»Natürlich, mein Schatz!« Schorsch sprang auf und zog die Jalousien hoch, um Licht ins dunkle Schlafzimmer zu lassen, öffnete das Fenster und huschte in den Flur, um seiner Partnerin die Haustür zu öffnen. Er öffnete die Wohnungstür und blieb erwartungsvoll am Eingang stehen. Ein Klacken von beschlagenen Absätzen hallte durch das Treppenhaus. Gespannt hörte er, wie die Schritte immer näher kamen und kurze Zeit später Rosanne auf der Plattform im Treppenhaus zwischen dem ersten und zweiten Stock stehen blieb und ihre Einkaufstasche auf den Boden abstellte.

»Hallo mein Kommissar, ausgeschlafen?« Rosanne hatte ihren kurzen Popeline-Mantel übergezogen. Sie stellte den rechten Fuß auf die erste Treppe, ihr kurzer Mantel öffnete sich dabei und gab einen Teil ihres Oberschenkels frei. Genüsslich und mit einem verschmitzten Lächeln zwinkerte sie ihm zu, als sie kurz darauf die Schleife ihres Mantelgürtels aufzog. Schorschs spontaner Ausruf: »Leck mich am Ärmel!«, waren genau die Worte, die seine Partnerin hören wollte. Raffiniert und gekonnt langsam öffnete sie mit beiden Händen ihren Mantel und gab Schorsch mehr Blickfeld frei.

»Mein Gott, bin ich scharf auf dich, wo bleibst du denn?«, grinste Schorsch. Rosannes erotische Überraschung war ihr gelungen: Alles, was sie außer dem Popeline-Mantel trug, waren ihre High Heels und schwarze Strümpfe, die an den Strumpfbändern einer schwarzen Korsage befestigt waren. Ihr Höschen hatte sie offensichtlich vergessen.

»Na, mein Lieber, ausgeschlafen? Ich habe frische Brötchen und die Wochenendausgabe besorgt. Aber bevor wir mit dem Frühstücken beginnen, möchte ich …«, Rosanne griff in die Manteltasche und holte Schorschs Handschließen hervor, die er wie immer im Schlafzimmer aufbewahrte, «… von meinem Kommissar bis ins kleinste Detail genommen, äh, vernommen werden. Ich war böse, richtig böse, mein Lieber.«

Schorsch gieriger Blick war auf seine Liebste gerichtet, die nun – trotz der wieder aufgenommenen Tasche – formvollendet mit offenem Mantel die restlichen Stufen bis zur Wohnung emporschritt. »Mensch Meier, wenn du einen Unfall gehabt hättest! Was sollen die Leute denken?«

Rosannes Lust, ihren Schorsch zu beeindrucken, war jedoch größer als ihre Sorge, was dabei hätte alles schiefgehen können. Er ergriff ihren linken Arm, zog sie in seine Wohnung. Rosanne ließ die Einkaufstasche fallen und zog ihren Mantel aus.

»Wow, ich bin sprachlos, genau mein Ding«, flüsterte er. Dann hob er Rosanne hoch und bahnte sich den Weg ins Schlafzimmer, legte Rosanne auf dem Bett ab und schloss das Fenster. Sofort mitten im Spiel raunte Schorsch: »Na, Sie waren unartig und böse? Da habe ich eine ganz besondere Vernehmungsmethode für Sie.« Schorsch ergriff die Handschließen, die Rosanne immer noch in ihrer linken Hand hielt, packte diese und fixierte in einem Atemzug ihre linke Hand an der Stirnseite seines Metallbettes. »So, dann fangen wir mal an …«

Es war kurz vor zehn, als beide auf seinem sonnigen Balkon Platz genommen hatten und zum kulinarischen Frühstück übergingen. Rosanne zwinkerte ihrem Liebsten mit einem sanften Lächeln zu und flüsterte: »Wir haben so ziemlich alles gemacht, was zwei erregten Menschen einfallen kann … Jetzt weiß ich, dass es sich lohnt, bei dir die Hüllen auch mal etwas schneller fallen zu lassen.«

Schorsch neigte sich zu ihr und flüsterte: »Schatzl, ich liebe dich und von deinen extravaganten Rollenspielen zehre ich die ganze Woche.« Dann küsste er sie auf die Wange.

Samstag, 5. Mai 2018, 14.22 Uhr, Lorenzer Reichswald,
Steckerlaswald nahe Feucht

Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet, es goss in Strömen. Ein Gewitter zog auf. Hinzu kam ein kräftiger Wind, der die Baumwipfel der Föhren links und rechts vom Wegesrand gegeneinander peitschen ließ. Eine gewisse Weltuntergangsstimmung machte sich bei Gunnar Ebersfeld breit, als er kurz darauf den Mercedes GL seiner Gattin entdeckte. Ein mulmiges Gefühl überkam ihn, Angst fuhr in ihn. Es blitzte und donnerte. Wo war Frauke, was war passiert? Er parkte sein Fahrzeug hinter ihrem Mercedes. Bei ihrem Wagen angekommen, stellte er fest, dass alle Türen verschlossen waren. Dann machte er sich auf den Weg zur Kanzel, die trotz der dunklen Gewitterwolken im Tageslicht gut sichtbar am Horizont erschien. Der Regen peitschte, durch den heftigen Wind brachen kleine Äste ab und fielen zu Boden.

Es war kurz nach halb zwei, als Gunnar unterhalb der Jagdeinrichtung feststellen musste, dass nicht nur die Plexiglasscheiben der Kanzel geöffnet waren. Auch die Zugangstüre stand sperrangelweit offen und schlug durch den heftigen Sturm gegen die Kanzel. Irgendwo musste seine Frau sein. Beklommen stieg Ebersfeld die Sprossen der Leiter hinauf. Da lag sie, die Jungjägerin. Frauke Ebersfeld lag zusammengesackt und blutüberströmt auf dem Boden. Hunderte von summenden Schmeißfliegen hatten sich zwischenzeitlich in der Jagdkanzel eingefunden und übersäten den blutigen Kopf des Opfers. Gunnar Ebersfeld wurde flau. Hatte sie einen Jagdunfall erlitten? Er stieg in die Kanzel, drehte seine Frau zur Seite und musste kurz danach feststellen, dass in der Jagdeinrichtung keine Waffe zu sehen war. Fraukes Büchse, ihre Kurzwaffe sowie ihr Jagdrucksack fehlten. Außer dem Leichnam und dessen Kopffragmenten, die sich durch die Wucht des Geschosses, die hintere Kopfhälfte von Frauke war völlig zerfetzt, auf der Rückwand und Sitzbank der Kanzel verteilt hatten, war die Kanzel leer. Wie aufgeräumt. Sämtliche Jagdutensilien von Frauke Ebersfeld fehlten.

Samstag, 5. Mai 2018, 15.34 Uhr, Lorenzer Reichswald,
Steckerlaswald nahe Feucht

Es war kurz nach halb vier, Petrus hatte seine Schleusen wieder geschlossen, als die Beamten der Schwabacher Mordkommission das Waldstück erreichten und bereits von zwei Redakteuren des Nürnberger Express zu einem Interview gedrängt wurden.

»Können Sie uns schon sagen, was da genau mit der Jägerin passiert ist?«, stellte sich einer der jüngeren Pressefritzen vor den Wagen einer Ermittlerin, die gerade versuchte, aus ihrem Fahrzeug zu steigen.

»Gehts noch, ich fasse es nicht, ich glaub mein Schwein pfeift! Was machen Sie hinter der Polizeiabsperrung? Hinter die Absperrung, aber schnell! Und Sie!«, die Beamtin deutete mit einem anklagenden Zeigefinger auf den älteren der beiden Pressevertreter: »Sie begeben sich ebenso hinter das Trassierband. Und sonst nirgendwohin, haben Sie mich verstanden?«

Ein junger Staatsanwalt, der zeitgleich mit den Todesermittlern am Tatort eintraf, kommentierte süffisant: »Zum ersten Mal in meinem jungen Staatsanwaltsleben darf ich zwei leibhaftige Schreiberlinge schweigend erleben. Liebe Kollegen, das ist ein historischer Moment.« Nachdem er die resolute Beamtin mit einem anerkennenden Nicken bedacht hatte, wandte er sich den Journalisten zu: »Fragen können Sie später stellen, erst einmal müssen wir hier unsere Tatortarbeit beginnen.«

Die beiden Redakteure lachten pflichtschuldig, aber keineswegs überzeugend und hielten sich schmollend an die Anweisung der Beamtin. Es war Oberkommissarin Lydia Hrdlicka, eine blonde Mitvierzigerin mit kurzen Haaren und sportlicher Figur, immer einen coolen Spruch parat. Sie hatte Bereitschaftsdienst und übernahm die ersten Ermittlungen. Hrdlicka war sehr naturverbunden, in ihrer Freizeit widmete sie sich ebenfalls der Jagd. Gemeinsam mit Robert Schenk hatte sie vor sechs Jahren ihren Jagdschein bei der Jagdschule Frankenland erworben, war Mitglied im Bayerischen Jagdverband und hatte selbstverständlich von dem Anschlag auf Sepp Gottlieb gehört. Lydias erster Eindruck am Tatort gab ihr das Gefühl, dass hier womöglich Parallelen zum Verbrechen vom 1. Mai vorlagen.

»Hallo Doc, was lesen Sie aus dem Spurenbild?«, fragte Lydia die Bereitschaftsärztin, nachdem sie die Leiter zur Kanzel hochgeklettert war und die Plattform der Jagdeinrichtung erreicht hatte.

Inka Ruckdeschel, eine engagierte Gerichtsmedizinerin, hatte kniend vor dem Opfer Position bezogen und sprach Gesprächsnotizen in ihr Aufzeichnungsgerät: »Der Tod trat sofort ein …« Ruckdeschel unterbrach ihre Aufzeichnung und wandte sich der Kommissarin zu: »Sie haben es sicher am Fuß der Kanzel gesehen: Der Ehemann musste sich nach dem Anblick hier erst einmal übergeben und hat es gerade noch so geschafft, uns dann anzurufen. Er hat das hier alles als erster gesehen und es stammelnd den Kollegen berichtet: das Blutbad, die fehlenden Jagdgegenstände samt Waffen und das Bruchzeichen. Die Spurensicherung sortiert hier sicherlich alles.« Damit startete Inka wieder ihr Aufnahmegerät, um sowohl der Kommissarin als auch ihrer eigenen Gesprächsnotiz weiter Auskunft zu geben: »Näheres werde ich sagen können, wenn ich den Schusskanal ausgemessen habe. Aber ich bin mir fast sicher, der Täter muss ein guter Schütze gewesen sein. Hier sieht man noch die Überreste von ihrem Nachtsichtgerät mit dem Infrarotstrahler«, sie deutete auf den Holzboden der Jagdkanzel, wo sich erkennbar ein zerstörtes optisches Gerät befand und fuhr fort: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich um eine Art Hinrichtung gehandelt hat. Ich prophezeihe, wenn wir sie herumdrehen, dann werden wir den Kugelaustritt an der Regio occipitalis, also am Hinterkopf finden. Wahrscheinlich ist die Regio occipitalis komplett zerschmettert.« Sie richtete ihren Blick auf die blutverschmierte Rückwand der Kanzel, die von Schmeißfliegen hart umkämpft wurde. Dann griff sie an den Hüftgürtel der Toten und drehte diese mit mehrmaligem Nachsetzen auf den Bauch. »Wusste ich es doch, die Regio occipitalis ist großflächig zerstört.« Anschließend fasste die Medizinerin in ihre abgestellte Kunststofftasche, holte ein Skalpell und eine Schere hervor und durchtrennte den Hosenboden des Opfers. Routiniert zerschnitt sie das olivfarbene Höschen der Jägerin und führte die Metallsonde ihres Temperaturmessers in den Anus ein. Kurze Zeit später, nach einem Blick auf die elektronische Anzeige, fuhr Ruckdeschel fort: »Das Messgerät berechnet exakt in Korrelation mit der heutigen Umgebungstemperatur die noch vorhandene Körpertemperatur der Geschädigten. Danach zu urteilen, ist sie seit etwa elf, maximal zwölf Stunden tot. Aber das werde ich nach der Obduktion noch besser präzisieren können. Bei einer vermutlichen Tatzeit können wir uns daher zwischen vier und fünf Uhr morgens festlegen. Jedenfalls war es in der Morgendämmerung, als sie starb. Mehr kann ich momentan nicht sagen.«

»Gut, danke«, nickte Lydia, dachte nach und ließ sich den aktuellen Fall von Sepp Gottlieb durch den Kopf gehen. Auch bei Frauke Ebersfeld hatte der Täter seinem Opfer einen Fichtenzweig in die Mundhöhle gelegt, den letzten Bissen. Zudem fehlten ebenso alle Schusswaffen des Opfers. Auch der von ihrem Mann beschriebene Jagdrucksack war nicht auffindbar, sowohl im Mercedes GL als auch in unmittelbarer Nähe des Tatorts verlief die Suche ergebnislos. Die Oberkommissarin konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass hier ein gemeinsamer kausaler Zusammenhang mit dem Tötungsdelikt am Maifeiertag in Nürnberg-Fischbach vorlag. Hrdlicka griff zum Telefon und verständigte den Kriminaldauerdienst des Polizeipräsidiums Mittelfranken, um die Nürnberger Todesermittler über ihre Verdachtsmomente zu informieren. Sollte es sich demnach um einen gleich gelagerten Fall handeln, wäre es für die weiteren Ermittlungen von Vorteil, die zuständigen Kollegen des K11 vor Ort, also hier am Tatort mit einzubinden.

Die Schwabacher Tatortgruppe war gerade dabei, die letzten Fotoaufnahmen vom Tatort zu fertigen, als das Mobiltelefon klingelte und Lydia Hrdlicka das Gespräch annahm: »Hrdlicka, mit wem spreche ich?«

»Hallo Kollegin, Bachmeyer, K11.« Schorsch erkannte die Stimme und fuhr fort: »Lydia, bist du dran? Hier ist der Schorsch vom Jakobsplatz.«

»Hallo Schorsch, wie gehts, ich wollte über den Dauerdienst den Sachbearbeiter für das Tötungsdelikt am Maifeiertag sprechen. Dann bist du das, richtig?« Lydia freute sich merklich.

»Ja freilich, die Heidi hat mich gerade angerufen und mir von der toten Jägerin im Nürnberger Land erzählt. Nach deinem ersten Eindruck könnte es sich möglicherweise um denselben Täter handeln?«, fragte Schorsch nach.

Die Kollegin konnte nur mit Bedauern bestätigen: »Davon ist nach der jetzigen Spurenlage fast auszugehen. Bei der Geschädigten fehlen alle Gegenstände, die sie zur Jagdausübung dabeihatte, sogar ihr Mobiltelefon und ihr Autoschlüssel sind verschwunden. Der Täter hat wohl alles mitgenommen. Wie ich im System bei uns gelesen habe, ist der Jäger am 1. Mai wegen der Sabotagehandlung an der Leiter in die Tiefe gestürzt und an seinen Verletzungen gestorben. Hier hat der Täter wohl gezielt auf das Opfer geschossen, also ein klassisches Tötungsdelikt«, schloss die Kollegin.

»Mmh, soll ich noch rauskommen oder seid ihr schon so weit fertig?«, wollte Schorsch wissen.

Hrdlicka gab ihm weitere Informationen zum Stand der Dinge: »Die Bestatter sind gerade gekommen und laden die Verstorbene ein. Sie haben Anweisung, Frau Ebersfeld in die Gerichtsmedizin zu überführen. Was noch ansteht, ist die übliche Befragung ihres Mannes, aber der ist so fertig mit der Welt, das wird wohl erst am Montag was werden. Aber wir versuchen es schon einmal. Und wie es bisher aussieht: Also, wenn es sich um den Täter handelt, der auch für deinen Fall in Frage kommt, dann werdet ihr sowieso auch diesen Tatkomplex mit übernehmen. Ich gehe nicht davon aus, dass es sich hier um einen Jagdunfall handelt, oder sehe ich das falsch?«, stellte Lydia fest.

»Ja, natürlich, das siehst du richtig. Ich komme dann nicht mehr raus, aber ich versuche mal, meinen Zimmerkollegen Meier, den Horst Meier aus Schwarzenbruck, zu erreichen. Der soll sich den Tatort heute noch ansehen. Könntest du auf den noch warten? Ich rufe ihn an und melde mich gleich wieder«, schloss Schorsch.

Es dauerte keine zehn Minuten, Horst Meier und seine Frau Petra waren gerade dabei, ihren Garten wieder auf Vordermann zu bringen, als Schorsch ihm die Situation schilderte.

Sein Bürokollege fackelte nicht lange und fuhr zum direkt in seiner Nähe gelegenen Tatort, wo er mit der Schwabacher Oberkommissarin die Auffindesituation anhand des Bildmaterials nachvollziehen konnte. So wie es aussah, war hier der Täter am Werk, der auch Sepp Gottlieb auf dem Gewissen hatte. Sie hatten also keinen Einzeltäter. Anhand der Parallelen musste der Täter beide Taten geplant und gut vorbereitet haben. Obwohl Horst aufgrund der Tötung mit einem Gewehr auch ein möglicher Wilderer durch den Kopf ging, der vielleicht von Frauke Ebersfeld überrascht worden war. Aber irgendwie verdrängte er den Wilderer wieder aus seinen Gedanken, denn die Ablage eines Fichtenzweiges in der Mundhöhle von Frauke Ebersfeld zeigte eindeutige Parallelen zu Sepp Gottlieb. Es musste derselbe Täter sein. Anhand der Spurenlage, der Schusseinwirkung auf Ebersfelds Schädel, konnte annähernd die Schussposition des Täters hinter der Schlehenhecke festgestellt werden. Die Spurenermittler wurden genau dort fündig und sicherten eine Patronenhülse im Kaliber .308 Winchester, die vermutlich vom Täter stammte. Hier also musste er seinem Opfer aufgelauert haben, darüber waren sich Horst und Lydia ziemlich sicher. Gewissheit darüber würde ihnen aber erst der Einsatz des Doppelstrahllasers bestätigen, der die exakte Schussposition mittels einer speziellen EDV-Software ermittelte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739464923
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
Jäger Ermittler Terroranschlag Jagd Krimi Erotik

Autor

  • Roland Geisler (Autor:in)

Roland Geisler war 33 Jahre Ermittler. Der gebürtige Mittelfranke war u. a. beim Zollfahndungsamt Nürnberg. Neben den Schwerpunktermittlungen im Waffen- und Sprengstoffbereich war er auch in der Terrorismusbekämpfung eingesetzt. 2009 hospitierte der Beamte beim Bundeskriminalamt – ST 24 Abteilung Staatsschutz – in Meckenheim. Bis zu seinem Ruhestand 2012 war der Diplom-Finanzwirt (FH) im Ermittlungsreferat des Generalbundesanwalts im Bereich Proliferationsbekämpfung tätig.
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Titel: Agitare der Todesschweiß