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Berlin um die Jahrtausendwende: Rothe stürzt ab

von Tscharlie Häusler (Autor:in)
20 Seiten

Zusammenfassung

Die neunte von vierzehn Geschichten der Irrungen, Wirrungen und Amouren eines Singles namens Rothe. Es beschreibt in unterhaltsamer, humorvoller Form eine typische Berliner Existenz als Randfigur diverser Subkulturen. Authentisch werden bekannte und unbekannte Örtlichkeiten, Szenekneipen, aber auch skurrile, witzige und einfache Personen aus dem Umfeld des Protagonisten beschrieben. Die Geschichten können einzeln oder im Gesamtkontext verstanden und genossen werden. Aufgrund der milieugetreuen Schilderung Berliner Verhältnisse sind die Geschichten sowohl für Berliner aber auch für Besucher der Stadt mit einem großen Wiedererkennungswert verbunden. Sie werden bei der Lektüre mindestens schmunzeln, wenn nicht auch manchmal lauthals lachen. Natürlich werden Sie sich in diesen Figuren auf keinen Fall wieder erkennen, oder etwa doch?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


September

Rothe stürzt ab

Gerade noch von einem böse aussehenden Pitbull gejagt und nun Sambatrommeln? Das passte irgendwie nicht zusammen ...

Rothe blickte sich um. Er lag in seinem Bett. Die Balkontür stand sperrangelweit offen. Den Pitbull muss Rothe wohl geträumt haben, aber Sambatrommeln hörte er tatsächlich. Die Geräusche kamen von draußen. Also raus aus dem Bett, rauf auf den Balkon, runter gucken. Tausende von Menschen, Kleine – Große – Alte – Junge – Dicke – Dünne - Sportliche - Unsportliche - Frauen – Männer – Undefinierbare.

„Komisch“, murmelte er vor sich hin.

Menschen in seltsamsten Kostümen und im schicksten Outfit liefen unterhalb Rothes Balkons vorbei. „Ob das auch wirklich alles Erdenbewohner sind?“, philosophierte Rothe. Zuschauer am Straßenrand jubeln mit spitzen Schreien, die Sambaklänge lärmen, immer im gleichen langweiligen Rhythmus.

„Sonntag ... Ach ja, klar. Berlin Marathon!“, erinnerte sich Rothe.

„Aber warum jubeln die eigentlich? Warum laufen die alle auf der Straße? Und warum um Gottes Willen so früh am Morgen?“

Rothe hätte gerne noch ein Stündchen geschlafen. Er fühlte sich platt.

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Ein Blick in seine Wohnung ließ ihn langsam wach werden. Seine Klamotten lagen wild verstreut im Zimmer. Sie rochen seltsamerweise nach Urin. Rothe stopfte sie in die Schmutzwäsche und zog, immer noch leicht verwundert, seine Joggingklamotten an.

„Wenn ich schon wach bin ... Etwas laufen. Kopf frei pusten. In die Gänge kommen. Nachdenken“, motivierte er sich.

Er lief in die entgegengesetzte Richtung, weg vom Sambagedöns, Richtung Tiergarten. Das Laufen ging diesmal nicht so gut. „Ganz schön schwer, meine Beine, wie aus Blei“, dachte er, Anstrengend heute. Rothe tapste weiter vor sich hin und fühlte sich wie ein schwerfälliger alter Rentner. Kein Tourist unterwegs, auch kein Läufer. Wunderbar! Selbst die früh immer auf den Parkbänken liegenden Penner waren verschwunden. Schauen die etwa auch Marathon? Jubeln die etwa auch den Läufern zu? Ein unheimlicher Verdacht regte sich in Rothe: Oder laufen die etwa mit?

Aus dem Gebüsch tönte lautes dissonantes Schnarchen. „Wenigstens auf einen ist noch Verlass“, dachte Rothe, als er den laut schnarchenden Penner entdeckte, der hinter der Parkbank neben einer Lache Erbrochenem lag. Kein schöner Anblick, aber keine Gefahr. Die Geräusche, die dieses Wesen von sich gab, klangen sehr lebensbejahend. Ein leichtes Déjà vu durchzuckte Rothes Hirnwindungen.

Außer den langsam leiser werdenden Schnarchgeräuschen war nichts zu hören. Nur Vogelgezwitscher. Hier war Stille. Wunderbare Stille. Alleine mit sich und der Natur. Ja! Sich einsam den Kick holen!

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Eine joggende Mittdreißigerin kam Rothe entgegen und blinzelte ihm wissend zu. Lautlose, abgeschiedene, friedfertige Welt und der Puls rast. Kein Jubel! Kein Applaus! Gott sei Dank keine Sambaband! Rothe, mit sich und der Welt im Reinen und in Gedanken versunken, wäre fast über eine Wurzel gestolpert. Trotzdem fühlte er sich inzwischen großartig. Nahezu unbezwingbar. Waren wohl die Endorphine.

„Aber im nächsten Jahr melde ich mich ganz, ganz sicher rechtzeitig an“, grübelte Rothe später, als er unter der heißen Dusche stand. Das dachte er immer unmittelbar nach dem Joggen. Vor dem Marathon hielt er diesen Gedanken jedoch regelmäßig für eine Schnapsidee.

Rothe duschte lange. So langsam kamen ihm die ersten Gedankenfetzen. Erst Bert, dann Tine. Oh ja, dort war er gewesen. Frauen? Tiergarten. Oh mein Gott, Dieter Thomas. So langsam dämmerte es ihm.

Er versuchte, den gestrigen Tag zu rekonstruieren. Der Samstag hatte doch ganz amüsant angefangen:

Er war bei Bert und Tine in ihrer Kreuzberger Fabriketagenwohngemeinschaft zum Weißwurstfrühstück eingeladen. Die Mitbewohner waren übers Wochenende „im Westen“, wie es bei vor der Wende zugezogenen Exilberlinern hieß.

Sie waren also unter sich, was der ausgelassenen Stimmung und den Gesprächen nicht schadete. ,Im Verlauf der angeregten Konversation – Bert hatte sein viertes Weißbier geleert und die fünfte Weißwurst verspeist – begann er, einen seiner gefürchteten, lautstarken Monologe zu halten. „Lautstärke und Absurdität müssen zusammenhängen“, dachte Rothe, der ähnliche Mengen Nahrungsmittel zu sich genommen hatte. Rothe beobachtete, dass Berts Theorien umso seltsamer wurden, je lauter er sie aussprach. Er monologisierte über den gemeinsamen, unerfüllten Kinderwunsch von ihm und Tine. Dieser Wunsch war äußerst virulent, auch wenn es beide im nüchternen Zustand niemals zugeben würden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739440835
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Samba Single Suff Berlin Sex Kurzgeschichten Marathon Alkohol Szene Kreuzberg Satire Parodie Humor

Autor

  • Tscharlie Häusler (Autor:in)

Tscharlie Häusler, geboren in Franken. Studium der Rechtswissenschaften. Promotion. Danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität und im Bundestag beschäftigt. Lebt als Autor in Berlin.
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Titel: Berlin um die Jahrtausendwende: Rothe stürzt ab