Lade Inhalt...

Retributionem Auge um Auge, Zahn um Zahn

Dadord in Frangn

von Roland Geisler (Autor:in) Julia Seuser (Autor:in)
368 Seiten

Zusammenfassung

Der aus Franken stammende Ex-Kriminalist Roland Geisler hat eine neue Türe im Krimi-Genre aufgestoßen als Autor und Verleger von Kriminalgeschichten, die mehr alltäglicher Wahrheit als dichterischer Fantasie verpflichtet sind. - Bernd Zachow - Nürnberger Nachrichten. >> Ein Meisterstück der Kriminalliteratur.<< Dr. Kimmel - Leitender Oberstaatsanwalt, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


9. Kapitel

 

Montag, 26. September 2011, 13.45 Uhr, Bad Windsheim, Weingut Bergmann

 

Nach knapp zwei Stunden kehrten sie nach Bad Windsheim zurück. Zwischenzeitlich hatten sie das Genmaterial bei Doc Fog abgegeben und Einzelheiten mit Günther Kocian besprochen. Die Aufklärung der schwarzen Vergangenheit des Adolf Bergmann sowie die Hintergründe der Tat gegen seinen Sohn hatten Priorität. Es galt, den kausalen Zusammenhang zwischen dem Fall in Kulmbach und dem in Bad Windsheim zu ermitteln, denn hier lag vermutlich der Schlüssel zur Aufklärung dieser Verbrechen.

Bis jetzt gingen Schorsch und Horst davon aus, dass beide Männer hingerichtet wurden. Auch wenn das pathologische Ergebnis im Fall Bergmann noch ausstand, sprachen die Tatumstände für sich.

Die Familie Bergmann hatte sich mittlerweile mithilfe eines geistlichen Beistandes mit der Nachricht vom möglichen Mord an ihrem Verwandten auseinandergesetzt. Der ortsansässige Pfarrer hatte sie ein wenig stabilisiert. Der Fortsetzung einer weiteren Befragung stand nun nichts mehr im Wege.

„Dürften wir uns vielleicht einmal im Zimmer Ihres Mannes umsehen?“, wandte sich Schorsch an Veronika Bergmann. „Vielleicht finden wir Hinweise auf sein Verschwinden.“

Sie blickte flehend zu ihrem Schwager, der daraufhin das Wort ergriff: „Meine Herren, alles, was Sie benötigen, steht Ihnen zur Verfügung.“

Er führte sie in das Zimmer seines verstorbenen Vaters, das im ersten Stock lag. Nach dem Tod des alten Weingutbesitzers wurde dieser Raum nun von seinem erstgeborenen Sohn, Alfred Bergmann, genutzt. Sie betraten das Zimmer, das gut und gerne fünfundzwanzig Quadratmeter groß und mit einer alten dicken Eichentür versehen war.

Zuerst knipste Horst ein paar Fotos von der aktuellen Auffindesituation des Raumes und den darin platzierten Gegenständen. Anschließend zogen sich er und Schorsch ihre Durchsuchungshandschuhe über und gingen den Raum erst einmal systematisch ab.

Die alten Eichenholzdielen knarrten. Die hohe Zimmerdecke zeigte noch die braunen Holzbalken, die damals, im vorletzten Jahrhundert, in dem Fachwerkhaus verbaut wurden. Viele dieser Balken waren mit Wurmlöchern durchsetzt. Die drei kleinen Holzfenster ließen fast kein Licht in den Raum. Es war schummrig. Die Einrichtung des Zimmers war geprägt von Art-déco-Elementen. Eine stilisierte und flächige Darstellung floraler und organischer Motive, die eine eklektische Mischung von Stilelementen unterschiedlicher Herkunft, vorzugsweise der dreißiger und vierziger Jahre, aufzeigte. Man fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Neben dem großen Eicheschreibtisch stand ein kleiner schwarzmatter Tresor mit Hammerschlaglackierung, der eine dezente goldene Umrandung aufwies. Zum Öffnen benötigte man keine Kombination. Der kleine Panzerschrank war mit einem Sicherheitsschloss abgesperrt, aber weder die Ehefrau noch der Bruder konnten Angaben über den Schlüssel machen. Horst machte sich über den Schreibtisch her, den er nun akribisch absuchte. Schorsch fing mit der linken Seite des Raumes an. Die beiden arbeiteten wie bei jeder Durchsuchung von Räumlichkeiten das vorhandene Interieur von links nach rechts ab. Nach diesem Schema hofften sie nichts zu übersehen.

Neben verschiedenen Rehgeweihen zierten genau wie bei Johannes Koch heroische Zeichnungen, Skulpturen und Bilder von Arno Breker und Josef Thorak, ein im Dritten Reich ebenfalls populärer Bildhauer, den Raum. Augenscheinlich hatten sich beide Freunde auf diese Künstler eingeschworen. Die wohlgeformten Körper dienten den damaligen „Herrenmenschen“ als Propaganda für die Ästhetik des nordischen Menschen, die Reinheit, Schönheit und Anmut symbolisierte. Adolf Bergmann war unverkennbar ein Ewiggestriger, und sein Sohn hatte sich auch nach seinem Tod nicht daran gestört, den Raum mit NS-Devotionalien zu belassen.

Neben dem Fenster stand eine alte dunkelrote Couch. Schorsch erkannte sie wieder. Seine Großmutter hatte in den Sechzigern eine ähnliche Couch besessen. Als Kind hatte er in den Nischen manchmal Sachen deponiert, und zwar genau zwischen den Arm- und Nackenlehnen. Auch hier konnte man wunderbar in die Hohlräume der Couch greifen, die kleine gepolsterte Nische lud ihn förmlich dazu ein. Er musste einfach hineingreifen und bemerkte, dass der Hohlraum zwischen der Federkernpolsterung auch dort vorhanden war. Vorsichtig tastete er sich mit seiner rechten Hand in die Ritze hinein und abwärts zum Boden des Hohlkörpers. Da spürte er einen metallenen Gegenstand. Nein, es waren sogar zwei metallene Gegenstände, die ihm bekannt vorkamen. Er ertastete eine Schusswaffe. Da es sich durchaus um eine geladene Waffe handeln konnte, umklammerte er sie vorsichtig und zog sie aus dem Hohlkörper des Sofas. Eine Pistole 08 kam zum Vorschein, wie sie die Deutsche Wehrmacht seinerzeit benutzt hatte. Das Magazin steckte noch in der Waffe.

„Horst! Treffer!“, raunte er seinem Kollegen zu. Er legte die Waffe auf dem Wohnzimmertisch ab und griff erneut in die Nische. Dann förderte er ein zweites Magazin, gefüllt mit acht Patronen, zutage.

Andreas Bergmann, der mit seiner Schwägerin die Situation unter dem Türstock mitverfolgte, rief spontan: „Vaters 08! Endlich, die haben wir auch schon gesucht! Das ist ein Erinnerungsstück aus seiner Dienstzeit.“

„Sie wussten also, dass Ihr Vater im Besitz einer Wehrmachtspistole war?“

„Ja, natürlich wussten wir das. Als Kinder hat er uns damit das Schießen beigebracht. Unsere Weinberge waren ideal dafür. Es gab genügend Krähen, und jeder Weinbauer knallte in seinem Weinberg, entweder mit Vogelschreck-Knallpatronen oder einer richtigen Waffe. Nach seinem Tod haben wir überall danach gesucht, auch im Tresor, aber wir konnten sie nirgendwo finden.“

„Herr Bergmann, wenn Sie im Tresor nachgesehen haben, dann müssen Sie ihn ja geöffnet haben. Woher hatten Sie den Schlüssel? Also wissen Sie doch, wo Ihr Vater den Schlüssel aufbewahrt?“ Schorschs Fragestellung war nun etwas eindringlicher, sein Blick auf Andreas Bergmann fordernd. Er bemerkte, wie der zunehmend unruhiger wurde und seine Schwägerin ihm etwas zuflüsterte.

„Ja, okay, meine Herren, hier ist der Schlüssel.“ Er drehte sich nach rechts, hob seinen Arm und tastete mit seiner Hand den oberen Falz des dicken Eichentürblattes ab. Sekunden später hielt er einen Tresorschlüssel in seiner Hand.

„Na, geht doch!“, konnte sich Horst einen Kommentar nicht verkneifen. „Da schau an, in einer Aushöhlung im Türblatt. Den hätten wir vermutlich nie gefunden! Warum haben Sie uns den nicht gleich gegeben? Wenn Sie schon einen Beitrag zur Aufklärung des Verschwindens Ihres Bruders leisten wollen, wieso haben Sie uns dann dieses Versteck verheimlicht?“

Andreas Bergmann biss sich verlegen auf die Unterlippe. „Vielleicht hat uns unser Vater etwas hinterlassen, das uns heutzutage nicht in ein sonderlich gutes Licht stellt. Er hat uns vor seinem Tod über seine Vergangenheit informiert.“

„Sie wissen also auch, was in dem Tresor ist?“, mischte sich Schorsch nun wieder ein.

„Ja, alte Briefe von Onkel Johannes. Und Dokumente, die belegen, dass er früher mal einen anderen Namen hatte.“

„Max Weber, ehemaliger KZ-Kommandant von Flossenbürg, richtig?“

„Jawohl, Herr Bachmeyer.“ Andreas Bergmanns Antwort war klar und militärisch knapp.

Schorsch nahm ihm den Schlüssel ab, ging zum Panzerschrank und steckte den zirka zwölf Zentimeter langen Sicherheitsschlüssel in das Schloss. Langsam drehte er ihn nach rechts und legte anschließend den Griff um. Er zog daran, und der Schrank öffnete sich. Der Safe war voll mit alten Aufzeichnungen und Briefen.

„Wir warten dann mal in der Wohnküche auf Sie.“ Mit diesen Worten verließ Andreas Bergmann mit seiner Schwägerin das sogenannte „Herrenzimmer“. Das Durchstöbern der alten Dokumente wollten sie der Polizei überlassen. Der Inhalt war ihnen ja sowieso bekannt.

Auch Schorsch und Horst stießen beim Querlesen nur auf bereits bekannte Informationen. Immerhin belegten einige Aufzeichnungen aus den Jahren 1943 und 1944 von Urs Ischy von der EKA nunmehr auch das gemeinschaftliche und zielgerichtete Vorgehen. Die Bande hatte sich systematisch am Vermögen von deportierten Juden bereichert. Beide Täter hatten den gleichen korrupten Bankier, der sie bei der Umsetzung ihrer Vorhaben tatkräftig unterstützte.

Schorsch nahm sich noch einmal zwei Vollmachten vor, ausgestellt von Aron Silberstein und Ismael Herbst. Beide wiesen einen identischen Textinhalt auf, lediglich der Name, das Nummernkonto sowie das Losungswort lauteten unterschiedlich. Ausgestellt und unterschrieben wurden beide im Dezember 1943.

 

C:\Users\Seuser\Documents\Auftraggeber\Frangn Dadord\Vollmacht_Silberstein_fin_sw.jpg

 

Vollmacht

 

Ich, Israel Aron Silberstein, geboren am 05.06.1892 in Illesheim, übertrage hiermit mein gesamtes Vermögen (Geld und Wertkonten sowie den Schließfachinhalt), das bei der Eidgenössischen Kreditanstalt in Zürich hinterlegt ist, auf:

 

Max Weber, geboren am 17.02.1917 in Gunzenhausen (ebenda)

 

Das von mir im April 1940 eingerichtete Nummernkonto „87738-1126“ mit dem Losungswort

 

„Am Großglockner schneit es niemals am 05. Juni“

 

soll nunmehr auf Herrn Max Weber übertragen werden.

Herr Max Weber wird sich mit seiner Deutschen Kennkarte A 35987, ausgestellt am 07.04.1942 durch die Ortspolizeibehörde Gunzenhausen, legitimieren.

 

Israel Aron Silberstein, Flossenbürg, den 11.12.1943

(Abdruck linker und rechter Zeigefinger)

 

„Diese Drecksäcke!“, entfuhr es Horst. „Die hatten das präzise geplant und knallhart durchgezogen. Und mit einer möglichen Rache hat nach so langer Zeit keiner mehr gerechnet.“

„Du hast recht, Horst, aber auch wenn sie sich an dem Vermögen der Opfer bereichert haben, rechtfertigt es dennoch keinen Mord. Man hätte die Täter auch nach dieser langen Zeit noch belangen können. Erinnere dich doch einmal an das Urteil gegen John Demjanjuk. Der ist nach all den Jahren wegen Beihilfe zum Mord in mehr als tausend Fällen im Vernichtungslager Sobibor zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden. Nur leider war er nicht mehr haftfähig. Den müsste Koch sogar gekannt haben, er war ja sein Vorgesetzter! Aber dieser Demjanjuk hatte einen guten Verteidiger, und er hielt sich während seines Prozesses genauestens an die Losung seines Anwalts: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Nicht zuletzt haben die Medien da gut mitgespielt. Ich kann mich noch gut an die Showeinlage erinnern, als sie diesen Verbrecher mit der Krankentrage in den Gerichtssaal gefahren haben.“ Schorsch schüttelte angewidert den Kopf. „Trotzdem“, fuhr er fort, „wir müssen diese Kerle bekommen, die da ihre späte Rache nehmen. Und zwar so schnell wie möglich. Sie gehen sehr gezielt vor, haben ihr Opfer genau studiert und die Entführung unbeirrt durchgezogen. Glaub mir, das sind keine gewöhnlichen Verbrecher. Da steckt mehr dahinter!“ Er deutete auf die Dokumente und die Pistole. „Wir stellen das hier alles mal sicher, und falls die Familie etwas dagegen haben sollte, werden wir die Asservate beschlagnahmen.“

Horst holte die Familie zurück ins Herrenzimmer. Ihnen wurde erklärt, dass die Sicherstellung der Dokumente Aufschluss über Alfred Bergmanns Verschwinden geben könnte. Die gefundene Schusswaffe müsse sowieso sichergestellt werden, da für deren Besitz keine behördliche Erlaubnis vorlag. Die Bergmanns hatten keine weiteren Einwände, da die Vergangenheit ihres Vaters und Schwiegervaters ja nunmehr bekannt war.

Nachdem das Sicherstellungsverzeichnis von den Bergmanns abgezeichnet worden war, klingelte Schorschs Diensthandy. Er erkannte im Display die Festnetznummer der Rechtsmedizin Erlangen. Er wollte das Gespräch ungestört annehmen und verließ schnellen Schrittes den Raum.

„Bachmeyer, ja bitte.“

„Alois hier. Tja, Schorsch, ich habe leider keine guten Nachrichten für die Familie aus Bad Windsheim. Mir liegt hier die Auswertung des Spurenmaterials vor, und bei unserem Spannungsopfer von heute Morgen und dem Weinbauern aus Bad Windsheim handelt es sich hundertprozentig um ein und dieselbe Person. Wie war gleich noch mal der Name? Ich kaufe in Bad Windsheim ja auch meine besonderen fränkischen Tropfen ein.“

„Weingut Bergmann“, antwortete Schorsch.

„Pilgerpfad 2?“

„Richtig, Alois!“

„Leck mich am Ärmel! Die haben einen wunderbaren Silvaner, fruchtig im Abgang, den musst du unbedingt mal probieren, besonders den Jahrgang 2009.“ Da war sie wieder, Doc Fogs unvergleichliche Art, mit dramatischen Sachverhalten umzugehen.

Schorsch musste unwillkürlich schmunzeln. Er bedankte und verabschiedete sich vom Doc und ging zurück in die Wohnstube. Die Augen aller Anwesenden waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet, und er eröffnete ihnen ohne große Umschweife die traurige Nachricht. „Unser Toter vom Bahndamm Fürth ist zweifelsfrei Alfred Bergmann. Mein aufrichtiges Beileid.“

Schorsch sah verlegen zu Boden, um nicht wieder in die verweinten Gesichter der Familie Bergmann blicken zu müssen.

 

Kurze Zeit später fuhren er und Horst wieder zurück in die Dienststelle. Sie lagerten ihre Beweismittel in die Asservatenkammer ein und schlossen ihre Dienstwaffen weg.

Den ganzen Tag war Schorsch nicht dazu gekommen, seine E-Mails zu checken, also ging er noch einmal zurück in sein Büro. Dort angelangt bemerkte er, dass sein privates Handy auf dem Schreibtisch lag. Er hatte es heute Morgen schlichtweg vergessen mitzunehmen.

Sein Smartphone zeigte fünf unbeantwortete Anrufe und zwei Mitteilungen an. Rosanne hatte drei Mal versucht, ihn zu erreichen, die anderen zwei Nummern auf dem Display waren unterdrückt. Er öffnete die SMS.

 

18.47 Uhr

„Hallo, mein lieber Schorsch, ich wollte dich heute zum Essen einladen, leider bist du nicht erreichbar. Schade. Liebe Grüße, Rosanne.“

 

18.55 Uhr

„Hallo, mein Kommissar, bist mit Sicherheit noch auf Verbrecherjagd. Melde dich einfach bei mir. Alles Liebe, Rosanne.“

 

Scheiße! Er hatte seine Traumfrau verpasst. Er wählte Rosannes Telefonnummer. Nach dreimaligem Klingeln nahm sie das Gespräch an.

„Hallöchen, mein Lieber. Ich wollte dich heute zu deinem Edelitaliener einladen, aber du warst vermutlich dienstlich verhindert. Schade. Wie geht es dir?“

„Servus, Rosanne! Das mit der Einladung hätte heute eh nicht geklappt. Leo hat montags Ruhetag. Aber wir hätten bestimmt eine gute Alternative gefunden.“ Er lachte, um ihr zu zeigen, dass er sich ehrlich über ihren Vorschlag gefreut hatte. „Leider waren wir heute den ganzen Tag auf Ermittlungen in Bad Windsheim. Ich bin eigentlich schon seit heute Nacht unterwegs, denn wir hatten heute Morgen eine erneute Mordsache, und das Opfer stammt aus Bad Windsheim. Ein schrecklicher Mord. Schon der zweite innerhalb kürzester Zeit. Und beide wurden nach dem gleichen Schema verübt, also höchstwahrscheinlich auch vom selben Täter. Aber das Frustrierende dabei ist, wir haben keinerlei Spuren. Nichts, rein gar nichts!“

„Allmächd, das ist ja schrecklich! Sei bloß vorsichtig. Dann laufen die Mörder also noch frei herum?“ Rosanne klang ehrlich besorgt.

„Ja, leider. Aber reden wir doch von etwas Angenehmeren. Ich freue mich, deine Stimme zu hören. Wie war Ihr Tag, Miss Mills?“

„Ich war heute lange im Büro und habe mich durch die Quartalszahlen für die kommende Pressekonferenz gekämpft. Aber jetzt habe ich ein bisschen Hunger, und den wollte ich eigentlich mit dir stillen“, antwortete sie.

„Wo bist du jetzt? Noch in Erlangen?“

„Auf dem Frankenschnellweg, Richtung Nürnberg, in Höhe Fürth-Stadeln.“

„Auf was hast du Lust … äh … Appetit, ich meine zum Essen?“ Schorsch lachte.

„Na, auf dich.“ Rosanne lachte ebenso.

„Na ja, ich wüsste da eine Alternative. Wir könnten uns in Fischbach treffen, bei Vito. Das ist ein wunderschönes Restaurant in der Fischbacher Hauptstraße, die Trattoria Da Zio Vitoʻ. Neben seinen Spaghetti Scampi bekommt man dort auch ein wunderbares Entrecôte und ein leckeres T-Bone-Steak. Aber auch seine Fischspezialitäten sind bei den Franken und natürlich bei fast allen Glubb-Spielern bekannt. Ich könnte vielleicht schnell einen Tisch für uns klarmachen.“

„Oh ja, Herr Kommissar, das klingt verlockend. Bis wann könntest du da sein?“

„Also, ich würde nicht mehr nach Hause fahren, sondern mich gleich auf den Weg dorthin machen. Sagen wir um zwanzig Uhr bei Vito? Der Tisch ist dann auf Mills reserviert.“

„Ui, ich freue mich. Also bis gleich!“, flötete sie.

Die Vorfreude war ihrer Stimme regelrecht anzuhören, was Schorsch enorm schmeichelte. Er wollte unbedingt noch eine kleine Überraschung für Rosanne besorgen. Nur was? Eine langstielige Rose geht immer, beschloss er, die konnte er auf dem Weg nach Fischbach auch noch schnell irgendwo auftreiben. Aber er musste sich beeilen. Er holte sein kleines „Sturmgepäck“ aus seinem Büroschrank und eilte damit ins Kellergeschoss. Hier, neben dem kleinen Sportraum, konnte er schnell unter die Dusche springen und seine Bartstoppeln abrasieren.

 

Um zwanzig vor acht startete er seinen Strich-Acht. Sein Aftershave mit Sandelholz, Limone und kubanischem Tabak verwandelte den Innenraum seines Daimlers in einen Duftsalon. Er gab ordentlich Gas und war kurz vor acht Uhr in Fischbach.

Rosannes weißer BMW parkte bereits vor der Trattoria. Und Vito, der Schorsch im Eingangsbereich kommen sah, kam auf ihn zu und sagte: „Servus, Schorsch! Deine Bekannte hat schon Platz genommen. Hübsche, sympathische Frau! Hier vorne der Zweiertisch ist für euch.“

Schorsch lief geradewegs auf Rosanne zu. Die Rose, die er noch schnell im Hauptbahnhof gekauft hatte, hielt er elegant hinter seinem Rücken versteckt.

„Hallo, hübsche Frau!“, begrüßte er sie.

Rosanne stand auf und wollte ihn gerade umarmen, als er die Rose hervorzog und ihr entgegenhielt. Freudestrahlend nahm sie die kleine Geste an und umarmte ihn mit festem Druck.

„Schön, dich zu sehen. Eine gemütliche Atmosphäre hier. Gute Wahl, Herr Kommissar!“

„Ich freu mich auch, dich zu sehen. Was für eine tolle und spontane Überraschung, damit habe ich heute gar nicht mehr gerechnet. Denn ich hatte wirklich einen ereignisreichen Tag.“

Er erzählte Rosanne den groben Tagesablauf, ohne natürlich dabei aus dem Nähkästchen zu plaudern. Schließlich wollte er ihr ja auch nicht den Appetit verderben.

Vitos Spaghetti Scampi waren wie immer vorzüglich. Rosanne war begeistert. Schorsch dagegen wählte das gegrillte T-Bone-Steak, und sie beendeten den Abend noch mit einem hausgemachten Tiramisu. Die Gespräche drehten sich vorrangig um ihr gemeinsames Hobby, das Fliegenfischen, und sie beschlossen, das kommende Wochenende gemeinsam zu verbringen. Solange der Altweibersommer noch anhielt, konnte man die letzten Tage im September ruhig noch einmal die Fliegenrute herausholen.

„Warst du eigentlich schon einmal an der Isar zum Fischen? In Lenggries könnten wir einen Tag fischen und am anderen Tag eine Bergwanderung zum Brauneck machen“, schlug Rosanne vor.

Schorsch war von Rosannes Idee begeistert, und sie versprach, alles Notwendige zu organisieren.

„Da lasse ich mich doch gerne überraschen“, gab sich Schorsch erwartungsfroh. „Und wann wollen wir losfahren?“

„Ich habe am Freitag frei. Das heißt, es hängt von dir ab und davon, wie gefordert du hier in Nürnberg bist.“

„Meinst du, wir bekommen da so schnell noch zwei Einzelzimmer?“ Einer von beiden musste diese Frage ja stellen, und Schorsch wollte es lieber auf den Punkt bringen, als lange um den heißen Brei herumzureden.

„Na ja, wenn es keine Einzelzimmer mehr gibt, dann müssen wir eben ein Doppelzimmer nehmen. Oder hast du ein Problem damit?“

„Äh … nein, natürlich nicht. Ich schaue auch weg, wenn du dich ausziehst.“ Schorsch lächelte Rosanne dabei verschmitzt an, und sein Herzschlag wurde merklich schneller.

Sie dagegen blieb erstaunlich cool. „Schorsch, es war ein sehr schöner Abend. Ich habe mich riesig gefreut, dich zu sehen. Danke noch mal für deine nette Aufmerksamkeit!“ Sie hielt seine Hände fest und streichelte den Handrücken mit ihren beiden Daumen. „Was machst du heute noch?“

„Nichts mehr, es war ein sehr anstrengender Tag. Ich gehe gleich ins Bett, hatte ja nur eine kurze Nacht und muss den versäumten Schlaf nachholen. Aber ich freue mich schon auf unser gemeinsames Wochenende. Das Wetter soll ja so bleiben, und wenn ich am Mittwoch keinen negativen Befund von meinem Hautarzt bekomme, dann steht einem Bombenwochenende nichts mehr im Wege.“

„Negativer Befund? Worüber Schorsch?“ Das Streicheln seines Handrückens wurde jäh unterbrochen und er sah, wie sich ihre Stirn in Sorgenfalten legte.

Er erzählte Rosanne seine Krankheitsgeschichte und dass er am Mittwoch das Ergebnis bekommen sollte.

„Mensch, Schorsch, man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Zum Glück bist du zum Dermatologen gegangen. Wir sollten uns aber auch von einem negativen Befund nicht das Wochenende versauern lassen. Das ist gar nicht so schlimm, mein Vater hatte dieselbe Diagnose vor vier Jahren. Nach der Bestrahlung war die Sache gegessen. Seitdem hat er keine Probleme mehr damit.“ Rosanne strich Schorsch zärtlich über die Wange. „Im ersten Moment klingt das zwar erschreckend, aber es ist wirklich alles halb so schlimm.“

 

Am Ende des Abends begleitete Schorsch Rosanne noch zu ihrem Auto. Als sie an ihrem Wagen ankamen, drehte sie sich zu ihm um und drückte sich fest an Schorsch. Dabei glitten ihre Hände langsam unter sein Jackett und kraulten seine Lenden. Er bemerkte ein leichtes Kribbeln in seiner Lendengegend und zog sie fest an sich. Rosanne drückte ihren Kopf an sein linkes Ohr, dabei berührte ihre Zungenspitze sanft sein Ohrläppchen. Diese Frau wollte mehr, das wurde Schorsch nun schlagartig klar. Die Frage, ob Einzel- oder Doppelzimmer, erübrigte sich also, vermutlich aber hatte sie eh nie ernsthaft an getrennte Betten gedacht.

Er drehte seinen Kopf langsam nach links, dabei berührten sich ihre Lippen. Sie verschmolzen in einen innigen Kuss. Als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder voneinander lösten, sah Schorsch ihr tief in die Augen und sagte zum Abschied leise: „Ciao Bella! Wir sehen uns!“

 

Schorsch durchlebte eine unruhige Nacht. Eigentlich wollte er seinen Schlaf nachholen, aber das spontane Rendezvous mit Rosanne hielt ihn länger wach als geplant. Oder war es doch Vitos T-Bone-Steak, das ihn am Einschlafen hinderte? Egal, er wälzte sich hin und her und fand einfach keine Ruhe. Die ganze Nacht musste er an sie denken und an das gemeinsame Wochenende. Eigentlich kannte er Rosanne ja erst ein paar Tage, aber dennoch waren sie sich beide sehr nahe. Wie würde sich das erst nach ihrem gemeinsamen Ausflug anfühlen? Er starrte mit offenen Augen an die Decke und grübelte, bis ihn schlussendlich doch noch der Schlaf übermannte.

 

Als er am nächsten Morgen aufwachte, wusste er, dass er sich Hals über Kopf in Rosanne verliebt hatte.

 

10. Kapitel

 

Dienstag, 27. September 2011, 07.45 Uhr, Polizeipräsidium Nürnberg, K11

 

„Guten Morgen, Horst!“, begrüßte er seinen Zimmerkollegen, als Schorsch um kurz vor acht das Büro betrat. „Ich habe extrem schlecht geschlafen heute Nacht. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?“

„Ich weiß, was du meinst, Schorsch, unsere zwei Opfer spuken mir auch nachts noch im Kopf herum. Schrecklich, wirklich schrecklich!“, stöhnte Horst und schob ein herzhaftes Gähnen hinterher.

Schorsch lachte. „Nein, bei mir liegt's an etwas anderem. Ich habe am Samstag eine wundervolle Frau kennengelernt, und gestern haben wir uns spontan zum Abendessen verabredet. Eine Wahnsinnsfrau! Sie ist eine Halbamerikanerin aus Bamberg und genau mein Typ.“

Er erzählte Horst von seiner neuen Errungenschaft, als das Telefon klingelte.

„Bachmeyer, K11!“

„Polizeiinspektion Kulmbach, Kollege Lammertz“, tönte es durch die Leitung. „Ich habe etwas Interessantes zu melden. Ihr wart doch letzte Woche wegen dem Johannes Koch bei uns in Kulmbach.“

„Ja, warum?“

„Heute Morgen wurde das Fahrzeug seines Sohnes verlassen auf einem Parkplatz auf der B 289 kurz vor Mainleus aufgefunden. Die Fahrertür war geöffnet. Auf dem Beifahrersitz befand sich seine Aktentasche, und der Zündschlüssel steckte noch im Zündschloss. Von ihm fehlt allerdings jede Spur. Wir haben zwischenzeitlich Kontakt mit seiner Frau aufgenommen, die angab, ihr Mann wäre unterwegs zu einem Internisten gewesen. Dort ist er jedoch nie angekommen. Ist das für euch interessant? Eine Vermisstenanzeige können wir ja erst nach Ablauf der Vierundzwanzig-Stunden-Frist aufnehmen.“

„Vielen Dank für den Hinweis, Kollege“, bedankte sich Schorsch. „Kannst du dazu bitte einen kurzen Aktenvermerk machen und uns den per E-Mail zukommen lassen. Das wäre verdammt wichtig.“

„Mache ich, gebt mir dreißig Minuten“, entgegnete der Kollege.

„Super, vielen Dank. Wo ist der Wagen jetzt?“, wollte Schorsch noch wissen.

„Wird vermutlich gerade von seiner Frau abgeholt.“

Schorsch seufzte. „Oh nein, bitte nichts anfassen! Die Spusi sollte sich den Wagen doch erst einmal ansehen. Ich schicke die gleich mal vorbei, vielleicht finden sie ja eine brauchbare Spur.“

„Alles klar, ich verständige meine Streife. Das Fahrzeug wurde nur abgeschlossen. Dann warten wir auf euch“, gab ihm Kollege Lammertz recht.

„Besten Dank, wir bleiben in Kontakt.“ Schorsch beendete das Gespräch.

Horst, der das Telefonat über Lautsprecher mitbekommen hatte, sah ihn verdutzt an. „Zwei Tötungsdelikte, und nun haben wir auch noch eine Entführung. Das wird ja immer besser!“

Schorsch runzelte die Stirn. „Du könntest recht haben, das sieht wirklich nach einer Entführung aus. Los komm, schnapp dir deine Jacke, wir fahren nach Kulmbach. Ich sag schnell Schönbohm Bescheid, und du verständigst unsere Spusi.“

 

Gegen halb zehn machten sie sich auf den Weg nach Kulmbach. Vielleicht fanden Robert und sein Team ja daktyloskopische Spuren der Entführer am Fahrzeug von Herrn Koch. Denn verwertbare Spuren in den beiden Mordfällen hatten sie bis dato nicht. Die daktyloskopische Spurensicherung und -auswertung, oder einfacher gesagt das „Fingerabdruckwesen“, war eine der größten und am stärksten frequentierten Organisationseinheiten der Kriminaltechnik. Das Aufgabenspektrum der Daktyloskopie reichte von der Identifizierung von Spurenverursachern und dem damit verbundenen möglichen Erkennen von Handlungsabläufen und Tatzusammenhängen über die Identitätsfeststellung von Personen bis zur Identifizierung unbekannter Toter. Und im Gegensatz zu den vorhergehenden Entführungen musste ja in diesem Fall der Wagen angehalten und Herr Koch zum Aussteigen gezwungen worden sein. Und genau hierbei konnten die Täter entsprechende Spuren hinterlassen haben.

 

Eine Dreiviertelstunde später erreichten Horst und Schorsch das Anwesen der Kochs. Frau Koch erwartete sie bereits in der Hofeinfahrt. Sie war sichtlich nervös und man sah ihr an, dass sie geweint hatte.

Dennoch kam Schorsch gleich zur Sache: „Frau Koch, ist Ihnen in den letzten Tagen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Fremde Personen? Anrufe? Fahrzeuge mit fremden Kennzeichen, die hier eigentlich nicht hergehören? Denken Sie einmal ganz genau nach. Oder vielleicht hat Ihre Hausangestellte irgendetwas in dieser Richtung bemerkt?“

Frau Koch zitterte am ganzen Körper, und sie sprach sehr leise, als sie antwortete: „Ich glaube nicht. Aber vielleicht gehen wir erst einmal hinein. Da lässt es sich besser plaudern.“

Sie folgten ihr ins Haus und nahmen am großen Esstisch Platz, der teilweise noch mit den Resten des gemeinsamen Frühstücks eingedeckt war. Die Hausangestellte brachte jedem ein Glas Wasser, und Schorsch stellte auch ihr die eben genannten Fragen.

Sie hatte tatsächlich einige wichtige Beobachtungen gemacht, die sie nun zu Protokoll gab. „Gestern Nachmittag habe ich in der Zufahrt einen schwarzen VW-Bus gesehen, der an seinen Seitentüren irgendwelche Werbung hatte. Ich meine für Wein, ja, für Frankenwein! Die Scheiben des Transporters waren abgedunkelt, aber ich konnte den Beifahrer und den Fahrer erkennen. Einer davon hatte einen Feldstecher in der Hand und beobachtete Herrn und Frau Koch augenscheinlich bei der Gartenarbeit. Mir kam das schon etwas eigenartig vor, deshalb hab ich mir die Kerle etwas genauer angesehen. Einer der Männer war besonders auffällig, er trug eine dunkle Schirmmütze und hatte einen geflochtenen rötlichen Vollbart. Er dürfte so Mitte dreißig gewesen sein. Ich glaube, ich habe den schon irgendwo einmal gesehen, mir fällt nur nicht mehr ein, wo.“

„Sehr gut, das haben Sie gut beobachtet“, ermunterte sie Horst. „Das bringt uns vielleicht wirklich weiter.“

Die Ermittler protokollierten die Aussage der Haushälterin, und zwischenzeitlich bekamen sie auch das erste Feedback von der Spusi. Im Auto von Herrn Koch waren Blutanhaftungen gefunden worden, die auf eine gewaltsame Entführung hindeuteten. Die auf dem Parkplatz vorgefundenen Reifenspuren konnten zwar noch nicht eindeutig dem besagten VW-Transporter zugeordnet werden, aber anhand des Profils und der festgestellten Achseinstellung des Entführungsfahrzeuges konnten sie davon ausgehen, dass es sich um dasselbe Fahrzeug handelte, das sowohl am Parkplatz des Seniorenheims wie auch am vergangenen Sonntag in Bad Windsheim gesichtet wurde.

Schorsch und Horst verabschiedeten sich von Frau Koch und trafen sich mit Roberts Mannschaft bei der Polizeiinspektion Kulmbach. Eine kurze Lagebesprechung sollte ihnen über das weitere Vorgehen Aufschluss geben. Wichtig war Schorsch zudem, ob möglicherweise eine mobile Radarüberwachung den schwarzen VW-Transporter auf der BAB 9 auf dem Schirm hatte. Das sollten nun erst einmal die Kulmbacher Kollegen für sie abklären.

Da aufgrund der Spurenlagen und der Beobachtungen nicht auszuschließen war, dass Josef Koch von denselben Tätern entführt worden war wie sein Vater, war die Gefahr für Leib und Leben nicht mehr ausgeschlossen. Schorsch unterrichtete Dr. Menzel. Es war gut möglich, dass Josef Koch das gleiche Schicksal ereilen sollte wie seinen Vater und Alfred Bergmann. Ein dritter Serienmord aber musste mit allen Mitteln verhindert werden. Der Tatort, die Eisenbahnbrücke in der Westvorstadt, musste zeitnah in eine Achtundvierzig-Stunden-Überwachung einbezogen werden. Deshalb war Rudi Mandliks Mobiles Einsatzkommando (MEK) gefordert. Seine Spezialkräfte sollten hierzu das notwendige Überwachungsequipment vor Ort bereitstellen und sie bei der Festnahme unterstützen.

 

Um kurz vor vierzehn Uhr fuhren sie zurück nach Nürnberg. Schorsch musste mit Rudi Mandlik nochmals die Lage besprechen. Denn neben dessen Team sollte auch eine Gruppe ihres Spezialeinsatzkommandos (SEK) mit vor Ort sein.

Gegen sechzehn Uhr hatten sie ihre Einsatzplanung fertig. Die Zufahrtsstraßen zur Eisenbahnbrücke sollten durch das MEK überwacht werden. In unmittelbarer Nähe zur Eisenbahnbrücke wurden außerdem vier SEK-Beamte in einem Ghillie-Anzug positioniert, also einem Tarnanzug, der bei besonderen Einsatzlagen getragen wurde. Dieser Anzug verbarg die Form des menschlichen Körpers und verschmolz den Scharfschützen mit seiner jeweiligen Einsatzumgebung. Die Spezialkräfte blieben somit für den Gegner unsichtbar. Zwei dieser Spezialkräfte hatte ihr Polizeiführer als Scharfschützen vorgesehen. Man wollte die Täter auf frischer Tat ertappen und überwältigen. Sie waren auf alles vorbereitet, die Überwachungstechnik zur Tatortdokumentation war installiert.

Um achtzehn Uhr hatten die Zugriffskräfte bereits ihre Positionen eingenommen. Gunda und Schorsch nahmen ihren Platz im Observationsmobil des MEK ein. Hier konnte man über sechs Bildschirme das gesamte Lagebild überblicken. Sie stellten sich auf eine lange Nacht ein.

Gegen halb acht wurde es spürbar kälter, und Regen setzte ein. Man merkte, dass der Oktober nahte. Ihre Spezialkräfte hatten zwar für jeden Einsatz die passende Kleidung, dennoch war die Nässe unangenehm. Wind kam auf, und der immer heftiger werdende Regen peitschte gegen das getarnte Observationsfahrzeug. Gunda und Schorsch jedoch saßen im Gegensatz zu den Außenkräften im warmen Mercedes-Sprinter bei eingeschalteter Standheizung. Sie blickten auf die Bildschirme der Überwachungskameras, und die Spezialkräfte waren wirklich nur mit der Wärmebildkamera zu erkennen. Durch den Ghillie waren sie bestens getarnt.

Es war kurz nach acht, als ein schwarzer VW-Bus die Zufahrt zur Eisenbahnbrücke befuhr und das Adrenalin aller Beobachter anstieg. Der VW-Transporter hielt unmittelbar vor der Brücke an, fuhr dann aber langsam weiter Richtung Scherbsgraben. Entwarnung! Es war der schwarze VW-Bus der städtischen Bestatter, die Alfred Bergmann hier am Bahndamm abgeholt hatten und jetzt vermutlich einen neuen Passagier im Heck liegen hatten, den sie zum städtischen Leichenhaus brachten. Offensichtlich wollte der Bestatter, der mit seiner rechten Hand auf den reparierten Pinkelschutz und die Oberleitung deutete, seinem Kollegen diesen besonderen Tatort zeigen. Denn auch für einen Bestatter war eine stark verkohlte Leiche, die von einer Eisenbahnbrücke herunterhing, ein nicht alltägliches Erlebnis, das sich in den Gehirnwindungen festfraß.

Danach geschah lange Zeit nichts. Gar nichts. Die halbe Nacht verharrten die anwesenden Einsatzkräfte auf ihren Positionen, hochkonzentriert und stets bereit, sofort zuzuschlagen, falls sich die Entführer nähern sollten. Doch alle Mühe blieb vergebens.

Erst gegen vier Uhr morgens klingelte Schorschs Diensthandy. Er erkannte die Telefonnummer des Kriminaldauerdienstes.

„Bachmeyer, was gibt's?“

„Guten Morgen, Schorsch, Heidi hier.“

„Oh nein!“, stöhnte Schorsch. „Wenn du mich anrufst, dann gibt es meist nichts Erfreuliches zu berichten. Was ist passiert? Schieß los, Heidi!“

„Schorsch, ihr wart leider am falschen Tatort. Fahrt bitte nach Schwarzenbruck, zum dortigen Bahnhof in Ochenbruck. Vor zirka zehn Minuten wurde dort von der Bundespolizei ein weiteres Oberspannungsopfer aufgefunden. Ebenfalls ein Gekreuzigter. Und da ein Zusammenhang mit deinen Opfern in Fürth mehr als wahrscheinlich ist, übernehmen wir diese Ermittlungen. Die Schwabacher Kollegen habe ich informiert, weil der Tatort ja eigentlich in deren Zuständigkeitsbereich liegt.“

Schorsch, der in der Nacht mehrmals mit einer bleiernen Müdigkeit gekämpft und sich schon auf ein baldiges Nickerchen gefreut hatte, war mit einem Schlag wieder hellwach. „Wo genau ist das, Heidi? Bitte gib mir noch mal die Wegbeschreibung.“

„Am Bahnhof Ochenbruck“, wiederholte sie. „Ihr fahrt die Bundesstraße 8 nach Schwarzenbruck. Und direkt an der ersten Ampelanlage links in die Bahnhofstraße. Geradeaus, dann am Ende nach links abbiegen in die Laubendorfer Straße. Das Blaulicht der Kollegen ist vermutlich schon von Weitem zu sehen. Und ich habe bereits unsere Spusi dorthin beordert. Außerdem bekommt ihr noch Unterstützung von Horst. Er kommt auch zum Tatort. Wenn schon mal ein Mord in seinem Heimatdorf passiert, will er natürlich dabei sein.“

Schorsch beendete das Telefonat und informierte das gesamte Team über die ernüchternden Fakten. Sie hatten also den falschen Ort gewählt. Die Mörder hatten ihren Plan perfide umgesetzt und sie und ihre Spezialkräfte in die Irre geführt. Es war ein herber Rückschlag für die MOKO Golgatha.

 

Schorsch und Gunda nahmen Sonderrechte gemäß Paragraph 35 der Straßenverkehrsordnung in Anspruch, indem sie das Blaulicht auf ihrem Wagen fixierten und nun mit erhöhter Geschwindigkeit ihre Fahrt aufnahmen. Auf diese Weise erreichten sie den Tatort in Ochenbruck bereits gegen fünf Uhr morgens. Horst war schon vor Ort und unterhielt sich mit Dr. Menzel, der mal wieder freiwillig von einem Kollegen dessen Bereitschaftsdienst übernommen hatte.

Die Kollegen der Bundespolizei warteten bereits auf ihr Eintreffen. Die Freiwillige Feuerwehr Schwarzenbruck war vorab informiert worden, denn auch hier war die Ausleuchtung des Tatorts mit einer Leuchtgiraffe notwendig. Und die Floriansjünger waren fix. Um kurz nach fünf warfen sie ihr Notstromaggregat an, und der Tatort war beleuchtet.

Den Ermittlern bot sich dasselbe grausame Tatortbild wie in Fürth. Da hing nun wieder einer, bodenabwärts, gekreuzigt und mit einer Kette gefesselt. Die Hauptverbindungslinie Neumarkt – Nürnberg war blockiert. Die alltäglichen Pendler aus dem Nürnberger Land und der Oberpfalz konnten sich auf Verspätungen einstellen.

Die Mörder hatten ganze Arbeit geleistet. Durch den andauernden Regen im Frankenland gab es keine Reifenspuren. Trotzdem machte sich die Spusi ans Werk. Roberts Leute gingen jeder Spur nach, denn auch bei Regen konnten die Täter irgendetwas am Tatort zurückgelassen haben, und wenn es nur eine Zigarettenkippe oder ein gebrauchtes Taschentuch war.

Die Täter hatten auch diesen neuen Tatort sorgsam ausgewählt. Nur ein kleiner Forstweg führte zu der Eisenbahnbrücke, die etwas abseits einer bewohnten Siedlung lag. Somit konnten die Täter in dem angrenzenden Wald und in der Dunkelheit unbemerkt ihren Mordplan umsetzen. Das schlechte Wetter war ihnen dabei zugutegekommen, denn bei anhaltendem Regen war auch kein Jäger unterwegs, der nachts auf einem Hochsitz sitzen und möglicherweise etwas beobachten konnte.

Nach fünfzehn Minuten konnte der leblose Körper durch die Feuerwehr geborgen werden. Und auch hier konnte der ortsansässige Bereitschaftsnotarzt nicht mehr helfen. Um fünf Uhr und siebzehn Minuten stellte dieser den Tod des unbekannten Opfers durch massive Stromeinwirkung fest.

Die anschließende Untersuchung des Opfers brachte wiederum eine Erkennungsmarke zum Vorschein. Es war also exakt das gleiche Hinrichtungsprozedere wie bei Koch und Bergmann. Und wieder war es die Morgendämmerung, die den Bahndamm in eine gespenstische Kulisse verwandelte. Obwohl es stark regnete, saß ein Schwarm Krähen in unmittelbarer Nähe der Oberleitung und beobachtete das Treiben der Menschen an diesem Ort der Verdammnis.

„Jetzt fehlt neben der Leuchtgiraffe nur noch der Regiestuhl vom Stephen King“, scherzte Horst. „Dann würde mein Heimatdorf Schwarzenbruck auch noch Filmgeschichte schreiben!“

Aber so richtig zum Lachen war keinem zumute. Dr. Menzel, der zwischenzeitlich an seiner vierten Mentholzigarette zog, starrte in den Himmel. „Wir müssen die Mörder schleunigst kriegen“, brummte er. „Wir haben bis dato noch nichts Verwertbares gefunden, was uns zu diesen Tätern führt. Wir haben nichts, rein gar nichts! Und ich frage mich schon, wann der nächste Mord passiert. Sollte es sich bei dem Opfer tatsächlich um Josef Koch aus Kulmbach handeln, dann könnte Andreas Bergmann das nächste Opfer sein. Es muss sich um eine Gruppierung handeln, die ehemalige Nazi-Schergen aufspürt und liquidiert. Diese Mörder wollen aber nicht nur die Verantwortlichen von früher umbringen, nein, sie sind darauf bedacht, auch deren gesamte Familie auszulöschen. Bis wir die Täter gefunden haben, sollten wir die Familien Koch und Bergmann vor einem möglichen Mordanschlag schützen.“ Menzel schaute seine Ermittler fragend an.

„Sie meinen ein Zeugenschutzprogramm?“, fragte Schorsch.

„Genau, Herr Bachmeyer. Wir müssen die Familien schützen.“

Schorsch dachte kurz darüber nach und sagte dann: „Das sehe ich genauso, Dr. Menzel. Wir sollten die Familien beziehungsweise den Rest, der davon noch übrig ist, in Sicherheit bringen. Aufgrund der jetzigen Gegebenheiten ist nicht auszuschließen, dass sie ebenfalls auf einer Todesliste stehen. Denn der Spruch aus dem Alten Testament deutet auf Vergeltung, auf Rache hin. Wir sollten also sehr schnell reagieren.“

„Herr Bachmeyer, veranlassen Sie das bitte“, trug ihm Menzel sogleich auf. „Das hat Vorrang vor allen anderen Ermittlungen. Nehmen Sie gleich Kontakt mit Frau Koch auf und erklären Sie ihr die Situation. Bis uns Professor Dr. Nebel nun dieses Ergebnis wiederum bestätigen wird, gehen wir jetzt mal fest davon aus, dass es sich bei dem Toten hier um Josef Koch handelt. Machen Sie der Frau klar, Herr Bachmeyer, dass ihr Leben und das ihrer Kinder auf dem Spiel steht! Die bevorstehende Beerdigung ihres Mannes wird ebenso verschoben wie die ihres Schwiegervaters. Dann kann man sie auch gleich gemeinsam beisetzen. Bis dahin bleiben die Leichen in der Kühlung bei Professor Dr. Nebel.“

Der Oberstaatsanwalt griff erneut zum Zigarettenetui. Als er einen weiteren Glimmstängel zutage förderte, fiel ihm wohl selbst auf, dass er auf dem besten Weg zum Kettenraucher war, und er steckte die Zigarette wieder zurück in die Schachtel. Er fuhr sich nervös über die Stirn und wandte sich wieder seinem Ermittlerteam zu. „Dr. Nebel soll sich unseren Toten heute noch ansehen, ich möchte zeitnah Gewissheit. Ach ja, Herr Meier, und Sie informieren bitte die Winzerfamilie in Bad Windsheim bezüglich ihrer bevorstehenden Evakuierung. Sagen Sie denen, dass uns ihre Sicherheit sehr wichtig ist und wir sie noch bis heute Abend fortbringen werden.“

 

Nachdem der Tatort gegen Viertel nach sechs von der KTU freigegeben wurde, und der verbrannte Körper bereits auf dem Weg in die Rechtsmedizin war, verständigte Schorsch Kriminaldirektor Raimar Schönbohm. Sie vereinbarten, dass Rudis MEK zur einstweiligen Sicherung der Schutzpersonen herangezogen werden müsse. Für beide Familien sollten unverzüglich sichere und geeignete Aufenthaltsorte benannt werden. Keiner außer den besagten Zeugenschützern, der MOKO Golgatha und der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth dürfe über diese vertraulichen Örtlichkeiten informiert werden, so war es in den jeweiligen Dienstanweisungen fundamentiert.

Schorsch und Gunda hatten zwar die ganze Nacht nicht geschlafen, doch das Risiko, dass im Verlauf des Tages noch mehr passieren könnte, war groß. Diesen einen Tag mussten sie notfalls ohne Schlaf auskommen.

 

Gegen sieben Uhr erreichten sie das Präsidium. Schorschs erster Gang führte ihn nicht ins Büro und auch nicht zur Toilette, er ging schnurstracks in die Kantine. Er wollte der Erste sein, wenn Anneliese den frischen Leberkäse anschnitt. Denn Schorsch spekulierte wie immer auf die beiden Endstücke. Und Anneliese kannte ihn, sie packte ihm sein Frühstück ein.

Und kurz vor halb acht wählte er dann Rudis Telefonnummer.

„Schorsch, was gibt es so früh am Morgen? Anneliese hat mir gerade erzählt, dass du mir mit den Endstücken vom Leberkäs zuvorgekommen bist.“ Rudi lachte.

Auch Schorsch musste grinsen, wurde aber sofort wieder ernst. „Guten Morgen, Rudi! Pass auf, das hier erfordert höchste Geheimhaltung und hat äußerste Priorität. Es ist alles mit Dr. Menzel und Schönbohm abgesprochen. Wir brauchen dringend für zwei Familien ein Zeugenschutzprogramm.“

„Wie dringend, Schorsch? Wir haben nämlich seit fünf Uhr eine Observation für die gemeinsame Ermittlungsgruppe ‚Rauschgift‘ laufen. Ein tschechischer Drogenkurier aus Prag kam heute mit der ersten Maschine, der hat drei Kilo Crystal Meth dabei. Den haben wir gerade am Flughafen aufgenommen. Um drei viertel neun soll die Übergabe an einen bekannten Abnehmer bei der Schließfachanlage im Hauptbahnhof stattfinden. Nach dem Zugriff und der Festnahme der beiden sind wir für euch da, versprochen!“

Mist, dachte Schorsch, eigentlich durften sie keine Zeit verlieren. Schließlich mussten auch die Täter damit rechnen, dass die Polizei die Familien künftig überwachen würde, und möglicherweise würden sie gerade dieses Zeitfenster nutzen, um eine weitere Entführung durchzuziehen. „Wir haben soeben den dritten Gekreuzigten in Schwarzenbruck gefunden“, klärte er Rudi auf. „Der wurde im Ortsteil Ochenbruck auf die Oberleitung der Deutschen Bahn geworfen. Es ist nicht auszuschließen, und wir gehen eigentlich alle fest davon aus, dass der Rachefeldzug unserer Mörder weitergeht. Dr. Menzel und Schönbohm fordern deshalb einen sofortigen Zeugenschutz für die Familien Koch und Bergmann.“

„Hm … Um wie viele Personen geht es?“

„Frau Koch ist derzeit mit ihrer Tochter Angela allein zu Hause. Der Sohn, Henning Koch, studiert in den USA Agrarwissenschaften, der fällt schon mal weg. Denn eine Gefährdung des Sohnes in den USA können wir meines Erachtens ausschließen. Dennoch sollte er über die dortigen Sicherheitsbehörden benachrichtigt werden und erfahren, was mit seiner Mutter und seiner Schwester geschieht. Bei der Familie Bergmann haben wir sechs erwachsene Personen: die Ehefrau des Getöteten mit einem Sohn, sowie den Bruder Andreas Bergmann mit Ehefrau und zwei Kindern. Also insgesamt acht Personen. Kriegen wir das hin, Rudi?“

„Sollen die alle gemeinsam untergebracht werden oder getrennt?“

Schorsch überlegte kurz. „Beide Familien kennen sich seit Jahrzehnten. Ich habe keine Ahnung, ob aufgrund der Gefährdungslage zwei Zeugenschutzobjekte gewählt werden müssen. Da bist du der Spezialist.“

„Ich muss darüber erst einmal nachdenken“, erwiderte Rudi. „Das hängt davon ab, wie viele Einsatzkräfte ich habe und welche konspirativen Örtlichkeiten infrage kommen. Gib mir zwei Stunden, Schorsch. Zwei MEK-Teams werde ich nach dem Einsatz am Bahnhof sofort zu den Schutzpersonen beordern. Maile mir die Anschriften durch. Ich melde mich dann bei dir oder Horst.“ Rudi beendete das Gespräch.

Schorschs nächste Order ging an Horst. Der sollte nun mit Eva-Maria nach Kulmbach fahren und Frau Koch und die Tochter hinsichtlich des durchzuführenden Zeugenschutzprogramms briefen. Blacky und Basti informierten unterdessen die Familie Bergmann.

Die Aufgaben waren somit verteilt, und er konnte sich für ein paar Stunden aus der Geschichte ausklinken. Wozu hatte man ein starkes und verlässliches Team!

Er ging zu Gunda ins Büro, um ihr mitzuteilen, dass auch sie jetzt eine Pause machen sollte. „Wir zwei machen jetzt mal für sechs Stunden den Abflug, Gunda. Pack deine Sachen, ich setz dich bei dir ab. Und heute Nachmittag um drei Uhr nehme ich dich wieder auf. Bis dahin hat die Mannschaft die notwendigen Vorkehrungen getroffen.“

 

Kurze Zeit später setzte er Gunda vor ihrer Wohnung ab und fuhr nach Hause. Eine Ruhepause ließ beide neue Kräfte tanken.

 

Mittwoch, 28. September 2011, 07.08 Uhr, Bismarckstraße, im Osten von Nürnberg

 

Der Laptop im Raum kündigte ein Skype-Gespräch an. Viktor drückte auf die Annahmetaste. „Guten Morgen!“ Viktor begrüßte seinen Boss, der nun ohne Talar hinter seinem Schreibtisch saß.

„Leute, wie kommt ihr voran? Hat alles planmäßig geklappt?“

„Sie weilen nicht mehr unter uns.“ Arno nahm grinsend sein Smartphone und zeigte zwei Hinrichtungsfotos in die Kamera.

„Sehr gut. Gute Arbeit!“, klang es aus dem Lautsprecher. „Aber ihr wisst, dass euer Auftrag noch nicht abgeschlossen ist. Nur müssen wir jetzt sehr vorsichtig sein. Euch darf kein Fehler unterlaufen, die deutschen Behörden werden sehr wachsam sein. Unsere Mission muss zu Ende gebracht werden. Erst dann ist euer Auftrag beendet. Also, ich setze auf euch. Seid vorsichtig, wir haben es alle bald geschafft.“

 

11. Kapitel

 

Mittwoch, 28. September 2011, 16.00 Uhr, Polizeipräsidium Nürnberg, K11

 

Schorschs Schlaf war kurz, aber notwendig. Frisch geduscht und rasiert saß er nun wieder in seinem Büro und checkte seine E-Mails. Der starke Kaffee und der „Rote Bulle“ zeigten Wirkung. Er war hellwach.

Kollege Rudi Mandlik hatte zwei Orte für die acht Personen ausgewählt. Zur Auswahl standen die Hallig Langeness auf den Nordfriesischen Inseln vor der schleswig-holsteinischen Nordseeküste sowie eine Almhütte im Karwendelgebirge. Beide Schutzorte waren frei und konnten von den Familien bezogen werden. Da jedes Zeugenschutzprogramm mit starken Einschränkungen verbunden war, sollten die Betroffenen selbst entscheiden, an welchen Ort sie gebracht werden.

Die Hallig im Norden Deutschlands wurde von der Sicherungsgruppe -SG- des BKA in Berlin betreut. Das kleine Friesenhaus war Ende der achtziger Jahre vom Land Schleswig-Holstein übernommen und in das Zeugenschutzprogramm des Bundes integriert worden. Neben den drei separaten Schlafzimmern besaß es eine große Küche, ein Badezimmer und ein Wohnzimmer mit Kamin. Der Keller war, wie bei den meisten Objekten, mit einem Panikraum ausgestattet, dessen Notruf mit der zuständigen Einsatzleitstelle des Landeskriminalamts Schleswig-Holstein verbunden war. Das Objekt selbst war mit einem nicht einsehbaren Zaun gesichert. Zur Meeresseite schirmte wegen der regelmäßigen Gezeitenlage ein hoher Metallzaun das Schutzobjekt von neugierigen Besuchern ab, sodass Wattwanderern und sonstigen Ausflüglern kein Einblick gewährt wurde.

Das zweite Schutzobjekt, die „Grauber Hütte“, lag auf 1.842 Metern und war 1997 vom Bayerischen Innenministerium übernommen worden. Der Weg zu Fuß dauerte gute drei Stunden, über eine Versorgungsgondel erreichte man die Hütte jedoch in gerade mal zehn Minuten. Die Hütte verfügte über drei separate Schlafzimmer sowie ein Notlager für sieben Personen. Zur Ausstattung gehörten außerdem eine große Wohnküche und ein Kaminzimmer mit Leseecke. Im Keller befand sich neben dem Vorratsraum noch ein kleiner Sauna- und Fitnessbereich, und ebenso wie auf der Nordfriesischen Hallig gab es auch in dieser Örtlichkeit einen Panikraum. Außerhalb der Hütte stand ein überdachter Freisitz, ein Boule-Platz sowie ein kleines Gewächshaus grenzten unmittelbar hinter dem Objekt an. Die moderne Wasser- und Stromversorgung, hier mit Photovoltaik, machten die Grauber Hütte, im Zeugenschutzjargon „Adlerhorst“ genannt, zum autarken Kleinod.

 

Es war kurz vor neunzehn Uhr, als Schorschs Mannschaft mit den Schutzpersonen das Kommissariat erreichte und alle im großen Besprechungsraum Platz nahmen. Kriminaldirektor Schönbohm stellte sein Team kurz vor, während Dr. Menzel anschließend auf die Umstände des Zeugenschutzes hinwies.

„Meine Damen und Herren, wir mussten Sie heute Morgen über eine mögliche Gefahr informieren, die wir sehr ernst nehmen. Ich habe soeben von der Rechtsmedizin Erlangen die DNA-Analyse unseres Opfers aus Schwarzenbruck erhalten.“ Menzel blickte zu Karin und Angela Koch. „Ich muss Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Wir haben nun die Gewissheit, dass Ihr Mann beziehungsweise Ihr Vater heute Nacht ermordet wurde.“

Frau Koch und ihre Tochter waren aschfahl im Gesicht, sagten aber nichts. Vermutlich hatten sie sich beide schon mit der Tatsache abgefunden, dass es sich bei dem Opfer um Josef Koch handelte. Nun drückte auch die Familie Bergmann ihre Anteilnahme aus.

Nach einigen Sekunden des Schweigens fuhr Dr. Menzel fort: „Wir gehen davon aus, dass Sie sich nun alle in Lebensgefahr befinden. Um Ihnen einen bestmöglichen Schutz zukommen zu lassen, werden wir, nein, müssen wir Sie in ein Zeugenschutzprogramm aufnehmen. Herr Bachmeyer und Herr Mandlik werden Ihnen das weitere Vorgehen erklären.“

„Guten Abend“, begrüßte sie Schorsch in einem ruhigen, aber bestimmten Ton. „Wir möchten damit vermeiden, dass es auch noch einen anderen Angehörigen aus Ihrer Familie trifft. Daher bringen wir Sie heute noch an einen sicheren Ort. Das notwendige Gepäck für drei Wochen haben Sie hoffentlich alle dabei? Sie hatten ja etwas Zeit. Wenn nicht, kümmern wir uns im Nachhinein darum. Ihre Post wird umgeleitet. Ihre vertrauten Hausangestellten haben Sie auf eine spontane Auslandsreise hingewiesen, hierzu haben diese über ihr Stillschweigen eine Verpflichtungserklärung unterzeichnet, also eine Geheimhaltungserklärung über den weiteren Verlauf Ihrer Abwesenheit. Diese Maßnahme wird pro forma umgesetzt und dient dazu, vertraute Personen aus Ihrem Wirkungskreis noch mal auf die Verschwiegenheitspflicht in dieser Angelegenheit hinzuweisen und auf die strafrechtlichen Folgen eines Verstoßes aufmerksam zu machen. Darauf sollte Verlass sein! Sollten Dritte nach Ihnen fragen, dann ist die Botschaft dieselbe: Sie sind auf einer längeren Australien- und Neuseelandreise! Über Ihren tatsächlichen Verbleib wissen nicht einmal die zuständigen Polizeibehörden Bescheid. Wir hoffen, dass wir bald erste Anhaltspunkte finden werden, wer hinter diesen Morden steckt. Bis dahin, also bis zur Identifizierung und dem Habhaftwerden der Täter, sind Sie in staatlicher Obhut. Es wäre auch sehr spekulativ zu sagen, dass wir in ein paar Wochen die Tat aufgeklärt haben, deshalb gibt es kein Zeitfenster für Sie. Stellen Sie sich also sicherheitshalber auf einen etwas längeren Aufenthalt ein.“

Schorsch blickte erwartungsvoll in die Runde. Doch keiner der Anwesenden zuckte auch nur mit der Wimper. Offensichtlich waren sie bereit, den Anweisungen der Polizei uneingeschränkt Folge zu leisten.

„Zwei sichere Orte stehen Ihnen zur Auswahl“, erklärte Schorsch. „Da das Leben dort sehr einsam werden kann, sollten Sie selbst entscheiden, wo Sie sich aufhalten möchten. Wir haben hier mehrere Fotos Ihres neuen Zuhauses sowie eine Objektbeschreibung auf der Pinnwand. Herr Mandlik, der bei uns für den Zeugenschutz zuständig ist, wird gerne Ihre Fragen dazu beantworten.“

Schorsch stand auf und übergab Rudi Mandlik den Zeigestab. Dieser erklärte den Anwesenden die Vor- und Nachteile der einzelnen Objekte.

Die Entscheidung fiel sehr schnell. Sowohl die Kochs als auch die Bergmanns wählten gemeinsam die Almhütte in Mittenwald.

„Und noch was zu Ihrer Beruhigung“, bemerkte Rudi. „Diese Hütte ist in keiner alpinen Wanderkarte vermerkt. Nicht einmal der Deutsche Alpenverein weiß über dieses Objekt Bescheid. Nur wir Zeugenschützer und die hier anwesenden Sachbearbeiter haben Kenntnis von Ihrem Aufenthalt dort. Also sind Sie dort absolut sicher untergebracht. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?“

„Ja, Herr Mandlik, ich habe noch eine Frage“, meldete sich Angela Koch zu Wort. „Warum gibt es dort einen Panikraum, wenn das Objekt absolut sicher sein soll?“

„Das ist eine berechtigte Frage, Frau Koch“, antwortete Rudi. „Aber wissen Sie, dieser Panikraum wurde damals sporadisch in die Planung mit einbezogen. Man hat diese Planung von den Amis übernommen. Aber um wirklich jegliche Sicherheitsrisiken auszuschließen, haben sich die Sicherheitsbehörden in Deutschland dazu entschieden, die geographischen Standorte aller Schutzobjekte nicht in topographische Karten aufzunehmen. Diese Gebäude gibt es eigentlich gar nicht! Vergessen Sie deshalb den Panikraum, der ist zwar da und eingerichtet, aber für Ihren Schutz nicht notwendig. Habe ich somit Ihre Frage beantwortet?“

Angela Koch beantwortete seine Frage mit einem Nicken.

Zufrieden ging Rudi zum weiteren Vorgehen über: „Morgen früh um zehn Uhr werden Sie die Kollegen mit einem Eurocopter dorthin bringen. Ihr Gepäcktransport erfolgt separat mit einem Transporter, deshalb packen Sie für den Flug und die ersten Stunden nur das Nötigste zusammen. Für die heutige Übernachtung haben wir Sie in einem kleinen Landgasthof in Oberferrieden eingebucht. Der Hubschrauber wird dann morgen auf dem dortigen Sportplatz landen und Sie aufnehmen. Seien Sie deshalb bitte pünktlich! Und noch eine kleine Anmerkung für Frau Koch: Dieser Sportplatz ist geographisch nicht einsehbar und von der ortsansässigen Bevölkerung zirka einen Kilometer entfernt. Also absolut sicher! Keiner außer uns weiß, dass Sie im Nürnberger Land nächtigen. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, dann wären wir für heute durch“, beschloss Rudi die Konferenz.

Nur Karin Koch, die zwischenzeitlich ihren Sohn in den USA über den Tod seines Vaters unterrichtet hatte, musste von einer Polizeipsychologin betreut werden. Zu groß war der Schicksalsschlag, innerhalb von einer Woche zwei Angehörige verloren zu haben. Und diese Strapazen machten sich auch an ihrem äußeren Erscheinungsbild bemerkbar. Frau Koch sah buchstäblich aus wie der „Tod von Forchheim“!

 

Es war schon kurz vor acht, als Schorsch den verpassten Termin auf seinem Mobiltelefon entdeckte: „Befund von Dr. Hengsberg“. Mist! Er hatte im Trubel der heutigen Ermittlungen vergessen, dort anzurufen. Nun würde er sich noch länger Gedanken über die noch ausstehende Diagnose machen. Ihm wurde schlagartig flau im Magen. Da half nur noch ein Gläschen Whisky!

Kaum zu Hause angelangt, schenkte er sich einen Balvenie Single Malt ein, machte es sich in seinem Ledersessel bequem und ließ die letzten vierundzwanzig Stunden Revue passieren. Diese Mörder waren wirklich alles andere als Stümper. Sie hatten ihre Taten akribisch geplant, mussten ihre Opfer seit geraumer Zeit observiert und ein regelrechtes Bewegungsbild erstellt haben, das ihnen deren alltäglichen Abläufe aufzeigte. Zudem mussten sie gut strukturiert und mit allen Örtlichkeiten vertraut sein. Vermutlich sprachen sie deutsch, und irgendwo hier in Franken musste ihr Aufenthaltsort sein. Nur wo? Die Erkennungsmarke mit der hebräischen Prägung ‒ „Auge um Auge“ ‒ ließ Schorsch keine Ruhe. Steckte da womöglich eine jüdische Gruppierung dahinter? Die Personenbeschreibung des einen Täters, der mit dem Rübezahlbart und den geflochtenen Locken, deutete ebenfalls in diese Richtung. Und ein solches Erscheinungsbild war ja alles andere als unauffällig.

Schorsch benötigte Hilfe. Und kein anderer konnte ihm da besser behilflich sein als sein Freund Ben Löb. Schorsch hatte Ben vor drei Jahren auf einem nachrichtendienstlichen Seminar in München kennengelernt. Die Staatsschutzabteilung des Bayerischen Landeskriminalamts hatte damals mit dem Bundesnachrichtendienst ein Seminar für Todesermittler ins Leben gerufen, an dem auch befreundete Nachrichtendienste mitwirkten. Der 44-jährige Ben Löb war damals als Dozent des Mossad, also des israelischen Geheimdienstes, tätig.

Ursprünglich stammte Ben aus Fürth. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr hatte er auch dort gelebt, dann waren seine Eltern nach Israel ausgewandert. Trotzdem hatte er seinen Fürther Dialekt nie ganz abgelegt und war auch nach all den Jahren mit seiner Heimatstadt noch fest verwurzelt. Seine Familie, ein Onkel väterlicherseits, unterhielt in Fürth eine kleine Diamantschleiferei, und jedes Jahr zur „Fädda Kerwa“ kam er für mehrere Tage in seine Geburtsstadt.

Ben hatte in Haifa studiert und war seit 2002 „Angehöriger des israelischen Konsulats“ in München. So lautete die offizielle Bezeichnung der Geheimdienstleute bei den jeweiligen Auslandsvertretungen.

Bei besagtem Seminar wurden nicht nur die Umsetzung beziehungsweise die Vorgehensweise bekannter Tötungen verschiedener Geheimdienste erklärt, es wurden auch die verschiedenen Erkennungsmerkmale anhand von Obduktionsbilderreihen anschaulich dokumentiert und besprochen. Waren die Tötungsdelikte kennzeichnend für die Cosa Nostra, Camorra, Ndrangheta, Sacra Corona Unita, die chinesischen Triaden oder die russische und albanische Mafia? Doc Fog, der damals in seiner Eigenschaft als Dozent der Rechtsmedizin Erlangen referierte, demonstrierte in seinen Ausführungen anschaulich, dass eine gründliche Obduktion wesentlich zum Tatergebnis beitragen konnte.

Das Seminar förderte neben den dienstlichen Beziehungen auch das private Miteinander. Die drei ‒ Schorsch, Alois und Ben ‒ lernten sich bei einem Feierabendbier im „Kasino“ näher kennen, und es blieb an diesem Abend nicht nur bei einem Bier. Sie stellten schnell fest, dass sie alle ein gemeinsames Hobby pflegten, das Fliegenfischen. Von da an trafen sie sich öfters an den Wochenenden in der fränkischen Schweiz. Und Alois und Schorsch zeigten Ben nicht nur ihr Fliegenfischer-Eldorado, auch an den fränkischen Bierkellern kamen sie nicht vorbei.

Schorsch warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach neun. Eigentlich wollte er Ben so spät nicht mehr stören, aber der Fall ließ ihm einfach keine Ruhe und so wählte er Bens Mobilfunknummer. Als Verbindungsmann des israelischen Geheimdienstes konnte er ihnen vielleicht weiterhelfen.

„Schalom, Schorsch“, begrüßte ihn Ben gut gelaunt, nachdem er augenscheinlich Schorschs Nummer im Display erkannt hatte. „Na, wie geht es dir und den fränkischen Forellen?“

Schorsch lachte. „Servus, Ben! Ich hoffe, es ist nicht zu spät. Aber ich fahre kommendes Wochenende in deine Richtung. Meine neue Freundin hat mir Lenggries zum Fliegenfischen vorgeschlagen. Hast du Zeit und Lust, uns zu begleiten?“

Ben überlegte kurz. „Gerne, aber du rufst mich doch nicht wirklich deswegen an, oder? Was brennt dir denn unter den Nägeln, Schorsch? Erzähl!“

Schorsch berichtete Ben von den mysteriösen Morden, den Erkennungsmarken mit der hebräischen Prägung, die alle Opfer trugen, und dass sie den Verdacht hatten, dass vielleicht eine jüdische Organisation hinter diesen Verbrechen stecken könnte.

Ben pfiff durch die Zähne. „Es gab in der Tat einmal eine solche Organisation. Sie hieß ‚Nakam‘. Aber das liegt schon Jahrzehnte zurück, und deren damalige Gründer sind schon lange tot. Es war eine jüdische Terrororganisation, die sich nach Beendigung des Krieges das Ziel gesetzt hatte, Rache, also Vergeltung für den Holocaust zu üben. Sie wollten der Welt zeigen, dass das jüdische Volk auch in der Lage ist, sich zu wehren. Die Angehörigen der Nakam waren bedeutend radikaler als die ‚Jüdische Brigade‘. Ihre Racheakte richteten sich nicht nur gegen Kriegsverbrecher, sondern auch gegen deren Angehörige. Sie gingen von einer Kollektivschuld am Holocaust aus und ermordeten deshalb nicht nur die Täter. Sie haben die ganze Welt nach Nazi-Verbrechern und deren Familien abgegrast, viele davon gefunden und Vergeltung geübt. Irgendwann sind sie dann von der Bildfläche verschwunden, vermutlich weil sie ihr Werk als vollbracht angesehen haben. Aber so wie du die Morde beschreibst, könnte das womöglich auf einen Ableger dieser Organisation hindeuten. Jemand, der vielleicht doch noch überlebende Nazis aufgespürt hat und nun diesen Schwur der Nakam auf seine Art und Weise umsetzt.“

Schorsch war sprachlos.

„Schorsch, bist du noch da?“

Es dauerte eine Weile, bis Schorsch sich wieder gefasst hatte. „Ben, du hast vermutlich voll ins Schwarze getroffen. Und ganz ehrlich, Ben, ich glaube sogar, dass die Kinder dieser Ewiggestrigen über diese damalige Vermögensbereicherung ihrer Väter genau Bescheid wussten. Nur dass gerade jetzt, also nach einem halben Jahrhundert, eine Tätergruppierung auf diese Familien stößt, macht mich stutzig. Warum erst jetzt und nicht schon früher? Und woher haben sie diese Informationen? Beide SS-Angehörige hatten seit 1945 eine neue Identität. Und die war amtlich!“

„Schorsch, ich vermute, dass da was ganz, ganz Großes hinter eurer Mordsache steht. Und es könnte nicht ganz ungefährlich für euch werden. Also passt auf! Ich strecke mal meine Fühler aus und höre mich ein wenig um. Und natürlich werfe ich auch noch mal einen Blick in unsere Systeme, was da noch alles über diese Organisation zu finden ist. Sag, wann bist du noch mal in Lenggries?“

„Kommendes Wochenende“, antwortete Schorsch.

„Ich hab ja deine Nummer, ich melde mich. Vielleicht habe ich bis dahin ja schon was herausgefunden.“

„Super, Ben! Man hört voneinander.“

Kaum dass Schorsch das Telefon zur Seite gelegt hatte, saß er auch schon an seinem Rechner. Keinesfalls konnte er bis zum nächsten Tag warten, er wollte jetzt und heute etwas über diese Terrororganisation erfahren. Als der Rechner nach etwa einer Minute hochgefahren war, googelte er sofort das Wort „Nakam“. Er bekam über vierhunderttausend Treffermeldungen!

Auf gut Glück öffnete Schorsch die Seite „hagalil.com“. Hier fand er die wichtigsten Fakten zu dieser Gruppe zusammengefasst. „Nakam“ war hebräisch für „Rache“. Der vollständige Name lautete eigentlich „Dam Yehudi Nakam“, was so viel heißt wie: „Das jüdische Blut wird gerächt werden.“ Die Nakam-Gruppierung setzte sich aus ehemaligen Elitesoldaten und Partisanen zusammen, die jüdische Rache an NS-Tätern verübten und einen ganz besonderen Bezug zu Nürnberg hatten. Bereits nach Kriegsende, im Juli 1945, war es ihnen gelungen, Angehörige dieser Organisation in die Wasserwerke von Nürnberg und des Nürnberger Landes einzuschleusen. Die Terrorgruppierung hatte den Plan, ein hoch toxisches Gift in die Wasserversorgung einzuspeisen. Um sich an der mittelfränkischen Bevölkerung zu rächen, war ein Massenmord geplant, der detailgetreu umgesetzt werden sollte. Sollte Plan A scheitern, dann trat Plan B in Kraft.

Schorsch schluckte. Dann goss er sich ein zweites Glas Whisky ein und scrollte weiter.

Ihr Anführer, Abbas Kovner, reiste nach Palästina. Gemeinsam mit Chaim Weizmann, dem späteren Präsidenten Israels, der ihm bei der Beschaffung des Giftes behilflich war, gelang es ihm im Dezember 1945, ein britisches Schiff mit Kurs auf Europa zu nehmen. In zwanzig Milchkonserven versteckt transportierte er das Gift damals via Malta nach Toulon. Sein Plan A schien aufzugehen. Kurz vor dem Einlaufen in den Hafen wurde er jedoch festgenommen und drei Monate in einem Militärgefängnis in Kairo festgehalten. Er wurde jedoch nie des versuchten Terroranschlages angeklagt. Der britische Geheimdienst hatte seinerzeit Wind von der Sache bekommen und seine Verhaftung und Auslieferung nach Kairo veranlasst.

Nach Kovners Verhaftung versuchte sein Stellvertreter, Pascha Reichman, mit seinen Männern den geplanten Massenmord auszuführen. Plan B trat in Kraft. In Paris besorgte sich Reichman dafür zwanzig Kilogramm Arsen. Dann drangen am 13. April 1946 Angehörige der Nakam-Gruppe mit ihren bereits dort platzierten Helfern in die Nürnberger Konsum-Großbäckerei am Schleifweg ein. Diese Bäckerei belieferte das ehemalige Internierungslager für Kriegsgefangene in Langwasser-Moorenbrunn. In diesem Lager befanden sich nach Kriegsende etwa zwölf- bis fünfzehntausend Kriegsgefangene, hauptsächlich SS-Angehörige. Dreitausend der dort zur Auslieferung gelagerten Graubrotlaibe wurden in dieser Nacht mit einer Arsen-Wasser-Mischung bestrichen. Am Morgen des 14. April 1946 wurden diese Brotlaibe in das Kriegsgefangenenlager ausgeliefert. Zahlreiche Lagerinsassen erkrankten schwer. Amerikanische Zeitungen druckten zwar Agenturmeldungen, in denen die Zahl der Erkrankten tausendneunhundert betrug, einige Tage darauf war aber in einer zweiten Meldung die Rede von zweitausenddreihundert.

Ob es bei dem Anschlag in Nürnberg tatsächlich Todesopfer gegeben hatte und wie schwer die Vergiftungen wirklich waren, blieb jedoch unklar. Denn die zuständige amerikanische US-Militärregierung hatte eine Nachrichtensperre verhängt. Polizeiliche Ermittlungen konnten damals nicht durchgeführt werden, denn es gab ja nur eine US-Militärregierung. Zu diesem Zeitpunkt waren allein die Besatzungsmächte für die Verfolgung und Ahndung von Straftaten in Nürnberg zuständig. Die Polizei in der Frankenmetropole wurde erst ein paar Monate später ins Leben gerufen. Denn obwohl die bestehende Militärregierung bereits Ende Juni 1945 anordnete, dass eine Landespolizei aufgestellt werden müsse, konnte erst mit dem Erlass vom 24. April 1946 die Aufbauplanung für diese befohlene Neuorientierung umgesetzt werden.

Die Kommandogruppe der Nakam floh zuerst nach Italien. Von dort aus setzten sie nach Malta über, wo sie sich in Sicherheit wogen. Tatsächlich fanden die Akteure hier Unterschlupf. Kovner und Reichman waren in Sicherheit und wurden nie zur Verantwortung gezogen. Einige ihrer Terroraktivisten bedauerten auch Jahrzehnte später noch, dass ihr geplanter Massenmord in Nürnberg nicht den Erfolg brachte, den man sich erhofft hatte. Worte wie Reue oder Vergebung kamen niemals über ihre Lippen.

Kovner starb am 25. September 1987 im Kibbuz „En ha Choresch“ in Israel. Reichman änderte seinen Namen in Jitzchak Avidov. Er war Mitglied der Hagana, einer zionistischen paramilitärischen Untergrundorganisation in Palästina während des britischen Mandats von 1920 bis 1948 und zuletzt in führender Position beim israelischen Geheimdienst tätig. Deshalb kam es auch nie zu einer gerichtlichen Aufarbeitung seiner Verbrechen. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth stellte das Ermittlungsverfahren im Jahr 2000 wegen „außergewöhnlicher Umstände“ ein. Und das, obwohl einer der Haupttäter damals noch am Leben war und erst 2005 verstarb.

Schorsch war fassungslos. Es gab also in der Tat eine jüdische Organisation, die Rache geschworen hatte, und zwar nicht nur an ehemaligen SS-Schergen, sondern an allen Deutschen! Durch die geplante Vergiftung der zentralen Wasserversorgung von Nürnberg und dem Nürnberger Land wurde jeder zum Todeskandidaten, der von diesem Wasser getrunken hätte. Egal ob Kriegsverbrecher, Richter, Staatsanwälte oder sogar Überlebende des Holocausts, die den Weg in ihre ursprüngliche Heimat Mittelfranken zurückgefunden hatten ‒ niemand sollte dabei verschont werden!

Schorsch schüttelte sich, als er las, dass die Führungspersönlichkeiten der Nakam danach in den höchsten Positionen der israelischen Regierung verwurzelt waren. Diese Geschichte war wirklich unglaublich ‒ aber wahr! Welch schrecklicher Fanatismus steckte hier dahinter!

Er dachte über Bens Worte nach. Sollten ihre Mörder wirklich einem Ableger dieser Organisation angehören, dann könnte es auch für die ermittelnden Beamten gefährlich werden. Solche organisierten Verbrecher schreckten nicht davor zurück, Polizisten, die mit der Aufklärung des Mordfalles betraut waren, kaltblütig aus dem Weg zu räumen. Und wer um alles in der Welt war der Kopf dieser neuen Organisation? Die beiden ehemaligen Anführer waren doch bereits verstorben. Wer war der Auftraggeber, der diese Morde veranlasste, sie finanzierte?

„Und das fünfundsechzig Jahre nach Kriegsende!“, murmelte Schorsch vor sich hin. Er konnte es noch immer nicht fassen. Dennoch spürte er, dass dies mehr als eine heiße Spur war, sie mussten ihr unbedingt nachgehen. Seine Hoffnungen ruhten auf Ben. Nur er hatte den heißen Draht nach Israel, zum Mossad. Dort hatte er seine Quellen sitzen. Sofern es die denn noch gab!

Gegen dreiundzwanzig Uhr betätigte er die Druckfunktion seines Rechners. Er würde all das morgen früh seinem Team mitteilen. Eine große Lagebesprechung mit Dr. Menzel und dem Polizeipräsidenten hatte neben dem Anruf bei Dr. Hengsberg äußerste Priorität.

Doch zuerst musste er abschalten, zur Ruhe finden. Er holte noch einmal sein Smartphone hervor und schrieb Rosanne noch eine Gute-Nacht-Botschaft. Dabei dachte er an das bevorstehende Wochenende.

 

12. Kapitel

 

Donnerstag, 29. September 2011, 06.22 Uhr, Polizeipräsidium Nürnberg, K11

 

Schorsch hatte schlecht geschlafen. Heute war er der Erste im Büro. Er hatte bereits die Internetausdrucke über die Nakam eingescannt und in der elektronischen Fallakte abgelegt. Über das gestrige Gespräch mit Ben Löb fertigte er gerade einen Vermerk an, denn sein Team sollte bereits beim Hochfahren ihrer Rechner auf diese Neuigkeiten aufmerksam werden.

Gegen sieben Uhr erschienen Gunda und Blacky. Gunda begrüßte ihn mit den Worten: „Na, Schorsch, guten Morgen! Du bist aber schon zeitig hier.“

„Hallo, ihr beiden! Ich hab nicht gut geschlafen. Ich hatte gestern Abend mit Ben Löb aus München ein langes Telefonat und habe vielleicht einen verdammt guten Hinweis bekommen.“

Gunda kannte Ben Löb. Sie hatte öfters mit ihm zu tun gehabt, als sie noch beim BKA in Meckenheim ihren Dienst verrichtete. Gunda war dort für die Verfolgung von Straftaten im Bereich „Proliferation und Spionageabwehr“ eingesetzt. Und achtzig Prozent ihrer damaligen Tätigkeit erstreckte sich auf die Zusammenarbeit mit den Nachrichtendiensten. Hier lernte sie auch Ben Löb kennen und schätzen. Denn nicht nur die deutschen Geheimdienste lieferten dem BKA so manchen nachrichtendienstlichen Hinweis auf bestimmte Täterprofile in diesen sensiblen Bereichen.

Schorsch fuhr fort: „Ich habe gerade den Vermerk fertig geschrieben. Um halb zehn möchte ich alle versammelt haben. Ich hoffe auch, dass Dr. Menzel Zeit findet. Als Erstes lest ihr bitte die aktuellen Hinweise in der Akte, und du, Gunda, zapfe mal deine Quellen beim BND an. Über Bens Information müsste auch bei unseren Schlapphüten Material vorhanden sein. Wir sollten Bens Hinweis ernst nehmen. Es ist der erste Anhaltspunkt, der glaubhaft auf unsere Mordserie hindeutet.“ Dann wandte er sich Blacky zu. „Du, Blacky, wertest bitte noch mal das Internet aus. Wir müssen alles über diese Terrororganisation erfahren.“

„Geht klar, Chef, machen wir“, versprach Gunda, und beide verließen sein Büro.

 

Kurze Zeit später erschien Horst. Beide, er und Eva-Maria, waren heute zur Unterstützung von Rudis Team eingebunden. Die Verlegung der Schutzpersonen, also der Transport in das sogenannte „Adlerhorst“, sollte gemäß Einsatz-Protokoll-System planmäßig umgesetzt werden.

Dieses Einsatz-Protokoll-System wurde von allen Polizeibehörden in Deutschland genutzt, um alle am Einsatz beteiligten Dienststellen bei Lageänderungen in Sekunden über aktuelle und einsatztaktische Informationen und Abläufe zu informieren. Der Vorteil dieses computergestützten Informationssystems lag demnach auf der Hand, denn der für den Einsatz zuständige Polizeiführer, hier Rudi Mandlik, konnte somit während des Einsatzes seine Kontrollfunktion auf die jeweiligen Einsatzabschnitte ‒ Grauber Hütte, die Hubschrauberstaffel und die mobile Transporteinheit ‒ ausüben. Zugriff auf das Einsatzgeschehen hatten nur die am Einsatz beteiligten Kräfte, egal ob diese Dienststellen in Hamburg oder in Dresden beheimatet waren. Die Freischaltung der beteiligten Polizeikräfte erfolgte durch den zuständigen Polizeiführer, wie in diesem Einsatz durch den Verantwortlichen des Zeugenschutzes. Klarnamen von den am Einsatz beteiligten Personen wurden in diesem Protokollsystem aus Geheimhaltungsgründen nicht erfasst. Es war somit ein wichtiges länderübergreifendes Kommunikations- und Einsatzmittel der deutschen Polizei, das zudem eine gerichtsverwertbare Dokumentation des Einsatzverlaufes sicherstellte.

Die Münchner Kollegen des Bayerischen Landeskriminalamts hatten bereits gestern Abend noch die Versorgungsmaschinerie in Mittenwald angeworfen. Das aktuelle Einsatzprotokoll meldete um sechs Uhr und siebzehn Minuten die Objekt-Einsatzbereitschaft. Der Adlerhorst konnte nunmehr bezogen werden.

Schorsch wies Horst auf die Neuigkeiten in der elektronischen Akte hin und überreichte ihm den Ausdruck mit den Worten: „Hier habt ihr was Interessantes zum Lesen! Die Dienstreise soll ja nicht langweilig werden.“

Bevor Horst einen Blick darauf werfen konnte, stand auch schon Rudi Mandlik im Türrahmen. „Guten Morgen, miteinander! Pack mer's! Wir sind soweit einsatzbereit und möchten um acht Uhr fünfzehn abrücken.“

„Servus, Rudi“, begrüßte ihn Horst. „Wir sind bereit. Eva-Maria ist nur noch schnell in die Kantine.“

„Wir treffen uns in zehn Minuten in der Tiefgarage“, lautete Rudis Order, und schon war er wieder zur Tür hinaus.

Horst schnappte sich seine Jacke und folgte ihm auf dem Fuße.

„Euch allen viel Erfolg!“, rief Schorsch ihm nach. Dann griff er zum Telefonhörer und wählte die Telefonnummer von Dr. Hengsberg. Kurz darauf wurde er persönlich mit dem Doktor verbunden.

„Guten Morgen, Herr Bachmeyer. Das Ergebnis der Gewebeuntersuchung liegt mir nun vor.“ Daraufhin folgte ein langes Schweigen am Ende der Leitung.

Schorsch wurde nervös und fragte: „Hallo, Herr Doktor, sind Sie noch da?“ Er hörte Papier rascheln und die Stimme der Arzthelferin im Hintergrund. Dann meldete sich der Doktor endlich wieder zu Wort.

„Soderla, hier haben wir den pathologischen Befund.“

„Und, Herr Doktor, wie lange geben Sie mir noch?“

„Na ja, Herr Bachmeyer, das kommt darauf an.“ Dr. Hengsberg lachte. „Wenn wir das gut behandeln, dann können Sie noch hundert Jahre alt werden!“

„Also nichts Schlimmes?“

„Meine Diagnose wurde im Befund bestätigt“, versicherte ihm der Doktor. „Wenn wir nichts dagegen machen, kann es einmal Hautkrebs werden. Aber das lassen wir natürlich nicht zu. Die beiden Stellen werden mit einer Salbe behandelt und innerhalb von vierzehn Tagen zweimal bestrahlt. Dann sollte Ruhe sein. Also keine Angst. Sie lassen sich zeitnah einen Termin geben und dann kriegen wir das hin.“

Schorsch war erleichtert. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Er bedankte sich bei Dr. Hengsberg und beendete das Telefonat.

 

Es war kurz nach halb neun, als Schönbohm aufgeregt sein Büro betrat.

„Guten Morgen, Herr Bachmeyer, das ist ja unglaublich! Ich habe soeben die aktuellen Hinweise in der Akte Golgatha gelesen. Ich wusste gar nicht, dass wir 1945 knapp einem Massenmord entgangen sind.“

„Na ja, die Oberpfälzer hätten wahrscheinlich ja auch alle überlebt. Die hatten ja noch die hauseigenen Brunnen!“, erlaubte sich Schorsch einen Scherz mit seinem Vorgesetzten. „Uns Franken dagegen hätte es furchtbar erwischt. Wir hatten ja schließlich schon eine ausgebaute Wasserversorgung.“

Zum Glück verstand Schönbohm solche Scherze und konnte herzhaft darüber lachen. „Aber jetzt mal Spaß beiseite, Bachmeyer, das wusste ich wirklich nicht“, kehrte er dennoch schnell wieder zum Ernst der Lage zurück. „Wenn dieser Terrorist Kovner das damals geschafft hätte, dann wären Millionen von unschuldigen Menschen gestorben. Diese verheerende Katastrophe wäre mit Sicherheit in die Geschichtsbücher eingegangen! Ohne die Wachsamkeit des britischen Geheimdienstes wären die Mittelfranken ja praktisch ausgestorben! So makaber das auch klingen mag.“ Wieder musste der Oberpfälzer grinsen.

Schorsch presste die Lippen aufeinander und ignorierte diese Spitze. „Wir haben gleich eine Einsatzbesprechung. Dr. Menzel wird auch anwesend sein. Denn wir müssen irgendwie mehr Fleisch an den Knochen kriegen. Ben Löbs Hinweis ist vielleicht der Schlüssel, darüber hinaus haben wir ja auch nicht viel.“

 

Um Punkt neun Uhr hatten sich alle im großen Besprechungsraum eingefunden. Neben Dr. Menzel war auch Polizeipräsident Johannes Mengert gekommen, den Schönbohm kurz vorher über die neuesten Erkenntnisse informiert hatte.

Schorsch kam gleich zur Sache: „Die Verlegung unserer Schutzpersonen ist angelaufen. Horst und Eva-Maria werden Mandliks Leute dabei unterstützen. Und wir haben neue Hinweise für unsere MOKO bekommen. Zum einen hat Michael die Auswertung der Beweismittel abgeschlossen, zum anderen liegen uns seit heute Morgen Erkenntnisse vor, denen wir unbedingt nachgehen müssen. Aber zuerst wird Michael seine Auswertung der vorgefundenen Dokumente vortragen.“

Schorsch richtete seinen Blick auf Michael Wasserburger, der gleich übernahm.

„Guten Morgen, Kollegen! Wie wir ja bereits wissen, haben Johannes Koch und Adolf Bergmann mit dem Schweizer Bankier Urs Ischy gemeinsame Sache gemacht. Ob es den Bankier heute noch gibt, ist zweifelhaft, der müsste mittlerweile auf jeden Fall schon ein stolzes Alter haben. Aber die Tatsache, dass es ihn gegeben hat, ist unumstößlich. Die Kontoauszüge aus dem Möbeltresor in Kulmbach sind nicht tagesaktuell, die sind aus dem Jahr 2001. Unser erstes Opfer hatte damals sein Vermögen auf seinen Sohn übertragen und sich bis zu seinem Tod einen monatlichen Geldbetrag von fünftausend Euro zusichern lassen. Damals wiesen die drei Bankkonten ein Gesamtvermögen von exakt 7.578.239,- Euro auf. Neben diesen Bankkonten besaß Koch noch vierzehn Eigentumswohnungen in Kulmbach und Bamberg, die er laut vorliegendem Notarvertrag vom August 1997 seinen beiden Enkeln überschrieben hatte. Seine Spirituosenfirma wurde bereits 1982 auf seinen Sohn übertragen. Sein aktuelles Vermögen laut Kontoauszug der Volksbank Kulmbach beziffert sich auf 2.663.027,56 Euro.“

Er machte eine kurze Pause, damit die Kollegen die Zahlen auf sich wirken lassen konnten. „Kommen wir nun zur Person Adolf Bergmann. Über dessen Vermögen kann ich leider keine Aussage treffen. In dem Panzerschrank waren nur noch alte schriftliche Aufzeichnungen aus der Zeit vor 1945. Vermutlich haben seine Söhne nach dem Tod sein Vermögen geerbt und untereinander aufgeteilt.“

Gunda unterbrach ihn: „Ich frage mich, warum er diese brisanten Unterlagen über Jahrzehnte hinweg aufbewahrt hat? Wenn er die nach der Übertragung vernichtet hätte, dann wären wir doch niemals auf seine wahre Identität gestoßen.“

„Ja, Frau Vitzthum, das ist eine berechtigte Frage. Aber lassen Sie das mich vielleicht kurz erklären“, meldete sich Schönbohm zu Wort. „Das ist nämlich ein bekanntes Phänomen, darüber gibt es sogar empirische Studien. Täter weisen unterschiedliche Verhaltensmuster auf. Der eine ergötzt sich an der entwendeten Unterwäsche seiner Sexualopfer, der andere macht von jedem seiner Opfer ein Lichtbild und spickt diese an seine Pinnwand. Allein die Erinnerung an die durchgeführten Verbrechen ruft bei den meisten Tätern eine Art Befriedigung hervor, und das auch noch nach Jahrzehnten. Das trifft vermutlich auch auf unsere Opfer, oder andersherum gesagt, die Täter Koch und Bergmann zu. Diese Erinnerungen waren für sie wie ein kleiner behüteter Schatz. Ihr gemeinsames Geheimnis.“

Michael Wasserburger nickte und fuhr fort: „Damals hat sich Adolf Bergmann mithilfe dieses korrupten Ischys mindestens zwei Nummernkonten übertragen lassen. Einmal das Konto eines Aron Silberstein aus Illesheim, das andere von einem sogenannten Ismael Herbst aus Suhl. Und zwar mit derselben Masche, die auch schon vorher bei seinem Freund Koch funktioniert hatte. Ohne den Schweizer Ischy wären die beiden allerdings nie an das geraubte Vermögen gekommen, deshalb können wir nur mithilfe der Eidgenossen die wahren Vermögensverhältnisse zur damaligen Zeit ermitteln. Die Familie Bergmann wird uns wohl kaum Einsicht in ihr Vermögen gewähren. Wir bräuchten zuerst Hinweise aus der Schweiz, dass es sich tatsächlich um geraubtes Vermögen handelt. Vielleicht können uns die Schweizer Behörden da weiterhelfen. Womöglich gibt es sogar nach wie vor noch Konten dort, die auf Koch und Bergmann eingetragen sind und auf denen die ehemaligen Vermögensverhältnisse sichtbar sind. Ein Rechts- und Amtshilfeersuchen sollten wir in jedem Fall erbitten.“

Er beobachtete zustimmendes Kopfnicken in der Runde. Somit waren ihre nächsten Schritte klar. Doch Michael hatte noch weitere Ergebnisse zu präsentieren.

„Auch zu dieser makabren Schatulle, die wir im Tresor von Johannes Koch gefunden haben, habe ich noch einige Anmerkungen. Es ist eine Ebenholzschatulle, die in der Tat mit Einlegearbeiten aus menschlichen Goldzähnen gefertigt wurde. Aber viel wichtiger ist der Inhalt. Die Damen-und Herrenarmbanduhren sowie die goldene Taschenuhr sind alle noch mit einem mechanischen Werk ausgestattet und wurden zwischen 1930 und 1940 hergestellt. Da zählen nur die Sammlerwerte, die ich noch nicht ermitteln konnte. Die Steine in dem schwarzen Samtbeutel habe ich von einem Fachmann begutachten und schätzen lassen. Es handelt sich um vier lupenreine Diamanten sowie drei Rubine und zwei Smaragde. Der Wert der Edelsteine beziffert sich auf etwa 31.700,- Euro. Ein Zertifikat konnte ich nicht vorfinden, somit ist deren Herkunft unklar. Aber jeder kann sich einen Reim darauf machen, woher die wohl ursprünglich stammen.“

Damit endete Michael seinen Bericht und übergab das Wort wieder an Schorsch. „Gute Arbeit, Michael! Die Schweiz ist ein wichtiger Ansatz für uns. Dann werden wir wohl eine Dienstreise dorthin machen müssen. Herr Schönbohm, der Dienstreiseantrag folgt.“ Schorsch hob die Augenbrauen und sah zu seinem Kommissariatsleiter, der stoisch auf seinem Stuhl saß. Dann wandte er sich erneut den Zuhörern zu: „Ihr habt sicher schon alle den Vermerk über mein gestriges Gespräch mit Ben Löb gelesen. Ich habe ihn gestern kontaktiert, weil mir die Sache mit der geprägten Erkennungsmarke einfach nicht aus dem Kopf ging. Ben hat uns vielleicht einen entscheidenden Hinweis auf eine ehemalige Terrorgruppierung aus Palästina gegeben. Er wird für uns noch ein wenig in seinen dienstlichen Datenbanken stöbern, um seine Theorie zu bekräftigen.“

Schorsch referierte noch einmal die Ereignisse rund um den Giftanschlag auf die städtische Wasserversorgung, und alle Anwesenden hörten gespannt zu. Keiner hatte je etwas von diesem geplanten Massenmord gehört. „Kovner und Reichman gaben in den achtziger Jahren Interviews, die in der Hebräischen Universität Jerusalem und im Moretschef-Archiv aufgezeichnet wurden. Die Nakam-Geschichte wurde von Kovner vor seinem Tod 1987 an Levi Arieh Sarid weitergegeben, der 1992 das Manuskript Rache: Geschichte, Erscheinungsform und Umsetzung‘ erstellte, das unveröffentlicht blieb. Sarid hatte dafür auch Pascha Reichman befragt. Dieses Manuskript konnte in einer Übersetzung von Jim Tobias und Peter Zinke eingesehen werden. Tobias und Zinke führten darüber hinaus Interviews mit dem am Anschlag in Nürnberg beteiligten Oleg Hirsch ‒ der Name ist jedoch nur ein Pseudonym‒ sowie mit Leipke Zinkel und Joseph Harmatz. Zu dem Anschlag wurden auch kolportagehafte Darstellungen veröffentlicht, in denen ohne Quellenangaben andere Versionen des Giftanschlags verbreitet wurden. Das ist alles, was im Netz darüber zu finden war.“ Schorsch beendete sein Referat und blickte in lauter fragende Gesichter.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739316161
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Mossad Israelischer Geheimdienst MI6 Franken Thriller

Autoren

  • Roland Geisler (Autor:in)

  • Julia Seuser (Autor:in)

Roland Geisler war 33 Jahre Ermittler. Der gebürtige Mittelfranke war u. a. beim Zollfahndungsamt Nürnberg. Neben den Schwerpunktermittlungen im Waffen- und Sprengstoffbereich war er auch in der Terrorismusbekämpfung eingesetzt. Bis zu seinem Ruhestand 2012 war der Beamte im Ermittlungsreferat des Generalbundesanwalts im Bereich Proliferationsbekämpfung tätig. Julia Seuser, geboren 1979 in Nürnberg, ist freiberufliche Texterin und Lektorin.
Zurück

Titel: Retributionem Auge um Auge, Zahn um Zahn