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Mortificantur und der 13. Apostel

Dadord in Frangn

von Roland Geisler (Autor:in) Julia Seuser (Autor:in)
320 Seiten

Zusammenfassung

Das Nürnberger Frankenstadion wird Schauplatz eines heimtückischen Giftanschlags. Kommissar Schorsch Bachmeyer, ein alter „Glubberer“, der just an diesem Tag seine Mannschaft anfeuert, wittert sofort ein Verbrechen größeren Ausmaßes. Und tatsächlich – das Ehepaar, das dabei ums Leben kommt, ist keinesfalls unschuldig gestorben. Die Ermittlungen führen die Nürnberger Kripo in eine ihnen bis dato völlig unbekannte Szene, die „Schwarze Szene“, in der Teufelsanbetung genauso präsent zu sein scheint wie die unverhohlene Auslebung von Sex und Gewalt. Das Durchdringen der satanistischen Strukturen aber erweist sich als äußerst schwierig bis fast unmöglich. Ein verdeckter Ermittler muss her. Doch ob dieser dem kriminellen Treiben im Frankenland Einhalt gebieten kann? >>Sowohl die authentische Schilderung des Büro- und Ermittlungsalltags von Kommissar „Schorsch“ Bachmeyer und seinem Team wie auch die Krimi-Handlung als solche überzeugen durch realitätsnahe Bezüge und äußerst authentisch wirkende Dialoge. Es ist den Verfassern gelungen, über dem großen Spannungsbogen des zugrundeliegenden kriminalistischen Sachverhalts mehrere kleinere, in sich abgeschlossene Spannungsfelder einzubauen, die es dem Leser schwer machen, das Buch vorzeitig aus der Hand zu legen. << Der Polizeipräsident von Mittelfranken, Johann Rast

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

Es gibt sie wirklich, und sie sind mitten unter uns!

Dieser Kriminalroman beruht auf Fiktion und wahrer Begebenheit, beides verschmilzt ineinander und führt so den Leser durch die Geschichte.

Alle Figuren, bis auf Ausnahme der zeitgeschichtlichen Personen, sind frei erfunden. Sofern Personen der Zeitgeschichte in unserem Buch handeln oder denken wie Romanfiguren, ist auch dies frei erfunden. Fiktiv sind ebenso einige der Handlungsorte in der Gegenwart.

Die Autoren möchten dem Leser eine Handlung vermitteln, die eine gewisse Authentizität beinhaltet. Deshalb muss dem Geschichtenerzähler erlaubt sein zu sagen: Es ist zwar nur eine Geschichte, die durch den Erfahrungsbericht eines okkulten Aussteigers, einer evangelischen Pfarrerin sowie zweier Zeitzeugen angeregt wurde, aber vielleicht steckt ja doch ein kleines Fünkchen Wahrheit darin!?

Lediglich manch taktische und kriminalistische Handlungsabläufe der Gegenwart könnten im wahren Leben tatsächlich so erfolgt sein.

Alle Informationen über polizeiliche und strafprozessuale Ermittlungshandlungen sind als „offen“ einzustufen, da diese für die Öffentlichkeit frei zugänglich sind z.B. BGBL I, 2005, 3136. Alle diese Maßnahmen werden zudem im Internet von verschiedenen deutschen und ausländischen Strafverfolgungsbehörden ausführlich beschrieben.

Im Anhang finden Sie ein Glossar zu fränkischen und kriminalistischen Begriffen und Redewendungen.

 

Prolog 1

Sommer 1994, Freizeitpark De Vossemeren, Lommel/Belgien

Sie saßen in der „Sahara von Lommel“, einem der schönsten Naturschutzgebiete Flanderns, und blickten starr in die Abendsonne, die langsam am Horizont versank. Ihre nackten Füße hatten sie im weißen Quarzsand vergraben, dem dieser Landstrich seinen Namen verdankte, und ein warmer Wind strich angenehm um ihre Knöchel. Aus der Ferne klang aus einem Lautsprecher leise, aber noch hörbar das Lied „Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bisschen Glück“, ein Evergreen aus den frühen 1930er-Jahren.

Ja, irgendwo auf dieser Welt … Aber nicht hier und heute! Hier und heute fühlten sie nur eine entsetzliche Leere.

Irgendwo auf dieser Welt musste sie sein. Seit vier Tagen suchten sie nach ihr – vergebens.

Nicole, ihre einzige Tochter, war verschwunden. Wie konnte ein fünfjähriges Mädchen wie vom Erdboden verschluckt werden und nicht mehr auffindbar sein? Vor der Kulisse der wüstenartigen Landschaft waren Trauer, Schmerz und Hoffnungslosigkeit allgegenwärtig.

 

Nicole blieb für immer verschwunden. Die Ermittlungsbehörden tappten im Dunkeln, und auch die zu Beginn verheißungsvollen Spuren einer privat beauftragten Detektei verliefen schlussendlich im Sande.

Als dann am 13. August 1996 europaweit bekannt wurde, dass das belgische Ehepaar Marc Dutroux und Michelle Martin mehrere Kinder entführt hatte und diese in ihrem Keller in einer Zelle hielt und sexuell missbrauchte, war dies trotz allen Übels ein Hoffnungsschimmer. Waren sie die Täter, die auch Nicole entführt hatten? Interpol Lyon steuerte diesbezüglich eine „Gelbe Ausschreibung“, also einen Hilfeaufruf an alle Strafverfolgungsbehörden, die mit der Ortung vermisster Personen betraut waren. Denn der Ort, an dem Nicole vor zwei Jahren verschwunden war, lag vom Tatort der Dutroux-Verbrechen gerade mal hundertzwanzig Kilometer entfernt.

Der Entführungsfall wurde von den zuständigen Strafverfolgungsbehörden neu aufgerollt. Gemeinsam mit den belgischen Behörden ging man jeder Spur im Fall „Nicole“ nach. Vergebens. Es ergaben sich keine neuen Hinweise oder aktive Spuren zu den Verbrechenstatbeständen in Belgien.

Doch wenn sie keines der Opfer des belgischen Ehepaars war, lebte Nicole dann vielleicht noch? Diese Antwort blieb ihnen die Polizei jedoch weiterhin schuldig. Und so warteten sie. Warteten und hofften. Und beteten jeden Tag für das Leben ihrer Tochter.

Als dann am 3. Mai 2007 auf allen Sendern über die Entführung von „Maddie“ berichtet wurde – die fünfjährige Madeleine Beth McCann verschwand ebenso während eines Familienurlaubs –, glimmte erneut Hoffnung auf. Hinweise auf einen Mädchenhändlerring gingen durch die Presse. Wieder versuchte man akribisch, Parallelen zwischen den Verbrechen in Belgien und Maddies vermeintlicher Entführung in Portugal herzustellen. Aber auch hier waren alle Mühen umsonst, es ergaben sich keine weiteren Erkenntnisse.

Ein Schleier des Versagens, ja der Hilflosigkeit machte sich breit. Die Hoffnung erlosch. Nicole blieb verschwunden.

 

Prolog 2

Freitag, 2. Mai 2014, 09.55 Uhr, Einsteinring, Nürnberg, Dr. Siegfried Helm, Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie

Dr. Helm legte die Akte zur Seite. Der Gutachterauftrag der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth war einer von vielen, die der Doktor in den letzten Jahren erhalten hatte. Der Nervenarzt verstand seinen Beruf, er war eine Koryphäe auf seinem Gebiet, wenn es um die Aufarbeitung von traumatischen Ereignissen ging.

Nach vorliegender Aktenlage handelte es sich um eine weibliche Patientin, die vor knapp zwei Monaten in einer kalten und regnerischen Märznacht hilflos auf dem Kundenparkplatz eines großen Möbelhauses in der Schmalau, nahe der A 73, von Angehörigen eines Sicherheitsdienstes entdeckt worden war. Die Ermittlungen der zuständigen Kriminalpolizei Fürth brachten keine näheren Anhaltspunkte zur besagten Auffindesituation.

Das junge Mädchen war mit einem schwarzen langen Ledermantel bekleidet gewesen. Unter dem Mantel trug sie eine schwarze Ledercorsage, beide Arm- und Fußgelenke wiesen Ledermanschetten mit Metallringen auf. Sie besaß keine Schuhe, auch der Slip fehlte.

Dr. Helm betrachtete das erkennungsdienstliche Foto, das von der zuständigen Kriminalpolizeiinspektion aufgenommen worden war, genauer. Ihr Gesicht war sonderbar stark geschminkt. Das Kalkweiß der Haut bildete einen scharfen Kontrast zu der dunklen Schminke rund um ihre Augen, die durch den Regen bizarr verwischt worden war. Aus dieser schwarzen Ummalung starrten ihn zwei unnatürlich helle Augen an, deren Pupillen viel zu klein erschienen. Der Blick gläsern und ausdruckslos, was jedoch zweifelsohne den schauderhaften Kontaktlinsen geschuldet war.

Ausweispapiere trug sie keine bei sich. Laut Gutachten der Rechtsmedizin Erlangen, die die Blutwerte der hilflosen und sichtlich verwirrten Person im Rahmen ihres Aufgabenbereichs analysierte, stand fest, dass eine Blutalkoholkonzentration von eins Komma zwei Promille vorlag. Zudem hatte der Gerichtsmediziner Prof. Dr. Nebel festgestellt, dass die hochleistungsflüssigkeitschromatographischen Untersuchungen ihrer Blutprobe einen Nachweis von Kokainkonsum erbrachten. Und nicht nur die Bekleidung der Person wies unterschiedliche Ejakulationsspuren auf, auch ein gynäkologischer Abstrich legte die Vermutung nahe, dass die Person in den letzten Stunden massiv sexuell missbraucht worden war.

Das Alter der Unbekannten wurde zwischen dreiundzwanzig und sechsundzwanzig Jahre geschätzt. Eigene Aussagen bezüglich ihrer Herkunft und Identität konnte sie nicht machen, bei der erkennungsdienstlichen Behandlung stammelte sie lediglich einen einzigen Satz vor sich hin: „Ich bin Mania, mein Herr!“

Dr. Helm stand auf und begab sich ins Wartezimmer. Er ging auf die wartende Person zu, begrüßte sie, indem er ihr seine Hand ausstreckte. Er bat sie mitzukommen. Die junge Frau im beigen Jogginganzug reagierte abwesend, folgte ihm aber widerstandslos in das Therapiezimmer.

Dr. Helm nahm Platz und stellte sich kurz vor. Sie ließ sich auf dem Sessel ihm gegenüber nieder, aber gab keinen Laut von sich. Er versuchte, ihr Vertrauen zu gewinnen, indem er ihr ein Glas Saft anbot, doch sie starrte nur weiter teilnahmslos auf den Schreibtisch. Mit der Absicht, sie wachzurütteln, schob er das Glas direkt an den Punkt, auf dem ihr Blick ruhte. Da schnellte ihr Kopf nach oben und blieb genauso starr an der Wand hinter dem Schreibtisch haften, die mit Zeugnissen, Urkunden und ein paar persönlichen Bildern dekoriert war.

Diese abwehrende Haltung sowie ihre Unfähigkeit, ihm in die Augen zu blicken, überraschten den Nervenarzt nicht. Es war die natürliche Reaktion eines traumatisierten Patienten. Womit er jedoch nicht gerechnet hatte, war Manias anschließendes Verhalten. Das Mädchen begann plötzlich sehr stark zu zittern, und Tränen schossen ihr in die Augen. Sie zog ihre Beine zu sich auf den Sessel und wimmerte, zusammengekauert wie ein Fötus, als ob er ihr Unheil angedroht hätte. Dabei war er ihr doch keinen Schritt näher gekommen, sondern hatte bewusst Abstand gehalten.

Während sie dasaß und weinte, beobachtete er, wie ihr Blick immer wieder für einen kurzen Augenblick seltsam nach oben ging, so als ob sie vor irgendetwas in dem Raum Angst hätte. Doch Dr. Helm konnte nicht ausmachen, wer oder was auf sie so bedrohlich wirkte. Sein Anblick konnte es nicht sein, schließlich wäre sie ihm dann gar nicht erst ins Patientenzimmer gefolgt.

Herrje, dachte er, da hatte ihm die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth diesmal aber einen richtigen Härtefall vorbeigeschickt. Das Vertrauen dieses Mädchens zu gewinnen und das von ihr Erlebte zu entschlüsseln, würde sicherlich unzählige Sitzungen in Anspruch nehmen. Dennoch, er wäre kein guter Psychiater, wenn diese Herausforderung nicht auch einen Reiz auf ihn ausüben würde.

 

1. Kapitel

Samstag, 23. August 2014, 09.25 Uhr, Kleingartenverein Zeppelinfeld e.V., Nürnberg – nahe dem Frankenstadion

Vorsichtig nahm sie mit den Latexhandschuhen die zwei Pflanzenbündel aus der Flüssigkeit. Das Wassergemisch mit den zerdrückten Vanilleschoten und dem Zucker zeigte seine Wirkung, der arttypische Geruch von Mäuse-Urin war neutralisiert. Langsam schüttelte sie das zusammengebundene Doldengewächs. Die noch anhaftende Flüssigkeit tropfte in den Eimer zurück.

Die elektrische Saftpresse beendete die Prozedur der Stoffgewinnung, genau so, wie sie es so oft in den letzten Jahren praktiziert hatte. Die tödliche Essenz, das gelb-gräuliche Alkaloid Coniin, lief in den bereitgestellten Destillierkolben. Sodann folgte der Verschlussstopfen mit dem Glasröhrchen, das in den Liebigkühler geleitet wurde. Dieser chemische Prozess war notwendig, um nach der erfolgten Abkühlung das tödliche Destillat zu erhalten.

Svetlana stellte den Bunsenbrenner an, um den Destillationsprozess einzuleiten. Nach circa fünfundvierzig Minuten zog sie vorsichtig mit der Kanüle das Konzentrat aus der Petrischale in die Spritze auf und spritzte das gewonnene Sekret in eine kleine grüne Medikamentenflasche, deren Verschluss mit einer Pipette versehen war.

 

Samstag, 23. August 2014, 12.47 Uhr, Frankenstadion, Nürnberg

Gisela und Adalbert Giegelhundt waren bereit. Wie bei jedem Heimspiel des 1. FC Nürnbergs standen beide in der Nordkurve des Frankenstadions und warteten auf das Einlaufen ihrer Fußballmannschaft. Das Spiel gegen den FSV Frankfurt würde in wenigen Minuten beginnen.

Auch Schorsch Bachmeyer stand in der Nordkurve und hatte sein Vereinstrikot angelegt. Er freute sich auf sein langes freies Wochenende. Sein Beruf bei der Nürnberger Mordkommission forderte ihn jeden Tag aufs Neue, aber heute rückte der Polizeiberuf in weite Ferne. Er war eins mit den anderen Club-Anhängern. Sein Bürokollege, Kriminaloberkommissar Horst Meier, hatte ihm eine Freikarte geschenkt. Als Dauerkartenbesitzer ließ Horst kein Heimspiel aus, und wenn er Lust darauf hatte, kaufte er manchmal auch noch eine zweite reguläre Karte für einen guten Freund oder Kollegen.

Sie alle hofften, der Club würde die Hessen heute schlagen, für alle Franken ginge dann nach neun Jahren ein Traum in Erfüllung: „de hessische Mescherstecher“ endlich mal wieder die Leviten zu lesen. Denn seit knapp zehn Jahren kämpfte der „Glubb“ vergebens gegen die Frankfurter Elf.

Gespannt blickten die Giegelhundts auf das Spielfeld. Beide hatten ihren schwarz-roten Club-Schal umgelegt. Dieser war zwar eigentlich für diese Jahreszeit ein wenig zu warm, aber alle Fans in der Nordkurve trugen die Vereinssymbole ihres Lieblingsclubs am Leib, egal ob Schal, Trikot oder Fan-Mütze. Und durch welche Höhen und Tiefen ihr Verein auch immer gehen musste, die fränkischen Fans standen treu zu ihrem Glubb.

Wie immer floss das Bier in Strömen. Auch Gisela und Adalbert Giegelhundt hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, sich das Spiel mit einem kühlen Blonden zu versüßen, es war ja auch fast so etwas wie eine Tradition im Bierbrauerland Franken. Heute jedoch mussten die beiden Glubberer keine Halbe beim mobilen Bierverkäufer ordern, denn ein weiblicher Fan überreichte ihnen einen gefüllten Bierbecher mit den Worten: „Prosit, meine Lieben! Heute wird es endlich passieren!“

Etwas verdutzt betrachteten sie die Unbekannte, die nun den mitgeführten Bierkranz einer bekannten Nürnberger Brauerei kurz abstellte und dann mit ihnen anstieß.

„Ah, ein Freibier vom Puscher-Bräu, danke schön! Wir wollten uns grade a Seidla kaufen.“ Adalbert grinste, nahm einen großen Schluck und reichte das Bier an seine Frau weiter. Auch sie langte kräftig zu, sodass sie in nur zwei Zügen den halben Becher geleert hatten. Um im Fall der Fälle mit beiden Händen jubeln zu können, stellte Gisela das Getränk zu ihren Füßen auf den Boden ab.

Der Anpfiff erfolgte, und sofort wurde ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Spielfeld gelenkt. Die edle Spenderin hingegen war mit einem Mal verschwunden. Vielleicht musste sie ja noch einmal schnell zur Toilette oder spendierte den Rest aus ihrem Bierkranz den Fans aus einem anderen Block. Egal, die Giegelhundts versanken ganz in das Spielgeschehen. Es war der dritte Spieltag, und ihr Glubb hatte bislang nur ein mageres 1:0 am ersten Spieltag erzielt. Es wurde also Zeit, wieder ein paar Punkte zu sammeln, die für den Klassenerhalt oder vielleicht sogar den Aufstieg nützlich sein konnten.

 

Es waren noch keine zwanzig Minuten gespielt, als Schorsch zwei Reihen vor sich eine männliche Person wahrnahm, die bei vollem Bewusstsein ein äußerst ungewöhnliches Verhalten an den Tag legte. Der Mann machte keineswegs einen betrunkenen Eindruck, doch er japste nach Luft, krallte sich am Geländer, das die Stehplatzreihen voneinander trennte, fest und erbrach sich schließlich auf den Boden. Sogleich ging in der Reihe vor ihm ein Gerangel und Geschrei los, jeder wollte außer Reichweite sein, sollte es ihn noch einmal überkommen.

Was folgte, war jedoch bei Weitem noch unappetitlicher als ein zweiter Würgereiz. An beiden Beinen seiner kurzen beigen Bermudashorts ergoss sich eine braune glitschige Masse. In Medizinerkreisen hätte man dazu gesagt: „Er kotet sich ein“, ein danebenstehender Fan schrie dagegen völlig unverblümt: „Allmächd, ich glaub's ja net! Der scheißt sich grad die Hosen voll!“

Im selben Augenblick fing auch die Begleiterin des Mannes an, sich anormal zu verhalten. Sie drehte sich im Kreis wie ein Derwisch, dann brach sie augenblicklich zusammen, wurde aber von ein paar Schlachtenbummlern gestützt, die direkt hinter ihr standen. Schorsch konnte klar erkennen, dass auch bei ihr eine gelb-bräunliche Flüssigkeit unter dem knielangen Rock hervorquoll und in einem kleinen Rinnsal zuerst ihre Beine und dann die Stufen der Zuschauertribüne hinunterfloss.

Der Mann war inzwischen klitschnass, denn er hatte einen Schweißausbruch erlitten. Er keuchte und hing über dem Geländer wie ein nasser Sack, die Füße bedeckt von seinen eigenen Exkrementen.

Viele der umliegenden Fans bekamen zwar mit, dass hier etwas nicht stimmen konnte, die meisten jedoch drehten sich nur angewidert weg und suchten sich einen Platz weit weg von dem üblen Geschehen. Vielleicht hatten die beiden ja nur etwas Falsches gegessen.

Schorsch Bachmeyer vom Nürnberger K11 jedoch wäre ein schlechter Polizeibeamter gewesen, hätte er nicht sofort reagiert und zusammen mit Horst den Rettungsdienst alarmiert.

Bis dieser eintraf, hatten sie sich zu den beiden Leidenden hindurchgeboxt, um sich an Erste-Hilfe-Maßnahmen zu versuchen. Viel war da jedoch nicht auszurichten. Beide Betroffenen konnten sich kaum mehr artikulieren. Es schien, als ob ihre Zungen am Gaumen festgeklebt wären. Die weibliche Person lag mittlerweile auf dem harten Steinboden und blickte aschfahl und mit glasigen Augen hoch zu ihrem Begleiter, den sie noch wahrzunehmen schien. Kurze Zeit später brach auch er zusammen.

Zwei Rettungssanitäter trafen ein. Selbst sie schienen angesichts der sonderbaren Situation und des beißenden Gestanks für einen Moment lang überfordert. Der eine brabbelte irgendetwas von „Könnte eine Nahrungsmittelvergiftung sein, die eine nicht kontrollierbare Diarrhö ausgelöst hat“, während der andere nach dem Puls der Frau und dann des Mannes fühlte.

Schorsch outete sich. „Bachmeyer und Meier von der Kripo Nürnberg. Mit den beiden hier stimmt was nicht. Da sollte schleunigst ein Arzt gerufen werden.“

Sofort verständigte einer der Sanitäter über Funk einen Notarzt, während sich der andere über die am Boden Liegenden beugte und beruhigend auf sie einredete.

Es war kein schöner Anblick. Die Augen der beiden Rettungsopfer waren zu Froschaugen mutiert, sie waren weit geöffnet und beide röchelten und schnappten nach Luft. Es schien, als ob sie ihren Helfern irgendetwas sagen wollten, aber beide konnten ihre Zunge nicht mehr bewegen. Auf der Stirn hatten sich große Schweißperlen gebildet, die langsam abwärts wanderten und sich unterhalb ihres Kehlkopfes in einem Hauttrichter sammelten. Die Frau übergab sich wiederholt. Ihr türkisfarbener Rock war von Exkrementen durchdrungen. Bei dem männlichen Opfer zeigten sich ebenso weitere Einnässungen, immer wieder lief Urin von der Schamgegend abwärts. Die Hitze des Sommertages tat ihr Übriges, sodass sich der unangenehme Geruch schnell und weit verbreitete und so mancher Fan den Block verließ oder sogar eiligst in Richtung Toilette flüchtete. Nur so konnte wohl ein weiteres Unglück verhindert werden.

 

Es war bereits kurz vor Ende der ersten Halbzeit, als der herbeigerufene Arzt zuerst den Tod von Gisela und kurze Zeit später auch den von Adalbert Giegelhundt feststellte.

„Meine Herren, ich bin Dr. Neumann. Ich habe gehört, Sie beide sind von der Kripo?“ Während er die Totenscheine aus seiner Tasche kramte, wandte sich der Notarzt an Schorsch. Der nickte. „Also, was ich Ihnen jetzt schon sagen kann: Das war kein natürlicher Tod. Beide Opfer müssen obduziert werden, das werde ich schon mal auf den Totenscheinen ankreuzen. Mein erster Befund deutet auf eine Nahrungsmittelvergiftung, vielleicht eine Pilzvergiftung. Derzeit ist ja wieder Pilzsaison, und unsere Giftnotrufzentrale hatte im August schon vier Fälle einer Knollenblätterpilzvergiftung. Aber Einzelheiten darüber erfahren wir erst von der Rechtsmedizin.“ Dr. Neumann holte einen kleinen Block hervor, zückte einen Stift und sah Schorsch erwartungsvoll an. „Dazu bräuchte ich aber noch die Personalien.“

„Ja, das haben wir uns auch gedacht. Wir übernehmen vor Ort.“ Schorsch holte sein Mobiltelefon hervor und wählte die Telefonnummer des zuständigen Bereitschaftsstaatsanwaltes. Das Opfer sollte in die Gerichtsmedizin gebracht werden.

„Dr. Menzel, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth.“

„Hallo, Dr. Menzel, Bachmeyer, K11.“ Schorsch erklärte seinem Staatsanwalt das Geschehen vor Ort.

Obwohl nach der ersten Einschätzung des Notarztes womöglich „nur“ eine Nahrungsmittelvergiftung zum Tod der beiden Fans geführt hatte, mussten sie alle, solange dies nicht bestätigt war, von einem worst case ausgehen. Die vorliegenden Todesumstände konnten theoretisch ja auch ein Verbrechen beinhalten. Beide Leichname wurden demnach auf Dr. Menzels Weisung hin in die Rechtsmedizin Erlangen überstellt. Rechtsmediziner Professor Dr. Nebel, von ihnen allen nur „Doc Fog“ genannt, sollte die genaue Todesursache feststellen.

Schorsch und Horst baten den Notarzt Dr. Neumann um Gummihandschuhe. Dann durchsuchten sie die beiden Toten nach Ausweispapieren. Sie wurden fündig. Es handelte sich allem Anschein nach um Gisela Giegelhundt, geboren am 2. Mai 1970, und Adalbert Giegelhundt, geboren am 16. September 1965, beide wohnhaft in der Merowinger Straße 2 in Nürnberg.

Neben den beiden Identitätspapieren der Opfer fand Schorsch noch etwas Merkwürdiges, was seine Neugier entfachte. Es war eine schwarz-rote Mitgliedskarte aus Plastik, die in der Mitte ein Hologramm aufwies, in dem bei Bewegung der Karte zuerst ein Teufelskopf und dann ein ihm nicht bekanntes Zeichen erschien. Ausgestellt war die Mitgliedskarte auf Gisela und Adalbert Giegelhundt. Der Aussteller war ein Gothic-Club namens „Sadoso“ in Nürnberg-Muggenhof. Die Karte trug zudem die Aufschrift: „Zum Fürst der Finsternis – der Club für die Schwarze Szene“. Und dazu den nachfolgenden Satz: „Better to reign in hell than to serve in heaven.

Sonderbar, dachte Schorsch. Er hatte noch nie etwas von diesem Club gehört.

Er und Horst asservierten ebenso die vorgefundenen Wertgegenstände der Opfer, und da zwischenzeitlich Halbzeitpause war, machte sich allem Gestank zum Trotz nun auch eine Vielzahl von Gaffern bemerkbar. Horst zog seinen Dienstausweis aus der Tasche und hastete in Richtung der für das Fußballspiel eingesetzten Polizeikräfte, die ebenso auf die vorliegende Situation aufmerksam geworden waren. Der zuständige Einsatzabschnittsleiter reagierte umgehend und zog fünfzehn Polizeibeamte vom unteren Tribünenrand ab, die nun auf Weisung die Stehtribüne mit einem Absperrband weiträumig absicherten. Denn solange die Kollegen der Spurensicherung den Tatort nicht akribisch abgesucht hatten, durften keine möglichen Spuren beseitigt oder verändert werden – nicht einmal die mittlerweile bestialisch stinkenden Körperausscheidungen der beiden Toten. Aber auch die herumliegenden Bierbecher, Zigarettenkippen, Taschentücher sowie das Verpackungsmaterial von verkauften Lebensmitteln mussten sichergestellt werden.

Die angeforderten Kollegen der Bereitschaftspolizei waren fix und sperrten mit einem Abstand von fünfzehn Metern den Tatort weiträumig ab. Auch Dr. Neumann übernahm seine letzte Handlung. Nachdem er den Totenschein ausgestellt hatte, deckte er die beiden Leichen bis zur Freigabe zum möglichen Transport durch die Bestatter mit zwei Stanniol-Rettungsdecken ab.

Die Halbzeit war vorbei, aber das Geschehen auf der Tribüne, im inneren der Absperrung, zog weiter die Blicke von Gaffern auf sich. Der Verlauf des Fußballspiels war zumindest für die umliegenden Zuschauer zweitrangig geworden. Dem Club beim Verlieren zusehen mussten sie schließlich oft genug – wann aber hatte man schon einmal die Chance, die Inspektion eines möglichen Tat- oder Unglücksorts zu beobachten?

Gegen Viertel nach zwei traf auch Robert Schenk, der Leiter der Spurensicherung, mit seinem Bereitschaftsteam ein. Wieder einmal hatte ihn die Einteilung zur Wochenendbereitschaft getroffen.

„Servus, Robbi! Wir haben schon mal die Identität der Opfer festgestellt. Sonst haben wir aber nichts verändert am Tatort“, begrüßte Schorsch seinen Kollegen.

„Servus, Schorsch! Servus, Horst! Sieht ja ziemlich scheiße aus hier! Da kommt wohl heute noch mit Hochdruck der Herr Kärcher zum Einsatz!“, entgegnete Robert, grinste und rümpfte die Nase.

Einige von Roberts Team verzogen ebenso ihre Nasen und schüttelten beim Anblick der Toten angewidert den Kopf. Doch dann schlüpften sie in ihre grauen Overalls, legten einen parfümierten Mundschutz an und begannen mit der Tatortsicherung so, als ob man sie gebeten hätte, auf einer Blumenwiese nach einem vierblättrigen Kleeblatt zu suchen. Statt Bienen schwirrten jedoch Schmeißfliegen um sie herum, die sich mittlerweile schwarmhaft am Tatort tummelten.

 

Samstag, 23. August 2014, 13.52 Uhr, Merowinger Straße, Nürnberg-Boxdorf

Svetlana parkte ihren silbernen Golf in der Steinacher Straße ab. Bis zur Merowinger Straße war es von hier aus ein Katzensprung. Das Anwesen der Giegelhundts, ein freistehendes Gebäude vermutlich aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts, stand etwas abseits der übrigen Anwesen in dieser Siedlung.

Sie öffnete das Gartentürchen und ging um das Haus herum, denn die Balkontür lag im rückwärtigen Bereich und war für die Nachbarschaft nicht einsehbar. Trotzdem blickte sich Svetlana vorsichtig nach allen Seiten um, bevor sie mit dem mitgeführten Geißfuß in Sekundenschnelle die Terrassentür aufhebelte.

Drinnen war ihr Auftrag schnell erledigt. Einen Laptop, ein Tablet, den DSL-Router mit Telefon und den Micro-Server packte sie in ihre mitgeführte Sporttasche, dann legte sie zwei identische Tarotkarten auf den Schreibtisch, genau an die Stelle, wo vorher der Laptop und der Micro-Server gestanden hatten.

 

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Abschließend ging sie die Kellertreppe hinab, durchsuchte noch kurz die dortigen Räumlichkeiten, griff in die Sporttasche und holte zwei Nebelgranaten hervor. Wie es ihr Auftraggeber von ihr verlangt hatte, zündete sie diese und floh in das Obergeschoss des Hauses. Dort schloss sie alle gekippten Fenster und betätigte den Reibzünder eines weiteren Nebelwurfkörpers, den sie mit Bedacht im Flur des Obergeschosses ablegte. Wieder stieg sie schnellen Schrittes die Stufen hinab ins Erdgeschoss, um dort den letzten Nebelwurfkörper zu zünden.

Die chemische Mischung aus Hexachlorethan, Aluminiumpulver und Zinkoxid bildete mit der Luftfeuchtigkeit einen starken Tarnrauch, der alle daktyloskopischen Spuren im Haus beseitigen sollte.

Sie verließ die Wohnung, schlich über die Terrasse wieder zurück zu ihrem Auto und verstaute die Sporttasche im Kofferraum. Alles lief perfekt. Als sie eine Minute später nach links in die Gründlacher Straße einbog, war der heutige Auftrag für sie erledigt.

Sie fuhr zurück in die Gartenlaube, in der sie seit drei Tagen lebte. Es war keine luxuriöse Bleibe, aber das Häuschen war gemütlich eingerichtet, sie hatte ein Dach über dem Kopf und es fehlte ihr an nichts. Die junge Russin aus der Moskauer Vorstadt war zufrieden. Und Aufträge wie diesen erledigte sie so routiniert wie andere ihre Lebensmitteleinkäufe.

Neben ihrer militärischen Ausbildung beim KGB war sie jahrelang im Westen als Kundschafterin tätig gewesen. Sie hatte Erfahrung im lautlosen Töten und bei der Anwendung von toxischen Opferfallen. Sie verstand ihren Job und machte ihn gut. Richtig gut.

 

Samstag, 23. August 2014, 15.22 Uhr, Frankenstadion, Nürnberg

Das Fußballspiel war zu Ende. Der Club hatte sein Heimspiel mit 0:1 verloren. Wieder einmal mussten sie sich den Frankfurtern geschlagen geben.

Auch Robert und sein Team hatten bereits alle wichtigen Spuren am Tatort gesichert. Für Schorsch und Horst war hier nichts mehr zu tun.

„Du, Robbi“, sagte Schorsch, „Horst und ich, wir fahren mal zur Wohnanschrift der beiden. Vielleicht treffen wir dort ja Angehörige, und die Todesnachricht muss ja eh irgendjemand überbringen, da kommen wir nicht drum herum. Ich gebe mal dem Kriminaldauerdienst Bescheid, dass wir diese unangenehme Arbeit übernehmen. Wir sehen uns ja dann am Montag.“

 

Die Fahrt in die Merowinger Straße dauerte wegen des regen Verkehrs rund um das Stadion etwas mehr als eine Dreiviertelstunde. Doch das Haus der Giegelhundts war nicht schwer zu finden. Es war mit wildem Wein bewachsen und machte einen gepflegten Eindruck. Das Carport, das direkt an das Haus angrenzte, war leer.

Die beiden Kommissare betraten das Anwesen durch das Gartentürchen, das sperrangelweit geöffnet war, und klingelten. Niemand öffnete.

„Die zwa sind heid beim Glubb, dou mejns nu a weng waddn“, schallte ihnen stattdessen eine Stimme aus ihrem Rücken entgegen. Horst und Schorsch drehten sich um und sahen eine ältere Frau mit einem Hund am Gartentürchen stehen. Offensichtlich eine Nachbarin.

„Obber Sie hom ja ah a Drikko oa, is des Spiel denn scho vorbei?“, quasselte die Frau fröhlich weiter.

Horst räusperte sich. „Guten Tag! Wohnt hier außer Frau und Herrn Giegelhundt noch jemand anderes?“ Er ignorierte die Frage der Hundebesitzerin und verzichtete auch darauf, sie beide als Kriminalkommissare vorzustellen. In ihrem Aufzug hätte sie sie womöglich eh nicht für voll genommen.

Die Nachbarin verneinte, verriet ihnen aber, dass die Giegelhundts keine Kinder hatten, aber immer nett und hilfsbereit waren. Dann zog sie ihren Hund beiseite, der gerade versuchte, den Pfeiler des Gartentürchens anzupinkeln, verabschiedete sich und ging schnellen Schrittes weiter.

Horst sah Schorsch an. „Mist, da hätten wir vielleicht gleich eine EMA-Abfrage starten sollen, dann hätten wir uns den Weg sparen können. Heute, an einem Samstag, nach weiteren Angehörigen zu forschen, ist fast unmöglich. Oder wollen wir die übrigen Nachbarn befragen – so in unseren Glubb-Outfits?“

Schorsch musste schmunzeln. „Wir können es ihnen ja als Symbol für mehr Bürgernähe verkaufen. Ab heute trägt die fränkische Polizei nur noch rot-weiß anstatt grün!“

Horst lachte aus vollem Halse, Schorsch jedoch wurde schnell wieder ernst. „So ein gepflegtes Anwesen … Aber warum steht die Gartentür sperrangelweit offen? Das stört mich irgendwie. Gehen wir mal ums Haus herum!“

Als sie die Terrasse betraten, erkannten beide sofort, dass Schorschs Instinkt wieder einmal richtig gewesen war. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen, wenn auch nur ein kleines Stück.

Mit den Worten „Hallo, ist hier jemand?“ betraten sie das Haus, dessen Boden, Mobiliar und Wände mit einem grauen Nebel belegt waren. Es glich einer dicken Staubschicht, doch Horst und Schorsch bemerkten sofort den abgebrannten Nebelkörper, der am Boden lag.

„Da hat wohl jemand versucht, Spuren zu beseitigen“, sagte Horst und versuchte, den Hustenreiz zu unterdrücken, den die Chemikalien sogleich bei ihm hervorriefen. Es gelang ihm jedoch mehr schlecht als recht, und Schorsch deutete ihm an, doch den Club-Schal als Schutz über das Gesicht zu halten.

Auch er hatte Nase und Mund mit seinem Schal abgedeckt und öffnete als Erstes das angrenzende Esszimmerfenster, um einen Durchzug auszulösen. Nach einer kurzen Wartezeit arbeiteten sie sich langsam durch das Wohnzimmer in die anderen Räume voran und stellten schnell fest, dass hier jemand offensichtlich etwas gesucht hatte. Im Büro des Anwesens fanden sie Zeitschriften, Briefe und sonstigen Schriftverkehr verstreut am Boden, Lade- und USB-Kabel lagen abgenabelt auf dem Schreibtisch. Lediglich der Drucker stand noch an Ort und Stelle, auf einem kleinen Beistelltisch neben dem Sekretär. Auch hier waren alle Gegenstände und Möbel mit einer grauen Schicht bedeckt. Als Schorsch um den Schreibtisch herumging, fiel sein Blick auf die zwei Tarotkarten, die dort so demonstrativ platziert waren, dass er sofort spürte, dass dies kein Zufall sein konnte.

Alle Spuren deuteten auf einen gewaltsamen Einbruch hin. Die Telefonbuchse im Flur war herausgerissen, und Horst konnte problemlos Hebelspuren an der Terrassentür ausmachen. Ihre Spusi musste her.

Schorsch griff zu seinem Mobiltelefon und verständigte den Kriminaldauerdienst, kurz KDD. Auch Robert Schenk und sein Team konnten sich den vorzeitigen Feierabend abschminken, es galt einen zweiten Tatort zu sichern. Zudem wurde immer wahrscheinlicher, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Tod der beiden Giegelhundts und dem Einbruch geben musste. Wie es schien, hatten sie es also doch mit einem Kapitalverbrechen zu tun.

 

Während die beiden Kommissare auf ihre Kollegen warteten, klingelte Schorschs Handy. Es war seine Freundin Rosanne.

„Na, mein Lieber“, flötete sie ins Telefon, „wie ist das Spiel ausgegangen? Ich freu mich ja schon so auf das Konzert heute Abend. Wusstest du, dass es schon seit Wochen ausverkauft ist?“

Schorsch musste kurz überlegen. Stimmt ja, für den heutigen Samstagabend hatten sie von ihrem Freund Leo zwei Karten für das Konzert „La Notte Italiana“ erhalten. Es war eine der schönsten Open-Air-Veranstaltungen in Franken und fand um zwanzig Uhr im Nürnberger Serenadenhof statt. Seit Wochen sprach Rosanne über nichts anderes beziehungsweise hörte die Arien und Duette aus „La Traviata“, „Norma“, „Tosca“ und „Don Giovanni“ rauf und runter. Er durfte sie nicht enttäuschen. Zudem hatte Leo heute auch noch Geburtstag und organisierte für seine engsten Freunde nach dem Konzert eine italienische Nacht in seinem Restaurant am Jakobsplatz.

„Hallo, meine Zaubermaus! Wir haben leider verloren. Und nicht nur das. Vor uns im Stadion ist ein Paar gestorben. Eine schreckliche und äußerst unangenehme Geschichte. Es sieht ganz nach einem Verbrechen aus. Aber später mehr. Ich bin mit Horst gerade noch im Anwesen der Opfer, versuche aber auf jeden Fall pünktlich zu sein, versprochen. Ich melde mich. Kuss!“

Schorsch schmatzte ins Telefon und beendete das Gespräch. Dann wandte er sich an Horst.

„Mensch, Horst, in vier Stunden beginnt ein Konzert, für das ich und Rosanne Karten geschenkt bekommen haben. Ich hoffe, Robert rückt bald mit seiner Mannschaft an. Ich muss diesen Termin heute Abend unbedingt wahrnehmen, sonst könnte es richtig Stress mit Rosanne geben.“

Horst grinste. „Das kriegen wir schon hin. Der KDD wird Robert bereits informiert haben, und die Tatortsicherung werden die auch ohne uns hinbekommen. Wenn es überhaupt noch Spuren gibt! So wie es hier ausschaut, waren Profis am Werk. Spusi, ade! Also mach dir keine Gedanken, sobald die Kollegen eingetroffen sind, rücken wir ab. Wir haben beide ein dienstfreies Wochenende, dafür gibt's ja auch unseren Bereitschaftsdienst.“

 

Es dauerte noch bis kurz nach fünf, bis die Herbeigerufenen tatsächlich eintrafen. Jetzt erst konnte eine Objektabklärung, also eine genaue Durchsuchung und Skizzierung der Räumlichkeiten, erfolgen. Trotz ihres Vorsatzes entschlossen sich Schorsch und Horst, doch noch ein paar Minuten länger am Tatort zu bleiben. Sie wollten die ersten Eindrücke der Spurensicherer erfahren.

Als Erstes aber legten alle anwesenden Beamten Staubschutzmasken an, bevor sie zur eigentlichen Tatortsicherung übergingen. Bei dieser kamen dann einige Überraschungen ans Licht.

Das alte Backsteinhaus mit seinen grünen Tür- und Fensterelementen passte an sich sehr gut in die Wohngegend. Insbesondere der wilde Wein, der fast die ganze Vorderfront bewucherte, hatte einen besonderen Reiz, dachte Schorsch. Solch ein hübsches Anwesen mit einem großzügigen Garten fand man heute sehr selten in dieser Gegend.

Im Wohnzimmer fiel auch erst einmal das gepflegte – wenn auch von grau-weißem Staub überzogene – Interieur auf, das den Charme eines alten Landhauses versprühte. Der Dielenboden knarrte ein wenig, doch auch das passte zum Ambiente. Genau wie der große offene Kamin, der im englischen Stil gehalten war und dessen beide Seiten aus Sandsteinquadern bestanden. An den oberen Spitzen erkannte Schorsch eine ihm bekannte Steinfigur. Es war eine verkleinerte Nachbildung des „Gargoyle“ von Notre Dame de Paris, dem wasserspeienden Drachen.

Unweit vom Kamin stand eine moderne Couchgarnitur aus schwarzem Leder, vor der sich ein außergewöhnlicher Tisch befand. Als besonderes Merkmal hatte dieser vier bronzefarbene Widderköpfe als Tischbeine, die in alle vier Himmelsrichtungen ausgerichtet waren. Auf den vier Köpfen war eine rechteckige schwarze Steinplatte aufgesetzt, in deren Mitte sich ein seltsames metallenes Zeichen befand.

„Ein Pentagramm“, kommentierte Robert trocken. „Haben wir da etwa einen alten Opfertisch vor uns?“

Schorsch betrachtete das seltsame Möbelstück genauer. Die Widderköpfe waren von Staub, aber auch grüner Patina überzogen, und die Tischplatte wies etliche Kratzspuren auf. Es war augenscheinlich ein wirklich alter Tisch. Aber dass es sich um einen Opfertisch handeln sollte, darauf wäre Schorsch nie gekommen.

„Das ist in der Tat ein Pentagramm“, bestätigte nun auch Horst. „Sieht aus wie ein Teufelstisch!“

Schorsch warf seinem Kollegen einen ungläubigen Blick zu. „Woher weißt denn du, wie so was aussieht? Du bist doch unser Engelchen!“

Horst verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. Er wollte gerade zum Konter ansetzen, da ertönte eine Stimme aus dem Keller: „Leute, kommt mal alle runter und seht euch das hier an! Das glaube ich jetzt nicht!“ Es war Ute Michel, Roberts rechte Hand, die mit zwei Leuten die Kellerörtlichkeiten unter die Lupe nahm.

Schorsch, Horst und Robert begaben sich in den Keller. Der beißende Geruch der chemischen Substanz, die dort verteilt worden war, hatte sich etwas gelegt, nachdem die Beamten für ein wenig Durchzug gesorgt hatten. Ute empfing die drei im Türrahmen einer alten Luftschutztür.

„So etwas habe ich noch nicht gesehen, seht mal!“, forderte sie die drei auf, näher zu kommen.

Neugierig gingen die Männer auf die Tür zu und betraten den Raum, der dahinter lag. Es war jedoch eigentlich kein richtiger Raum, eher ein Zugangsbereich, der auf zwei weitere Räume hinwies. Auf dem Boden bemerkten sie eine abgebrannte Nebelkerze.

Der Raum, der sich links von der alten Luftschutztür befand, war als Wohnraum eingerichtet. Er war circa sechs Meter lang und drei Meter breit und in einer dunklen Petrolfarbe gestrichen, die nun ebenso mit einem grauen Schleier überzogen war. Im hinteren Teil befand sich eine schlichte weiße Kloschüssel ohne Deckel, nur mit Brille, die links von einem weißen Waschbecken flankiert wurde. Im Raum selbst standen ein graues Sofa, ein Regal aus Holz, ein Bett und ein Tisch mit einem Stuhl. Der Boden war mit einem gemusterten Stragula-Bodenbelag versehen. Eine Neonleuchte, die über dem Bett hing, und eine alte schwarze Schiffslampe über der Toilette waren die einzigen Leuchtmittel im Raum. Es gab kein Fenster, lediglich dicke Glasbausteine, die im oberen Viertel der knapp drei Meter hohen Mauern eingelassen waren, ließen Licht in das vermeintliche Verlies. In den vorhandenen Holzkommoden waren neben Frauenbekleidung auch Kosmetiksachen und Hygieneartikel gelagert. Es sah in der Tat nach einer etwas zu komfortabel geratenen Gefängniszelle aus.

„Und das in einem privaten Wohnhaus in einer ach so schicken Wohngegend! Unfassbar!“, grummelte Horst vor sich hin.

„Das ist leider noch nicht alles“, sagte Ute und forderte die Männer auf, ihr in den anderen Raum zu folgen, der rechts hinter der Luftschutztür lag. „Aber ich muss euch gleich enttäuschen, denn auch hier haben die Einbrecher einen Nebelkörper gezündet. Das nenne ich wirklich Spurenvernichtung par excellence!“

Beim Betreten des circa fünfundvierzig Quadratmeter großen Zimmers verschlug es allen die Sprache. Vor ihnen stand eine Art Altar von etwa drei Metern Länge und zwei Metern Breite. In der Mitte dieses Altars – oder Opfertischs? – hing ein tellergroßes Pentagramm, allerdings mit der Spitze nach unten, das von der Gewölbedecke mit einer Kette über dem Altar fixiert war.

Spontan bemerkte Horst: „Schau an, ein gestürztes Pentagramm oder auch Drudenfuß genannt! Wieder ein Zeichen des Bösen. Da sind wir wohl mitten in einem Teufelstempel angelangt.“

Schorsch verzog angewidert den Mund, während Horsts Neugier offensichtlich geweckt war. Er inspizierte die Gegenstände auf dem Altar genauer.

„Diese zwei Schädel hier stammen eindeutig von Tieren, ich vermute mal, es handelt sich um Ziegen- oder Widderschädel. Das würde ja auch zu dem Mobiliar im Wohnzimmer passen. Und das hier –“ Horst deutete auf zwei Brocken, die aussahen wie vertrocknete Organe. „Das könnten die mumifizierten Herzen dieser Tiere sein. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht, das müssen selbstverständlich unsere Spezialisten abklären.“

Direkt unter dem Pentagramm stand ein dickes altes Buch senkrecht aufgestellt auf einer silbernen Schale. Auf beiden Seiten des Buches lag jeweils eine Tarotkarte. Die linke zierte ein Teufelskopf und die römischen Ziffer XV, auf der rechten waren die römische Zahl XIII und das Bild eines Sensenmannes, also des Todes, zu sehen.

„Sieh an, dieselbe Tarotkarte haben wir doch im Obergeschoss gefunden, die mit der römischen Ziffer für dreizehn“, meinte Schorsch.

„Sieht nach einem Schauplatz für Schwarze Messen aus“, stellte Ute Michel nüchtern fest.

Alle drei Männer stimmten ihr zu, obgleich sie kein Wort sagten, sondern nur ein leichtes Kopfnicken andeuteten.

Im hinteren Teil des Raumes befand sich zudem ein schwarzes hölzernes Andreaskreuz, an dessen oberen und unteren Enden Handfesseln angebracht waren.

„Da schau her, so ein Andreaskreuz hatte Gerry Huber auch in seinem Swingerclub“, bemerkte Schorsch lapidar und erinnerte sich an die Mordsache Falk Thalmann am Nürnberger Pulversee, die sie 2009 gemeinsam aufgeklärt hatten.1 Damals hatte er gehofft, so etwas nie wieder zu Gesicht zu bekommen.

„Der markante Tisch im Wohnzimmer, das Verlies und der okkulte Opferraum hier im Keller lassen nur den Schluss zu, dass wir es hier mit Anhängern der Satanistenszene zu tun haben“, fasste er ihre Entdeckungen zusammen. „Unsere beiden Opfer waren offensichtlich nicht so harmlos, wie sie auf den ersten Blick aussahen, sondern ausgefuchste Teufelsanbeter. Darauf hin deutet auch die Mitgliedskarte dieses Clubs, die wir bei ihren Personalien gefunden haben.“

Keiner der Anwesenden widersprach ihm. Schorsch warf einen Blick auf sein Männerspielzeug – so bezeichnete er selbst seine Uhr einer bekannten Schweizer Uhrenmanufaktur, deren Gründer aus dem oberfränkischen Kulmbach stammte, und die er heiß und innig liebte. Schon kurz vor halb sieben! Wenn ich heute nicht selbst noch gevierteilt werden will, muss ich jetzt los, dachte Schorsch, musste aber im selben Moment schmunzeln. Vor seinem inneren Auge tauchte Rosanne mit Teufelshörnern auf dem Kopf und einem Dreizack in der Hand auf. Aus ihren Nasenlöchern trat Dampf aus, und ihre Wangen glühten wie zwei feuerrote Herdplatten. Ein urkomisches Bild, das dem ganzen Spuk hier zumindest ein bisschen Humor verlieh!

Er verdrängte die Vorstellung schnell aus seinem Kopf, bevor er laut loslachen musste, und wandte sich mit ernster Miene an Robert. „Ich nehme an, ihr kommt jetzt ohne mich hier zurecht. Ich habe nämlich noch was vor und außerdem das Wochenende frei. Aber ich bin jetzt schon gespannt auf euer erstes Ergebnis – wenn ihr hier überhaupt noch Spuren findet! Und natürlich auf das, was Doc Fog über die Todesumstände der Giegelhundts in Erfahrung gebracht hat. Wir sehen uns dann am Montag.“ Er blickte zu Horst und forderte ihn auf, ihm zu folgen. „Komm, pack mer's!“

Beide verließen das Anwesen und gingen zu Schorschs Strich-Acht, den sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt hatten.

Die Zeit drängte, Schorsch wollte unbedingt pünktlich sein. Er setzte Horst am U-Bahnhof Friedrich-Ebert-Platz ab, denn von dort aus erreichte der bequem den Hauptbahnhof und im Anschluss seine S-Bahn nach Schwarzenbruck, wo der Kriminaloberkommissar Zeit seines Lebens zu Hause war.

 

Samstag, 23. August 2014, 18.53 Uhr, Pilotystraße, Nürnberg

Schorsch stand gerade noch unter der Dusche, als die Badezimmertür aufging und Rosanne hereinkam. Sie hatte sich für die italienische Nacht besonders herausgeputzt. Ihr enges kirschfarbenes Seidenkleid war supersexy geschnitten, das Dekolleté lag frei und betonte ihren fraulichen und doch athletischen Körper. Dazu trug sie die passenden Ohrringe mit Halskette. Es waren kleine rote Steine in Herzform. Die Halskette mit dem Anhänger lag kunstvoll auf ihrer sonnengebräunten Haut oberhalb ihres Busens. Ihre Haare hatte sie wie immer hochgesteckt, der Lippenstift betonte ihre zarten Lippen, und ihre kirschroten High-Heels waren wie immer waffenscheinpflichtig.

Schorsch blickte auf die Uhr, die über der Badezimmertür hing. Nein, für das, woran er gerade gedacht hatte, blieb ihnen keine Zeit mehr. Ihr Blick verriet, dass sie dieselben Gedanken hatte wie Schorsch, weshalb sie ihn keck ansah und murmelte: „Später, mein Bester! Später …“

 

Kurz vor drei viertel acht hatten sie den Eingangsbereich zum Serenadenhof erreicht. Leo, der in Begleitung einer hübschen Italienerin bereits ungeduldig auf Rosanne und Schorsch wartete, begrüßte sie freudestrahlend.

Er hatte sich zu seinem Geburtstag so richtig fesch gemacht. Leo trug wie Schorsch einen schwarzen Anzug, wobei er im Gegensatz zu seinem Freund keine Krawatte trug. Bei seinem Seidenhemd hatte er die oberen drei Knöpfe wie immer offen gelassen, sodass sein goldener Kreuzanhänger und seine behaarte Brust zum Vorschein kamen. Das gehörte einfach zu ihm, und an diesem Abend war er damit auch nicht alleine. Schließlich sollte es ja eine italienische Nacht werden.

Das Konzert war berauschend, und Rosanne musste sich zurückhalten, die Opernlieder nicht lauthals mitzusingen. Zum Glück hielt auch das Wetter, sodass es ein wahrlich romantischer Sommerabend wurde, für den sich die Hetzerei am Nachmittag mehr als gelohnt hatte.

 

Kurz vor dreiundzwanzig Uhr erreichten sie Leos Restaurant. Anlässlich seines Geburtstages hatte sich Leo etwas Besonderes für seine Gäste einfallen lassen. Im hinteren Teil des Lokals, also im Außenbereich, hatten seine Angestellten eine kleine Feuerstelle aufgebaut und ringsherum die Tische eingedeckt. Darauf standen schon verschiedene Weinkaraffen.

Im Hintergrund lief leise der Song „Senza Una Donna“ von Zuccero, als Leo nochmals alle herzlich begrüßte. Rosanne und Schorsch überreichten ihm ein Kuvert. Sie hatten für Leo ebenfalls zwei Konzertkarten besorgt, für ein Klavierkonzert in der Meistersingerhalle.

Kurze Zeit später kam das Essen. Als Vorspeise gab es Arancini, also frittierte Reisbällchen mit einer Hackfleischfüllung, sowie Caponata, eine süß-sauer zubereitete Speise aus Paprika, Auberginen, Kapern und Zwiebeln. Als Hauptspeise reichte Leo dann Sarde a beccafico, das waren gefüllte Sardinen zubereitet nach einem Geheimrezept seiner Oma aus Favara. Zur weiteren Auswahl hatte er noch gegrillten Schwertfisch für seine Gäste auftragen lassen.

Als dann gegen halb eins noch sein hausgemachtes Tiramisu serviert wurde, mussten einige der Gäste ihre Gürtel öffnen. Leos Gastfreundschaft war wie immer grenzenlos und seine Großzügigkeit beispielhaft.

 

Es war kurz vor drei Uhr nachts, als das Taxi vor der Tür stand, das Schorsch und Rosanne zurück in die Pilotystraße bringen sollte. Leicht beschwipst stiegen sie ein und kuschelten sich auf der Rückbank aneinander, während sie durch die Nürnberger Innenstadt chauffiert wurden.

Was für ein gelungener Abend! Und er war noch nicht zu Ende. Kaum zu Hause angekommen, fielen sie übereinander her. Jede Müdigkeit war wie weggeblasen, und nach diesem üppigen Mahl war ein bisschen „Bewegung“ ja auch mehr als willkommen.

Um kurz nach vier Uhr löschte Rosanne endgültig das Licht, und die beiden fielen sofort in einen tiefen Schlaf.

 

Sonntag, 24. August 2014, 10.42 Uhr, Pilotystraße, Nürnberg

Schorsch kraulte Rosanne sanft den Rücken, sodass sie langsam aus ihrem Schlaf erwachte. Sie wollten doch heute das Weißenbrunner Naturgartenbad besuchen, eines der schönsten Naturbäder im Nürnberger Land. Und da es ein richtig heißer Augustsonntag werden sollte, mit Temperaturen um die dreißig Grad, mussten sie sich beeilen, um dort noch einen guten Platz zu bekommen.

Als sie schließlich dort ankamen, waren wie erwartet die besten Plätze schon weg, doch sie hatten Glück und ergatterten ein Fleckchen, das schon in wenigen Minuten ebenfalls im Schatten liegen würde. Seit seiner Diagnose Präkanzerosen, also einer Vorstufe zu Hautkrebs, und seiner schmerzlichen Behandlung im vergangenen Jahr war Schorsch mächtig vorsichtig geworden und vermied es tunlichst, sich allzu lang intensiver Sonne auszusetzen. Rosanne hatte nichts dagegen, sie war sowieso schon so braun wie ein Grillhähnchen. Ihr von Natur aus bronzefarbener Teint wurde nämlich schon bei kleinster Sonneneinstrahlung noch dunkler, und das Wort „Sonnenbrand“ kannte sie nur vom Hörensagen.

Es wurde ein entspannter Nachmittag, den sie nach einer anstrengenden Arbeitswoche beide auch dringend nötig hatten. Und auch für den Abend hatten sie sich nichts weiter vorgenommen, als ihr Sonntagabendritual zu genießen, das darin bestand, zusammen den Krimi im Ersten zu schauen und dabei ein paar Knabbereien aufzutischen.

2. Kapitel

Montag, 25. August 2014, 07.04 Uhr, Polizeipräsidium Nürnberg, K11

Schorsch war ein Frühaufsteher. Bereits gegen drei viertel sieben am Morgen verließ er die Wohnung, während Rosanne noch ein wenig weiterdöste. Sie, die als Pressesprecherin bei Siemens in Erlangen arbeitete, hatte ihren ersten Termin heute erst um zehn Uhr, weshalb sie sich Zeit lassen konnte. Schorsch drückte ihr zum Abschied einen sanften Kuss auf den Mund.

Doch Schorsch war nicht der Einzige, der den heutigen Tag schon früh begann. Auch Robert Schenk stand bereits wartend mit seinem vorläufigen Bericht in der Hand vor Schorschs Bürotür, als dieser den Flur entlangkam.

„Guten Morgen, Schorsch! Ich hoffe mal, dass der Herr Kärcher am Samstag auch Überstunden geleistet hat und unser Frankenstadion wieder in altem Glanz erstrahlt.“ Robert grinste ihn an und übergab ihm eine graue Umlaufmappe mit seiner ersten Vorauswertung.

Da musste natürlich auch Schorsch grinsen. „War schon eine ganz schöne Sauerei – dem Erfinder des Hochdruckreinigers sei Dank!“ Er übernahm die Umlaufmappe und bot Robert einen Kaffee an. Der nahm dankend an, setzte sich Schorsch direkt gegenüber auf einen Bürostuhl und streckte die Beine aus.

Während Schorsch den Spurenbericht überflog, wippte der Leiter der Spurensicherung ungeduldig mit dem Stuhl. Da dies Schorsch nach kurzer Zeit zu nerven begann, ließ er von dem Bericht ab und erwartete stattdessen Roberts mündliche Zusammenfassung. Der ließ sich nicht lange bitten.

„Also, die beiden Giegelhundts haben ganz klar etwas mit der Satanistenszene zu tun. Ich habe mich gestern Nachmittag mit dieser Thematik ein wenig befasst, denn die Tatortsicherung am Samstag in der Merowinger Straße hat mich ganz schön beschäftigt. Im ganzen Haus haben wir keine Fotos oder andere Hinweise auf Freunde oder Verwandte gefunden. Zudem haben die gezündeten Nebelkörper ganze Arbeit geleistet. Kein wirklich verwertbarer Fingerabdruck konnte gesichert werden, lediglich die der beiden Opfer waren im Inneren der Spülmaschine und am Abfalleimer vorhanden. Dieser chemische Nebel hat sich fast überall durchgefressen und abgelegt. Aber eines ist sicher: Beim Einbruch wurden sämtliche Computer und Telefone entwendet. Da hat es jemand auf deren Kommunikation abgesehen. Fragt sich bloß, warum?“ Robert guckte Schorsch fragend an.

„Hm“, war alles, was Schorsch darauf entgegnete. Ihn beschäftigte etwas anderes. „Ich bin gespannt, welche Todesursache unser Doc feststellt.“

„In den Müll- und Abfalleimern haben wir jedenfalls keinerlei Rückstände auf giftige Substanzen gefunden“, fuhr Robert fort. „Auch die Essensreste in der Spülmaschine zeigten keinerlei Hinweise auf mögliche Giftstoffe. Die müssen also irgendwo anders etwas Falsches gegessen haben, oder sie wurden direkt beim Spiel mit ihrer letzten Mahlzeit konfrontiert.“

„Gibt es schon weitere Erkenntnisse zu den Räumlichkeiten im Keller? Ich weiß, blöde Frage, weil es ja gerade mal knapp vierzig Stunden zurückliegt. Ich möchte dein Team auch nicht überstrapazieren, aber die ganze Situation im Haus der Giegelhundts und der Vorfall im Stadion – das ist doch irgendwie verdammt merkwürdig!“

In diesem Augenblick betrat Horst das Büro, der sich auf den neuesten Stand bringen ließ, noch bevor er sich den ersten Kaffee einschenkte.

Schorsch wusste, dass sie ihren Kommissariatsleiter Raimar Schönbohm so schnell wie möglich über die Vorkommnisse und den aktuellen Stand in Kenntnis setzen mussten. Er wählte gerade dessen Nummer, als just in diesem Moment Schönbohm sein Büro betrat.

Der Fall war schnell geschildert.

Schönbohm, der inzwischen in einem Sessel Platz genommen hatte, schwieg einige Sekunden, dann sagte er: „Meine Herren, da bin ich ja auf das Obduktionsergebnis von Professor Nebel gespannt. Das scheint ja ein mysteriöser Fall zu sein. Habt ihr unsere Kollegen vom Einbruch schon unterrichtet?“

„Wojtek Jednoralski hat schon einen Abdruck meines vorläufigen Berichts per Mail erhalten“, klärte ihn Robert Schenk auf, „aber ob der Einbruch separat behandelt werden sollte, also nicht ursächlich mit dem Tod der beiden Opfer zusammenhängt, bezweifle ich. Mir schwebt da doch ein gewisser Tatzusammenhang vor. Aber warten wir erst mal den Befund von Doc Fog ab.“

Schorsch und Horst bestätigten Roberts Aussage durch ein zustimmendes Nicken.

„Haben wir eigentlich die Auswertung der Überwachungskameras im Stadion?“, wandte sich Schorsch an Robert.

„Ja, an die haben wir auch gedacht. Heute um halb zehn sind Verantwortliche des Vereins vor Ort, die mit unseren Männern das Material sichten werden“, antwortete Robert.

„Dann fahren wir doch da gleich mal vorbei!“, schlug Horst vor. „Wenn es irgendeine Filmsequenz geben sollte, die zur vermeintlichen Tatzeit auf Merkwürdigkeiten in diesem Tribünenabschnitt hindeuten sollte, dann hätten wir schon mal einen ersten Ansatz.“

„Ich komme mit“, sagte Schorsch, „aber lass uns erst einmal unsere montägliche Lagebesprechung durchführen.“

Schönbohm stand auf. „Nun gut, meine Herren, dann sehen wir uns um neun Uhr im großen Besprechungsraum.“

 

Montag, 25. August 2014, 09.02 Uhr, Polizeipräsidium Nürnberg, K11, Besprechungsraum 1.102

Pünktlich um neun fanden sich alle K11er im Besprechungsraum ein. Der Kaffeevollautomat trotzte jeder Dauerbelastung, und als dann Gunda noch ihr Backblech mit Schwarzbeerkuchenstreusel präsentierte, war der Start in die letzte Augustwoche perfekt.

Wie immer waren die beiden Oberpfälzer, Kommissariatsleiter Schönbohm und der Kollege Sebastian „Basti“ Blum die Ersten, die einen Pappteller ergatterten und sich auf den Kuchen stürzten. Das kam Blacky, wie sie Kriminalkommissar Roland Löw gemeinhin nannten, gerade recht, um vor der Besprechung noch einen Scherz über die Oberpfälzer zu platzieren. Aber die beiden Leidtragenden gaben diesmal Paroli und hatten den passenden Witz für den Fürther Kollegen parat:

 

Drei Franken werden zum Tode verurteilt, ein Nürnberger, ein Bamberger und ein Fürther. Exekution durch Gewehr!

Sagt der Nürnberger zu den beiden anderen: „Ich habe gehört, dass die Leute von der Exekution sehr leichtgläubig sind. Vielleicht könnten wir es irgendwie schaffen zu entkommen.“

Der Nürnberger wird zur Exekution ins Freie gebeten.

Der Exekutionskommandeur ruft: „Gewehre anlegen!“

Da schreit der Nürnberger plötzlich laut: „Erdbeben!“

Die Leute glauben ihm das, laufen weg, und der Nürnberger entkommt.

Der Bamberger denkt: „Das schaff ich auch.“

Er wird zur Exekution gebeten.

Der Kommandeur ruft: „Gewehre anlegen!“

Der Bamberger schreit: „Sturmflut!“

Die Leute glauben ihm auch das und laufen weg. Der Bamberger ist frei.

Da denkt sich der Fürther: „Das schaffe ich auch.“

Der Fürther wird zur Exekution freigegeben.

Der Kommandeur ruft: „Gewehre anlegen!“

Und der Fürther schreit: „Feuer!!!“

 

Alle im Raum mussten lachen, denn diesmal waren eindeutig die beiden Oberpfälzer auf der Gewinnerseite.

Dennoch war die K11 nicht komplett, denn es war noch Urlaubszeit und die Kollegen Eva-Maria Flinn und Hubert „Hubsi“ Klein befanden sich noch im Sommerurlaub. Beide würden erst wieder im September ihren Dienst antreten.

Neben den Todesermittlern waren natürlich auch die Kollegen der Spurensicherung, des Kriminaldauerdienstes sowie Kollege Michael Wasserburger von der Kriminaltechnischen Untersuchung (KTU) vertreten, als Schorsch und Robert ihre bisherigen Ermittlungsergebnisse vom Samstag vortrugen. Da bis dato immer noch nicht feststand, ob es sich bei den Todesfällen um ein schreckliches Unglück, also um eine mögliche Pilzvergiftung handelte – so die bisherige Einschätzung des Notarztes – oder um ein Verbrechen, war der Fall anhand der misslichen Spurenlage am zweiten Tatort doch eher spekulativ. Die entscheidende Antwort konnte deshalb nur einer geben: Doc Fog!

Nach der kurzen Lagebesprechung gingen alle Kollegen erst einmal zu ihrem Tagesgeschäft über. Abgesehen von Schorsch und Horst, die wollten einer möglichen ersten Spur nachgehen. So fuhren sie gemeinsam zum Verwaltungsgebäude des 1. FC Nürnbergs in der Hoffnung, dass die Videobänder der Überwachungskameras einen möglichen Hinweis auf ein Kapitalverbrechen liefern würden.

 

Es war kurz nach elf, als sie Herrn Ott von der Geschäftsleitung des Frankenstadions antrafen und ihm ihr Anliegen auf Herausgabe der Videobänder mitteilten.

„Tja, Herr Bachmeyer, gerne würde ich Ihnen weiterhelfen, aber genau in der Nordkurve wurde die Leitung dieser Überwachungskamera am Samstag kurz vor Spielbeginn durchtrennt. Jemand hat mit einem Seitenschneider die Zugangsleitung dieser Kamera durchgeschnitten. Das hatten wir noch nie! Da kommt man auch schwer hin, weil die Leitungen in Eisenrohren verlaufen. Nur die untere Übergangsstelle, also der Knickbogen, liegt etwa drei Zentimeter frei und ist somit ungeschützt. Und genau da haben diese Burschen die Leitung gekappt“, klärte Herr Ott die beiden Kommissare auf.

„Vielen Dank“, erwiderte Schorsch, „Sie haben uns trotzdem sehr geholfen, Herr Ott. Das ist nur ein weiteres Indiz dafür, dass hier jemand einen verbrecherischen Plan ausgearbeitet hat. Nur das Motiv kennen wir nicht – noch nicht!“

Schorsch und Horst stellten noch ein paar weitere Fragen rund um die Sicherheitsvorkehrungen im Stadion, verließen dann aber ohne großartige neue Erkenntnisse gegen Mittag das Vereinsgelände.

„Mittagessen im Präsidium? Oder was meinst du, Schorsch?“, fragte Horst. „Heute gibt es Baggers mit Apfelmus und Zimt bei der Anneliese – all you can eat, wie man so schön auf Neudeutsch sagt. Und du weißt ja, ihre Baggers kommen gleich nach denen meiner Oma.“

„Gute Idee!“, antwortete Schorsch und lenkte den Wagen wieder Richtung Innenstadt.

 

Als Schorsch sich nach dem elften Baggers einen doppelten Espresso zog, klingelte sein Mobiltelefon. Im Display erschien die Telefonnummer von Gerichtsmediziner Alois Nebel, dem Doc Fog. Schorsch nahm das Gespräch an.

„Sers, Alois, sag bloß, du bist mit den beiden schon fertig?“

„Am besten, du setzt dich nach der Mittagspause in dein Auto und kommst mal auf einen Abstecher vorbei“, antwortete der bloß. „Es gibt da interessante Neuigkeiten für euch.“

„Für das K11? Etwa ein Tötungsdelikt?“

„Ja, ein Kapitalverbrechen in Form eines Giftmordes und noch ein paar weitere Ungereimtheiten. Beide Opfer gehörten vermutlich der Satanistenszene an und haben auf der linken Fußsohle jeweils ein Mal, genauer gesagt, wurde ihnen dort ein Pentagramm eintätowiert. Es ist aber kein oberflächiges Tattoo, wie wir es von normalen Menschen kennen, sondern sehr tief gestochen. Das tat vermutlich richtig weh! Kommt mal vorbei, das müsst ihr euch selbst ansehen. Und dann kann ich euch auch in aller Ruhe erzählen, wie die beiden vergiftet wurden.“

Schorsch beendete das Telefonat, blickte in die Runde seiner Kollegen, die mit ihm am Tisch saßen, und nahm den letzten Schluck seines doppelten Espressos. „Leute, wir haben ein neues Tötungsdelikt. Das Ehepaar Giegelhundt gehörte, wie wir bereits befürchtet haben, der Satanistenszene an. Und sie sind nach Alois' Befund vergiftet worden. Ich informiere gleich mal Schönbohm und Oberstaatsanwalt Dr. Menzel, vielleicht wollen die beiden ja auch mitkommen. Alois hat die beiden noch auf dem Tisch liegen.“

 

Montag, 25. August 2014, 14.08 Uhr, Institut für Rechtsmedizin, Erlangen

Tatsächlich ließen es sich Raimar Schönbohm und Dr. Menzel nicht nehmen, beim Vortrag des Obduktionsberichts dabei zu sein. Einen Giftmord hatten sie schon lange nicht mehr ermittelt. Und noch etwas machte alle vier Beamte neugierig: das besagte Pentagramm auf den Fußsohlen der beiden Opfer.

Es war kurz vor halb drei, als sie ihren Dienstwagen vor der Rechtsmedizin abstellten und sich zum Eingangsbereich begaben. Doc Fog, den sie zwischenzeitlich über ihr Erscheinen informiert hatten, hatte an der Pforte die Hinterlegung der blauen Medizinerkittel veranlasst. Als sie sich alle umgezogen und ihren Besucherausweis gut sichtbar am Revers befestigt hatten, geleitete sie ein Mitarbeiter von Doc Fog zum Aufzug in den Obduktionsraum, der unmittelbar an den großen Sektionsraum für seine Studenten angrenzte.

Allen vieren war nun doch ein bisschen mulmig zumute. Hier in diesen weiß gekachelten Räumlichkeiten wurde die Todesursache eines jeden Einzelnen bestimmt, der nicht eines natürlichen Todes gestorben war. Und ein Mord war selbst für die vier Männer, die tagtäglich mit Verbrechen zu tun hatten, immer etwas Besonderes – etwas besonders Grausames.

Ein strenger Geruch nach Formalin und Desinfektionsmittel lag in der Luft, den Doc Fog und seine Leute vermutlich gar nicht mehr wahrnahmen. Ungefähr so, wie wenn einer von uns im Schießkino seine turnusmäßigen Schießübungen vollzieht, dachte Schorsch. Da nimmt man als Waffenträger den Pulvergeruch und dessen Verbrennungsrückstände auch irgendwann nicht mehr wahr.

Doc Fog wartete in seinem Büro. Es war ein abgetrennter Raum mit einer großen breiten Glasfront, die den Blick zu den zwei Obduktionstischen erlaubte. Neben dem Computer standen verschiedene technische Instrumente, und links von seinem Schreibtisch hatte der Doc eine kleine Exponatensammlung aufgestellt. Hier lagen außergewöhnliche Stücke, darunter auch eine Zahnbrücke aus Titan aus der Nazizeit, welche zu Selbsttötungszwecken für die Aufnahme einer Zyankalikapsel bestimmt war.

„Hallo, meine Herren, kommen Sie erst einmal herein und nehmen Sie Platz, bevor wir uns den beiden Leichen widmen.“ Doc Fog konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und wies die vier auf seine Besprechungsecke hin, wo er schon eine silberne Thermoskanne mit Kaffee und englisches Buttergebäck für sie bereitgestellt hatte.

Aber noch bevor Doc Fog beginnen konnte, wurde ihre Aufmerksamkeit durch Horsts unverhohlene Neugier auf die Exponatensammlung gelenkt. Es war jedoch nicht die Titanbrücke, die ihn so brennend interessierte. Das fiel auch Doc Fog auf. Er grinste Horst an und meinte dann: „Ach ja, ich habe da ja ein neues, ganz besonderes Stück, das erst seit ein paar Wochen hier bei mir in der Sammlung liegt.“

Er deutete auf ein Teil, dessen Nutzen auf den ersten Blick nicht zu erkennen war.

„Ein Unternehmer aus dem Fürther Landkreis hat da beim erotischen Basteln einen Fehler gemacht und dafür mit seinem Leben bezahlt.“ Der Professor drehte das Teil in seiner Hand, sodass die vier Männer es von allen Seiten betrachten konnten. „Es handelt sich hierbei um eine selbstgebastelte kupferne Penismanschette mit Kupfersäcken für den Hodensack, welche bei einem autoerotischen Selbsttötungsfall nach Elektrostimulation beim Opfer vorgefunden wurde.“

Die Männer warfen sich verwunderte Blicke zu. Doc Fog schmunzelte und genoss die Aufmerksamkeit, die sein „Objekt“ bei den vier Kriminalern erregte.

„Nun ja, eigentlich ist es nichts anderes als ein handelsübliches Kupferdrahtgeflecht, das normalerweise zu hochfrequenten Abschirmungen eingesetzt wird. Der hier –“ Der Doc zeigte auf das Foto, das die Auffindesituation des Opfers darstellte. „… wollte sich damit einen Megaorgasmus verschaffen, indem er sich daraus ein Metallsäckchen bastelte. Damit umschloss er seinen Hodensack, dann legte er dorthin eine Drahtverbindung mit einer Krokodilklemme. Anschließend legte er sich die zweite Drahtverbindung, ebenso mit einer Krokodilklemme, an sein Prinz-Albert-Piercing.“ Der Doc deutete auf das Intimpiercing, das die Eichel des Mannes durchdrang. „Diese beiden getrennt verlaufenden Drahtverbindungen liefen dann hier an diesem selbstgebastelten Bedienelement zusammen. Dieses hatte er mit einem Drehwiderstand verbunden.“ Doc Fog zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf den Drehknopf. „Wie gesagt, unser Mittelständler wollte sich so den ultimativen Orgasmus herbeiführen. Autoerotik bedeutet ja, sich selbst den größten Kick an sexueller Lust zu verschaffen. Das fängt mit Masturbation an, wobei es bei den meisten Menschen auch bleibt. Aber einige, wie dieser hier, begnügen sich nicht damit und hantieren mit den unglaublichsten Gegenständen, beispielsweise Staubsaugern oder eben mit einer angedachten Stromstimulation des Geschlechtsteils. Der Bastler masturbierte zuerst, dabei hatte sich das Kupfersäckchen schon um den Hodensack angelegt. Dann wollte er den Kick und legte sich die zweite Stromzufuhr an das Piercing an.“ Der Doc zeigte nun mit einem Kuli auf die weiteren Tatortbilder. „Anschließend legte er den Schalter der elektrischen Zuleitung um. Durch die zwei angelegten Pole konnte er die Stromzufuhr mit dem Drehwiderstand regulieren. Seinen Aufzeichnungen zufolge hätten ihm die angedachte Stromwirkung von circa zwei Milliampere und eine zu regulierende Gleichstromspannung von sechs bis hundertzwanzig Volt in der Tat ein erotisches Mega-Happy-Event beschert. Doch der Regulierungswiderstand wurde ihm zum Verhängnis, das konnte ein Sachverständiger nachweisen. Er muss die Stromzufuhr vor seiner letzten Erektion so weit reguliert haben, dass beim vorgeschobenen Widerstand ein technischer Defekt eintrat. Das Teil kam allem Anschein nach aus Fernost. Jedenfalls klappte die Regulierung der Stromzufuhr nicht mehr und somit floss eine Stromstärke von etwa fünf Milliampere – und das war tödlich.“

Der Doc stoppte und kramte ein weiteres Tatortfoto aus dem nebenstehenden Karteikasten hervor. Er hielt es den vier Männern unter die Nase.

„Hier abschließend noch eine Nahaufnahme von der Auffindesituation mit UV-Licht.“ Er deutete auf das Bettlaken und die Anhaftungen an der Zimmerwand. „Seht ihr die weißen Flecken auf violettem Hintergrund? Das, was er ursprünglich wollte, hat er schlussendlich auch bekommen: ein Mega-Happy-End! – Aber nun zu eurem Fall.“

Doc Fog wechselte so abrupt das Thema, dass die Männer wie aus einer Starre erwachten und erst mal wieder zu sich finden mussten. Horst gelang das nur mittelmäßig. Seine Miene verriet, dass er seine Vorstellungskraft mächtig angestrengt hatte und die Bilder offensichtlich nicht mehr aus dem Kopf bekam. Er verzog immer wieder angewidert das Gesicht und schüttelte sich dabei.

Der Doc legte die Penismanschette wieder zurück zu den anderen Exponaten, setzte sich und griff nach einem Butterplätzchen. „Also, da haben wir doch mal was ganz Besonderes auf den Tisch gekriegt.“

„Ach geh, Alois, die Keksdose kenne ich doch schon vom letzten Jahr!“

„Der Schorsch, immer zu einem Scherz aufgelegt!“, schoss Alois Nebel zurück. „Ich meine natürlich die beiden Giegelhundts.“ Er zerkaute das Gebäck und lächelte dabei schief. „Also: Die beiden Opfer wurden ermordet. Genauer gesagt, vergiftet. Mit conium maculatum, das ist das Gift des Gefleckten Schierlings. Alle kennen ja die Geschichte von Sokrates, der durch den Schierlingsbecher hingerichtet wurde, nicht wahr, meine Herren?“

Schorsch kam sich vor wie in der Schule. Er mochte Alois wirklich gern, aber sein oberlehrerhaftes Getue ging ihm manchmal gehörig auf die Nerven. Stellvertretend für die anderen sagte er laut und vernehmlich „Ja! Und weiter, bitte!“ und verdrehte dabei genervt die Augen.

„Die beiden hier wurden mit demselben Gift getötet“, fuhr der Rechtsmediziner unbeirrt fort. „Ich frage mich nur, wo? Es kann eigentlich nur im Stadion passiert sein, denn die Giftkonzentration war sehr hoch. Einen Suizid schließe ich aus, denn die vergiften sich ja nicht selber und schauen sich dazu ein Club-Spiel an! Das wäre dann doch eine leicht übertriebene Fan-Liebe! Die Magenausscheidungen weisen Bierstoffe auf, also haben sie den Giftstoff vermutlich mit Bier zu sich genommen. Unbewusst. Die Symptome der Vergiftung treten nach circa fünfzehn bis dreißig Minuten auf, je nach Konzentration des Doldengewächses. Die toxikologische Analyse anhand einer Chromatographie, UV- und Massenspektren sowie Retentionszeiten ergab –“ Der Doc stoppte, blickte auf sein Auswertungsprotokoll und überlegte einen kurzen Moment.

Schorsch nutzte die Pause und schenkte sich und seinen Kollegen Kaffee nach. Den Doc ließ er dabei bewusst aus, denn der sollte schließlich erzählen und sie nicht länger auf die Folter spannen.

Alois Nebel verstand den Wink. „Folgende Untersuchungsmaterialien haben wir für die Bestimmung herangezogen. Das Venenblut, unser wichtigstes Asservat, charakterisiert am besten den Zustand zum Zeitpunkt des Todeseintritts. Vergleichswerte von Lebenden und Toten zur Interpretation sind hier vorhanden. Zweitens, das Herzblut. Es liefert zwar gelegentlich fehlerhaft überhöhte Konzentrationen, aber als Abgleich zum toxischen Stoff ist es hier in diesem Fall unabdingbar. Als Nächstes den Magen- und Dünndarminhalt. Hier konnten wir eine hohe Konzentration bei der oralen Aufnahme feststellen, dies ist auch bei andersartiger Applikation, also Anwendung der toxischen Dosis, ein positives Merkmal. Da sich unsere Opfer förmlich ausgeschieden haben und zwar aus allen Körperöffnungen, hatten wir weitere Vergleichsspuren, die noch vorhandenen im Magen- und Darmtrakt und die Ausscheidungen auf der Tribüne. Im Urin fanden wir weitere körpereigene Substanzen. Obwohl die Blase aufgrund der Ausscheidungen bei jedem Opfer fast leer war, konnten wir dennoch eine hohe Konzentration feststellen. Denn hier gilt die verlängerte Nachweisdauer. Eine weitere Beweisführung war die Körperpassage durch Kopplung von Dünnschichtchromatographie und Massenspektrometrie, also auf gut Deutsch, die Extraktion der verschiedenen Moleküle und die Bestimmung der Giftstoffe. In den Organproben der beiden – also Leber, Niere, Lunge, Hirn – stellten wir eine erhöhte Konzentration durch Proteinbindung fest. Also ebenfalls ein signifikantes Merkmal. Der Tod der Betroffenen kann somit durch die orale Einnahme von conium maculatum, einer hohen Überdosis des Wirkstoffs Alkaloid Coniin, bestätigt werden.“

Er sah die vier Herren erwartungsvoll an. Keiner sagte ein Wort, was Doc Fog die Chance gab, noch ein wenig weiter auszuholen.

„Das Gift des Schierlings, der Wirkstoff Alkaloid Coniin, ist bereits in einer Dosis von einem halben bis zu einem Gramm tödlich. Nach der Vergiftung ist der Patient meist noch bei vollem Bewusstsein, leidet aber an starkem Erbrechen und Durchfall. In fast allen Fällen kommt es zu starken Schweißausbrüchen. Schluckbeschwerden stellen sich ein, es folgt eine Lähmung der Zunge und der Beine – ein sicherer und grausamer Tod. Nach maximal dreißig Minuten ist alles vorbei, es gibt keine Rettung oder irgendein Gegenmittel, das verabreicht werden kann.“

Schorsch war der Erste, der seine Sprache wiederfand, und bedankte sich bei dem Rechtsmediziner für das schnelle Ergebnis und den ausführlichen Bericht. „Alois, da war aber doch noch etwas anderes Interessantes, das du bei den beiden gefunden hast, nicht wahr?“

„Ja, jetzt kommt Teil zwei, meine Herren, dazu bitte aufstehen und mitkommen!“ Der Doc erhob sich aus seinem Sessel und geleitete die vier in den Obduktionsraum.

Dort lagen die Leichen auf zwei nebeneinander stehenden Tischen und waren mit weißen Laken bis über die Köpfe zugedeckt. Somit war den Besuchern der Anblick der obduzierten Toten bislang erspart geblieben. Zum Glück, dachte Schorsch, der zwar schon viel gesehen hatte, aber dennoch jedes Mal froh war, wenn dieser Kelch an ihm vorüberging. Weniger weil er es nicht ertragen konnte, sondern eher, weil er es jedes Mal irgendwie entwürdigend empfand, den Körper eines Menschen so bloßzustellen.

Doc Fog, für den das zur täglichen Routine gehörte, wusste offensichtlich um die Gefühle seiner Mitmenschen und meinte nur: „Die Oberkörper der beiden sind ja nicht so interessant, den Anblick erspare ich euch. Den Brustkorb haben wir auch schon wieder zugenäht und die gelöste Kopfhaut wieder über den Hirnschädel gezogen. Meine Mitarbeiter sind da fix. Was ich euch aber zeigen möchte, ist ein besonderes Merkmal, das beide offensichtlich schon lange Zeit trugen.“ Der Professor stand vor dem Obduktionstisch und legte die Füße von Frau Giegelhundt frei. „Hier, seht mal, ein Pentagramm! Das ist ein Symbol, das in der Satanistenszene sehr beliebt ist. Sie tragen es meist an Stellen, an denen man es im alltäglichen Leben nicht erkennen kann, sodass sie sich überall frei bewegen können und unerkannt bleiben. Aber es eint sie, und sie können sich dadurch Gleichgesinnten zu erkennen geben.“

 

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Schorsch unterbrach ihn: „Sie erkennen sich untereinander, so wie sich die Freimaurer weltweit gegenseitig erkennen?“

„Ähnlich. Aber wie du selbst weißt, hat diese Szene mit der Freimaurerei überhaupt nichts zu tun.“

Da hatte der Doc recht. Seit zwei Jahren gehörte Schorsch der Loge „Tacitus zum leuchtenden Stein an“ und hatte dort schon viele interessante Vorträge gehört. Unter anderem hatte dort einmal ein Bruder über das Thema Satanismus referiert und eine besondere Verschwörungstheorie, die heute noch in den Köpfen vieler Menschen kursierte. Denn der Franzose Leo Taxil hatte 1885 in mehreren Schriften die Losung verbreitet, dass Freimaurer in Wahrheit alles Satanisten seien und diese in ihren Logenhäusern regelmäßig sexualmagische Orgien und Schwarze Messen zelebrierten. Die Äußerungen und Buchveröffentlichungen von Taxil schädigten das Ansehen der Bruderschaft enorm. Erst im Jahr 1897 gestand er öffentlich, dass er sich den ganzen Schwindel nur ausgedacht hatte, um die Freimaurerei zu schädigen.

„Ich hab da mal ein bisschen weiterrecherchiert, aus lauter Neugier“, fuhr Doc Fog fort. „Angehörige der sogenannten ‚Church of Satan‘ tragen ein solches verstecktes Zeichen. Aber unter Gleichgesinnten geben sie sich auch mit dem verdeckten Teufelsgruß, der mano cornuta, zu erkennen. Sie machen eine Faust und spreizen den Zeigefinger und den kleinen Finger von dieser ab. Der Daumen liegt dabei auf dem Ring- und Mittelfinger. Ungefähr so!“ Ein wenig ungeschickt versuchte er, seine Finger entsprechend zu sortieren. „Das Zeichen kennt man auch aus der Rock- und Metal-Szene, und es wird meist scherzhaft ‚Pommesgabel‘ genannt.“

Horst musste grinsen und versuchte sich nun selbst am Teufelsgruß. Erstaunlicherweise hatte er keine Probleme, was der Doc missmutig registrierte.

„In diesem Kreis zu ermitteln, stelle ich mir jedenfalls enorm schwierig vor“, lenkte er von seinem Ungeschick ab. „Wie soll jemand, der nicht genauso tickt, diese Strukturen aufklären? Ich wüsste jetzt nicht, wo sich diese Leute treffen, geschweige denn, wer genau deren Zielgruppe ist. Im Netz erfährt man nur, dass es sich um Menschen aller Schichten handelt. Also vom Professor – ich gehöre aber nicht dazu! –“, warf er mit einem breiten Grinsen ein, „über den Vorstandsvorsitzenden, Politiker und Polizisten bis hin zum Müllmann oder Schiffschaukelbremser. Die gesamte Palette!“

„Das passt zu dem Bild, das wir am zweiten Tatort, im Haus der Giegelhundts, gewonnen haben“, murmelte Schorsch und sah zu Dr. Menzel, der seit bestimmt zehn Minuten mit seinem silbernen Zigarettenetui herumspielte, während er den Ausführungen des Rechtsmediziners gelauscht hatte.

„Ja, meine Herren, dann sind die K11er gefragt“, sagte er kurz und knapp. „Wir klären erst einmal das Umfeld der Giegelhundts auf, die Verwandten und Bekannten, vielleicht gibt es da ja die ersten konkreten Hinweise. Was haben die beiden eigentlich beruflich gemacht?“ Sein Blick galt Kommissariatsleiter Schönbohm.

Der antwortete: „Keine Ahnung, Dr. Menzel, aber wir sind dran und werden auch zügig die Ermittlungen fortsetzen. – Herr Bachmeyer, Sie übernehmen den Fall. Herr Meier hat zwar noch die Körperverletzung mit Todesfolge im U-Bahnverteiler abzuarbeiten, aber der Täter sitzt ja schon in staatlichem Gewahrsam und die noch anstehenden Vernehmungen von Zeugen in diesem Fall laufen dann eben als übliches Tagesgeschäft weiter. Also bleiben Sie hier vorrangig am Ball und greifen Sie auf Ihre bewährten Kollegen zurück.“

Mit diesen Worten beendete Schönbohm das Gespräch und den Besuch in der Rechtsmedizin, und die vier überließen Doc Fog wieder seinem schaurig-schönen Handwerk.

 

3. Kapitel

Dienstag, 26. August 2014, 08.30 Uhr, Polizeipräsidium Nürnberg, K11, Besprechungsraum 1.102

Schorsch hatte sein Team zur Besprechung gerufen. Alle K11er sollten über die aktuellen Erkenntnisse im Fall Giegelhundt unterrichtet werden.

„Liebe Kollegen“, begann er seinen Vortrag, „der Zwischenfall bei dem Fußballspiel am Samstag war ein Giftmord, das hat uns gestern Doc Fog bestätigt. Das Ehepaar Giegelhundt muss zudem noch ein sehr außergewöhnliches Leben geführt haben, denn beide waren allem Anschein nach mit der Satanistenszene verbunden. Beide hatten eine spezielle Markierung, ein Pentagramm, auf ihrer linken Fußsohle. Es könnte eine schwierige Ermittlung werden, denn ich habe keine Ahnung, wie man sich am besten einen Einblick in diese Gruppierung verschafft. Hat jemand von euch eine Idee? Alles bisherige Wissen darüber beziehen wir aus den Räumlichkeiten in der Merowinger Straße und der Mitgliedskarte dieses Clubs in Muggenhof. Ihre zwei Mobiltelefone müssen wir noch auswerten.“

Schorsch blickte in die Runde.

„Ich habe mal ein Buch über diese Szene gelesen und mich anschließend weiter damit befasst“, meldete sich Gunda zu Wort. „Es ist wirklich eine spannende Thematik. Die Geschichte hat mich schockiert, da beschreibt ein Aussteiger seine Jugend im Kreise organisierter Satanisten und Teufelsanbeter. Und das Überraschende dabei ist, dass er behauptet, man erkenne diese Menschen gar nicht an ihrem Erscheinungsbild, weil es eben keine Grufties sind, wie vielerorts angenommen. Die erkennt man ja schon von Weitem an ihrer auffälligen Kleidung. Grufties sind aber eigentlich eine Splittergruppe der Gothic-Subkultur. Manche der Goths, wie man sie gemeinhin nennt, bilden sich zwar satanistisch weiter, aber ihr Tenor und ihr entsprechendes Outfit zeugen eher von einer morbiden Grundstimmung. Satan selbst war nie ein Schwerpunkt in dieser Szene. Anders ist es bei den Satanisten. Die zelebrieren rituelle Schwarze Messen und beten dann zu Satan. Sie leben in ihrer eigenen Welt, haben eine andere, ganz eigene Weltanschauung. Die Masse dieser Leute sind Mitglieder der Church of Satan, einer weltweiten Vereinigung von geschätzten zwanzigtausend Teufelsanbetern. Aber es gibt natürlich auch hier jede Menge Splittergruppen, die teilweise noch radikaler sind. Ihre rituellen Treffen, also die Schwarzen Messen, dienen hauptsächlich dazu, freie und zügellose Sexualität auszuleben. Diese Leute bezeichnen sich nicht als Menschen, ihre Lebensphilosophie gibt ihnen vor, vom Tier abzustammen.“

Gunda versicherte sich mit einem kurzen Blick in die Runde, dass sie weitererzählen sollte. Alle hörten ihr aufmerksam zu, also fuhr sie fort: „1987 schockierte ein Prozess die US-Amerikaner. Es ging um einen Satanistenring bestehend aus vorwiegend Erziehern und Lehrern, die damals mehrere Kinder in Kalifornien missbraucht haben sollen. Und es wurden anschließend immer mehr Fälle ritueller Gewalt an Einrichtungen der Kinderbetreuung bekannt. Es entstand eine Massenhysterie, die von den Medien weiter aufgeputscht wurde. So erfolgte die Annahme, dass es ein großes Netzwerk von satanistischen Gruppen gäbe, welche rituelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen ausübten und so jährlich bis zu fünfzigtausend Menschen bei ihren Schwarzen Messen umbringen würden. Den Wahrheitsgehalt dieser Hysterie kann ich nicht einschätzen. Aber dass es solche Leute, solche Gruppierungen gibt, kann man nicht leugnen. Nur darüber Genaueres zu erfahren, könnte extrem schwierig werden, die erzählen das bestimmt nicht jedem, der sie danach fragt. Da musst du schon einer von denen sein.“

„Das sehe ich genauso“, mischte sich nun auch Robert Schenk ein. „Was mich am Tatort in der Merowinger Straße stutzig gemacht hat, ist die Tatsache, dass wir dort zwar ein paar alte Urlaubsfotos von den Giegelhundts gefunden haben, aber an sich wenig Privates und vor allem keinerlei Aufzeichnungen oder Hinweise auf Bekannte oder Verwandte. Die scheinen ziemlich isoliert gelebt zu haben. Aber irgendwelche Angehörigen müssen sich doch finden lassen!“

„Wir haben ja die Personalien der beiden, dann müssen wir halt ein wenig Ahnenforschung betreiben, so wie es die Erbenermittler auch tun, nämlich über die Schiene Standesamt“, sagte Schorsch. „Dort werden wir schon auf Angehörige beziehungsweise Verwandte stoßen. Und wenn es nur die Trauzeugen sind! Irgendjemand wird schließlich die Beerdigung der beiden ausrichten. Schönbohm hat mir den Fall zugeschrieben und mich mit der Zusammenstellung der ermittelnden Beamten beauftragt. Wir werden deshalb alle den Fall bearbeiten, gemeinsam neben den üblichen Tagesgeschäften. Gunda, Waltraud, Basti, Blacky, Horst – ich zähl auf euch!“

„Dann lass uns doch gleich mal eine Aufgabenverteilung vornehmen“, schlug Blacky vor.

„Also, ich kläre ihre Vergangenheit ab, deren beider Geschichte interessiert mich“, legte Gunda sogleich ein vorbildliches Engagement an den Tag.

Auch Waltraud schien zu wissen, was sie wollte. „Dann lege ich schon mal die elektronische Akte für den neuen Fall an. Welchen Namen soll ich ihm denn geben? Ich bitte um Vorschläge, liebe Kollegen!“

Michael Wasserburger, der Leiter der KTU, meldete sich zu Wort: „Ich bin zwar gerade noch beim Auslesen der beiden vorgefundenen Handys und ja eigentlich wie immer nur zur Unterstützung bei euch vertreten, aber einen Hinweis für den Fallnamen hätte ich schon.“

„Na dann, Michael, schieß los!“, forderte Schorsch ihn auf.

„Wir haben doch bei der Tatortsicherung im Anwesen der Giegelhundts diese Tarotkarten gefunden, genau dort, wo vermutlich die Computer standen. Denn auf diese hatte es wohl jemand gezielt abgesehen. Über diese Tarotkarte habe ich mal ein wenig recherchiert. Die Dreizehn bedeutet in der Tarotkartenlegung ‚Der Tod‘, und es ist ja auch klar ein Skelett erkennbar. Dieses trägt jedoch eine Bischofs- oder Apostelkrone, vielleicht eher Letzteres. Ich habe den Suchbegriff mal im Internet eingegeben, und es könnte sich um eine Umkehrung des Begriffes des ‚dreizehnten Apostels‘ handeln. Als solcher wird ja bisweilen Matthias bezeichnet, der zum Nachfolger des Verräters Judas gewählt wurde, und dessen Grabstätte hier in Deutschland, genauer gesagt, in Trier liegt. Da die Satanisten aber ja bekanntlich sämtliche christliche Werte und Symbole umkehren, steht der dreizehnte Apostel hier womöglich für den Tod. Was haltet ihr also von ‚MoKo Tarot‘?“, schloss Michael Wasserburger.

„Super Idee, Michael“, sagte Gunda.

Schorsch, Horst und die anderen nahmen den Vorschlag einhellig an.

„Danke, Michael. Dann erstellt Waltraud den Ordner ‚MoKo Tarot‘, und wir sollten zuerst einen chronologischen Ablauf des Tatvorgangs im Stadion und am Tatort in der Merowinger Straße verfassen“, erklärte Schorsch das weitere Vorgehen. „Der oder die Täter müssen den Giegelhundts im Stadion das Gift verabreicht haben. Und sie sind sehr professionell vorgegangen, denn sie haben die Kabel der Überwachungskameras durchgeschnitten, bevor sie ihren Mordplan in die Tat umgesetzt haben. Aber an eines haben die vermutlich nicht gedacht, nämlich an die Möglichkeit der Funkzellenauswertung. Wir brauchen also eine Übereinstimmung vom Stadion zur Merowinger Straße.“

Blacky hob lax den Arm. „Schorsch, das übernehme ich.“

„Ich helfe dir dabei“, bot Basti seine Unterstützung an.

„Sehr gut. Dann brauchen wir noch die Abklärungen über mögliche Verwandte und darüber, was die Giegelhundts beruflich gemacht haben. Hatten sie Feinde? Wurden sie gar bedroht? Was ist das eigentlich für ein Club in Muggenhof, in dem sie eine Mitgliedschaft hatten? Gibt es dort womöglich jemanden, der uns weiterhelfen kann?“

Gunda seufzte. „Um diese Abklärungen werde ich mich kümmern. Klingt ja teuflisch!“

„Danke dir“, meinte Schorsch. „Da klinke ich mich aber ein, denn an dieser Spur möchte ich auch mit dranbleiben. Irgendwo liegt hier der Schlüssel, da bin ich mir fast sicher. Also Leute, es ist Brainstorming angesagt. Jedem noch so kleinen Hinweis über diese besagte Schwarze Szene sollten wir nachgehen.“ Schorschs Blick wanderte zum Leiter der Spurensicherung. „Und Robert, wenn ihr für die Auswertung der vorgefundenen Unterlagen im Haus der Opfer noch Leute benötigt, dann bitte kurz Bescheid sagen. Ich bin gespannt, was sich da findet. Vielleicht gibt es ja sogar ein Testament. Die müssen doch irgendwelche Angehörigen haben, das kann doch nicht sein, dass es da niemanden gibt.“

Robert nickte. Da fürs Erste alles gesagt schien, beendete Schorsch sodann die Besprechung.

 

Dienstag, 26. August 2014, 11.13 Uhr, Kleingartenverein Zeppelinfeld e.V., Nürnberg

Svetlanas Auftrag war noch nicht beendet. Das Tablet und der Laptop der Giegelhundts waren mit einem Passwort gesichert, und ihr Auftraggeber benötigte genau diese Daten. Sie wechselte die Mobilfunkkarte ihres Anbieters Vimpelcom. Es war einer der größten Mobilfunkanbieter der GUS-Staaten und Russland mit Sitz in Hamilton, auf den Bermudas. Dann wählte sie sich in das Beeline-Netz ein und wurde von einer männlichen Stimme begrüßt:

„Na, meine Liebe, hat alles geklappt? Wie kann ich dir weiterhelfen?“

„Hallo Alexej, alles ist gut gelaufen. Ich benötige lediglich einen Kontaktmann, der die passende Software besitzt, um Passwörter zu umgehen. Unser Auftraggeber benötigt den Zugang, nur so kann ich meine weiteren Aufträge zielgerichtet umsetzen.“

Die männliche Person am anderen Ende der Leitung verharrte einen Augenblick, im Hintergrund hörte man das Tippen einer Computertastatur.

Nach circa einer Minute meldete er sich wieder zurück: „Es gibt Lew in der Waldstraße in Fürth. Er besitzt dort ein kleines Computergeschäft und sollte die passende Software für die Umgehung der Verschlüsselung parat haben. Hast du etwas zum Schreiben? Dann gebe ich dir seine Telefonnummer durch.“

Er diktierte ihr die Nummer. Nachdem Svetlana sie notiert und wiederholt hatte, fuhr er fort: „Wenn du Lew am Telefon hast, dann sag zu ihm folgenden Satz: ‚Alexej hat mir gesagt, dass es hier bei Lew die besten Batontschiki gibt!‘ Er wird sich dann zeitnah mit dir verabreden. Und du kannst vermutlich vor Ort drauf warten, er wird das Passwort in kürzester Zeit umgehen und dir dann eine individuelle Zugangskennung einrichten.“

Svetlana bedankte sich, legte auf, wechselte ihre SIM-Karte und wählte sogleich die Telefonnummer von Lew.

 

Dienstag, 26. August 2014, 15.35 Uhr, Waldstraße, Fürth

Svetlana hatte Lew Makouw erreicht. Das kleine Computergeschäft lag etwas abseits der vielbefahrenen Waldstraße. Der Russe hatte sich hier in einem alten Gebäude einquartiert, das im Hinterhof lag und augenscheinlich nur mit einem Hinweisschild auf der Straße mit der Aufschrift „Computer- und Handy-Doktor – preiswerte Reparaturen“ sowie dem Zusatz „An- und Verkauf von Rechnern und Mobiltelefonen aller Art“ auf sich aufmerksam machte.

Lew Makouw hielt, was er versprach. Die Passwörter beider Rechner waren identisch, und der Hacker hatte kurze Zeit später mit der passenden Software seine Arbeit vollendet und Svetlana zugleich eine neue Zugangskennung eingerichtet. Nun konnte ihr Auftraggeber in das Datennetzwerk der Giegelhundts eindringen, da alle anderen speziellen Zugangspasswörter sich in einem sogenannten „Mind-Programm“ registriert hatten. Das heißt, jeder, der nun Zugriff auf die Rechner hatte, hatte auch automatisch Zugang zu jenen speziellen Plattformen der Giegelhundts.

Svetlana wechselte erneut ihre SIM-Karte und wählte die Mobilfunknummer ihres Auftraggebers. Dieser meldete sich ohne Namen, er erkannte im Display die vereinbarte Telefonnummer. Nur über diese Telefonnummer durfte sie mit ihm in Kontakt treten.

„Hallo, hat alles geklappt?“

„Ja, alles gut“, antwortete Svetlana. „Wann möchten Sie die zwei Geräte denn abholen?“

„Am liebsten gleich. Wo sind Sie jetzt?“

„In der Fürther Südstadt. Wohin soll ich kommen?“

„Wir treffen uns um sechzehn Uhr dreißig in Eibach auf dem Metro-Parkplatz in der Donaustraße, in unmittelbarer Nähe der Warenausgabe. Die Heckklappe meines schwarzen C-Klasse-Wagens wird geöffnet sein. Einfach die Waren dort reinlegen. Wie lautet das neue Passwort?“

„Eins, zwei, drei, vier, fünf. Diese Zugangskennung muss aber nach dem ersten Hochfahren bei beiden Rechnern geändert werden. Sie werden dazu aufgefordert werden. Man ist dann damit auch unmittelbar auf der Micro-Server-Plattform eingeloggt.“

Ihr Gegenüber antwortete: „Gut, ich melde mich erst am Freitag wieder. Bis dahin ist für Sie Sightseeing in Nürnberg angesagt.“

 

Die Übergabe klappte problemlos und ohne Aufsehen zu erregen. Svetlana fand den schwarzen Pkw mit geöffneter Heckklappe in der hintersten Parkreihe, legte die große Sporttasche in den Kofferraum ab und schloss ihn. Die männliche Person, die sich in unmittelbarer Nähe des Wagens aufhielt und scheinbar telefonierte, ignorierte sie weitgehend, nickte ihr aber in einem kurzen Moment verstohlen zu.

Svetlana lächelte, stieg wieder in ihren Golf und verließ das Metro-Gelände.

 

Dienstag, 26. August 2014, 15.46 Uhr, Polizeipräsidium Nürnberg, K11

Gunda und Schorsch hatten neben einer EMA-Abfrage auch eine Abklärung beim Standesamt durchgeführt. Die Giegelhundts hatten doch Verwandte in Nürnberg. Als einer der Trauzeugen war in der Trauurkunde eine gewisse Doris Helm, geborene Vogel, aufgeführt. Sie war die Schwester von Gisela Vogel, die an diesem Tag, dem 7. September 1990, den Unternehmer Adalbert Giegelhundt ehelichte. Der männliche Trauzeuge, ein gewisser Jochen Giegelhundt, geboren am 27. Februar 1971, starb an seinem achtundzwanzigsten Geburtstag, dem 27. Februar 1999, durch einen Unfall, so der Registerauszug des städtischen Standesamts. Weitere Verwandte oder Bekannte konnten Gunda und Schorsch nicht ermitteln.

Die beiden Opfer waren laut Gewerberegisterauszug im Eventbusiness tätig. Ihr Schwerpunkt lag in der Vermittlung von „Freizeitevents der anderen Art“, so die nebenstehenden Erläuterungen des Registerauszuges.

Das Unschöne an ihren Rechercheergebnissen: Es gab nun zumindest eine Person, der sie die Todesnachricht überbringen mussten. Die damalige Trauzeugin und Schwester, Doris Helm, bewohnte mit ihrem Mann eine Eigentumswohnung am Einsteinring, verriet ihnen die EMA-Abfrage. Schorsch und Gunda beschlossen, heute noch dorthin zu fahren, und waren gespannt, ob die Helms vom Tod ihrer nahestehenden Angehörigen bereits Kenntnis hatten.

 

Es war zwanzig nach fünf, als sie ihren Dienstwagen am Einsteinring abstellten. Vom Parkplatz aus lag das Wohnhaus nur fünfzig Meter entfernt.

Vor dem Haus stehend, fiel ihnen sofort auf, dass es neben einer Klingel mit der Aufschrift „Dr. Siegfried und Doris Helm“ noch eine zweite interessante Option gab. „Dr. Siegfried Helm, Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie – Sprechstunden nach Vereinbarung“ lasen sie auf dem Klingelschild direkt daneben.

Schorsch betätigte jedoch zuerst die Klingel, die augenscheinlich zur privaten Wohnung des Ehepaars gehörte.

Eine weibliche Stimme erklang. „Ja, bitte!“

„Frau Helm“, sprach Gunda in den Lautsprecher, „wir kommen von einer Behörde, könnten Sie bitte öffnen?“

„Zwölfter Stock, links“, kam die knappe Antwort von oben.

Der Türöffner wurde betätigt. Schorsch und Gunda nahmen den Aufzug.

Eine Mittvierzigerin erwartete sie beide vor ihrer Wohnungstür. Statt „Guten Tag“ sagte sie sogleich: „Darf ich bitte zuerst einmal Ihre Ausweise sehen?“ Frau Helm gehörte offenbar zur misstrauischen Sorte. Sie unterstrich ihre Skepsis noch durch einen grimmigen Gesichtsausdruck.

Schorsch zog seinen Dienstausweis, Gunda ihre Dienstmarke. Beide gaben sich als Kriminalbeamte zu erkennen. Das schien Frau Helm jedoch weder zu beruhigen noch nervös zu machen. Mit immer noch stoischer Miene bat sie die beiden Beamten herein.

Das Wohnzimmer war hell von der Abendsonne erleuchtet, und die Schiebetür zur großen Dachterrasse stand offen. Man konnte draußen einen Mann in einer Hollywoodschaukel sitzen sehen, der Zeitung las und das sommerliche Wetter genoss.

„Siegfried, kommst du bitte mal!“ Frau Helm rief ihren Mann, der sich Gunda und Schorsch kurze Zeit später als Dr. Helm vorstellte.

„Was ist denn das Anliegen Ihres Besuches?“, fragte der Doktor.

„Kennen Sie Gisela und Adalbert Giegelhundt?“, kam Schorsch unmittelbar zur Sache. Er beobachtete die Reaktion der beiden, die für eine erste Einschätzung dieser zwei Menschen maßgeblich war.

„Das sind meine Schwägerin und ihr Mann“, antwortete Dr. Helm, „aber wir haben seit Jahren keinen Kontakt mehr zu den beiden. Was möchten Sie denn von uns wissen? Wenn wir Ihnen helfen können, dann fragen Sie!“

„Wann hatten Sie denn den letzten Kontakt zu den beiden?“, fragte Gunda.

„Ach, Frau Kommissar, das ist lange her“, mischte sich nun auch Frau Helm in das Gespräch. Anscheinend hatte sie ihr Misstrauen überwunden. „Das war kurz nach dem Tod unseres Vaters vor etwa zwanzig Jahren. Es gab Streitereien wegen des Erbes. Meine Schwester, nein, eher mein Schwager hat dann den Kontakt zu uns abgebrochen. Er ist von Neid zerfressen, und das hat unsere familiäre Beziehung dann unweigerlich zerstört. Aber was ist mit den beiden? Warum fragen Sie uns das alles?“

„Gisela und Adalbert Giegelhundt wurden am Samstagnachmittag Opfer eines Giftanschlags, bei dem beide starben. Jemand hat ihnen während des Fußballspiels, also im Stadion, eine giftige Substanz verabreicht. Wie es aussieht, in einem Glas Bier“, antwortete Schorsch.

„Deshalb unsere Frage, wann Sie die beiden zuletzt gesehen haben“, fügte Gunda erklärend hinzu.

„Wie gesagt, das ist Jahre her.“ Frau Helm schien angesichts der Todesnachricht nicht allzu geschockt. Offensichtlich hatte sie zu ihrer Schwester kein emotionales Verhältnis gehabt und sie schon lange aus ihrem Leben verbannt.

„Wo waren Sie am Samstagnachmittag?“ Schorsch wollte zuerst die wichtigsten Fragen abklären, bevor er sich um die Familienzwistigkeiten der beiden Ehepaare kümmerte.

„Wir hatten am Samstag das alljährliche Sommerfest im Lions Club“, antwortete Dr. Helm völlig unaufgeregt. „Es ging schon mittags um dreizehn Uhr los und die Letzten, bis auf einen harten Kern, haben sich gegen halb zwölf Uhr nachts verabschiedet. Dr. Kohl mit seiner Gattin sowie der Ingenieur Liebel mit seiner Lebensgefährtin waren die Letzten, die mit uns gegen Viertel nach eins den Golfclub in Fürth verlassen haben.“

Die Helms hatten also ein Alibi, das man sehr leicht überprüfen konnte. Dadurch fallen sie schon mal als Täter weg, dachte Schorsch. Aber er erhoffte sich von den beiden noch ein paar mehr Informationen über das Ehepaar Giegelhundt, weshalb er nachlegte: „Dass Sie seit Jahren keinen Kontakt mehr zu den beiden haben, ist natürlich tragisch, aber ist der Grund dafür wirklich nur der Streit um das Erbe gewesen? Ist Ihnen vielleicht noch etwas anderes sauer aufgestoßen, irgendwelche seltsamen Neigungen zum Beispiel? Wissen Sie mehr über deren Privatleben? Oder ihren Beruf? Ihr Schwager war ja Eventmanager für ‚Freizeitevents der anderen Art‘ – was darf man darunter verstehen?“

„Keine Ahnung, Herr Bachmeyer, was die beiden privat oder beruflich gemacht haben. Wir waren zerstritten, leider. Aber es ging nicht von uns aus. Mein Schwager war da wohl die treibende Kraft. Wirklich sehr schade.“ Dr. Helm, der ein bisschen Ähnlichkeit mit dem US-Schauspieler Nick Nolte hatte, blickte stumm zu Boden.

„Sie müssen wissen, es ging damals um das Sommerhaus auf Lanzarote, das unser Vater mir und Siegfried überschrieben hat“, fügte Frau Helm erklärend hinzu. „Alles andere hat er gerecht zwischen uns Schwestern aufgeteilt, aber es war ja nicht mehr allzu viel, da der Großteil seiner Ersparnisse für die Pflege nach seinem Schlaganfall draufgegangen war. Den zweiten Schlaganfall hat er dann leider nicht mehr überlebt.“ Sie senkte betreten das Haupt.

„Und warum hat er das Haus Ihnen und nicht Gisela vermacht?“, bohrte Schorsch weiter, denn er konnte in einem solchen Fall keine Rücksicht auf derlei Emotionalität nehmen.

„Mein Mann war in jungen Jahren ein leidenschaftlicher Heimwerker und hat viel an dem Haus verbessert und renoviert. Daher war es eigentlich keine große Überraschung, dass unser Vater es lieber uns als Gisela und Adalbert vererbt hat. Die hatten mit dem Haus doch gar nichts zu schaffen.“

Schorsch sah zu Gunda. „Ich denke, wir sind für heute hier fertig. Auch wenn wir nicht wirklich weitergekommen sind, aber mehr können wir gerade nicht tun.“

Gunda nickte.

Dann wandte sich Schorsch noch einmal an die Helms. „Als einzige Hinterbliebene sollten Sie sich aber zumindest um das weitere Prozedere kümmern, was das Begräbnis und die Formalitäten mit den Behörden betrifft. Wussten Sie eigentlich, dass Ihre Schwester und Ihr Schwager –“ Schorsch stoppte für einen Moment. Doch ihm fiel kein Grund ein, warum er den beiden die Wahrheit verschweigen sollte. „Wussten Sie eigentlich, dass Ihre Schwester und Ihr Schwager den Satanisten angehörig waren? Kurz nach dem Giftanschlag am Samstag wurde in ihrem Anwesen in Boxdorf eingebrochen. Bei der Spurensicherung haben wir im Keller des Hauses zwei Räumlichkeiten vorgefunden. Einen Raum, der augenscheinlich für Schwarze Messen oder etwas Ähnliches hergerichtet war, und einen Raum, der womöglich als eine Art Verlies diente. Für wen wissen wir noch nicht. Aber wir glauben definitiv nicht, dass das Gefängnis da unten als Fremdenzimmer gedacht war.“

Schorsch zog sein Diensthandy aus der Hosentasche und portierte eine Bilderreihe der Kellerräumlichkeiten auf das Sichtfenster. Frau und Herr Helm, die bis eben noch völlig ungläubig geguckt hatten, wurden nun doch von ihrer Neugier bezwungen und sahen sich die Fotos sehr genau und mit großen Augen an. Schorsch ließ die Bilder eine Weile auf sie wirken und beobachtete, wie Frau Helms bislang steinerne Fassade nun doch ein paar Risse bekam. Es zuckte ein paarmal verräterisch um ihre Mundwinkel, und schließlich seufzte sie schwer.

„Meine Schwester hatte schon als Heranwachsende ein Faible für antireligiöse Vereinigungen und war – wie soll ich sagen? – sehr freizügig unterwegs. Aber das hat sich irgendwann gelegt, dachte ich, zumindest war es ihr äußerlich nicht mehr anzusehen.“

Schorsch und Gunda beließen es dabei, verabschiedeten sich und trotteten zu ihrem Dienstwagen zurück.

„Was meinst du, wie glaubhaft sind die Helms?“, fragte Gunda ihn, als sie im Auto saßen. „Reicht eine kleine Erbstreiterei wirklich aus, um den Kontakt für Jahre abzubrechen? Gerade Dr. Helm sollte doch als Psychiater und Psychotherapeut wissen, wie man solche Konflikte am besten löst.“

„Ja, das könnte man meinen. Aber es ist immer leichter, anderen als sich selbst zu helfen. Und dass sich Familienmitglieder zerstreiten und jahrelang keinen Kontakt mehr haben, das hört man ja häufig.“

„Hm“ war alles, was Gunda dazu einfiel. „Wie wollen wir denn nun weiter vorgehen?“

„Wir müssen zuerst das Umfeld der Giegelhundts abklären. Wir befragen zuerst die Nachbarn, dann sollten wir diesem ominösen Club einen Besuch abstatten und mal sehen, was die Auswertung der KTU noch ausspuckt. Vielleicht stoßen wir ja da auf einen Hinweis.“

„Ich habe schon mal ein wenig über den Club recherchiert, das ist ein Treffpunkt für die gesamte Schwarze Szene. Von Goths über Punks bis hin zu Satanisten, da läuft alles rum, nur keine Normalos wie wir. Einige der Typen auf dem eingestellten Video haben sich sogar Hörner aus Titan implantieren lassen. Das musst du dir mal ansehen. Was treibt Menschen nur zu solchen Absonderlichkeiten?“

„Wahrscheinlich sind wir beide einfach zu normal, um das wirklich zu begreifen, Gunda!“, antwortete Schorsch und lachte. „Aber auf diese Weise erspart man sich vielleicht auch, dass einem einer nach dem Leben trachtet und Gift ins Bier kippt.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739359564
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Schlagworte
Spionage Ermittler Thriller Satanismus verdeckter Geheimdienst Krimi Spannung

Autoren

  • Roland Geisler (Autor:in)

  • Julia Seuser (Autor:in)

Roland Geisler war 33 Jahre Ermittler. Der gebürtige Mittelfranke war u. a. beim Zollfahndungsamt Nürnberg. Neben den Schwerpunktermittlungen im Waffen- und Sprengstoffbereich war er auch in der Terrorismusbekämpfung eingesetzt. Bis zu seinem Ruhestand 2012 war der Beamte im Ermittlungsreferat des Generalbundesanwalts im Bereich Proliferationsbekämpfung tätig. Julia Seuser, geboren 1979 in Nürnberg, ist freiberufliche Texterin und Lektorin.
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Titel: Mortificantur und der 13. Apostel