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Die Akte Aljona

Thriller

von Ilona Bulazel (Autor:in)
302 Seiten
Reihe: Berens-Marchand-Thriller, Band 1

Zusammenfassung

Ein grausam verstümmelter Mann taucht plötzlich halb nackt auf einer Landstraße bei Görlitz auf und behauptet Stalin wäre für die furchtbaren Misshandlungen an seinem Körper verantwortlich. In Moskau wird ein Junkie vergiftet, in der Schweiz verschwindet eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind spurlos und ein angesehener deutscher Bioinformatiker gerät in Bedrängnis. Was haben diese Ereignisse im November 2014 mit einem geheimen Forschungsprojekt der Nazis zu tun? Paul Berens wird von dunklen Mächten quer durch Russland, halb Europa bis nach Pakistan gehetzt. Es geht um viel mehr, als er sich je hätte vorstellen können … (Seitenzahl der Taschenbuchausgabe: 302 Seiten)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

»In der Tierwelt gibt es verschiedene Beispiele für Lebewesen, die nur sehr kurz schlafen. Bei Kälbern diverser Meeresbewohner hat man festgestellt, dass diese im ersten Monat ihres Lebens überhaupt nicht schlafen.

 

Beim Menschen führt ein Schlafentzug innerhalb weniger Tage zu ernsthaften Problemen. Neben Gedächtnislücken und einer Erhöhung der Reaktionszeit können auch Halluzinationen auftreten.«

 

* * *

 

Moskau, Russland – Oktober 2011, 23.00 Uhr

 

Ungeduldig blickte er auf seine Armbanduhr mit dem kaputten Glas. Er war unruhig und gereizt. Den letzten kläglichen Rest Kokain hatte er schon gestern verbraucht. Aber das spielte keine Rolle mehr, denn heute war der Tag, an dem er das Geschäft seines Lebens machen würde. Dann wäre bald alles wieder so wie früher. Das große Haus, die Autos, die jungen hübschen Frauen auf den Partys, alles würde zu ihm zurückkommen.

Die letzten Monate waren unerfreulich gewesen. Nach den lächerlichen Korruptionsvorwürfen hatte er gehen müssen. Das Geld hatte kaum für die ersten Wochen gereicht, sein Drogenkonsum nahm seither drastisch zu und jetzt war er kurz davor auf der Straße zu landen. Aber er war ein Kämpfer, aufgeben kam für ihn nicht infrage. Und dann hatte er diese Idee gehabt.

Er erinnerte sich an einige verstaubte Kartons, die unbeachtet in den dunklen Kellerarchiven seines ehemaligen Arbeitgebers standen. Längst vergessene kleine Zeitbomben, die ihr Ticken eingestellt hatten und selig vor sich hin schlummerten, bis sie eines Tages wieder jemand aktivieren würde. Innerhalb kürzester Zeit klopfte er den Markt ab. Das konnte er gut, er hatte immer schon gewusst, wie das Prinzip von Angebot und Nachfrage funktionierte. Der Deal war schnell eingefädelt und ein Wachmann, der ihm noch einen Gefallen schuldete, hatte sich als äußerst nützlich erwiesen.

Dieser staubige Karton, den er nun fest umschlungen hielt, war sein Rückfahrtticket in eine bessere Welt.

Endlich tauchte die schwarze Limousine in der verlassenen Nebenstraße auf. Zur Sicherheit prägte er sich das Kennzeichen ein. Vielleicht kann man diese Geschäftsbeziehung noch eine Weile fortbestehen lassen?, dachte er hinterhältig.

Der Wagen hielt jetzt direkt neben ihm. Die Scheibe fuhr automatisch herunter und er reichte den kleinen Karton hindurch. Gierig starrten seine rot geäderten Augen auf den dicken Umschlag, den ihm lange Finger in einem teuren Lederhandschuh entgegenstreckten. Als er die Beigabe, die oben auf dem Kuvert lag, erkannte, war es um seine Beherrschung geschehen.

»Nur ein kleiner Bonus für Ihre guten Dienste!«, sagte eine Stimme aus dem Inneren des Fahrzeuges, »bitte, genieren Sie sich nicht, wir sind doch immerhin Geschäftspartner …«

Der Gedanke war zu verlockend – und was würde es schaden? Hektisch tauchte er das angebotene Röhrchen in das weiße Pulver und spürte kurz darauf das verheißungsvolle Kribbeln in der Nase. Mit einem Seufzer hob er den Kopf und blickte in den Wagen. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Es war eine Mischung aus Ungläubigkeit und Wut, mit der er auf die schwarze Limousine starrte. Eine Sekunde später lief ihm das Blut aus Nase und Mund, während er verzweifelt nach Luft schnappte. Mit einer Hand fasste er nach dem Türgriff der Limousine, aber er konnte ihn nicht mehr greifen. Seine Beine rutschten unter ihm weg und er fiel auf den matschigen Brei aus Zigarettenkippen, Hundekot und Müll, der hier überall auf der nassen Straße verteilt lag. Ein letztes Keuchen quälte sich aus seiner Kehle, dann war es vorbei.

Die Tür des Wagens öffnete sich, der Fahrer stieg aus, griff nach dem Umschlag, murmelte etwas von »Rattengift für die Ratten« und schlüpfte wieder in die Limousine.

Während der Wagen ohne Eile zurück zur Hauptstraße fuhr, wurde der Karton geöffnet. Behandschuhte Finger strichen sanft über das oberste Dokument und die Person auf der Rückbank flüsterte liebevoll: »Aljona!«

 

Drei Jahre später …

 

Ostdeutschland zwischen Hoyerswerda und Görlitz – 11. November 2014

 

Die Landstraße war an diesem trüben Novembermorgen nur wenig befahren. Wie ein feines Netz verteilte sich der Nieselregen auf der geteerten Fahrbahn. Die umliegenden Felder lagen unter einer dünnen Frostschicht. Hier und da lugten noch einige helle Getreidestoppel aus der dunklen Erde, während der für diese Jahreszeit typische Morgennebel gemächlich über den Boden waberte. Eine Gruppe Raben hatte sich auf dem Dach einer alten Scheune versammelt und unterbrach gelegentlich die Stille mit durchdringendem Gekrächze.

Der Mann schien allein. Wie in Trance bewegte er sich auf der zweispurigen Fahrbahn. Seine nackten Füße waren seltsam nach innen verbogen, die Hände gefaltet wie zu einem stillen Gebet, wobei jedoch seine Finger die ganze Zeit hektisch zuckten. Mit schlurfenden Schritten quälte er sich vorwärts. Sein Blick war leer und doch schienen die Augen ein unsichtbares Ziel zu fixieren. Wieder setzte er umständlich einen Fuß vor den anderen. Trotz der Kälte war der Mann lediglich mit einem OP-Hemd bekleidet, deshalb konnte man seine blasse Haut an Armen und Beinen sehen. Bizarr bildeten sich die dicken blauen Venen ab. Der Kopfverband verdeckte fast vollständig sein blondes Haar. Die wenigen sichtbaren Strähnen standen wirr in alle Richtungen. Ohne auf seine Umgebung zu achten, stolperte er weiter. In einiger Entfernung hörte man das Brummen eines Motors. Das Geräusch bewegte sich schnell auf den einsamen »Spaziergänger« zu.

 

Bernd Möring erschrak fast zu Tode, als er seinen Kleintransporter um die Kurve steuerte. Instinktiv trat er auf die Bremse. Sein lautes Hupen ließ die Raben aufschrecken, aber der Mann vor ihm wich nicht aus. Die Straße war nass, das Fahrzeug kam ins Schlingern. Erneut drückte Bernd auf die Hupe und riss hektisch am Lenkrad. Der Wagen ließ sich einfach nicht mehr kontrollieren.

Bremsen, loslassen, bremsen …, dachte der Fahrer. Dann gab es einen dumpfen Schlag und der Transporter kam zum Stehen. Der Schock saß Bernd Möring in den Knochen, trotzdem funktionierte er noch. Er war Berufsfahrer, also führte er instinktiv alle notwendigen Handgriffe aus, auch wenn er hinterher nicht mehr hätte sagen können, wie ihm das gelungen war.

Als er den fremden Mann, der vor seinem Laster lag, erreichte, blieb ihm für einen Moment die Luft weg. Gerade wollte er sich zu ihm herunterbeugen, da fing der Verletzte an sich zu bewegen. Ein Gefühl der Erleichterung erfüllte Bernd. Der Zusammenstoß konnte also nicht allzu schlimm gewesen sein.

Schnell eilte er dem Fremden zu Hilfe: »Bleiben Sie liegen, nicht bewegen!«, rief er besorgt und wollte den Mann sanft stützen. »Es kommt gleich ein Krankenwagen, ich …«

Weiter kam er nicht, denn beim Anblick des Verletzten verschlug es ihm die Sprache. Mühsam richtete sich dieser jetzt auf, stieß einen wilden Schrei aus und riss sich, mit einem Ruck, das OP-Hemd vom Leib. Mit seinen Armen vollführte er groteske Bewegungen und fing an, sich stolpernd im Kreis zu drehen. Die ganze Zeit über gab er markerschütternde Töne von sich, ähnlich einem verletzten Tier, das vor Schmerzen wahnsinnig wurde.

Geschockt starrte Bernd Möring auf den Rücken und die Unterarme des Mannes. An diesen Stellen fehlte Haut und Gewebe. Stattdessen hatte der Fremde dort große, auseinanderklaffende Wunden, an denen noch vereinzelt chirurgische Klemmen hingen. Abrupt blieb der Verletzte stehen, betrachtete seine blanken Knochen und fing an zu weinen. Bernd war wie gelähmt, als der Fremde nun seine Arme hob und anfing, grob an dem Kopfverband zu zerren. Langsam fielen die weißen Mullstreifen auf den Boden. Plötzlich hielt der Verletzte etwas in der Hand. Im ersten Augenblick sah es so aus, als hätte er ein dickes Haarbüschel ausgerissen, aber dann konnte man erkennen, dass seine zittrigen Finger die eigene Schädeldecke umklammerten. Das Gehirn lag völlig frei. Der Lkw-Fahrer hörte das Blut in seinen Ohren rauschen und musste sich übergeben. Fassungslos starrte er auf den Mann, der jetzt in die Knie ging. Das Stück Schädel entglitt seiner Hand und rollte die Straße entlang. Wie ein Kreisel drehte es sich ein paar Mal um die eigene Achse und blieb dann ruhig liegen. Bernd gab sich einen Ruck und näherte sich dem Verletzten.

Mit einer zögerlichen Bewegung griff er nach dem OP-Hemd am Boden und legte es ihm vorsichtig um die Schultern. Kaum wagte er es, den Fremden zu berühren. Unterhalb des Nackens hatte der Mann eine noch frische Narbe, die die Folge einer schweren Verbrennung war.

»Mein Gott, wer hat dir das angetan?«, stöhnte Bernd hilflos.

Da hob der andere ruckartig den Kopf. Der Lkw-Fahrer sah direkt in das schmerzverzerrte Gesicht seines Gegenübers, das nur noch wenig Menschliches hatte. Erst blieb der Fremde stumm, dann aber drangen gurgelnde Laute aus seiner Kehle. Irgendwo im Hintergrund hörte man das Geräusch von sich nähernden Fahrzeugen. Bernd Möring hing wie gebannt an den Lippen des Verletzten. Dieser atmete schwer, neigte ein wenig den Kopf und flüsterte: »Stalin …«

 

Am nächsten Morgen, Polizeigebäude in der Nähe von Görlitz – 12. November 2014

 

Martin Wieland grub die Hände tiefer in die Manteltaschen und blickte aus dem Fenster, während er sprach: »Stalin, also?«

Sein Gesprächspartner nickte stumm und fühlte sich unbehaglich. Es war offensichtlich, dass ihm die Beamten der Polizeistation die Geschichte nicht glaubten. Wäre er nur zu Hause geblieben. Aber die Sache war ihm nicht aus dem Kopf gegangen, deshalb hatte er nachfragen wollen und jetzt …

Kommissar Wieland machte einen mürrischen Eindruck und dem Lkw-Fahrer war die leichte Alkoholfahne, die der circa Sechzigjährige verströmte, nicht entgangen. Das Wort »abgehalftert« schoss ihm bei dessen Anblick durch den Kopf.

Ob ich auch so auf meine Mitmenschen wirke?, fragte sich Bernd Möring gerade, als der Beamte sich umdrehte und umständlich auf dem Bürostuhl Platz nahm.

»Und was ist dann passiert?« Martin Wieland fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Während er sprach, fummelte er ein Pfefferminz aus der obersten Schublade seines Schreibtisches. Auch das hatte, wie er selbst, schon bessere Tage gesehen. Sein Schädel brummte, was vermutlich daran lag, dass er den gestrigen Abend mit zwei Tetrapacks Discounter-Rotwein verbracht hatte.

»Das ist ja das Merkwürdige!«, riss ihn Bernd aus seinen Gedanken, »plötzlich tauchten diese Männer auf!«

»Was für Männer?«

»Na, die mit dem Krankenwagen.«

»Den Sie telefonisch angefordert hatten?« Martin Wieland war schlecht gelaunt und versuchte nicht einmal das zu verbergen. Der Tag hätte gar nicht übler beginnen können. Nieselregen vor der Tür und hier in den Büroräumen war wieder einmal die Heizung ausgefallen, und das im November. Ganz sicher war es kein Trost zu wissen, dass nächstes Jahr um diese Zeit alles besser sein würde. Nächstes Jahr sollte die Behörde nämlich in den Neubau umziehen. Ein schickes Gebäude entworfen von einem Stararchitekten, mit allem möglichen Schnickschnack. Irgendwer hatte ihm sogar etwas von einem Feng-Shui-Berater erzählt. Aber was spielte das noch für eine Rolle für Wieland? Er wäre nächstes Jahr nicht mehr dabei. In zwei Tagen würde für ihn der Ruhestand beginnen.

»Hören Sie mir eigentlich zu?«, fuhr ihn Bernd Möring jetzt ungehalten an, »Sie glauben mir wohl nicht? Genauso wie der Typ vor der Tür. Ihr arroganter Assistent?«

Wieland kniff die Augen zusammen: »Ja, und mein arroganter Nachfolger ab nächster Woche.«

Bernd wollte etwas erwidern, aber der Polizeibeamte kam ihm zuvor: »Kaffee?«

Der Lkw-Fahrer nickte und sah etwas verblüfft auf Martin Wieland, der jetzt aufstand.

»Na los, kommen Sie!«, forderte dieser seinen Besucher auf, »den Kaffee hier kann man nicht saufen. Gehen wir rüber in die Bäckerei, die haben wenigstens eine Heizung.«

 

Als die beiden Männer wenig später an einem kleinen Bistrotisch neben der Kuchentheke saßen und ihren extragroßen Caffè Latte schlürften, erzählte Bernd Möring seine Geschichte: »Also, der Fremde mit den vielen Wunden wurde ohnmächtig und schon standen diese Typen bereit. Zwei kamen mit dem Krankenwagen und luden den Mann sofort auf eine Bahre. Die anderen beiden stiegen aus ihrem Pkw, kamen auf mich zu, erzählten mir, der Mann sei geistig verwirrt und nicht das erste Mal aus dem Krankenhaus abgehauen. Vorgestellt haben die sich als eine Sonderabteilung der Polizei. Wie in den amerikanischen Filmen. Total unglaubhaft eben. Der eine hat mir auf die Schulter geklopft und gesagt, dass ich überhaupt keine Schuld habe und mir keine Sorgen machen solle.« Der Lkw-Fahrer unterbrach sich und schüttelte traurig den Kopf. »Die haben mir zwei Fünfhundert-Euroscheine in die Hand gedrückt und sind verschwunden. Und ich weiß nicht, ob ich mich jetzt darüber ärgern soll, dass die wirklich annahmen, ich würde ihnen die Show abnehmen, oder darüber, dass ich nicht das Doppelte verlangt habe!« Er lachte bitter auf: »Die hielten mich vermutlich für sehr dumm. Na ja, schätze das bin ich auch, sonst wäre ich nicht hier …«

Martin Wieland betrachtete den Mann jetzt mit einer gewissen Neugier. »Warum sind Sie überhaupt gekommen?«, fragte er vorsichtig. Er wollte sein Gegenüber keinesfalls verärgern.

»Abgesehen davon, dass mir natürlich klar war, dass das keine echten Polizisten waren, kam ja dann auch noch dieser zweite Krankenwagen.«

»Der zweite?«

»Ja, das war der, den ich angefordert hatte.« Bernd Möring nahm einen kräftigen Schluck von seinem Getränk und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, bevor er fortfuhr: »Hören Sie, ich bin nun schon seit fast vierzig Jahren auf der Straße unterwegs und noch nie hat mir ein Polizist Geld gegeben. Das war vor der Wende so und auch danach. Tut mir leid, Herr Kommissar, aber Sie und Ihre Leute kosten mich normalerweise Geld.«

Jetzt erschien sogar auf Martin Wielands Gesicht ein kleines Grinsen.

»Außerdem habe ich das Gefühl, ich hätte etwas tun sollen. Der arme Kerl hat schrecklich ausgesehen. So etwas passiert nicht in einem Krankenhaus, sondern in einem Folterkeller. Ich hätte ihn nicht diesen Typen überlassen dürfen, aber in dem Moment … Ich stand unter Schock …«, er seufzte vernehmlich.

Wieland war natürlich durchaus klar, warum die Kollegen ihm den Mann ins Büro gesetzt hatten. Ein Spinner zum Abschied, der irgendetwas von Stalin und aufgeschlitzten, gefolterten Menschen faselte. Er dachte an die vorzeitige Pensionierung, die anfangs nur ein Vorschlag gewesen war, den er dankend abgelehnt hatte. Dann hatte sein Vorgesetzter Druck gemacht, ihn zur Seite genommen und von Unzulänglichkeiten gesprochen. Schön verpackt wurde ihm mitgeteilt, dass er zu alt sei, nicht mehr Schritt halten könne und ein freiwilliger Abgang doch alle Mal besser sei, als eine Verrentung wegen Dienstuntauglichkeit. Wann hatte das angefangen, dass er zum Außenseiter wurde? Vermutlich als dieser Neue, sein Assistent, in die Abteilung kam. Wieland hatte die Zeichen nicht erkannt und den Ehrgeiz des jungen Mannes unterschätzt. Er war eben aus einer Ära, in der man noch an Teamspieler glaubte. Aber so lief das heute eben nicht mehr. Tja, da würden sie sich hinter seinem Rücken wieder einmal das Maul zerreißen. Trotzdem hatte er eine gute Nase für Lügner und Spinner. Dieser Möring fiel weder in die eine noch in die andere Kategorie, deshalb entschied er sich dazu, die Sache ernst zu nehmen: »Was denken Sie, was dieser Fremde gemeint hat, als er von ›Stalin‹ sprach?«

Bernd zuckte mit den Schultern: »Schwer zu sagen. Ich meine, wir sind im Osten von Deutschland. Görlitz ist vierzig Kilometer entfernt. Aber Stalin und die UDSSR, das ist alles längst vorbei und der Mann schien mir nicht älter als dreißig. Was kann der schon von diesen Zeiten wissen? Aber man hört ja so einiges …«

Wieland sah interessiert zu seinem Gegenüber: »Was hört man denn?«

Erst zögerte Bernd. Unsicher blickte er sich um. Außer einer lustlosen Verkäuferin, die etwas abseits Butterbrezeln schmierte, war niemand im Laden. Trotzdem beugte sich der Lkw-Fahrer etwas über den Tisch und flüsterte: »Verschwörung? Organhandel? Sadistische Sekten?«

Wieland stieß geräuschvoll die Luft aus. Da ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen waren, wurde ihm einmal mehr bewusst, wie viel Einfluss Hollywood auf die Welt hatte. Allerdings ging er nicht weiter darauf ein, sondern stellte noch ein paar Fragen: »Haben Sie sich zufällig das Kennzeichen gemerkt? Und was ist mit diesem Schädelstück?«

»Das haben die mitgenommen. Und nein, an das Nummernschild habe ich nicht gedacht, tut mir leid«, antwortete Bernd Möring etwas zerknirscht.

»Gibt es sonst noch irgendetwas, das Ihnen aufgefallen ist?«

Der Lkw-Fahrer wollte schon verneinend den Kopf schütteln, als er sich doch noch an ein Detail erinnerte: »Die Narbe!«, rief er aufgeregt.

Als der Kommissar fragend die Augenbrauen nach oben zog, sprach er weiter: »Der arme Mann hatte eine furchtbare Narbe, ziemlich groß, hier«, damit deutete er auf seinen Nacken, »warten Sie, ich zeichne sie Ihnen auf!«

Schnell eilte Bernd zu der Verkäuferin und ließ sich Stift und Papier geben. Wieder am Tisch kritzelte er etwas auf den Zettel: »So hat die ausgesehen. Ein Dreieck!«

Martin Wieland betrachtete die Skizze, dann Bernd. Der Mann hatte ein ehrliches Gesicht und ein gutes Herz. Das Mindeste, was er für ihn tun konnte, war die Krankenhäuser abzuklappern und die Vermisstenkartei durchzugehen.

Bernd Möring musste zur Arbeit, also verabredeten sich die beiden für den nächsten Tag. Der Kommissar würde vorab einige Telefonate führen und anhand von Mörings Personenbeschreibung den Computer füttern. Außerdem hatte er noch eine Idee wegen der Narbe. Zum Teufel mit seinen Kollegen, sollten die doch denken, was sie wollten. Er würde seine letzten Arbeitstage diesem Fall widmen.

 

In der »Andrej-Porpow-Akademie der Wissenschaften«, Abteilung Bioinformatik

Brjansk, Russland – 13. November 2014

 

»Das ist eigenartig!«, sagte Paul mehr zu sich selbst, aber sein russischer Kollege hob schon interessiert den Kopf.

»Mir ist langweilig, erfreue mich mit ein wenig deutscher Eigenartigkeit!«, rief dieser gut gelaunt und kam um den Tisch herum. Gemeinsam starrten sie auf den Bildschirm.

»Das kann ich nicht lesen, das ist ja auf Deutsch«, meckerte Nikolay.

»Tja, das ist auch aus Deutschland«, antwortete Paul auf Russisch und betrachtete nachdenklich den Anhang der E-Mail. Wie viele Jahre war das her? Er hatte dieses Muster schon lange nicht mehr gesehen und nicht geglaubt, überhaupt noch einmal darauf zu stoßen. »Erinnerst du dich noch an das

›Gripper-Projekt‹?«

Nikolay nickte und seufzte tief: »Was für eine wunderschöne Konstruktion. Und dann verschwindet so ein Meisterwerk einfach in den Archiven. Das ist eine Schande!«

Paul war wie immer beeindruckt von der Leidenschaft, mit der sein Kollege Geschehnisse kommentieren konnte. Während er, Paul Berens, stets zurückhaltend war, wenn es darum ging, Freude oder Enttäuschung zu zeigen, konnte Nikolay, je nach Bedarf, auf eine bunte Palette wilder Gefühlsausbrüche zurückgreifen.

»Das Gripper-Projekt hätte wirklich eine Chance verdient gehabt«, sagte er sachlich.

»Wer hat das geschickt?«, fragte der Russe neugierig.

»Ein deutscher Polizist. Er schreibt: ›Wir haben bei einem möglichen Opfer einer Gewalttat eine seltsame Narbe entdeckt. Da ich bei meiner Internetrecherche auf Ihre Forschungsarbeit gestoßen bin und dort ähnliches Bildmaterial fand, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir dazu ein paar Fragen beantworten könnten. Den Angaben auf der Website entnehme ich, dass Sie ebenfalls Deutscher sind, daher wende ich mich direkt an Sie und nicht an den russischen Leiter des Projekts (leider ist mein Schulrussisch dafür nicht ausreichend). Sie erreichen mich unter …

Mit freundlichen Grüßen, Martin Wieland‹«

»Aber ich denke, der Gripper wurde nie gebaut?«, sagte Nikolay überrascht.

»Wurde er auch nicht, es gab lediglich den Prototypen. Er galt immer als zu instabil für den militärischen Einsatz. Wir haben eine Arbeit darüber veröffentlicht mit dem Hinweis auf notwendige Verbesserungen. So viel ich weiß, gehört das Patent aber immer noch dem Institut.«

»Sieht so aus, als hätte der Gripper doch noch seine Chance erhalten«, grinste der Russe und als er Pauls Stirnrunzeln sah, fügte er mit einer theatralischen Geste hinzu: »Warum so unglücklich, mein Freund?«

Der Deutsche betrachtete erneut die Skizze, die ihm Martin Wieland geschickt hatte. »Findest du das nicht merkwürdig, dass uns niemand darüber informiert hat?«

»Ach, Paul, so funktioniert das eben. Die Porpow-Akademie ist ein privates Unternehmen und verkauft an den Meistbietenden. Das Militär wollte den Gripper nicht, jetzt hat ihn eben jemand anders.«

»Ja, aber wer? Dieser Polizist schreibt von einem Opfer. Und außerdem, wer bezahlt für etwas, das nicht funktioniert? Diese E-Mail hier bestätigt mir das nur allzu deutlich. Der Gripper macht noch die gleichen Fehler wie vor fünf Jahren. Sehen wir mal nach, was die Datenbanken sagen.«

Gespannt verfolgten die beiden Männer die Bildschirmabfrage. Als nach dem dritten Versuch wieder der Zugang zu den Projektdaten verweigert wurde, lehnte sich Paul mit einem leisen Stöhnen zurück, während Nikolay ein altes russisches Sprichwort zitierte.

»Ich gehe zu Fjodor Bogdanowitsch!«, sagte Paul und stand auf.

»Zum Boss? Na dann, viel Glück!«, rief ihm Nikolay nach, aber der Deutsche war schon aus der Tür.

 

Vor dem Büro des Akademieleiters Fjodor Bogdanowitsch Wolkow musste Paul warten. Die hübsche Assistentin des Vorgesetzten schenkte dem Deutschen ein strahlendes Lächeln und einen Becher Kaffee. Anschließend lotste sie ihn in den Besucherbereich. Angeblich hatte der Chef noch ein wichtiges Telefonat zu führen. Paul hegte allerdings den Verdacht, dass ihn der Vorgesetzte absichtlich warten ließ. Also fläzte er sich in den weichen Sessel und hing seinen eigenen Gedanken nach.

Die »Andrej-Porpow-Akademie der Wissenschaften« war zu Sowjetzeiten ein staatliches Institut gewesen, dem ein Polytechnikum angeschlossen war. Heute gab es nur noch die Forschungseinrichtung, die man vor circa zwölf Jahren privatisiert hatte. Die Eigentümer wechselten und seit Ende 2011 war sie im Besitz irgendeiner internationalen Holding. Ein Firmeninhaber ohne Gesicht. Man konnte also behaupten, dass die Globalisierung in Russland angekommen war. Für Paul hatte das allerdings nur Vorteile gebracht. Denn mit der Öffnung der Märkte war es für ihn, auch als Nichtrusse, möglich gewesen, eine der begehrten Stellen in der Akademie zu bekommen.

Paul war in der ehemaligen BRD aufgewachsen. Mit seinen vierzig Jahren war er daher noch ein Kind des Kalten Krieges. Aus Politik hatte er sich jedoch nie viel gemacht. Zu seiner Schande musste er gestehen, dass er gerne alle unangenehmen Dinge, die auf dieser Welt passierten, verdrängte. Nein, sein Herz schlug aus romantischen Gründen für Russland. Alles fing mit einer Sprach-AG in der Schule an. Ein paar Jahre nach dem Mauerfall hatte er die Chance ergriffen und war nach St. Petersburg gereist. Er war einer der ersten Austauschstudenten gewesen und seit dieser Zeit liebte er die Mentalität der Menschen, ihre großen Gefühle, die Herzlichkeit, aber auch die Art, wie sie tief verzweifeln und dann wieder unendlich glücklich sein konnten. Es war das, was er gerne als »russische Seele« bezeichnete, was ihn in den letzten Jahren immer wieder in dieses Land gezogen hatte.

Die Assistentin lächelte charmant in seine Richtung. Vielleicht sollte er sie einmal einladen. Paul wusste um seine Wirkung auf Frauen. Er war groß, einigermaßen trainiert, hatte hellblondes Haar, blaue Augen und ein charmantes Lächeln. Auf der anderen Seite war er, nachdem ihn seine Exfrau Katja verlassen hatte, vorsichtig. Nach der Trennung waren ihm von der Ehe ein gebrochenes Herz und ein verletztes Ego geblieben. Glücklicherweise erhielt er in diesem Moment die Aufforderung, die Büroräume seines Chefs zu betreten, und musste nicht weiter über seine gescheiterte Beziehung nachdenken.

 

Wolkow war ein äußerst unsympathischer Zeitgenosse. Paul dachte kurz an Nikolay, der jeden Eid schwor, dass dieser Mann früher beim KGB gewesen war. Ein Grund, warum sein Kollege es für ratsam hielt, ihm aus dem Weg zu gehen. Fjodor Wolkow war stark übergewichtig, schien nicht viel Wert auf sein Äußeres zu legen und roch meist nach altem Schweiß. Sein Alter war schwer zu schätzen, aber Paul hoffte darauf, dass der Mann bald in Rente gehen würde. Die dicken kurzen Finger des Vorgesetzten hielten einige Papiere in der Hand, er sah nicht auf. Wahrscheinlich nichts weiter als eine Geste, die Paul zeigen sollte, wie beschäftigt der Leiter der Akademie war.

»Das Gripper-Projekt, wieso habe ich darauf keinen Zugriff mehr?«, platzte Paul ohne Umschweife heraus.

Plötzlich hatte der Deutsche die ungeteilte Aufmerksamkeit des Vorgesetzten, der ihn mit seinen kleinen Augen feindselig anstarrte.

»Was soll das heißen?«, fragte Wolkow herausfordernd.

»Ich wollte die Projektdatei öffnen …«, weiter kam Paul nicht.

»Was fällt Ihnen ein, in den geheimen Datenbanken der Akademie zu wühlen?«, blaffte Wolkow seinen Untergebenen an.

Paul schoss vor Zorn das Blut bis in die Haarspitzen: »Ich habe nicht gewühlt, ich wollte mir lediglich die Daten ansehen, verehrter Fjodor Bogdanowitsch.« Es fiel ihm schwer, die russische Höflichkeitsform mit Respekt zu verwenden. Immerhin war klar, dass der Vorgesetzte nicht Pauls Freund war.

»Warum?«, erwiderte Wolkow scharf.

Instinktiv hielt es der Deutsche für klüger, nicht mit der Wahrheit herauszurücken. Warum auch immer ihm der Zugriff verweigert wurde, sein Chef kannte offensichtlich den Grund und wollte ihn nicht einweihen.

»Ich sehe mir gelegentlich alte Projekte an, in der Hoffnung, dass ich dabei eine Idee für Verbesserungen habe.« Das war eine lahme Ausrede und Pauls Gegenüber wusste das.

»Wenn Sie sich langweilen, dann sollten Sie sich vielleicht eine andere Stelle suchen.«

Paul ignorierte diese letzte Bemerkung zähneknirschend und wagte einen weiteren Vorstoß: »Aber bisher waren diese Daten nicht geheim. Die Forschungsergebnisse wurden ja sogar im Internet veröffentlicht. Wenn das Projekt also reaktiviert wurde, dann hätte man mir das doch sagen müssen. Immerhin habe ich den Gripper zusammen mit Professor Petrow entwickelt.«

»Auch, wenn das für Sie jetzt ganz unbegreiflich sein wird, muss ich Ihnen trotzdem mitteilen, dass sich der Führungsstab der Akademie nicht verpflichtet fühlt, jeden kleinen Angestellten über alles, was hier passiert, auf dem Laufenden zu halten«, kam es schnippisch zurück.

»Also wird wieder daran gearbeitet?«

»Sie sollten mir nicht auf die Nerven fallen, verehrter Paul!«, kam es jetzt sehr leise, aber dafür sehr bedrohlich aus Wolkows Richtung.

Der Deutsche hatte verstanden. Kurz nickte er, dann ging er ohne weiteren Gruß aus der Tür und konnte nur mit Mühe der Versuchung widerstehen, sie laut zuzuknallen.

 

Zur gleichen Zeit in Deutschland

 

Martin Wieland wollte zur Wohnung von Bernd Möring. Der Lkw-Fahrer war nicht zur vereinbarten Zeit im Büro des Kommissars erschienen. Auch auf Anrufe hatte er bisher nicht reagiert und da Wieland sowieso nichts Besseres vorhatte, war er kurzerhand zu der Adresse des Mannes gefahren.

Ohne Probleme fand der Kommissar die richtige Straße und parkte seinen Wagen. Zu Fuß wollte er sich dann auf die Suche nach dem Wohnhaus machen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, als er den mehrstöckigen Bau erreichte. Zwei Polizeifahrzeuge und ein Krankenwagen standen vor der Tür. Eine kleine Schar Menschen, vermutlich Anwohner, hatte sich vor dem Gebäude versammelt. Jetzt konnte Martin eine Polizeibeamtin erkennen, die gerade versuchte einer Frau ein paar Informationen zu entlocken. Die Zeugin schien schon etwas älter zu sein. Irgendwer hatte ihr eine Decke um die Schultern gelegt und ein Glas Wasser gereicht, das sie nun in ihren zittrigen Händen hielt.

Mit schnellen Schritten lief der Kommissar auf die Kollegen zu und hob seinen Polizeiausweis in die Höhe. Einer der Beamten hatte ihn jedoch bereits erkannt.

»Was ist denn passiert?«, fragte Wieland den Polizisten besorgt und schielte zu der alten Dame, die gerade wieder laut schluchzte.

»Selbstmord. Unschöne Geschichte!«, antwortete ihm der Kollege.

»Wer?« Wieland brachte nur einen krächzenden Laut heraus. Der andere wunderte sich nicht darüber, sondern hielt die Reaktion des Kommissars für ein Zeichen von Mitgefühl.

»Bernd Möring, Lkw-Fahrer, achtundfünfzig Jahre. Wohnte im fünften Stock, hat sich aus dem Fenster gestürzt.«

Wieland musste sich an der Wand abstützen und stammelte ein »Oh, Gott!«.

Dieses Mal war sein Kollege dann doch erstaunt und hakte nach: »Kannten Sie den Mann?«

Der Kommissar nickte: »Er war gestern als Zeuge bei uns auf dem Revier. Hätte heute Morgen nochmals vorbeikommen sollen …«

Einen Moment schwiegen beide, dann stellte Wieland eine Frage: »Weiß man warum?«

Der Kollege zuckte mit den Schultern und machte ein unglückliches Gesicht, als er antwortete: »Erleben wir nicht das erste Mal. Das ist die Einsamkeit. Keine Familie, keine Sozialkontakte. Die Nachbarn sagen, er lebte sehr zurückgezogen, war aber immer freundlich«, der Mann seufzte leise, »es sind immer die, von denen man es nicht erwartet.«

»Hat er etwas hinterlassen?«

»Nein, aber er hatte ja niemanden, also …«

Wieland stieß geräuschvoll die Luft aus: »Wo haben Sie ihn hingebracht?«

Nun geriet der Beamte ins Stottern: »Nun, er ist noch da, wir warten auf die Feuerwehr.«

Wieland stellte keine weiteren Fragen, sondern ging auf die Absperrung zu. Die Kollegen ließen ihn mit einem traurigen Kopfnicken passieren.

 

Das Bild des toten Lkw-Fahrers würde sich Martin Wieland vermutlich für immer einprägen. Er hatte während seiner Tätigkeit als Polizist einige Todesopfer gesehen, aber im Hinterhof dieses Hauses bot sich ihm ein Bild des Schreckens. Der Körper von Bernd Möring war nicht auf dem Boden aufgeschlagen, sondern auf die scharfen Spitzen eines Metallzaunes getroffen, die eng nebeneinander wie Speere in die Höhe ragten. Durch den Aufprall war der Mann regelrecht zerfetzt worden. Die Metallspieße hatten an mehreren Stellen brutal das menschliche Gewebe durchstoßen. Das linke Auge war durchbohrt und die Wunde großflächig ausgerissen. Teile des zerfetzten Gesichts hingen schlaff neben dem linken Ohr herunter. Knochen und Sehnen waren durch das scharfe Metall wie Papier zerrissen worden. Die Regenpfützen vom Vortag hatten sich mit dem Blut des Toten vermischt. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wäre ein Eimer dunkelroter Farbe über das Kopfsteinpflaster geschüttet worden. Bernd Möring musste sich während des Sturzes gedreht haben, denn der Körper war mit dem Rücken aufgeschlagen.

Ein tiefes Gefühl des Verlustes überkam Wieland, als er jetzt ein letztes Mal in das Gesicht des Mannes blickte, das im Tode kaum noch erkennen ließ, was für ein Mensch Bernd im Leben gewesen war.

 

 

Kapitel 2

»Fliegen sind Meister der Flucht. Das kleine Insekt nimmt über seinen Rundumblick rund 300 Einzelbilder pro Sekunde auf und berechnet innerhalb kürzester Zeit den idealen Fluchtweg. Ihr zentrales Nervensystem arbeitet zehnmal schneller als das des Menschen.

 

Auch Menschen kennen den Fluchttrieb. Jedoch reagieren viele auf eine Gefahr mit einer ›Schrecksekunde‹, Stresshormone werden ausgeschüttet und der Blick des Gejagten engt sich ein. Ab ungefähr 20 Einzelbildern pro Sekunde nehmen wir eine Situation nur noch als zusammenhängenden und verschwommenen Film wahr.«

 

* * *

 

Moskau – 14. November 2014

 

Paul hatte sich heute Morgen krank gemeldet. Zornig war er gestern von der Akademie nach Hause gegangen. Wolkows Verhalten war eine Frechheit. Immerhin hatte Paul zusammen mit Professor Petrow den Gripper entwickelt. Natürlich gehörte diese Erfindung rein rechtlich der Akademie, aber ein gewisses Maß an Respekt gegenüber den geistigen Vätern der Konstruktion hätte man doch erwarten können. Das Mindeste wäre gewesen, Paul zu informieren und gegebenenfalls einen Kontakt zwischen ihm und dem Team herzustellen, das nun weiter am Gripper arbeiten sollte. Wahrscheinlich würde sich Professor Petrow dafür interessieren und der ließe sich nicht so leicht von Wolkow abspeisen.

Paul war sich sicher, dass dessen Wort etwas zählte, auch wenn der Wissenschaftler mittlerweile in Rente war. Immerhin hatte der Mann noch bis vor einem Jahr in der Akademie gearbeitet, und sich dann mit über achtzig Jahren in den Ruhestand verabschiedet. Paul erinnerte sich noch gut an die Feierlichkeiten. Nur ungern hatte der betagte Wissenschaftler seinen Arbeitsplatz verlassen. Vermutlich war sein Ausstieg aus dem Arbeitsleben nicht ganz freiwillig gewesen. Und auch wenn man nichts Genaues wusste, gab es Gerüchte, dass Petrows Frau auf den »Rückzug« bestanden hätte. Offensichtlich war seine Gesundheit angegriffener, als es allgemein den Anschein hatte. Dass er überhaupt so lange seinem Beruf nachgegangen war, hing vor allem mit seiner Brillanz zusammen.

Professor Petrow hatte sich nach dem Medizinstudium ganz der Forschung gewidmet und wurde so zu einem der bedeutendsten Wissenschaftler des Landes. Internationale Anerkennung erhielt er dann Mitte der Siebzigerjahre, als er seine Arbeiten zum Thema Genetik veröffentlichte. Die erste Zeit in der Akademie befasste er sich hauptsächlich damit, neue Technologien in der Humanmedizin zu integrieren und somit deren Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu verbessern. So war auch der Gripper entstanden. Später hatte der Professor dann entweder in seinem Labor im gesicherten Bereich gearbeitet oder war unterwegs gewesen.

 

Als Paul gestern Abend wütend seine Wohnung betreten hatte, suchte er eilig die Telefonnummer der Petrows heraus. Enttäuscht erfuhr er dann von Maria Petrowa, dass deren Mann aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht an den Apparat kommen könne. Paul hätte es eigentlich dabei bewenden lassen können, aber Wolkows Behandlung schrie förmlich nach Rache, also schlug er einen Besuch vor. Frau Petrowa antwortete erfreut: »Das wäre schön, mein Mann hatte in letzter Zeit wenig Besuch!«

Die Frage, warum der Professor Besuch empfangen, aber nicht ans Telefon kommen konnte, schluckte der Deutsche herunter. Stattdessen hatte er sich am Morgen in seinen Wagen gesetzt, um die knapp vierhundert Kilometer Richtung Moskau zu fahren. Die Hauptstadt war ihm nicht fremd und so hatte er keine Probleme, im Taganskaya-Bezirk die Adresse des Professors zu finden. Als Paul geparkt hatte, beeilte er sich ins Warme zu kommen. Die Temperaturen waren heute spürbar unter null gesunken. Und nach der langen Fahrt in dem überheizten Auto schmerzte es besonders, die kalte Luft im Gesicht zu spüren.

An der Haustür hingen verblasste Klingelschilder und undefinierbare Hinweise auf die Bewohner, sodass Paul eine Gruppe Jugendlicher, die gerade das Haus verließ, nach dem Ehepaar Petrow fragen musste. Es war früher Nachmittag und auf der Straße vor dem Haus herrschte Hochbetrieb. Der Geräuschpegel machte es schwierig, sein eigenes Wort zu verstehen und die Abgase hingen wie eine Dunstwolke über jedem, der auf dem Bürgersteig unterwegs war.

 

Eine dunkle, ausgetretene Treppe brachte Paul dann endlich an sein Ziel. Kurz ging ihm die Frage durch den Kopf, warum die Petrows hier lebten. Schließlich waren diese ehemaligen Arbeiterwohnungen mit ihren kleinen Zimmern und den niedrigen Decken nicht der Ort, an dem man jemanden wie den Professor erwarten würde. Andererseits war Taganskaya keine schlechte Wohngegend und die Einkommen und Renten konnten eben nicht mit denen in Westeuropa verglichen werden.

Als Maria Petrowa die Tür öffnete, war es 14.00 Uhr. Paul wurde herzlich begrüßt und sofort in die Wohnung geschoben, um dort auf dem bequemsten Sessel, laut Maria, Platz zu nehmen. Dann verschwand die Gastgeberin in einem Nebenzimmer und der Deutsche hörte Stimmen.

Wenige Minuten später erschien sie erneut, dieses Mal war der Professor an ihrer Seite, den sie behutsam ins Zimmer führte: »Sieh nur, wer gekommen ist! Erkennst du Paul Berens, deinen Mitarbeiter von der Akademie?«

Bei dem Wort »Akademie« erhellte sich das Gesicht von Professor Petrow und er fing an zu strahlen. Paul fehlten die Worte. Unbeholfen sprang er auf, um sich nützlich zu machen, wusste aber nicht wie.

Maria Petrowa lächelte freundlich und sagte: »Bleiben Sie nur sitzen, ich mache das schon.« Und dann, während sie den alten Mann in einen freien Sessel bugsierte, ihm ein Kissen in den Rücken schob und liebevoll eine gestrickte Decke über die Beine legte, fing sie an zu erzählen, so als sei der Professor gar nicht anwesend: »Es wird jeden Tag schlechter. Demenz. Ich dachte, Sie wüssten das.«

Paul schüttelte nur mit offenem Mund den Kopf, davon hatte er keine Ahnung gehabt.

»Ich hatte mich so auf unsere gemeinsame Zeit nach dem Berufsleben gefreut. Eigentlich wollten wir nach Wolgograd ziehen, Igors Geburtsstadt, aber er konnte ja nicht von seiner Arbeit lassen. Und jetzt …«, mit einem tiefen Seufzer beugte sich Maria zu ihrem Mann und tätschelte dessen Hand, »wir machen eben das Beste daraus! Und zum Glück kostet die Wohnung nicht so viel, da können wir uns auch die teuren Medikamente leisten. Unsere Datscha haben wir verkauft, so kommen wir gut über die Runden. Hauptsache wir haben uns!« Mit diesen Worten sprang Maria auf und bot Paul Tee an.

»Tee wäre toll«, sagte der Deutsche freundlich und warf einen hilflosen Blick auf den Professor.

Maria, die das bemerkte, lächelte verständnisvoll: »Sie können ihn ruhig ansprechen. Es kann nur sein, dass er Sie nicht erkennt – das dürfen Sie ihm natürlich nicht übel nehmen!«

Als Maria in der Küche verschwand, fühlte sich Paul etwas unbehaglich, er hatte keine Erfahrungen im Umgang mit Kranken. Seine Eltern waren früh gestorben und mehr Familie hatte er nicht. Außerdem war er seltsam berührt von Marias Worten. Die Zärtlichkeit, mit der die circa Siebzigjährige ihren Mann versorgte, erinnerte ihn schmerzlich daran, wie allein er selbst war.

Der Professor blickte immer noch neugierig in Pauls Gesicht, was diesen endlich veranlasste, etwas zu sagen. Schließlich war er wegen dem Gripper gekommen, warum sollte er dem alten Mann nicht davon erzählen. Dieses Thema wäre genauso gut wie jedes andere.

»Erinnern Sie sich noch an den Gripper?«, sagte er deshalb und empfand den Klang seiner eigenen Stimme ungewohnt fremd.

Der Professor verzog erneut das Gesicht zu einem Lächeln. Als Maria den Samowar auf den Tisch stellte, sah Paul sie fragend an.

»Erzählen Sie nur weiter, er scheint sich zu erinnern«, rief sie freudig und verteilte die kleinen Teetassen.

»Nun, es scheint, dass das Projekt reaktiviert wurde. Offensichtlich wird wieder daran gearbeitet. Wolkow will mir aber nicht sagen, wer damit betraut ist, oder ob es verkauft wurde.«

Dann zog Paul ein Blatt Papier aus der Tasche und entfaltete es. Er hatte die E-Mail des deutschen Polizisten ausgedruckt und damit auch dessen Skizze von der Narbe.

»Sehen Sie, das hat mir ein Kommissar aus Deutschland geschickt. Die haben dort jemanden gefunden, der diese Narbe hat. Wissen Sie noch? Wir haben dazu ›Gripper-Narbe‹ gesagt. Leider haben wir dieses Problem nicht in den Griff bekommen …«

»Wolkow!«, stieß der Professor wütend hervor.

Maria blickte zu ihrem Mann und dann zu Paul: »Den hat er nie gemocht!«, erwiderte sie beiläufig, während sie den Schwarztee in den Tassen mit heißem Wasser aus dem Samowar auffüllte.

Der alte Mann sah jetzt auf seine Knie und fing an zu grübeln, während seine Frau von der Datscha erzählte: »Stellen Sie sich vor, die haben zwei Mal dort eingebrochen. Sogar die Bodenplatten wurden herausgerissen, richtige Vandalen. Das wurde mir dann einfach zu viel, da habe ich verkauft.«

»Eingebrochen? Wann war das?« Paul hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen.

»Gleich nachdem mein Mann in Rente war, vielleicht drei oder vier Wochen danach. Zu dieser Zeit war dann auch Fjodor Bogdanowitsch mehrmals bei meinem Mann gewesen. Ich habe mit Igor geschimpft: ›Rente ist Rente‹, habe ich gesagt. Aber mein Mann war einfach zu gutmütig.«

»Wolkow war hier?«

»Ja, ein paar Mal. Sie haben gestritten, aber mein Igor wollte mir nicht sagen warum, und dann wurde er krank. Wolkow kam noch ein oder zwei Mal. Aber als er dann begriffen hatte, dass ihm mein Mann keine Hilfe mehr war, da hörten die Besuche auf. Das war eine furchtbare Zeit. Die Einbrüche in der Datscha, die Krankheit und dann wurde ich auch noch hier in der Wohnung überfallen.«

»Was?«, rief Paul entsetzt. Die Vorstellung, dass diese warmherzige Frau Opfer einer Gewalttat gewesen war, machte den Deutschen wütend.

»Ja, am helllichten Tag. Gott sei Dank war Wladimir, der Sohn meiner Nachbarin, gerade zu Besuch nebenan. Als die meine Schreie gehört haben, hatten die Kerle nichts mehr zu lachen.«

»Weiß man denn, wer das war?«

»Nein, aber Wladimir hat sie verjagt und …«, jetzt grinste Maria Petrowa verschwörerisch und flüsterte, »ich habe mir Schutz besorgt.« Damit griff sie in die Sofakissen und zog eine Makarow-Pistole heraus.

Paul riss überrascht die Augen auf: »Ist die geladen?« Noch während er das sagte, wusste er, dass seine Frage dämlich war.

Aber Maria störte das offensichtlich nicht. »Natürlich. Und gereinigt. Ich kann damit umgehen, das haben die uns damals in der Schule beigebracht.«

Andächtig verstaute die Gastgeberin die Waffe wieder in den Polstern und reichte anschließend ihrem Besuch einen Teller mit selbst gemachten, süßen Bliny.

»Ihr Russisch ist wirklich gut. Fast kein Akzent. Wie lange leben Sie nun schon in unserem Land?«, fragte Maria interessiert.

Paul, der gerade den Mund voll hatte, nahm einen großen Schluck Tee, bevor er antwortete: »Mit Unterbrechungen bin ich seit fast fünfzehn Jahren Mütterchen Russland treu ergeben«, scherzte der Deutsche.

Maria musste herzhaft lachen und zeigte dabei eine ganze Reihe Goldzähne. Dann stand sie auf, ging zu einer kleinen Anrichte, holte von dort eine staubige Flasche mit einer hellen Flüssigkeit und drei kleine Schnapsgläser, die sie vorsichtig füllte. Für den Professor goss sie nur ein paar Tropfen ein.

»Zum Anstoßen!«, erklärte Maria, »mehr darf er nicht, wegen der Medikamente.«

Sie prosteten sich mit den übervollen Gläsern zu und murmelten ein zufriedenes »za wasche sdarowje, auf Ihre Gesundheit!«

»Das ist ein echter russischer Wodka. Schwarzgebrannt von meinem Nachbarn im Hinterhaus. Verboten, aber verboten gut.« Und schon füllte sie die Gläser erneut.

Paul kämpfte noch mit der ersten Verkostung, als er seine Gastgeberin sagen hörte: »Auf Mütterchen Russland. Wo auch immer sie heute sein mag! Wahrscheinlich ausgewandert, hatte wohl einfach genug von ihren vielen ungezogenen Kindern. Ich bin …«

Weiter kam Maria nicht, denn dieses Mal wurde sie von ihrem Mann unterbrochen: »Wolkow!«, rief er erzürnt, »dem darf man nicht trauen!«

Paul wollte eine Frage stellen, aber plötzlich schien der alte Mann ganz bei sich. Mit fester Stimme rief er: »Wolkow! Sie haben ihn geschickt! Wir müssen Aljona vor ihm verstecken!« Der Professor verschluckte sich.

Maria sprang auf und klopfte ihm auf den Rücken: »Du darfst dich nicht aufregen, Igor!«

Aber Igor Petrow hatte seit Langem wieder einmal einen klaren Moment. So als wüsste er, dass ihm nur wenig Zeit blieb, versuchte er sich mitzuteilen. Wieder schüttelte ihn ein Hustenanfall. Mit zittrigen Fingern griff er sich an seinen Hals und zog unter dem Hemd eine Kette hervor, an der ein kleiner Schlüssel hing. Endlich gelang es ihm zu sprechen: »Es ist der Briefkasten, der vierte von links in der unteren Reihe.« Der Professor reichte den Schlüssel an Paul.

Maria stand erstaunt daneben und schüttelte den Kopf. Behutsam flößte sie ihrem Mann ein wenig Tee ein, während sie in Pauls Richtung flüsterte: »Da verwechselt er irgendetwas. Unser Briefkasten hängt in der dritten Reihe.«

»Aber was ist das dann für ein Schlüssel?« Paul war vollkommen überrumpelt.

»Diese Kette trägt er schon seit einem Jahr. Er hat immer behauptet, der Schlüssel sei ein Glücksbringer und würde ihn beschützen. Die Ärzte meinten, vertraute Dinge täten ihm gut, also habe ich ihn die Kette weiter tragen lassen.«

Paul blickte zum Professor, aber der schien das Gespräch nicht mehr zu verfolgen. Seine Frau machte ein entschuldigendes Gesicht: »Ich hoffe, das hat Sie jetzt nicht zu sehr verschreckt. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, wenn Sie zum Abendessen bleiben würden. Wir haben ein kleines Gästezimmer …«

Paul entspannte sich. Es war jetzt kurz vor 15.00 Uhr und eigentlich hatte er keine Lust mehr, heute noch nach Brjansk zurückzufahren.

»Aber vorher würde ich trotzdem noch gerne den Schlüssel ausprobieren. Dem Professor zuliebe.«

Maria Petrowa war zufrieden: »Von mir aus. Die Briefkästen hängen vor dem Kellereingang, nehmen Sie die Taschenlampe mit. Das Licht funktioniert in der Ecke meistens nicht. Und ziehen Sie den Mantel an, da unten ist es kalt!«

Paul grinste, als er die »mütterliche« Ermahnung hörte, und schlüpfte gerade brav in seine Jacke, als es klingelte.

 

Maria öffnete die Tür. Ohne Vorwarnung drängten zwei Männer die alte Frau in die Wohnung und richteten ihre Waffen auf die Anwesenden.

»Los, ab ins Wohnzimmer!«, zischte der eine, während der andere mit einem finsteren Gesichtsausdruck einen Schalldämpfer auf seine Glock drehte.

Der Professor in seinem Sessel reagierte nicht, als Maria grob aufs Sofa gestoßen wurde. Paul stand mitten im Raum und hatte die Hände über den Kopf gehoben. Er war noch nie überfallen worden – das Gefühl der Hilflosigkeit raubte ihm beinahe den Verstand. Neben der Angst spürte er auch Wut, aber er stand nur da und konnte nichts tun.

»Wir wollen den Schlüssel!«

»Was?«, riefen Paul und Maria wie aus einem Mund. Der Deutsche drehte sich unbewusst zum Fenster. Sie mussten die Petrows und ihn vom Nachbarhaus aus beobachtet haben. Zwischen den Gebäuden gab es nur einen geringen Abstand. Hatten ihn die Männer bis hierher verfolgt? Oder saßen sie etwa schon die ganze Zeit in einer Wohnung gegenüber und spionierten die Petrows aus? Paul dachte an Marias Erzählungen von den Einbrüchen in der Datscha und dem Überfall.

»Wo ist der Schlüssel?«, rief einer der Eindringlinge erneut.

»Und wofür ist er?«, fragte der andere, der die Glock hielt. Seine Stimme war leise, aber nicht minder bedrohlich.

Paul machte sich keine Illusionen. Er war weder ein Held noch ein Abenteurer. Die gerechte Sache war sicher eine gute Motivation für einen Kampf, aber nicht für einen aussichtslosen. Falls sich tatsächlich irgendetwas in diesem ominösen Briefkasten beim Kellereingang befinden sollte, dann würde er, Paul Berens, heute garantiert nicht dafür sterben. Und dann kam ihm auch schon ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn er so oder so sterben würde? Warum sollten die zwei Männer die Zeugen des Überfalls am Leben lassen?

Paul schwitzte und sah zu Maria, deren Blick stur auf das Fenster gerichtet war. Sie saß stocksteif auf der Couch. Wo war ihre rechte Hand? Wie in Trance verfolgte Paul die Bewegungen der Frau. Langsam griff sie in die Kissen – und plötzlich ging alles sehr schnell. Die Makarow wurde abgefeuert und traf den ersten Angreifer in die Brust. Der nächste Schuss peitschte durch den Raum und riss dem Mann einen Teil der Schädeldecke ab, er war sofort tot. Paul sprang zur Seite und schon folgten mehrere dumpfe Schläge. Die Kugeln der Glock durchdrangen brutal den Körper von Maria Petrowa.

»Manjetschka!«, rief der Professor den Kosenamen seiner Frau, dann trafen auch ihn tödliche Schüsse.

Paul dachte nicht nach, als er die Wodkaflasche schnappte und sie mit voller Wucht auf den Hinterkopf seines Gegners schlug. Der Mann ging in die Knie. Der Deutsche griff nach dem heißen Samowar und schleudert ihn in das Gesicht des Angreifers. Zischend traf das dampfende Wasser dessen Haut, die sich sofort rot verfärbte. Das linke Auge des Mannes war schwer verletzt und ein Schmerzensschrei drang durch die ganze Wohnung. Trotzdem gelang es Pauls Gegner noch, die Glock nach oben zu ziehen, bereit einen weiteren Schuss abzugeben. Ohne die Leichen der Petrows zu beachten, griff Paul instinktiv nach der am Boden liegenden Makarow und drückte ab. Es war vorbei, auch der Mann mit der Glock war tot. Sekundenlang stand Paul nur unbeweglich da, dann schreckte er zusammen, als ihm die Waffe entglitt und laut auf dem Boden aufschlug.

Im Hausgang waren Stimmen zu hören. Er musste hier weg. Als er die Treppen nach unten spurtete, kamen ihm immer mehr Menschen entgegen. Noch wusste keiner, was passiert war, deshalb ließen sie ihn vorbei. Im Erdgeschoss angekommen, drehte er sich wie ein gehetztes Tier in alle Richtungen. Wo hingen die verdammten Briefkästen? Diese alten Häuser waren so verwinkelt, dass er einen Moment brauchte, um sich zurechtzufinden. Paul schwitzte in seiner dicken Jacke und die hektischen Rufe der Menschen in den oberen Etagen versetzten ihn in Panik. Er glaubte zu hören, wie jemand von einem blonden Mann sprach.

An den Briefkästen angekommen, steckte er mit zittrigen Fingern den Schlüssel ins Schloss und hoffte inständig, sich noch richtig an die Worte des Professors erinnert zu haben. Hier hingen jede Menge verschiedener Briefkästen wild durcheinander, es war gar nicht so einfach, überhaupt eine Reihe auszumachen. Auf manchen standen Namen, dann nur Zahlen oder gar nichts. Der vierte von links …, ging es ihm durch den Kopf, da bemerkte er auch schon, wie sich der Schlüssel drehen ließ. Was hatte Professor Petrow hier versteckt? Umständlich griff Paul in den Briefkasten und zog den Inhalt heraus. Überrascht starrte er auf die Akte in seinen Händen. Sie war in durchsichtige Plastikfolie eingewickelt. Das trübe Licht der Glühbirne und die bereits ein wenig verblasste Tinte hinderten Paul nicht daran, die Aufschrift zu lesen: »Aljona«.

 

Mittlerweile gab es im Hauseingang einen richtigen Tumult. Paul spähte vorsichtig um die Ecke, die Akte schob er dabei schnell unter seine Jacke. Wieder hörte er jemanden von einem blonden Mann erzählen. Geistesgegenwärtig nahm der Deutsche seine dunkle Strickmütze aus der Tasche und zog sie sich über den Kopf. So gut es ging, stopfte er seine Haare darunter. Wieder wagte er einen Blick. Er hatte freie Sicht auf die Haustür. Immer mehr Nachbarn versammelten sich am Eingang. Plötzlich wurden die Menschen auseinandergedrängt. Ein Mann rief: »Platz da, Polizei!« Paul konnte erkennen, wie zwei Typen mit gezogenen Waffen die Treppe hinaufrannten. Die beiden waren den Angreifern in Professor Petrows Wohnung, was Kleidung und Gehabe anging, nicht unähnlich. Der Deutsche bezweifelte, dass sie zur Polizei gehörten. Noch hatte niemand in dem dunklen Winkel bei den Briefkästen nach ihm gesucht, aber er konnte auf keinen Fall hier stehen bleiben. Der Kellereingang!, kam ihm plötzlich ein Gedanke und kurz darauf drückte er die Klinke der alten Holztür nach unten.

Als Paul wieder das Tageslicht erblickte, musste er sich zuerst orientieren. Der Keller verband glücklicherweise mehrere Häuser miteinander und so konnte er unbemerkt durch ein Nachbarmietshaus zurück auf den Gehweg. Geduckt lief er an den Häuserwänden entlang und versuchte in dem Verkehr, der sich Richtung Innenstadt schob, unsichtbar zu werden. Er brauchte einen Platz zum Nachdenken. Als er sich umblickte, sah er eine dieser Kneipen, die mit deutschen Getränken und typischen Speisen lockte. Normalerweise machte er einen großen Bogen um diese Etablissements. Das Importbier war teuer und die bayrischen Traditionsgerichte nicht sein Geschmack, aber heute schien ihm so eine Kneipe kein schlechter Ort.

Er überquerte die Straße, betrat das Lokal und setzte sich in eine der hintersten Ecken. Das erste Mal in seinem Leben war er darüber erleichtert, dass ihn die russischen Kellnerinnen ignorierten und sich lieber ihren Gesprächen widmeten.

Obwohl er schwitzte, zog er nur die Jacke aus. Die Mütze behielt er auf dem Kopf. Heute hatte er das Gefühl sein blondes Haar würde leuchten wie ein Signalfeuer. Paul sah sich um. Ein paar Touristen saßen auf der anderen Seite des Raumes. Niemand beachtete ihn, auch nicht das Personal. Ungeschickt entfernte er die Plastikfolie, in der die Akte eingewickelt war. Er hielt eine altmodische Dokumentenmappe aus Pappe in den Händen. Eine Schnur, die zu einer Schleife gebunden war, sollte verhindern, dass etwas herausfallen konnte. Gerade als er das Band entfernen wollte, sprach ihn eine der Kellnerinnen in schlechtem Englisch an. Sie hielt ihn also für einen Touristen. Er entschied sich, auf Englisch ein deutsches Bier zu ordern. Hätte er Russisch mit leichtem Akzent gesprochen und das wesentlich billigere einheimische Gebräu bestellt, dann wäre er der Bedienung vermutlich aufgefallen und im Gedächtnis geblieben.

Paul entspannte ein wenig und beglückwünschte sich für seine Weitsicht, nur um sich gleich darauf wie ein Idiot zu fühlen. Wo war seine Weitsicht geblieben, als er aus verletztem Stolz diesen Besuch bei Petrow gemacht hatte? Er reimte sich den Ablauf zusammen: Vermutlich waren diese kaltblütigen Mörder nur darauf aus gewesen, einen Hinweis auf den Verbleib dieser Akte zu erhalten. Sie hatten sowohl in der Datscha als auch in der Wohnung danach gesucht. Wolkow war beim Professor gewesen und es war zu Streitereien gekommen. Ob es dabei auch um die Akte mit dem Namen »Aljona« gegangen war?

Paul kam nicht umhin den Professor für seinen Einfallsreichtum zu bewundern. Ein unauffälliger Briefkasten als Versteck! Wer kam schon auf so eine Idee? Tja, und dann hatte die Krankheit, die Demenz, Igor Petrows Leben bestimmt und es hatte kaum noch klare Momente gegeben. Damit schien die Akte für Petrows Feinde verloren. Vermutlich war deren Inhalt so wichtig, dass man den Professor trotzdem weiterhin überwacht hatte – und dann war Paul aufgetaucht. Die Mörder hatten die Schlüsselübergabe verfolgt und ihre Chance gewittert.

Als die Kellnerin das Bierglas etwas lautstark auf dem Tisch abstellte, schreckte Paul zusammen. Mit einem Schulterzucken kommentierte die junge Frau seine Reaktion und verschwand wieder. Endlich war er ungestört. Gespannt schlug er den Aktendeckel auf.

 

Zur gleichen Zeit in Deutschland

 

Martin Wieland taten die Füße weh. Seit circa zwei Stunden stand er nun in diesem Konferenzraum und hörte sich langatmige Reden an. Die ersten drei Sätze galten immer seiner Person und dann entwickelte sich der Vortrag zu einer privaten Werbeveranstaltung des entsprechenden Redners. Wie üblich bei solchen Festivitäten wurde die gesamte Behörde zu einem Umtrunk mit kalt-warmem Büfett geladen. Martin Wieland hatte die Planung der gleichen Cateringfirma überlassen, die auch die Weihnachtsfeiern ausstattete. Er hatte das mittelpreisige Angebot gewählt und würde noch die Rechnung bezahlen, damit wäre dann aber seine Verpflichtung gegenüber dem Kollegenkreis endgültig erfüllt. Die Frauen von der Kfz-Zulassungsstelle, mit denen Wieland ein schon fast freundschaftliches Verhältnis pflegte, hatten angeboten, ihm für seinen Abschiedsabend ein paar Kuchen zu backen. Diese Geste hatte ihn sehr gefreut und so suchte er jetzt die Nähe der Damen.

Eine nahm ihn gerade zur Seite und meinte: »Es wird nicht mehr dasselbe sein, wenn du weg bist. Und dein Nachfolger …«

Sie beendete den Satz nicht, aber Wieland verstand auch so. Er war erleichtert, dass es außer ihm auch noch andere mit gesundem Menschenverstand gab. Offensichtlich ließen sich nicht alle von der aalglatten Fassade eines rücksichtslosen, karrieregeilen Scheißkerls täuschen.

Als nun sein Nachfolger das kleine Podium betrat, um eine Rede zu halten, hätte sich der Kommissar am liebsten übergeben. Er hörte nur mit halbem Ohr zu. Und als dann auch noch der Selbstmord von Bernd Möring mit den Worten »Dieser letzte tragische Fall, ein armer einsamer fehlgeleiteter, …« thematisiert wurde, da konnte sich Wieland nur mühsam beherrschen.

Mit einem großen Schluck Rotwein spülte er seinen Zorn herunter und schenkte sich nach. Warum auch nicht? Schließlich hatte er das ja alles bezahlt.

Als er nun genötigt wurde, selbst einige Worte zum Abschied zu sagen, da hätte er gerne gebrüllt: »Überweist mir einfach pünktlich zum Ersten mein Geld und ansonsten fahrt zur Hölle …« Aber stattdessen bedankte er sich höflich und lud zum Büfett ein. Eines hatte der Kommissar a. D. jedoch beschlossen: Er würde diesem verlogenen Akt keine Minute länger als nötig beiwohnen.

 

Moskau

 

Paul saß jetzt schon eine ganze Weile über der Akte. Er wurde nicht schlau daraus. Ganz oben lagen fünfzehn zusammengeheftete Blätter. Paul erkannte die Handschrift des Professors, es waren persönliche Notizen. Die Worte schienen jedoch ohne Sinn aneinandergereiht. Das würde er später lesen müssen, zunächst wollte er sich einen Überblick verschaffen.

Unter den Notizen fand er eine Konstruktionszeichnung des Grippers, die ihm vertraut war. Außerdem die Kopie einer Namensliste. Das Original musste per Hand verfasst worden sein. Gut lesbar standen dort lauter deutsche Namen in altdeutscher Schrift. Dann gab es noch einige Computerausdrucke, Petrow hatte die Texte offensichtlich aus dem Internet. Es waren offene Briefe an Organisationen und Politiker. Die Absender waren mehr oder weniger berühmt, kamen aus der Wissenschaft oder der Politik und setzten sich mit ihren Schreiben für die atomare Abrüstung ein. Handschriftlich gab es Kommentare des Professors, die seine Zustimmung ausdrückten.

Zwischen den Seiten lag ein verblasstes Foto. Es zeigte die Vorderseite eines Gebäudes, die Wände waren bemalt. Allerdings konnte man die Motive nicht erkennen. Über dem schwarzen Dach ragte ein kleiner Turm in die Höhe. Vermutlich war hier eine Kirche abgebildet.

Ganz unten lag ein Briefumschlag, DIN A5, dachte Paul automatisch, der sehr alt zu sein schien. Das braune Papier war ein wenig wellig, fast so, als wäre es der Feuchtigkeit ausgesetzt gewesen. Der Umschlag war mit einem Klebeband verschlossen. Vermutlich war er schon mehrfach geöffnet worden. Auf der Rückseite stand eine Zahlenreihe, mit der Paul nichts anfangen konnte. Aber nicht sie erregte die Aufmerksamkeit des Deutschen.

Sein Pulsschlag erhöhte sich, als er den Umschlag umdrehte. Deutlich war zu erkennen, dass das Kuvert bereits durch mehrere Hände gegangen war. Quer über die Vorderseite hatte jemand »Betreff: Aljona« geschrieben. Am auffälligsten aber war der rote Stempel, der Hammer, Sichel und die Buchstabenfolge »CCCP« zeigte. Auf kyrillisch hatte jemand »Für den Genossen Stalin« daneben geschrieben. Paul schluckte. In was war er da hineingeraten? Und dann entdeckte er ein anderes Symbol, das ihm noch mehr Angst machte. Am oberen Rand gab es einen weiteren Stempel, der jedoch bereits verblasst war. Mit Unbehagen blickte Paul auf den Reichsadler, der auf einem Eichenlaubkranz saß, in dessen Mitte das Hakenkreuz der Nazis prangte. Darunter stand auf Altdeutsch: »Dies ist ein Staatsgeheimnis im Sinne des § …«

Schnell schob Paul den Umschlag zurück in die Mappe. Was sollte er jetzt damit anfangen? Vielleicht wäre es das Beste, die Sachen zur Polizei zu bringen und dieser zu erklären, was in Petrows Wohnung passiert war. Aber würden sie ihm glauben? Schließlich war er davongerannt. Paul ging nicht davon aus, dass die Beamten Verständnis für seine Reaktion hätten. Außerdem stellte sich die Frage, ob er den Gesetzeshütern überhaupt trauen konnte. Sicher gab es viele Horrorgeschichten über seine Wahlheimat, aber einige waren leider auch wahr. Völlig ratlos nahm er einen großen Schluck von dem bereits abgestandenen Bier, als sein Handy klingelte. Sofort kam ihm der Begriff »Ortung« in den Sinn. Auf dem Display erschien Nikolays Name.

»Nikolay?«, rief er erleichtert ins Telefon.

»Gott Paul, wo steckst du? Hier ist die Hölle los …«, antwortete der Russe ohne lange Begrüßung.

»Ich mache mich gleich auf den Weg nach Brjansk.«

»Bloß nicht! Die suchen dich, deshalb rufe ich auch an!«

»Aber warum?«

Kurz war es am anderen Ende der Leitung still, dann erklang erneut Nikolays Stimme: »Die sagen, du hättest Unterlagen gestohlen. Geheime Unterlagen.«

»Was?«, Paul merkte, wie er anfing hysterisch zu werden, »nein! Das …« Der Deutsche wusste nicht, was er sagen sollte, dann sprudelten die Worte einfach so aus ihm heraus. Vor Zorn lief ihm eine Träne über die Wange, die er eilig wegwischte. »Petrow und seine Frau, beide tot. Ermordet. Ich war bei ihnen. Ich …«

»Stopp!«, ging sein Kollege dazwischen, »ich will das gar nicht wissen. Ich bin dein Freund, deshalb rate ich dir, egal, was auch immer passiert ist, komm nicht hierher zurück. Wolkow hat das Büro durchsucht und deinen Computer mitgenommen. Außerdem hat er Leute zu deiner Wohnung geschickt. Er erzählt überall herum, dass du Dokumente geklaut hast. Angeblich aus Rache, weil du dich um den beruflichen Ruhm betrogen fühlst.«

»Das ist doch scheiße!«, rief Paul jetzt lauter als beabsichtigt und schon drehte sich die Familie am Nachbartisch in seine Richtung.

»Natürlich ist es das, aber erinnere dich daran, was ich dir gesagt habe. Wolkow ist ein gefährlicher Mann!«

»Was soll ich denn nur tun?«

»Verschwinde aus Russland. Alles Gute, mein Freund!«

 

Pauls Verstand arbeitete fieberhaft. Sein Auto stand immer noch vor dem Haus der Petrows, dorthin konnte er nicht zurück. Hektisch kramte er in seiner Jackentasche. Erleichtert stellte er fest, dass alles an seinem Platz war. Sowohl der Reisepass als auch die Rubel- und Euroscheine hatten den Tag bisher gut überstanden. Ausweis und etwas Bargeld trug Paul aus Sicherheitsgründen immer bei sich. Ein Umstand, der sich in der Vergangenheit stets als hilfreich erwiesen hatte.

Der Ratschlag seines Freundes Nikolay war angesichts der Umstände sehr vernünftig. Denn neben den Problemen mit seinem Arbeitgeber machte Paul die Ermordung der Petrows schwer zu schaffen. Was, wenn man ihm diese Tat anhängen wollte? Mit irgendwelchen Verbrechern, der Polizei und Wolkow auf den Fersen war er in Russland definitiv nicht mehr sicher. Paul wollte zurück nach Deutschland und dort mit den Behörden Kontakt aufnehmen. Aber zunächst musste er irgendwie zum »Leningradski Prospekt« – das war die Straße, an der der »Belorusski Woksal«, der »Weißrussische Bahnhof« lag. Von dort gab es direkte Verbindungen nach Westeuropa. Mit einem deutschen Reisepass war die Ausreise kein Problem und wenn er viel Glück hatte, gab es heute noch einen Zug nach Deutschland. Schnell schaltete er sein Handy aus und entfernte die Simkarte und den Akku. Die Akte packte er wieder in die Plastikfolie und verstaute sie unter der Jacke.

Sein nächstes Ziel war die Metro, das war der schnellste Weg zum Bahnhof. Dieses Mal hatte er allerdings kein Auge für die herrliche Architektur der unterirdischen Tunnel. Zweimal musste er umsteigen. Dabei benutzte er ungeduldig die langen Rolltreppen, die zu den tieferen Stationen führten. Kurz vor 17.00 Uhr saß er in einem Zug Richtung Berlin. Als er aus dem Fenster sah und die russischen Polizisten bemerkte, die den Bahnsteig auf und ab marschierten, überließ er großzügig einer jungen Frau seinen Fensterplatz. Immer noch behielt er die Mütze auf und rutschte tief in seinen Sitz, während er so tat, als würde er eine russische Tageszeitung lesen.

Erleichtert bemerkte er, wie sich der Waggon in Bewegung setzte. Jetzt musste nur noch alles bei den Kontrollen in Weißrussland gut gehen. Der Deutsche hatte zwar ein Multitransit-Visum für das Land – etwas, das er diversen Fortbildungsreisen zu verdanken hatte –, außerdem fielen die Kontrollen manchmal auch aus, aber wirklich durchatmen könnte Paul erst wieder, wenn er in Warschau umsteigen und damit den Boden der Europäischen Union betreten würde.

Die Fahrt dauerte einen ganzen Tag. Paul nickte immer wieder ein, allerdings verfolgten ihn dann schreckliche Albträume. Einmal sah er Maria Petrowa mit der Makarow, die sie sich an die Schläfe setzte. Neben ihr stand ein Briefträger, der die Gesichtszüge von Josef Stalin hatte. Er winkte mit einem großen Umschlag und rief immer wieder »Betreff: Aljona, Betreff: Aljona«. Währenddessen lachte die alte Frau und Paul konnte ihre Goldzähne sehen, die funkelten, als wäre eine Schatzkiste geöffnet worden. Dann drückte sie ab. Aber anstatt einer Kugel bohrte sich ein großer Schlüssel in den Kopf von Maria Petrowa. Plötzlich lag Paul in seinem Traum auf einem Operationstisch. Professor Petrow beugte sich über ihn und rief mit einer eigenartigen Stimme, so als würde er zu einem Kind sprechen: »Dann probieren wir doch einmal den Gripper aus«!

Paul versuchte zu schreien, konnte sich aber nicht bewegen. Schon spürte er die Wärme auf seinem Gesicht, die Hitze fing an unangenehm zu werden – da wachte er auf. Die Sonne schien durch das Fenster und hatte seine Wange gewärmt. Endlich, er hatte Berlin erreicht!

 

In der Nähe von Görlitz – 15. November 2014

 

Martin Wieland stand auf seinem Balkon und blickte nach unten. Ungefähr von dieser Höhe hatte sich der Lkw-Fahrer Bernd Möring vor zwei Tagen in den Tod gestürzt. Wie um Bernd den letzten Respekt zu erweisen, hatte Wieland trotzdem in den Krankenhäusern nach diesem schwer verletzten Unbekannten gesucht. Leider ohne Erfolg. Auch die Vermissten-Kartei brachte ihn nicht weiter. Die wenigen Anhaltspunkte, die er von seinem Zeugen hatte, reichten einfach nicht aus. Auch seine E-Mail an den Wissenschaftler der »Andrej-Porpow-Akademie« war bisher unbeantwortet geblieben. So konnte sich der pensionierte Kommissar nun entscheiden, ob er Bernd Möring für einen armen Spinner halten sollte, der ein bisschen Aufmerksamkeit gesucht hatte, oder ob sein letzter Fall ein ungelöster sein würde. Keine der beiden Varianten gefiel ihm. Er nahm noch einen Schluck Rotwein, die Reste von der gestrigen Feier. Sehr zu seinem Leidwesen war nicht allzu viel übrig geblieben.

Draußen wurde es ihm langsam zu kalt und er ging zurück in seine Wohnung. Den ganzen Tag über hatte Wieland die siebzig Quadratmeter auf Vordermann gebracht. Aber was sollte er morgen machen? Bevor ihn eine Welle der Frustration erfassen konnte, hörte er die Türklingel.

Es war bereits nach einundzwanzig Uhr und der ehemalige Beamte vermutete, dass sich irgendein Nachbar ausgesperrt hatte.

»Kommissar Martin Wieland?«, keuchte der Fremde vor der Tür etwas atemlos.

»Ex-Kommissar«, kam die knappe Antwort.

Die beiden Männer starrten sich an. Wieland kam das Gesicht des Besuchers bekannt vor, aber er glaubte nicht, dass er schon einmal mit ihm gesprochen hatte. Auch Paul beäugte sein Gegenüber nun neugierig.

Die Strecke von Berlin hierher war für ihn eine kleine Odyssee gewesen. Als er endlich auf dem Polizeirevier angekommen war, hieß es, der Beamte Wieland sei gestern aus dem Dienst ausgeschieden. Da er keine weiteren Auskünfte erhielt, befragte er das Telefonbuch und landete prompt bei dem einzigen eingetragenen, dafür aber »falschen« Martin Wieland der kleinen Stadt. Netterweise hatte der Namensvetter keine Skrupel Paul am Telefon die Auskunft zu geben, dass der andere Wieland, der Herr Kommissar, in der Hauptstraße, gegenüber dem Discounter wohnen würde. Nur die Hausnummer wusste er nicht. Paul bedankte sich herzlich bei dem Mann und lobte im Stillen den Vorteil einer kleinen Gemeinschaft gegenüber dem anonymen Miteinander der Großstadt. Für die letzte Strecke hatte sich Paul ein Taxi gegönnt. Das dritte Gebäude, an dem er die Klingelschilder überprüft hatte, war dann endlich das mit der Wohnung des »richtigen« Martin Wieland gewesen.

»Ich bin Paul Berens!«

Endlich machte es bei Wieland »Klick«. Natürlich, das war der Wissenschaftler, dieser Bioinformatiker, dem er die E-Mail geschickt hatte. Jetzt erinnerte er sich wieder an das Bild auf der Website. Aber was machte der vor seiner Wohnungstür?

»Sie sind extra aus Russland gekommen, wegen meiner Anfrage?«, sprach Wieland seinen Gedanken aus.

Jetzt schaute Paul ein wenig verlegen: »Auch, aber nicht nur. Ich denke, ich brauche vielleicht die Hilfe der Polizei. Und Sie sind der einzige Beamte, den ich kenne.«

Wieland entging nicht, dass der Mann übernächtigt aussah. Seine Augen wirkten entzündet, der Bartschatten ziemlich dunkel und die Kleidung zerknittert und feucht.

»Haben Sie Hunger?«, fragte er seinen Besucher mit einem Lächeln und gab die Tür frei.

 

Während Paul die spärlichen Reste des gestrigen Büfetts verdrückte und auch beim Rotwein kräftig zulangte, erzählte er seinem Gastgeber alles, was bisher passiert war. Angefangen von dem Gespräch mit seinem Vorgesetzten über den Gripper, bis zu seiner Flucht aus Russland. Nur einmal wurde er von Wieland unterbrochen, als dieser fragte: »Haben Sie diese Akte dabei?«

Paul bestätigte das und fuhr fort.

Als er fertig war, sah ihn Wieland ernst an: »Dann erzähle ich Ihnen jetzt mal meine Geschichte.«

Mit Entsetzen hörte Paul von dem Zusammenstoß des Lkw-Fahrers mit dem verletzten Mann, von der Erwähnung des Namens Stalin, der Narbe und dem plötzlichen Selbstmord.

»Und er hat diese Narbe gesehen?«

»Ja. Und jetzt will ich endlich wissen, warum das so etwas Besonderes ist und was das mit diesem ›Gripper‹ zu tun hat.«

»Also, ich bin Bioinformatiker. Vor ungefähr fünf Jahren habe ich zusammen mit Professor Petrow an einem Projekt namens Gripper gearbeitet. Ich weiß nicht, wie viel Ihnen bereits durch die Veröffentlichungen im Internet klar geworden ist?«

Wieland machte eine wegwerfende Handbewegung und erwiderte: »Erklären Sie es bitte einmal für Senioren ohne Einstein-Gene.«

Paul musste lachen und fuhr fort: »Der Name kommt aus dem Englischen von grip, der Griff. Der Gripper ist ein medizinisches Gerät. Zumindest sollte er das werden. Das Besondere ist seine mobile Einsatzmöglichkeit. In erster Linie ist er dafür gedacht, verwundete Soldaten vor Ort zu versorgen. Ziel ist es Kugeln oder beispielsweise Granatsplitter schnell und effektiv zu entfernen. Vor allem, wenn die Verletzungen derart sind, dass jede Verzögerung der Behandlung das Todesurteil für den Soldaten bedeuten würde.«

»Hört sich kompliziert an …«, warf Wieland ein.

»Ist es auch. Man muss schließlich bedenken, dass diese Eingriffe meist von einfachen Feldsanitätern durchgeführt werden müssen. Und, dass man den Patienten unterwegs nicht in Vollnarkose legen kann. Wir wollten also ein Gerät bauen, das in der Lage ist, einen Fremdkörper schnell und mit möglichst kleiner OP-Wunde zu entfernen. Außerdem, wegen der fehlenden Möglichkeit, draußen im Feld eine Narkose zu setzen, musste eine Stabilisierung stattfinden. Der Gripper muss sich den Bewegungen des Patienten anpassen, damit Skalpell, Zange oder Nadel millimetergenau geführt werden können. Das Herzstück des Grippers ist der pyramidenförmige Aufsatz. Durch die Spitze verläuft eine Führungskanüle für die Operationsinstrumente. Unten ist diese Pyramide offen. An den Bodenrändern haben wir Lasersensoren eingebaut, die die Bewegungen des Patienten erfassen und den Gripper daran anpassen. Wir simulieren dadurch einen völlig unbeweglichen menschlichen Körper. Die ganze Apparatur lässt sich in einem Rucksack transportieren, in dem die Elektronik, die Batterie und viel High-Tech, natürlich miniaturisiert, untergebracht werden.«

»Hut ab. Ein OP-Saal für unterwegs also. Und was ist schiefgegangen?«

Paul rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht und stöhnte: »Wir haben sozusagen die Nebenwirkungen nicht in den Griff bekommen.«

Martin sah seinen Gesprächspartner fragend an.

»Die Lasersensoren kommen mit der Haut des Patienten in Kontakt. Leider ist die Erwärmung so extrem, dass an diesen Stellen starke Verbrennungen entstehen. Wir konnten bisher das Problem der Kühlung nicht lösen.«

»Und das führt zu Narben?«

Paul nickte.

»Narben wie die, die Bernd Möring an dem unbekannten Verletzten gesehen hat? Narben in Form eines Dreiecks?«

Wieder nickte Wielands Gegenüber.

»Gefällt mir nicht«, murmelte der ehemalige Polizist und schenkte ihre Gläser nach. »Hier taucht so eine Narbe auf, Sie fragen in Moskau deshalb Ihren Vorgesetzten und dann sterben Menschen. Bernd Möring, Ihr Professor und seine Frau … Nein, das gefällt mir nicht!«

»Sehe ich genauso! Deshalb bin ich auch zu Ihnen gekommen. Ich glaube, die sind hinter mir her.«

»Wegen des Grippers?«

»Nein, wegen der Akte. Ich denke, der Gripper ist nur der Grund, warum ich darauf gestoßen bin.«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann. Seit gestern bin ich Pensionär. Mein Verhältnis zu den alten Kollegen ist auch nicht gerade herzlich. Vielleicht sollten Sie sich an jemand anderen wenden.«

Paul sah in das Gesicht des ehemaligen Kommissars. Er bemerkte dessen Intelligenz und glaubte auch so etwas wie ein starkes Loyalitätsbewusstsein zu entdecken. Aber wahrscheinlich bildete er sich das alles nur ein. Er war übermüdet und hatte mittlerweile reichlich Alkohol zu sich genommen. Doch irgendetwas sagte ihm, dass dieser Mann ein guter Verbündeter war, deshalb erwiderte er: »Hören Sie, ich lebte die letzten Jahre in einem Land, das viele für korrupt und gefährlich halten. Aber ich, ich habe mich dort zurechtgefunden. Und daher kann ich wohl von mir behaupten, dass ich wirklich kein paranoider Typ bin. Aber nach dem, was die letzten beiden Tage passiert ist, habe ich das erste Mal in meinem Leben richtig Angst und …«, jetzt lächelte Paul ein wenig schief, »ich könnte einen Freund gebrauchen. Also, wenn ich Sie jetzt bitten würde, mir ein wenig beim Recherchieren zu helfen …«

Martin Wieland verzog das Gesicht und winkte ab: »Dann würde ich vermutlich ›Ja‹ sagen.« Mit einem gutmütigen Brummen räumte er die Tischplatte frei und fuhr fort: »Wollen wir mal sehen, ob uns ›Aljona‹ weiterhelfen kann. Aber zuerst gibt es noch ein bisschen Ost-Nostalgie.«

Der Gastgeber stand auf und verschwand in der Küche. Als er kurz darauf mit zwei Cognacschwenkern zurückkam, auf denen er jeweils eine Scheibe Zitrone balancierte, machte Paul ein fragendes Gesicht.

»Was, Sie kennen den Nikolaschka nicht?«

Sein Besucher schüttelte den Kopf und betrachtete skeptisch die Zitronenscheibe, die halb mit Zucker und halb mit Kaffeepulver bedeckt war.

Schon stopfte sich Wieland diese in den Mund, schüttete den Weinbrand hinterher, kaute eine halbe Minute genüsslich auf der Südfrucht und zog dann die ausgelutschte Scheibe wieder zwischen seinen Lippen hervor.

»Noch nie davon gehört!«, antwortete Paul, tat es seinem Gastgeber gleich, wäre beinahe an der Zitrone erstickt, verschüttete deshalb auch die Hälfte der Flüssigkeit über seinem Hemd und erntete von Wieland den Spruch: »Alles Übungssache! Schmeckt aber, was?«

 

Kurze Zeit später brüteten die beiden Männer über der Akte. Die zusammengehefteten Seiten hatten sie nicht weitergebracht. Paul versuchte sein Bestes, eine sinnvolle Übersetzung hinzubekommen, aber die Worte waren scheinbar ohne Zusammenhang aneinandergereiht. Die beiden Männer waren sich ziemlich sicher, dass der Professor den Text verschlüsselt hatte. Interessiert betrachtete der Ex-Polizist die Gripper-Skizze und die Internetausdrucke. Diese gaben ihnen lediglich den Hinweis, dass Igor Petrow gegen den Einsatz von Atomwaffen gewesen war. Auch der Fotografie gelang es nicht, Antworten auf ihre Fragen zu liefern. Sie kamen jedoch überein, dass darauf eine Kirche abgebildet war. Mehr gaben die bisherigen Unterlagen nicht her. Deshalb widmeten sich die Männer der Namensliste mit den zehn Einträgen.

»Ich könnte versuchen, die irgendwie durch den Polizeicomputer laufen zu lassen«, schlug Wieland vor.

»Was glaubst du, was das für Leute sind?« Paul war erleichtert, dass er nun einen Verbündeten hatte. Beim zweiten Nikolaschka waren die beiden zum »Du« übergegangen und hofften, dass sie das Chaos, das von Pauls Leben noch übrig geblieben war, gemeinsam in den Griff bekämen.

»Da klingelt nichts bei mir. Allerdings bin ich keine Leuchte in Geschichte. Also, wenn das jetzt irgendwelche historische Personen sein sollen, dann kann ich dir das nicht sagen.«

»Glaube ich nicht, aber wir sollten im Internet nach denen recherchieren, vor allem nach dem hier!«

»Graf Gregor von Mirnhald«, las Wieland laut vor, indem er das Blatt ein wenig von sich weg hielt.

Die beiden Männer jagten ihre Suchanfragen durch das Netz. Neun Mal erhielten sie seitenweise Einträge. Kein Wunder, bei Namen wie Karlheinz Müller oder Gustav Schmidt. Nur bei dem zehnten, Graf von Mirnhald, wurden sie fündig.

»Das überrascht mich jetzt«, sagte Paul verblüfft, als er den kurzen, aber aufschlussreichen Eintrag über den Mann las. »Der war bei der Waffen-SS?«

»Tja, sieht so aus. Was ist das für eine verdammte Liste?«

Paul zuckte mit den Schultern. Alle aufgeführten Personen darauf waren Männer und vermutlich lebten die meisten nicht mehr. Denn obwohl sie nur eine Kopie hatten, konnte man deutlich erkennen, dass das Original sehr alt gewesen sein musste. Die Liste war vor langer Zeit aufgestellt worden. Fragte sich nur, was der Professor damit wollte.

Paul konzentrierte sich auf den Interneteintrag: »Scheint so, als ob es noch Nachkommen gebe. Ein Biohof in Norddeutschland. Hundertfünfzig Kilometer von Hamburg entfernt. Geschäftsführer ist ein gewisser Hans von Mirnhald.«

»Wir sollten den Umschlag öffnen!«, schlug Paul nun vor. Die Männer studierten interessiert die Zahlenreihe auf der Rückseite, konnten sich darauf aber keinen Reim machen. Es waren zwölf Ziffern, jedoch ohne erkennbares Muster. Die Vorderseite brachte sie auch nicht viel weiter. Ganz objektiv betrachtet, konnte man noch nicht einmal sicher sein, dass die Stempel und der Vermerk »Betreff: Aljona« in Verbindung zueinander standen. Vielleicht war das nur ein alter Umschlag, der verschiedene Benutzer gehabt hatte.

Wieland kam zurück an den Tisch und hielt seinem neuen »Kollegen« ein scharfes Messer entgegen.

Vorsichtig öffnete Paul damit den Umschlag und machte ein enttäuschtes Gesicht: »Der ist leer!«

»Wirklich? Da ist überhaupt nichts drin?«

Paul hob verzweifelt die Schultern und schüttelte das Kuvert über der Tischplatte aus. Wider Erwarten kam jetzt doch etwas zum Vorschein.

»Was ist das?«, sagte Wieland fast ein wenig belustigt.

»Keine Ahnung«, murmelte Paul, der vollkommen irritiert auf das kleine Häufchen Pulver starrte.

 

* * *

 

Es war mitten in der Nacht. Martin Wieland brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Er sah auf die Leuchtziffernanzeige seines Weckers, es war 3.15 Uhr. Schnell sprang er aus dem Bett. Wenn es um diese Zeit an der Wohnungstür klingelte, war sicher etwas passiert. Vielleicht ein Nachbar, der Hilfe brauchte? Barfuß lief er zur Tür und riss sie auf. Seine Augen weiteten sich – dann trafen ihn die beiden Schüsse. Einer direkt in die Brust, der andere in die Stirn. Durch den benutzten Schalldämpfer war nur ein dumpfer Ton zu hören.

»Los, schnell, Tür zu!«, rief der Schütze auf Russisch, »sieh nach, ob der andere auch da ist.«

Während einer der Männer die hinteren Räume durchsuchte, machte sich der zweite daran, Schubladen umzudrehen und die Sofakissen aufzuschlitzen. Nach dreißig Minuten war die Wohnung in ein Schlachtfeld verwandelt.

»Was machen wir jetzt?«

Der Angesprochene zuckte mit den Schultern und machte mit einer kleinen Kamera ein Bild des Toten: »Wir haben unseren Auftrag erfüllt: In die Wohnung dieses Wielands gehen und alle töten, die wir dort finden. Anschließend nach der Akte suchen. Ich schicke denen das Foto, dann warten wir auf weitere Anweisungen.«

 

 

Kapitel 3

»Ein Turmfalke kann, mit seinen 1,5 Millionen Sehzellen, über eine Entfernung von 1500 Metern noch eine Maus erkennen. Verglichen mit der Sehleistung des Menschen könnte er aus über 30 Metern Entfernung noch ein Buch lesen.

 

Der Mensch besitzt nur 200.000 Sehzellen. Mit den größten optischen Teleskopen hat er es jedoch geschafft, in Entfernungen von mehreren Milliarden Lichtjahren zu sehen.«

 

* * *

 

Am nächsten Morgen – 16. November 2014

 

Die Bäckerei vor dem Discounter hatte auch am Sonntagvormittag geöffnet. Frau Meschke blickte ständig unruhig durch die großen Scheiben des Ladenlokals. Eben hatte sie von einer Kundin die schreckliche Nachricht vom Tod Martin Wielands gehört. Wieder wanderte ihr Blick zur Straße – und da sah sie ihn. Mit festen Schritten, noch ein wenig verschlafen, ging er auf die Bäckerei zu und brummte ein »Guten Morgen«, als er die Tür hinter sich schloss. Jetzt gab es für Frau Meschke kein Halten mehr, diese Neuigkeit musste sie ihrem Kunden gleich erzählen.

»Stellen Sie sich vor, Martin Wieland wurde heute Nacht in seiner Wohnung erschossen!«

»Was?«

Mit großer Befriedigung bemerkte Frau Meschke, dass die Bombe eingeschlagen war. Ihr Gesprächspartner wurde weiß wie eine Wand und musste sich kurz am Getränkeregal abstützen. Jetzt legte sie nach.

»Die haben nicht einmal etwas geklaut. Und die ganze Wohnung verwüstet, alles aufgeschlitzt. Der arme Kerl wurde regelrecht massakriert, sagen die Leute. Dabei war das immer so ein Stiller. Ganz zurückgezogen gelebt, ohne Frau. Tja …«

Aber der Mann hörte Frau Meschke nicht mehr zu, sondern stürzte aus dem Laden, rannte zurück zu seiner Wohnung und rief schon beim Eintreten: »Wir müssen sofort zur Polizei!«

Paul erhob sich verschlafen von der Couch: »Was ist denn passiert?«

»Die haben heute Nacht Martin Wieland erschossen, meinen Namensvetter.«

 

Eilig hatten die beiden kurz darauf ein paar Sachen zusammengepackt. Wieland half seinem Gast mit Kleidern aus.

»Besser, wir sind vorbereitet. Vielleicht schlagen uns die Kollegen vor, erst einmal nicht in die Wohnung zurückzukehren«, hatte der Ex-Polizist gesagt.

Paul saß nun sehr still auf dem Beifahrersitz. Ein leichter Schneeregen verschmierte die Scheiben. Auch er hatte keinen Zweifel daran, dass der grausame Tod des »anderen Martin Wieland« direkt mit den jüngsten Ereignissen in Verbindung stand, und dieser nur deshalb erschossen wurde, weil die Mörder seine Adresse im Telefonbuch gefunden hatten. Eine simple Verwechslung mit tragischen Folgen. Was, wenn er, Paul, nicht hierhergekommen wäre? Wie viel Schuld trug er an dieser Ermordung? Verzweifelt umklammerte er die Akte, so als könnte sie ihm Halt geben. Aber genau das Gegenteil war der Fall, denn mit ihr hatte alles erst angefangen.

 

Das Polizeigebäude war nur mit der Wochenendmannschaft besetzt. Das sah man schon daran, dass der Parkplatz großzügig freie Plätze anbot. Die Meldestellen und der Bürgerservice hatten natürlich geschlossen. Der Schneeregen war unangenehm, deshalb zogen sie ihre Köpfe ein, als sie schnell auf das große Eingangsportal zuliefen. Paul mit der Strickmütze auf dem Kopf, Wieland hatte die Kapuze seiner Jacke übergestülpt. Im Inneren schüttelten sie zuerst die Nässe ab, dann deutete der Ex-Kommissar in eine Ecke mit Sitzgelegenheiten und bat Paul, dort Platz zu nehmen. Er wollte vorab ausloten, welcher der Kollegen heute Dienst hatte – doch so weit kam er erst gar nicht. Als Wieland den Polizisten am Empfangstresen begrüßte, sah er sofort den internationalen Fahndungsaufruf, der gut sichtbar an der Wand hing. Ein Bild zeigte Paul, gesucht wegen Mordes. Opfer: Professor Igor Petrow und Maria Petrowa, Moskau. Martin Wieland lief es eiskalt den Rücken herunter. Das hatte gerade noch gefehlt.

Der ehemalige Kollege bemerkte offensichtlich nichts von der Nervosität seines Gegenübers. Er schien sich zwar über den Besuch des Pensionärs zu wundern, enthielt sich aber eines Kommentars.

»Äh …«, mehr brachte Wieland in diesem Moment nicht heraus. Fieberhaft suchte er nach einer Ausrede für sein plötzliches Auftauchen.

Sein Gegenüber verzog nun ein wenig mitleidig den Mund. Er hätte seine Gedanken auch gleich laut aussprechen können. Die Worte »So ist das eben, wenn der Job jahrelang das Leben bestimmt hat« waren ihm ins Gesicht geschrieben.

»Ich wollte nur mal fragen, ob sich noch etwas in dem Fall des Lkw-Fahrers ergeben hat?«, log der Ex-Kommissar unbeholfen.

Der Beamte schien Wieland mehr zu respektieren, als dieser bisher geglaubt hatte, denn in verschwörerischem Ton teilte der ihm nun mit, dass heute sein Nachfolger Sonntagsdienst hätte und es vielleicht klüger wäre an einem anderen Tag wiederzukommen.

Gott sei Dank!, dachte Wieland. Damit hatte er den perfekten Vorwand hier schnell zu verschwinden und Paul aus dem Gebäude zu schaffen. Das Fahndungsbild war überraschend scharf und die Tatsache, dass man seinen neuen Freund jetzt wegen Mordes an den Petrows suchte, verkomplizierte alles.

»Ja, das ist vielleicht wirklich besser. Vielen Dank«, nuschelte er und drehte sich wie der Blitz um, als er auch schon die unangenehme Stimme seines Nachfolgers hinter sich hörte.

»Dachte ich doch, dass Sie das sind. Wollen Sie nicht einen Augenblick in mein Büro kommen?«

Wieland hatte das Gefühl, einen dieser Albträume zu erleben, bei denen man vor einer Gefahr unbedingt flüchten will, aber stattdessen in einer zähen Masse feststeckt.

»Ich will niemanden von der Arbeit abhalten«, mehr fiel ihm nicht ein. Hoffentlich blieb Paul in der Ecke sitzen und fing nicht an, nach ihm zu suchen.

»Aber nein, kommen Sie!« und schon legte sich eine Hand auf Wielands Schulter und er wurde in sein ehemaliges Büro bugsiert.

Hier schien eine Kernsanierung stattzufinden. Allerdings war das ja zu erwarten gewesen. Doch Wieland hatte nicht einmal die Zeit sich darüber zu ärgern. Er wollte nur noch hier raus. Instinktiv wusste er, dass er keine Hilfe zu erwarten hatte. Mit Freude würde sein Nachfolger Paul verhaften und ihnen kein Wort glauben. Und dann geriet er regelrecht in Panik. Was, wenn sie ihn für einen Komplizen hielten? Paul hatte gesagt, man würde ihm Industriespionage unterstellen. Sie hatten die Akte dabei, darin waren auch die Aufzeichnungen von Professor Petrow. Wie sah das für einen Außenstehenden aus? Auch die Tatsache, dass sie heute selbst mit der Polizei Kontakt aufnehmen wollten, hieß noch lange nicht, dass ihre Geschichte glaubhaft war. Genauso gut hätte man ihnen auch unterstellen können, sich auf diese Art noch herausreden und die Vorwürfe von sich weisen zu wollen. Erschwerend kam hinzu, dass Paul keine Zeugen benennen konnte, die seine Unschuld bestätigen würden. Und er? Hatte er dem netten Wissenschaftler, der so plötzlich vor seiner Tür gestanden war, zu schnell geglaubt? Wer weiß, vielleicht hatte Paul diesen Petrow doch ermordet.

Unsinn!, dachte Wieland wütend. Er hatte ein gutes Gespür für Menschen, der Junge war unschuldig und brauchte seine Hilfe, und er einen Ort, um in Ruhe nachzudenken. Hoffentlich hörte sein Gegenüber bald mit dem Gequatsche auf. Als Wieland sich jetzt wieder auf dessen Worte konzentrierte, war er fast versucht dem Mann eine reinzuhauen. Dieser Wicht besaß tatsächlich die Frechheit, ihm jetzt auch noch mit Westentaschen-Psychologie zu kommen.

»Ein Mann in Ihrem Alter, der keine Familie hat, nun, der klammert sich vielleicht etwas zu sehr an seinen Beruf. Aber jetzt, mein lieber Herr Wieland, ist es Zeit loszulassen.«

Wielands Faust zuckte unruhig in der Jackentasche, durfte aber nicht ihrer Bestimmung folgen.

»Ja, dann geh ich mal!«, sagte er stattdessen.

Jetzt war sein Nachfolger doch enttäuscht. Offensichtlich hatte er noch ein wenig den Finger in die Wunde legen wollen. Jedoch war Wieland schon aufgesprungen, nickte kurz zum Abschied und stürmte aus der Tür.

Dem Beamten am Tresen rief er, vor lauter Anspannung, keinen Gruß zu. Vermutlich nahm dieser deshalb an, dass der ehemalige Kommissar an dem gerade geführten Gespräch seelisch zerbrochen war. Doch in diesem Augenblick war keine Zeit für Stolz. Er würde es dem aufgeblasenen Arschloch hinter seinem ehemaligen Schreibtisch ein anderes Mal zeigen. Jetzt galt es zuerst Paul zu helfen. Dieser Gedanke ließ ihn eine gewisse Genugtuung spüren.

Wieland stürzte um die Ecke und zischte seinem Freund zu: »Los, schnell! Und die Mütze auf!«

Dann packte er den verblüfften Paul am Arm und schob ihn zügig zum Ausgang. Draußen begannen die Männer zu rennen. In weniger als zwei Minuten waren sie vom Parkplatz verschwunden und fuhren Richtung Autobahn.

 

»So eine Scheiße!«, brüllte Paul und machte damit seinem Ärger Luft. »Jetzt hängen die mir doch noch die Morde an.« Besorgt sah er zu seinem Freund. »Du glaubst mir doch, oder?«, fragte er nun zaghaft.

»Ich hole uns einen Kaffee«, antwortete Wieland knapp und steuerte den Wagen auf den Parkplatz der nächsten Autobahnraststätte.

Fünf Minuten später hielt jeder der Männer einen Pappbecher in der Hand. Der Ex-Kommissar nahm einen kräftigen Schluck des heißen Getränks. Dann räusperte er sich und polterte los: »In all den Jahren, und da sind jetzt einige zusammengekommen, habe ich so etwas noch nicht erlebt.«

Paul blickte den Älteren fragend an.

»Überleg mal! Die Morde waren vor zwei Tagen, und zwar in Russland. Abgesehen davon, dass die Russen so was normalerweise alleine regeln, wenn überhaupt, hängt dieses Mal innerhalb kürzester Zeit in jedem Polizeirevier ein Fahndungsaufruf. Denn, wenn der selbst auf meiner ehemaligen Mini-Dienststelle die Wände schmückt, dann ist er wirklich flächendeckend verteilt worden. So wichtig kann dieser Petrow kaum gewesen sein, also muss etwas anderes dahinterstecken. Du hast mich vorhin gefragt, ob ich dir glauben würde. Nun, ich glaube dir mehr denn je. Diese Akte birgt offensichtlich ein gefährliches Geheimnis. Ein Geheimnis, an dem einflussreiche Leute interessiert sein müssen. Denn irgendwer muss schließlich die Jagd auf dich eröffnet haben.«

»Vielleicht sollten wir zu einer anderen Behörde? Jemand, der uns helfen kann …«, warf Paul ein.

»Hältst du das für eine kluge Entscheidung?«

»Ich weiß nicht. Ich will einfach, dass es aufhört. Menschen sind gestorben – gute, unschuldige Menschen. Ich möchte nicht für noch mehr Tote verantwortlich sein. Und schließlich ist das ja auch Aufgabe der Polizei, des Staates … Meinst du denn, die würden uns nicht glauben? Schließlich sagen wir doch die Wahrheit!«

Wieland gab ein verächtliches »Ha« von sich und erwiderte: »Kam es denn jemals darauf an?«

Paul schien verwirrt: »Wie meinst du das?«

»Nehmen wir einmal an, wir gehen zu den Behörden. Von mir aus in Berlin oder München – egal wo, und die setzen sich mit meinem Nachfolger in Verbindung. Der erzählt denen, ich bin ein frustrierter Spinner, der alles dafür tun würde, in den Polizeidienst zurückzukehren. Was dann?«

»Na, dann sage ich denen, dass das nicht stimmt!«

»Du? Ein gesuchter Doppelmörder? Nein, ich denke nicht, dass das helfen würde.«

»Aber die müssten meine Angaben doch überprüfen!«

»Ja, nur steht dein Wort dann gegen das der russischen Behörden. Glaubst du, Deutschland lässt sich wegen uns beiden auf diplomatische Verwicklungen ein? Und das bei der momentanen Situation? Wenn du dich stellst, dann müssen die deutschen Behörden handeln.«

»Und du denkst, die handeln nicht in meinem Interesse?«, sagte Paul, der längst begriffen hatte, wie naiv die Frage war.

»Keine Ahnung. Vielleicht mit einem guten Anwalt. Aber es geht ja nicht nur darum. Irgendwer ist hinter dieser Akte her. Meinst du, derjenige wird nicht mit aller Macht versuchen, sie zu bekommen? Vor allem, wenn er glaubhaft macht, dass du sie ihm gestohlen hast. Und nur aufgrund unserer Vermutungen, dass es hierbei um üble Machenschaften geht, hast du den Staatsapparat noch lange nicht auf deiner Seite!«

»Aber wenn wir es beweisen könnten, dann müssten sie uns helfen, oder?«

»Wenn wir es beweisen könnten und wenn es Vorteile für die Behörden bringt, dann steigen unsere Chancen.«

Paul erwiderte: »Für einen ehemaligen Polizeibeamten sind das aber ziemlich finstere Erkenntnisse …«

Wielands Gesichtsausdruck entspannte sich ein wenig und seine Gereiztheit ließ nach: »Was soll ich sagen, ich habe eben viele finstere Dinge erlebt. Die Guten werden weniger!«

»Der alte Klassenfeind?«

»Ach, Unsinn. Mir stinkt es nur, dass die Lügner so leicht durchs Leben kommen. Jedenfalls mache ich mir schon lange nicht mehr vor, dass irgendwer da oben mein Wohl im Auge hat.«

»Hör auf damit, ich bin schon deprimiert genug, immerhin werde ich wegen Mordes gesucht. Ich schlage also vor, dass wir versuchen, mehr herauszufinden, damit ich eine bessere Verhandlungsposition habe, wenn ich als Unschuldiger meine Unschuld beweisen muss«, seufzte Paul theatralisch.

»So langsam verstehst du das Prinzip, bravo!«, erwiderte Wieland und gab die Adresse des Grafen Hans von Mirnhald in das Navi ein.

 

Biohof Mirnhald, Norddeutschland – 17. November 2014

 

Die beiden Männer waren ausgeruht. Die Nacht hatten sie in einem schmuddligen Autobahnhotel, nicht weit von ihrem Ziel, verbracht. Niemand hatte sich für die zwei Reisenden interessiert. Sie waren noch lange zusammengesessen und hatten erfolglos die Dokumente der Akte studiert. Zum Glück hatte Wieland sein altes Laptop eingepackt, so konnten sie zumindest ein wenig im Internet surfen. Paul durchsuchte die russischen Seiten und tatsächlich fand er die Meldung über den Mord an dem Ehepaar Petrow – mutmaßlicher Täter: Paul Berens. Nur die Tatsache, dass Wieland zu ihm hielt und sie einen Plan hatten, hinderten Paul daran zu verzweifeln.

Als sie nun den Wagen die Einfahrt zum Gut entlangsteuerten, fiel ihnen sofort auf, dass mehrere Kameras installiert waren. Außerdem gab es für einen landwirtschaftlichen Betrieb sehr hohe, blickdichte Zäune. Das ganze Anwesen glich fast mehr einer Festung als einem Agrarbetrieb. Wieland fuhr auf den Parkplatz vor dem Hofladen. Es herrschte reges Treiben, was für Paul erst einmal bedeutete, im Wagen zu warten und die Strickmütze tief ins Gesicht zu ziehen. Wieland fragte sich durch, in seiner rechten Hand hielt er einen großen Umschlag.

»Unsere Legitimation!«, hatte er zu Paul, nicht ohne Selbstironie, gesagt. »Da drin ist meine Entlassungsurkunde. Stolze vierzig Jahre Polizeidienst.«

»Und damit willst du dem Grafen Antworten entlocken?«, hatte Paul skeptisch gefragt.

»Lassen wir es auf einen Versuch ankommen!«

 

Als Hans von Mirnhald dem Ex-Polizisten die Hand schüttelte, glaubte er im ersten Moment, der Mann mit dem Umschlag wollte sich um eine Stelle als Saisonarbeiter bewerben. Deshalb starrte er verwundert auf die Urkunde, nur um dem nächsten Irrtum zu unterliegen und anzunehmen, Wieland käme von der hiesigen Polizei.

»Sie sind in Rente? Die schicken mir einen Pensionär?«

»Schicken?«, erwiderte Wieland verwirrt.

»Ja, sind Sie denn nicht wegen unserer Sicherheit hier?«, entrüstete sich von Mirnhald.

»Es tut mir leid, aber ich ermittle privat und würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«

»Und um was geht es?«, fragte der Graf nun ungehalten.

Hans von Mirnhald war ein Mann Ende vierzig, mit flachsblondem Haar und intelligenten blauen Augen. Er war relativ groß und sehr schlank. Die dunkelgrüne Cordhose und der helle Strickpulli mit den Lederflicken an den Ellbogen hätten ihm, ohne die klobigen Gummistiefel, die er trug, tatsächlich ein aristokratisches Aussehen verliehen. So wie sich romantische Damen eben einen Grafen vorstellten. Wieland sah allerdings die vielen wesentlich aussagekräftigeren Details. Die Kleider waren abgetragen und der Mann hatte Schwielen an den Händen, das war ihm bei der Begrüßung aufgefallen. Außerdem lagen dunkle Ringe unter seinen Augen und die Gesichtsfalten schienen, für einen Mann in diesem Alter, viel zu tief zu sein. Entweder war er krank oder hatte ernste Schlafprobleme. Was es auch war, Hans von Mirnhald plagten große Sorgen.

»Vielleicht kann ja auch ich Ihnen behilflich sein?«, sagte Wieland und wagte damit einen Schuss ins Blaue.

Der Graf entspannte sich: »Kommen Sie bitte mit in mein Büro.«

Wieland winkte Paul zu, der sich daraufhin beeilte auszusteigen und den beiden Männern zu folgen.

Das Büro war in dem alten Schloss untergebracht, das offensichtlich seit jeher der Familiensitz der von Mirnhalds war. Die Einrichtung war einfach und gemütlich, ließ aber erkennen, dass die Besitzer nicht auf große Reichtümer zurückgreifen konnten. Der Mann bot seinen Gästen einen Kaffee an, den er selbst servierte.

»Schönes Anwesen«, sagte Paul, um die entstandene Stille zu überbrücken.

»Ja, schön und teuer. Vor ein paar Jahren mussten wir beinahe alles verkaufen. Wir waren pleite. Da kam meine Tochter auf die Idee mit dem Biohof. Viel Arbeit und viel Risiko, aber letzten Endes unsere Rettung.«

Länger war von Mirnhald nicht gewillt, höflichen Small Talk zu betreiben. Er richtete sich etwas auf und sagte in Wielands Richtung: »Also, Herr Kommissar, was ist das für ein Fall, in dem Sie da ermitteln?«

Der Angesprochene hatte mit dieser Frage gerechnet. Am einfachsten schien es ihm, die Geschichte des Lkw-Fahrers Bernd Möring zu erzählen. Damit hatte schließlich alles begonnen. Er ließ die blutigen Details beiseite und erwähnte nur, dass er bei seinen Recherchen auf eine Namensliste gestoßen sei. Mehr könne er aus Vertraulichkeitsgründen nicht sagen.

»Bedauere, aber ich weiß nichts von einem verletzten Mann oder diesem Möring. Und mein Name stand wirklich auf einer Liste, die damit zu tun hat?«

»Eigentlich stand der Name Gregor von Mirnhald darauf.«

Auf von Mirnhalds Gesicht zeichnete sich ein ironisches Lächeln ab: »Die alte Geschichte, immer wieder …«

Die anderen beiden blickten ihn fragend an.

»Na, Sie werden doch mittlerweile herausgefunden haben, dass mein Großvater ein Offizier der Waffen-SS gewesen war.« Er stieß hörbar die Luft aus. »Denken Sie jetzt bitte nicht, dass ich das nicht ernst nehme. Ich schäme mich für diesen Mann. Außerdem hat er unserer Familie ein schweres Erbe hinterlassen. Aber ich weiß ehrlich nicht, wie ich Ihnen helfen kann.«

»Vielleicht könnten Sie die Liste einmal ansehen?«, schlug Paul vor, der nicht so schnell aufgeben wollte.

Hans von Mirnhald hatte keine Einwände und so kramte Paul das Papier umständlich aus der Akte.

Eine Weile sagte niemand etwas, dann seufzte der Graf vernehmlich: »Tja, alle kenne ich nicht, aber vier von denen waren mit meinem Großvater bekannt und ebenfalls bei der SS. Also vermute ich mal, dass das eine Liste von SS-Leuten ist. Keine Ahnung, wie Ihnen das heute noch von Nutzen sein kann.«

Damit hatten die beiden Männer nicht gerechnet. Im Internet waren sie nicht weitergekommen, weil die Suche zu viele Ergebnisse ausgeworfen hatte. Natürlich konnten die Namen neben Gregor von Mirnhald nur zufällig so lauten, wie die von ehemaligen SS-Offizieren, aber wahrscheinlicher war doch, dass das die Verbindung zwischen den Männern auf dem Papier war.

»Haben Sie eine Ahnung, was genau Ihr Großvater gemacht hat?«

»Sie meinen seine Verbrechen? Nein. Alles, was es an Unterlagen gab, wurde vernichtet und mein Vater hat verboten, dass wir darüber sprechen. Ich weiß nur, dass er viel in Polen war und dass er mit diesem ›Lebensborn-Projekt‹ in Verbindung stand.«

»Lebensborn?«, rief Wieland überrascht, »Sie meinen diese abartigen Zuchtstätten für Arier?«

»Wenn Sie es so nennen wollen – ja, die meine ich«, antwortete der Graf mit einem müden Lächeln. Erklärend fuhr er fort: »Die Nazis haben diese ›Heime‹ für ledige schwangere Frauen eingerichtet. Aufgenommen wurde aber nur, wer der Rassenlehre entsprach. Alles unter der Leitung der Waffen-SS und damit unter Heinrich Himmler. Dass aber auch Kinder aus besetzten Gebieten verschleppt und dann über diese Heime linientreuen Nazifamilien übergeben wurden, war genauso grausame Realität wie die Tatsache, dass viele der Kinder, die in diesen Lebensborn-Einrichtungen aufgewachsen sind, später schwer traumatisiert waren. Zum Glück blieb zumindest das meinem Vater erspart.«

Der Graf nahm einen Schluck Kaffee, so als bräuchte er etwas Zeit, sich zu sammeln. Traurig fuhr er fort: »Und es wurde aussortiert. Kinder, die nicht den Vorgaben entsprachen, landeten in der Gaskammer. Tja, und dann gab es eben noch die Vermutung, dass diese Heime richtige Zuchtfarmen waren. SS-Offiziere wurden dazu angehalten, ihren ach so arischen Samen großzügig zu verteilen. Natürlich an ›einwandfreie‹ arische Frauen. Ehelich oder unehelich spielte keine Rolle. Ich kann nur darüber spekulieren, ob die Bereitschaft der werdenden Mutter Voraussetzung war oder nicht. Stichwort: Paarungszwang. Jedenfalls brauchte der Führer Nachwuchs. Je mehr, desto besser. Sie wollten ›den Adel der Zukunft‹ züchten. Ist das nicht krank?«

Wieland räusperte sich: »Und welche Aufgabe hatte ihr Großvater dort? War er Arzt?«

»Nein. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, was er gemacht hat. Sicherlich nichts Ehrenvolles.«

»Wurden dort auch Experimente mit Menschen gemacht?«, fragte Paul etwas zögerlich. Er hatte durchaus eine Vorstellung von den Forschungen der Nazis. Als Wissenschaftler stellte man sich zwangsläufig auch die Frage, in wie weit die eigene Arbeit ethisch zu vertreten war. Während seines Studiums war er daher nicht an den Grausamkeiten des Dritten Reiches vorbeigekommen. Vor seinem geistigen Auge sah er nun schreckliche Bilder.

Hans von Mirnhald stieß geräuschvoll die Luft aus und antwortete nicht ohne Schärfe: »Ich bin mir sicher, dass nichts, was die Nazis gemacht haben, zum Wohle der Menschheit geschah.« Dann besann er sich und winkte ab: »Ich wollte nicht unhöflich sein, aber die Vergangenheit meines Großvaters hat mich durch eine harte Schule geschickt. Ich bin heute so etwas wie ein Experte für Naziverbrechen. Das Schweigen meines Vaters hat mich herausgefordert. Während meines Geschichtsstudiums habe ich versucht, in diese Richtung zu recherchieren, leider konnte ich nicht viel über unseren Vorfahren herausfinden.«

»Sie gehen sehr offen mit der Vergangenheit Ihrer Familie um«, unterbrach ihn Wieland.

»Hm, das ist wahrscheinlich die Folge meiner jugendlichen Rebellion gegen meinen Vater. Er hat mir das immer übel genommen und vor drei Jahren ist er als verbitterter Mann gestorben. Leider hat er mir keine meiner Fragen beantwortet. Deshalb weiß ich auch nicht, aus welchem Grund sich mein Großvater kurz vor Kriegsende erschossen hat. Vielleicht, weil er seine Taten bereute, vielleicht aber auch aus Treue zu seinem ›Führer‹.«

»Er hat sich erschossen?«, fragte Paul mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Das überrascht Sie? Nun, sicher zu Recht. Wenn man bedenkt, dass ihm wahrscheinlich nicht einmal eine nennenswerte Strafe gedroht hätte!«

»Wie meinen Sie das?«, ging jetzt Wieland dazwischen.

»Na ja, schließlich sind ja die wenigsten wirklich von der Bildfläche verschwunden. Mengele war nicht der einzige Schlächter dieser Zeit. Humangenetiker, Zwillingsforscher, Anthropologen – es gab genug, die ohne Skrupel grausame Experimente an Häftlingen durchführten. Aber viele dieser Herren Mediziner und Professoren hatten bald nach dem Krieg wieder ihre alten Posten. Im Nachkriegsdeutschland konnte so jemand noch eine tolle Karriere machen. Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, wer da so alles mit welchem Preis geehrt wurde, und welche Vergangenheit die betreffende Person hatte, da würde Ihnen schlecht werden.« Wieder machte Hans eine wegwerfende Handbewegung: »Aber das will heute keiner mehr hören …«

Wieland nickte verständnisvoll und dachte an das Thema Stasi-Mitarbeiter. Diktaturen funktionierten eben nicht mit lediglich fünf Verantwortlichen. Nur wenn Tausende am gleichen Strang zogen, waren diese unmenschlichen Systeme überhaupt möglich.

Paul kam ins Grübeln. Das waren ja nun alles alte Geschichten. Aber wie passte diese Liste mit Professor Petrow, der Akte Aljona, den Russen und dem Großvater des Grafen von Mirnhald zusammen? Seine Gedanken wurden von Hans unterbrochen.

»Nachdem ich Ihnen das erzählt habe, können Sie vielleicht auch verstehen, warum mich dieser Vorfall vor zwei Wochen so aufgeregt hat. Wenn es um die Familie, die eigenen Kinder geht, da bin ich nicht mehr Herr meiner Sinne. Meine Frau ist früh gestorben. Ich habe meine Tochter Laura quasi alleine aufgezogen. Heute ist sie vierundzwanzig und hat einen vierjährigen Jungen. Ich muss sagen, sie ist eine fantastische Mutter und Jakob, mein Enkel, entwickelt sich prächtig.« Von Mirnhald schien einen Moment seinen Gedanken nachzuhängen und schwieg.

»Was war das denn für ein Vorfall?«, tastete sich Wieland jetzt langsam vor.

Der Graf servierte ihnen erneut Kaffee und die beiden Männer nahmen dankend an.

Als er sich wieder in seinem Stuhl zurücklehnte, zitterten seine Hände auf den Armlehnen vor Zorn, sodass er sie zu Fäusten ballte: »Es hat einen Übergriff gegeben.«

»Wann und wo?«, hakte Wieland nach, der kerzengerade auf seinem Stuhl saß und äußerst konzentriert war. Jahrzehntelang war er Polizist gewesen. So etwas hörte nicht einfach auf, bloß weil man von jemandem eine Entlassungsurkunde bekam.

»Auf dem Spielplatz, vor vierzehn Tagen. Laura, meine Tochter, hat nur eine Sekunde nicht hingesehen.«

»Was genau ist passiert?«

Der Graf richtete sich jetzt auch auf. Offensichtlich spürte er, dass Wieland ein ernsthaftes Interesse hatte und helfen wollte – das gab ihm das Vertrauen, die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen. »Laura sprach gerade mit einer anderen Mutter, als sie einen Schrei hörte. Es war Jakob, er war hinter einem Gebüsch verschwunden. Laura lief sofort los, da kam mein Enkel auch schon hinter den Sträuchern hervor und war völlig aufgelöst. Ein Mann hätte ihm gesagt, es gäbe Meerschweinchen hinter dem Gebüsch. Jakob ist verrückt nach Tieren, also ist er dem Fremden gefolgt. Plötzlich hielt der Unbekannte dann wohl eine Spritze in der Hand. Spritzen wiederum hasst der Kleine. Nadeln sind für den Jungen ein rotes Tuch. Gott sei Dank, kann ich da nur sagen. Jedenfalls hat Jakob beim Anblick der Spritze fürchterlich geschrien, das hat den Angreifer offensichtlich verschreckt.«

»Und die Polizei?«, fragte Paul geschockt, der vergeblich versuchte das mögliche Horrorszenario, das hätte entstehen können, aus seinen Gedanken zu verbannen.

Jetzt schien von Mirnhald wirklich ärgerlich: »Die haben uns zwar ernst genommen, aber da niemand sonst den Fremden gesehen hat und Jakob ihn nicht gut beschreiben konnte, waren denen die Hände gebunden. Für Personenschutz hat es nicht gereicht«, sagte der Graf jetzt resigniert.

»Ist Ihr Grundstück deshalb so gut gesichert?«, stellte Wieland seine nächste Frage.

»Das habe ich schon vor einem halben Jahr veranlasst. Ich war mir zwar nie sicher, hatte aber das Gefühl, dass jemand auf dem Gelände herumschlich. Manchmal muss man auf sein Bauchgefühl hören, auch wenn einen die anderen für paranoid halten. Jedenfalls bin ich froh, dass das Haus und das Grundstück heute besser gesichert sind!«

»Gab es sonst noch irgendwelche Vorfälle?«, hakte Wieland nach.

»Nun ja«, der Graf zögerte, »da war noch die Sache Ende Mai, aber ich weiß nicht, ob das relevant ist …«

»Bitte erzählen Sie es trotzdem!«

»Das war nach unserem Dorffest. Ein Spaziergänger mit Hund hat mich gegen Morgen auf einem Feldweg gefunden. Ich muss zugeben, dass ich an diesem Abend nicht mehr ganz nüchtern war. Trotzdem war es merkwürdig. Ich hatte einen richtigen Blackout. Das ist mir noch nie passiert. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann hätte ich behauptet, dass mir jemand etwas in mein Glas getan hat.«

»Wäre das denn möglich gewesen?«

»Aber sicher, das war ein Samstagabend und wir hatten tolles Wetter, überall Gedränge und so weiter. Jedenfalls konnte ich damit ja schlecht zur Polizei gehen. Und außer einer Beule und ein paar blutigen Kratzern, die vermutlich von meinem Sturz stammten, war nichts passiert. Aber die Sache mit Jakob …«

»Sie denken an eine mögliche Entführung des Jungen?«

Der Gastgeber erhob sich und öffnete nun einen der alten Schränke. Ohne Worte hob er den Cognac in die Höhe und füllte, nachdem ihm die beiden anderen zugenickt hatten, drei Gläser.

»Ehrlich gesagt, ja!«, antwortete der Graf und nippte an seinem Schwenker, »und bevor Sie fragen: Es gibt bei uns nicht viel zu holen. Aber in den Köpfen solcher Menschen hat sich eben der Gedanke festgefressen, dass ein ›Von‹ auch zwangsläufig reich ist.«

»Können wir mit dem Kind und der Mutter sprechen?«, hakte Wieland nach. Er war zwar nicht mehr im aktiven Dienst, aber soweit er konnte, würde er helfen. Selbst wenn er, nachdem er alle Fakten gehört hatte, lediglich seine professionelle Einschätzung abgeben könnte.

»Im Prinzip gerne, aber die beiden sind in der Schweiz. Ein Freund meiner Tochter hat sie und den Jungen eingeladen. Ich hielt es für keine schlechte Idee.«

Die drei Männer schwiegen eine Weile, dann wandte sich Hans von Mirnhald erneut an Wieland. »Was denken Sie darüber?«

Der ehemalige Polizist brummte kurz, dann sah der den Grafen besorgt an und sagte: »Ernst nehmen. Auf jeden Fall ernst nehmen. Ihre Familie kann durchaus in den Fokus mutmaßlicher Entführer gerückt sein. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass sich irgendein Perverser dem Kind auf dem Spielplatz genähert hat. Sie sollten nochmals mit den Behörden sprechen und Anzeige erstatten. Ich an Ihrer Stelle würde außerdem jemanden engagieren, der zumindest eine gewisse Zeit den Schatten spielt.«

»Den Schatten?«, stieß Hans verblüfft hervor.

»Ja, vielleicht ein privater Ermittler. Wenn Ihre Tochter wieder zurück ist, soll er sich an deren Fersen heften. So könnte man feststellen, ob sie und der Junge verfolgt werden.«

 

Als sich die Männer verabschiedeten, gab Wieland dem Grafen noch seine Handynummer. Von Mirnhald bedankte sich und sah den Besuchern mit gemischten Gefühlen hinterher. Er wusste nicht, ob er jetzt beruhigter oder alarmierter sein sollte.

 

 

Kapitel 4

»Küchenschaben zählen mit zu den widerstandsfähigsten Lebewesen, wenn es um das Thema Radioaktivität geht. Weitaus zäher erscheint jedoch ein winziges Bakterium namens ›Deinococcus radiodurans‹, welches selbst Strahlendosen von bis zu 17.500 Gray überleben kann.

 

Im Vergleich dazu stirbt ein Mensch innerhalb weniger Tage bereits bei einer Strahlendosis von bis zu maximal 10 Gray.«

 

* * *

 

Wieland fuhr ein Stück die Landstraße entlang, bis sie ein Lokal entdeckten, das mit einem »Wir haben geöffnet«-Schild lockte. Das war genau der richtige Ort für ein kleines Mittagessen und eine Besprechung.

Nachdem die Bedienung die beiden Männer mit Speisen und Getränken versorgt hatte, waren sie endlich ungestört. Wieland genoss seinen Grünkohl mit Kassler, Speck und Bratkartoffeln, während Paul nur unschlüssig darin herumstocherte.

»Was ist die Verbindung?«, fragte er unvermittelt.

»Mit leerem Magen denkt es sich schwer. Also iss!«, war alles, was Wieland erwiderte. Der hatte nämlich nicht die Absicht, sich vor der Roten Grütze den Kopf über ihre Untersuchungen zu zerbrechen.

Auf der Fahrt hierher hatte er noch ein kurzes Telefongespräch mit der Kfz-Zulassungsstelle seines alten Arbeitsplatzes geführt. Die nette Ex-Kollegin war erfreut gewesen, von ihm zu hören. Die Nachricht vom schrecklichen Tod seines Namensvetters hatte sich mittlerweile herumgesprochen und die Menschen betroffen gemacht. Wieland bediente sich einer Notlüge, als er seiner Gesprächspartnerin erzählte, er wäre auf Deutschlandtour, um ein bisschen auszuspannen. Außerdem gäbe es da noch jemanden, der in Schwierigkeiten steckte und den er ein bisschen unterstützen wollte.

»Immer noch der fleißige Freund und Helfer, was Martin?«, hatte sie am anderen Ende fröhlich gekichert, und sich dann breitschlagen lassen, für ihn ein wenig in den Polizeidatenbanken zu stöbern.

 

Paul hatte schließlich doch aufgegessen und auch den Nachtisch heruntergeschlungen. Jetzt lehnte er sich zurück, klopfte zufrieden auf seinen Bauch und sah Wieland auffordernd an.

»Also gut, lass uns sehen, was wir haben!«, antwortete dieser und wischte sich mit der Serviette den letzten Krümel aus dem Gesicht. »Großvater Mirnhald war bei der SS, am Lebensborn-Projekt beteiligt und erschoss sich vor Kriegsende. Was hatte Petrow damit zu schaffen?«

»Vermutlich gar nichts«, erwiderte Paul. »Der Professor war 1945 zwölf oder dreizehn Jahre alt, da kann er unmöglich eine Rolle gespielt haben. Nein, ich denke, die Verbindung ist woanders zu suchen.«

Martin Wieland sah seinen Tischnachbarn gespannt an und brummte ungeduldig, als dieser nicht fortfuhr.

Kurz schien es, als wäre Paul in seine eigenen Gedanken versunken, dann hob er ruckartig den Kopf und flüsterte: »Die Wissenschaft, natürlich!«

»Soll heißen?«

»Na, Petrow war Wissenschaftler. Mediziner, Biologe, Chemiker!«, das letzte Wort sprach Paul besonders gespreizt aus.

»Atombomben …«, murmelte Wieland nachdenklich.

»Immerhin waren diese ganzen Schreiben in der Akte. Alle hatten die atomare Abrüstung und die Gefahren von Atomwaffen zum Thema. Was, wenn das die Verbindung ist? Hans von Mirnhald hatte doch gesagt, dass sein Großvater oft in Polen war. Vielleicht ist das der Schlüssel?«

»Polen? Du denkst ein deutsch-russisches Atomprogramm, zum Beispiel im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes?«

»Warum nicht? Die Nazis betrieben zu der Zeit schließlich bereits diese Forschungen. Vielleicht erschien denen eine Kooperation mit den Russen lohnenswert. Und als der Pakt in die Hose ging, da gab es ein erbittertes Ringen um die Ergebnisse.«

Wieland verzog missbilligend das Gesicht, was Paul dazu veranlasste, ungeduldig nachzuhaken: »Du findest das zu weit hergeholt?«

»Nein, aber unlogisch. Was sollte das heute noch für eine Rolle spielen. Russland hat längst seine eigenen Atomprogramme, warum noch Forschungsergebnissen von 1940 nachjagen. Und was hat es mit dem Gripper auf sich? Warum haben die so einen Affentanz aufgeführt, als du danach gefragt hast? Oder könnte man dieses Gerät in irgendetwas umwandeln, das waffenfähiges Plutonium in eine Bombe einsetzen kann, oder so?«

Paul musste grinsen. »Hübsche Idee, aber nein, das könnte der Gripper selbst dann nicht, wenn er nach allen Regeln der Kunst modifiziert wäre.« Genervt fuhr er sich durch die Haare: »Du hast recht, das mit der Atombombe macht keinen Sinn!«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135190
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Geheimnisse Experimente Russland Thriller Drittes Reich Jagd ewiges Leben Geheimdienst Krimi Noir Abenteuer Militär Krieg Roman Ermittler

Autor

  • Ilona Bulazel (Autor:in)

Die Autorin Ilona Bulazel wurde 1968 geboren und lebt mit ihrem Mann in Baden-Baden. Neben ihren Thrillern und Krimis veröffentlichte sie bisher auch mehrere Kurzgeschichten.
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Titel: Die Akte Aljona