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Die Töchter des Henkers

von Jana Jeworreck (Autor:in)
162 Seiten

Zusammenfassung

Unter jungen Männern des Landes Weossuno gilt es als Mutprobe, dem Henker des Königs die Liste der Todgeweihten zu bringen. Wer dabei dessen Töchter erspäht, gilt als besonders erfolgreich, denn der Vater hält die Mädchen vor der Welt versteckt. Doch vor allem die jüngere Tochter Felia träumt von einem anderen Leben und rebelliert zunehmend gegen den Vater. Außerdem gibt es Streit mit der älteren Schwester Tonja, die durch eine schwere Krankheit gezeichnet ist und als entstellt gilt. Als der Prinz des Landes und sein Freund eine Wette abschließen, sich als Boten ausgeben und den Frauen auflauern, verliebt sich Felia. Und Tonjas sehnlichster Wunsch, einmal so makellos wie ihre Schwester auszusehen, geht in Erfüllung …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

Jana Jeworreck

 

 

 

 

 

Die Töchter des Henkers

 

Von Nymphen, Hexen, Prinzen und Herzenswünschen

 

 

 

Eine Märchennovelle

 

 

 

 

1.

Der Bote

 

Einst lebte am Rande eines Waldes in der Mitte des Landes Weossuno ein berühmter Mann. Er war Scharfrichter des Königs und hieß Edmund Wetter. Die Leute aber gaben ihm viele unschöne Namen, denn man hasste und fürchtete ihn aufgrund seines Amtes und mied seine Gegenwart. Aus diesem Grunde hatte er sich abseits der engen Hauptstadt Ehrenberg zwischen die Bäume und Bäche des Waldes Goldrin zurückgezogen und eine Hütte gebaut.

Die einzige Person, die niemals Angst vor ihm gehabt hatte, weil sie als Nachbarskind mit ihm großgeworden war, war seine Ehefrau. Sie hatte ihm zwei Töchter geschenkt und viele Jahre waren sie glücklich miteinander gewesen. Doch dann war sie plötzlich verstorben und seither versorgte er die Mädchen allein, was ihm weitestgehend gelang.

Für die Ausübung seiner Arbeit als Vollstrecker wurde er durch einen berittenen Boten bestellt, der die Listen der Todgeweihten überbrachte. Edmund Wetter genoss es, seinem Ruf gerecht zu werden und die jungen Burschen unvermittelt anzubrüllen, sobald sie die Liste übergeben hatten. „Macht euch hinfort!“, schrie er dann und schwang dazu sein Beil, sodass die Boten voller Panik rückwärtsstolperten und davonrannten.

Danach weigerten sich immer mehr Überbringer nochmals zur Hütte zu reiten. In weinseliger Runde gestanden einige, dass sie sich vor dem schreckenerregenden Mann beinahe in die Hosen gemacht hätten.

Ein Umstand aber sorgte dafür, dass es dennoch keinen Engpass an freiwilligen Boten gab. Seit die Töchter des Henkers zu Frauen herangewachsen waren, übte die Tatsache, dass der Vater sie verbarg, eine enorme Anziehungskraft auf die Männer der Stadt und der Umgebung aus. Das Begehren, ihrer ansichtig zu werden, wurde bald größer als die Angst vor dem Freimann. Zudem herrschte viel Rivalität unter den jungen Kerlen und es wurde schließlich zu einer Mutprobe unter ihnen, die Listen zum Henker zu bringen.

Manche hatten bereits von der jüngeren Tochter, der schönen blonden Felia, erfahren, die ihren Vater in der Vergangenheit manches Mal in die Stadt begleitet hatte. Sie hatte nun in etwa siebzehn Sommer gesehen und sie zu erspähen, wurde bereits als Erfolg gewertet.

Als besondere Herausforderung galt es aber, die ältere Tochter namens Tonja zu entdecken, die bereits das neunzehnte Lebensjahr erreicht hatte. „Das Biest“ nannte man sie heimlich. Oder auch „die Missgeburt“, was aber keineswegs der Wahrheit entsprach. Vielmehr hatte sie eine schwere Krankheit gezeichnet.

Am ganzen Körper sowie im Gesicht waren ihr Narben geblieben. Weiter war das linke Auge gelähmt und das Lid hing herab. Sie versteckte sich vor Fremden, nachdem sie als Kind bei einem Ausflug in die Stadt gehänselt und mit altem Brot und anderen unschönen Dingen beworfen worden war. Von da an flüchtete sie panisch vor jedem Unbekannten, der sich ihr näherte. Um Tonja vor unnötigen Qualen zu schützen, hielt der Vater alle Personen von ihr fern.

Ihre Schwester Felia durfte seit ihrem vierzehnten Lebensjahr ebenfalls nicht mehr in die Stadt, denn bei ihr fürchtete der Vater, sie würde sich zu schnell von einem Mann einnehmen lassen.

Die Sorge war nicht unberechtigt, denn die Jüngere wollte das Leben kennenlernen. Wenn also ein Bote kam, setzte sie sich nach Möglichkeit immer ganz nah an das Fenster, sodass der Herbeigerittene sie auch durch den Schleier der Vorhänge sehen konnte.

 

An einem heißen Frühsommertag saß Edmund Wetter mit seinen Töchtern beim Mahl.

Gelangweilt stocherte Felia im Essen auf ihrem Holzbrett herum, was Tonja nervte, denn es hielt sie davon ab, sich auf das Gedicht zu konzentrieren, an das sie sich zu erinnern versuchte.

„Können wir nicht endlich mal wieder in die Stadt fahren?“, quengelte die Jüngere. „Vater, es ist doch hier so schrecklich langweilig.“

Edmund Wetter verzog missbilligend den Mund und schüttelte den Kopf.

„Es sind gefährliche Zeiten, Felia. Die Bärenmänner aus den Sümpfen des Ostens treiben in der Stadt ihr Unwesen. Es gibt Gerüchte, wonach sie den König stürzen wollen, weil er ihre kostbaren Sümpfe erobert hat. Außerdem haben wir die erste Hitzewelle des Jahres. In der Stadt, mit ihren steinernen Mauern und gepflasterten Straßen, ist es wärmer als hier im Wald Goldrin. Ich fürchte eher ...“

Unvermittelt hörte er auf zu sprechen und wirkte angespannt. Tonja kannte diesen Gesichtsausdruck nur allzu gut. Geräuschvoll schob sie den Stuhl zurück. Felia hingegen begriff nicht gleich.

„Vater, was fürchtest du?“, fragte sie.

„Felia“, sagte Tonja in belehrendem Tonfall, „Vater spürt, dass ein Bote auf dem Weg hierher ist. Es ist doch so?“

„Besser du ziehst dich zurück. Und du gehst heute mit ihr, Felia“, befahl Edmund Wetter, der die Ankunft fremder Männer auf geradezu übersinnliche Weise wahrnehmen konnte.

Die Jüngere heulte auf. „Warum das denn?“

Tonja räumte mit flinken Bewegungen den Tisch ab und hatte sich bereits ein Tuch umgeschlagen, noch bevor die jüngere Schwester mit ihrem Schwall an Einwänden fertig war. Die meisten bezogen sich ohnehin darauf, wie ungerecht es war, dass sie – Felia – ihr Leben versteckt und wie eine Gefangene verbringen musste, nur weil sie – der ausgestreckte Finger zeigte auf Tonja – vor der bösen Wirklichkeit geschützt werden müsse.

Aber Edmund Wetter ließ nicht mit sich reden. Seine Entschlossenheit erkannte Tonja daran, dass sein Blick sich verdüsterte und er zur bedrohlichen Axt griff, die immer in der Nähe abgestellt war. Niemals hätte er seinen Töchtern etwas angetan, aber ein wenig fürchtete sich Tonja schon vor ihm. Vielleicht sogar mehr als Felia.

Sie nahm die Hand ihrer Schwester und zog sie zur Hintertür.

„Komm. Es ist so ein strahlender Tag. Wir werden die Zeit schon rumzubringen wissen.“

Felia stolperte ihr widerwillig hinterher.

Die jungen Frauen liefen den üblichen Weg in den Wald hinein, bis die Hütte völlig von den Bäumen verschluckt war. Der Pfad führte zu einem kleinen Bach, der meistens munter über die Steine plätscherte. Doch aufgrund der Hitze, selbst im dichten Wald, war er nahezu ausgetrocknet.

Sie erreichten eine beschauliche Stelle nahe dem kaum vorhandenen Wasser und Tonja setzte sich. Ein spärliches Rinnsal floss gemächlich zwischen strahlend weißen Steinen hindurch, die, trocken durch die Sonne, matt und glanzlos dalagen.

Felia hingegen sammelte Gänseblümchen, die sie zu einer Kette band. Die jüngere Schwester besaß einfach nicht die Ruhe, um entspannt an einem Bachufer zu sitzen.

„Oh nein!“, rief Tonja plötzlich aus.

Ein winziger bunt schimmernder Fisch lag gestrandet in einer Pfütze, die sich auf einem Stein gebildet hatte. Das Wasser war nahezu vollständig verdunstet und der Fisch zappelte verzweifelt um sein Leben.

Tonja wollte ihn behutsam in das tropfende Wasser heben, als Felia ihr den Fisch aus der Hand riss und hoch in die Luft warf.

„Flieg, Fischchen, flieg!“, rief sie und erhielt dafür sofort eine Ohrfeige von der älteren Schwester.

Tonja fing das Tier auf und brachte es schnell in das Wasser zurück. Im selben Augenblick zogen aus dem Nichts schwere Wolken auf und es blitzte am Himmel.

Wütend sprang Felia auf Tonja zu und riss sie an den Haaren, doch die große Schwester wehrte sich.

Heftiges Donnergrollen ertönte, als würden schwere Fässer durch eine Halle gerollt.

Es dauerte nicht lange, da schlugen sich die Schwestern wie unreife Kinder. Währenddessen öffnete der Himmel seine Schleusen und ließ einen weichen Sommerregen niedergehen, fast so, als wolle er auf diese Weise die Zankenden sanft, aber entschieden voneinander trennen. Die Kleider der jungen Frauen saugten sich schnell voll Wasser und der Schlamm blieb an ihnen haften. Schwer atmend ließen sie voneinander ab.

Tonja war jedoch immer noch wütend auf Felia und dem Gesichtsausdruck der Jüngeren zufolge beruhte das auf Gegenseitigkeit, aber der Regen wurde immer stärker. Bald schienen Bindfäden aus dem grauen Himmel zu fallen.

Nach einiger Zeit fröstelte Tonja in ihrer durchweichten Kleidung. Trotz ihrer Wut sah sie von einem weiteren Kampf ab und machte sich auf den Rückweg. Felia folgte ihr missmutig.

Zügig eilten sie zur Hütte zurück. Der Bote war gewiss bereits zurückgeritten, um dem Unwetter zu entgehen.

2.

Hektor

 

Hektor, wie der Bote hieß, war keineswegs sofort umgekehrt, sondern nur zum Schein von der Hütte des Henkers fortgeritten. Außer Sichtweite des furchteinflößenden Edmund Wetter hatte der junge Mann einen weiten Bogen eingeschlagen, sein Pferd Windeseil an einem Baum angebunden und sich im Gebüsch versteckt.

Von dieser Position aus befand sich die Hütte des Henkers in seinem Rücken und vor ihm lag ein Trampelpfad, den die Töchter des Henkers vermutlich benutzt hatten.

Seine Ahnung erwies sich als richtig.

Er hatte schon aufgeben wollen, nachdem es so stark zu regnen begonnen hatte, aber dann sah er die jungen Frauen den Hang in seine Richtung entlangstolpern.

Als sie auf der Höhe seines Versteckes angekommen waren, sprang er ihnen in den Weg. Dabei hielt er bedrohlich ein Jagdmesser hoch, das er immer bei sich trug.

Die Blonde stieß einen kurzen, spitzen Schrei aus, während die Brünette erstarrte. Die Frauen wichen verängstigt zurück, was ihn nicht überraschte. Er genoss es ein wenig und ging dann weiter auf sie zu. Bisher konnte er keine der hexenhaften Eigenschaften erkennen, die man ihnen nachsagte.

Er stellte lediglich fest, dass die Jüngere der beiden tatsächlich entzückend aussah, selbst so durchnässt und mit triefenden Haaren, was ihm ungewollt ein Grinsen ins Gesicht zauberte. War das jene Magie, von der gemunkelt wurde?

Er bemerkte zugleich, dass die ältere Tochter nicht im Geringsten den Gerüchten entsprach, die über sie kursierten. Sie hatte keine Hörner, Warzen oder einen Buckel. Ihr Gesicht erschien ein klein wenig schief, es war sonnengebräunt und verdreckt mit Schlamm. Die Narben ließen sich kaum erahnen, und die Augen funkelten auffällig. Ihr Aussehen entsprach vielleicht flüchtig dem Bild einer ungebändigten Hexe. Körperlich aber war sie ebenfalls recht ansprechend, jedoch nichts im Vergleich mit ihrer Schwester.

Das Gewitter verstärkte sich. Sturmböen fegten durch die Bäume, Donner grollte und Blitze zuckten umher. Hektors Hand mit dem Messer zitterte unwillkürlich. Waren die Töchter des Henkers vielleicht tatsächlich Hexen, wie es allerorten über sie gesagt wurde? Konnten sie gar Naturgewalten wie Blitz und Donner beherrschen?

Er durfte jetzt keinen Rückzieher machen, denn sein Ruf als tollkühner Abenteurer und Frauenheld stand auf dem Spiel. Schnell riss er sich zusammen, sprang vor, griff sich eine Haarsträhne der erstarrten Brünetten und schnitt sie mit der immer gut geschärften Klinge seines Jagdmessers ab.

Die Jüngere kreischte und zugleich schlug ein Blitz in einem Baum in der Nähe ein. Sie stürzte und auch Hektor stolperte, fing sich aber und landete in ihrer Nähe auf dem Boden. Es sah aus, als hätte er vor ihr einen Kniefall gemacht. Er grinste breit und nach einem kurzen Moment der Irritation lächelte sie ebenfalls. Dann richtete er sich auf und reichte ihr seine Hand.

„Felia!“, rief ihre Schwester entsetzt, aber die Jüngere nahm sie und er half ihr hoch. Es schüttete noch immer wild, aber der Sturm ließ ein wenig nach, es donnerte lediglich.

Für einen kurzen Moment durchfuhr Hektor ein seltsames Gefühl. Felia war wunderhübsch, aber erst ihr Lächeln ließ alles erstrahlen. Eine Woge des Übermuts erfasste ihn. Blitzschnell schnitt er auch von Felias goldenem Haar eine Locke ab. Im nächsten Moment drückte er ihr einen Kuss auf die Wange und schmunzelte über ihr verdutztes Gesicht.

Dann rannte er zu Windeseil zurück, stieg auf und stürmte im Galopp davon.

 

3.

Zwietracht

 

Tonja war wie vom Donner gerührt. Seit Jahren hatte sie keinen anderen Menschen außer ihrem Vater und ihrer Schwester gesehen. Felia hatte ihr zwar häufig von den schmucken Boten vorgeschwärmt, doch Tonja war es schwergefallen, ihrem Gerede zu glauben. Jetzt wusste sie, dass die Schwester nicht übertrieben hatte.

Es gab jene Männer mit funkelnden Augen und einem wunderbar frechen Lächeln. Doch offenbar war dieses Exemplar genauso grausam, wie Tonja die Menschen in Erinnerung hatte.

Sie ließ sich von Felia zurück zur Hütte ziehen, wo sie dem besorgten Vater die Begegnung mit dem Boten verschwiegen. Zu zweit in ihrer gemeinsamen Kammer sprachen sie leise über ihn.

„Ich hätte ihm auch eine Locke geschenkt, wenn er danach gefragt hätte“, sagte Felia. Wie immer klang sie dabei schrecklich eingebildet, aber Tonja kannte das schon. „Er hat mir zugeflüstert, ich sei so schön, wie man es von mir erzähle, und er wolle mich unbedingt wiedersehen.“

Sie blickte Tonja provozierend an.

„Aber ich solle ohne das Scheusal kommen.“

„Ich bin mir sicher, er wird schon wissen, was er von dir haben will“, antwortete Tonja bissig, aber die Worte der Schwester schmerzten sie mehr, als sie sich eingestehen wollte.

Narben im Gesicht und Narben auf der Seele.

In der Ferne grollte noch immer der Gewitterdonner. Die Blitze waren erloschen.

„Wenigstens habe ich sein Interesse geweckt. Er ist ein feiner Mann. Bislang der schönste aller Boten. Aber keine Bange, auch für dich gibt es sicherlich einen Platz in der Welt. Du wirst Vaters schwarze Kutte anlegen und mit Wonne deine Axt auf die Todgeweihten niedersausen lassen. Ach, aber das geht ja nicht. Frauen dürfen kein Scharfrichter sein.“

„Das stimmt nicht. Dürfen sie wohl. Klar, dass du so etwas nicht weißt. Und du wirst eines Tages erkennen, dass deine Schönheit verwelkt ist und deine ganze innere Hässlichkeit zutage tritt.“

„Immerhin war ich dann einmal schön“, antwortete Felia, doch ihr Tonfall verriet, dass Tonja sie wenigstens ein bisschen beleidigt hatte.

„Du wirst nicht damit umgehen können, dass dir nicht mehr alles zufliegt“, setzte Tonja nach. „Du kannst nichts. Und musstest dir niemals Mühe geben.“

„Und was kannst du Tolles? Außer dich verstecken?“

Darauf wusste Tonja zunächst keine Antwort. Sicherlich, sie war gut in Handarbeitsdingen, nähte, stickte und webte recht ordentlich. Doch all dies beherrschte Felia auch, wenngleich sie das meiste mit weniger Leidenschaft machte und allgemein ungeduldiger war.

„Ich habe mehr Geduld und Leidenschaft als du“, sagte Tonja.

„Pah, Leidenschaft! Leidenschaft ist das, was ich in den Augen des Boten gesehen habe. Wozu soll ich meine Talente für Nichtigkeiten vergeuden?“

Ihre geflüsterte Auseinandersetzung dauerte noch einige Zeit an und ebenso lange prasselte der Regen herab, den das Land nach der Hitze so bitter nötig hatte.

4.

Die Wette

 

Viktor nahm einen Schluck aus seinem Krug und blickte den Prinzen fordernd an. Dieser grinste siegesgewiss. Nach einem angemessenen Zögern warf Hektor, der Prinz aus dem Hause von Hohenehr, die Haarlocken auf den Tisch. Viktor nickte anerkennend und konnte seinen Frust darüber, dass der Königssohn erfolgreich gewesen war, nur schlecht verbergen.

„Nun bist du an der Reihe“, sagte Hektor. „Wenn du dich traust.“

Einige Burschen in der Taverne, in der sie sich regelmäßig für all ihre Taten mit Bier und anderem Gebräu belohnten, lachten.

„Natürlich trau’ ich mich“, sagte Viktor. „Und ich werde noch weiter gehen als du. Nicht nur eine Locke wird mein sein.“

„Sondern?“

Hektors Augen verengten sich misstrauisch. Er schien nicht begeistert davon zu sein, dass Viktor ihn übertrumpfen wollte.

„Einen Kuss werde ich mir holen. Von beiden.“

Wieder erfolgte Gelächter. Dieses Mal ein wenig lauter als vorher und mit einer Portion Spott gewürzt.

„Dann wird jemand mit dir gehen müssen, um zu prüfen, ob du diese auch wirklich erhältst“, rief einer aus der Gefolgschaft.

„Da hast du recht, Gunter. Und da du das schon so klug bemerkt hast, wirst du dieser Begleiter sein. Aber halte dich ja versteckt. Die Axt des Henkers ist immer geschärft“, rief Prinz Hektor lachend. An Viktor gewandt sagte er: „Wenn dir das gelingt, will ich die Blüte der Schönen pflücken.“

„Vielleicht werde ich das schon vor dir tun.“ Viktor meinte es nicht ernst, aber das selbstgefällige Grinsen des Prinzen konnte er nicht leiden. „Immerhin scheint sie ja recht ansprechend zu sein.“

„Spricht da der Bärenmann aus dir?“, fragte der Prinz, um Viktor zu provozieren.

„Tiefensee liegt zwar am Rande der Sümpfe, aber ich bin keiner dieser Rebellen!“, widersprach Viktor vehement. Er wollte keinesfalls Gefahr laufen, in eine Diskussion über die Sumpfbewohner verwickelt zu werden, deren Gebiete der König vor einigen Jahren erobert hatte. Viktors Vater, der Graf von Tiefensee, hatte sich oft kritisch über das unbarmherzige Vorgehen des Monarchen geäußert, doch nur innerhalb der Familie, da niemand sonst wissen durfte, wie der Graf wirklich darüber dachte.

„Du wirst nicht einmal einen Kuss erhalten“, erwiderte Prinz Hektor und führte damit glücklicherweise das Thema zurück auf das für ihn derzeit Wesentliche. „Ich hingegen habe der Schönen bereits einen auf die Wange gedrückt.“

Prahlhans, dachte Viktor. Je länger er am Hof verweilte, umso unsympathischer wurde ihm der Prinz. Doch er hatte dem Vater versprochen, sich für das Wohl der Grafschaft bei dem Prinzen einzuschmeicheln. Viktor war der jüngere von zwei Söhnen. Als solcher war es seine Pflicht, ein solides Verhältnis zum derzeitigen und zukünftigen König zu pflegen und jede Gefahr für die Grafschaft Tiefensee am Rand der Sümpfe frühzeitig zu erkennen. Insbesondere, da dort im Osten immer wieder Kämpfe mit rebellierenden Bärenmännern aufflammten, die sich dem König nicht unterwerfen wollten.

Zu Anfang war Viktor vom Prinzen angetan gewesen. Hektor war ihm als beredt, gebildet und ausgezeichneter Jäger erschienen. Mittlerweile dachte Viktor, dass die Worte redselig und eingebildet den Prinzen besser beschrieben. Zudem schien er alles zu jagen, was ein Fell oder einen Rock trug.

Leider war Viktor selbst neugierig auf die mysteriösen Töchter dieses grauenhaften Henkers und er konnte nicht leugnen, dass es ihn reizte, den Prinzen zu überbieten.

„Wir werden sehen“, sagte er grimmig. „Reich mir die neue Liste der Todgeweihten. Morgen reite ich in den Wald.“

Und die Männer stießen an, auf dass die Mutprobe besiegelt werde.

 

5.

Der zweite Bote

 

„Stehen viele Hexen auf deiner Liste, Vater?“, fragte Felia.

Tonja zuckte zusammen, als sie den harten Gesichtsausdruck des Vaters sah, mit dem er die jüngere Schwester bedachte.

„Du solltest nicht nach solchen Dingen fragen“, antwortete er schroff.

„Aber warum denn nicht?“

„Felia!“, herrschte Tonja sie an. „Es geht uns nichts an.“

„Spiel dich nicht auf, als seist du unsere Mutter“, murmelte Felia beleidigt, aber fragte dann nicht weiter. Stattdessen seufzte sie gelangweilt und warf die Stickerei, an der sie seit Wochen arbeitete, in einen Korb.

Edmund Wetter legte plötzlich den Kopf schief.

„Seltsam“, brummte er, „ein weiterer Bote.“

Die Frauen erhoben sich. Tonja griff gleich nach ihrem Schultertuch, während Felia ihre Erscheinung in einem kleinen Spiegel überprüfte. Dann schob sie ihren Stuhl an das Fenster. Edmund Wetter nahm dies missbilligend zur Kenntnis, sagte aber nichts weiter dazu. Augenscheinlich würde er dieses Mal dulden, dass Felia trotz der dummen Fragerei blieb.

„Du billiges Ding!“, zischte Tonja wütend ihrer Schwester zu. Diese grinste bloß und zuckte mit den Schultern.

Tonja verließ traurig die Hütte. Wenn nochmals ein Bote erschien, war es gewiss derselbe wie am Vortag und in diesem Fall kam er mit Sicherheit wegen Felia. Sie ballte die Fäuste und bemühte sich, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

Immer bekam Felia, was sie wollte. In der Stadt hatte sie sich stets aussuchen können, was sie mochte: Kleider, Schmuck, Blumen. Tonja hingegen musste nehmen, was der Vater ihr mitbrachte. Zugegeben, er gab sich große Mühe und bedachte sie immer, wenn auch Felia etwas erhielt. Doch die Schwester hatte selbst auswählen dürfen. Zumindest war es bis zur Felias vierzehnten Lebensjahr so gewesen. Seither durfte die jüngere Schwester gleichfalls nicht mehr in die Stadt und der Vater suchte für beide Töchter eine Kleinigkeit aus, wenn er in Ehrenberg weilte.

Tonja beschloss, diesmal so weit am Bächlein entlang zu gehen, bis sie dessen Quelle finden würde, als ihr unvermittelt abermals jemand in den Weg sprang. Vor lauter Schreck stolperte sie rückwärts und stürzte.

Am Gewand erkannte sie den Boten des Königs, doch es handelte sich nicht um denselben Mann wie am Vortag. Dieser hier hatte rotbraunes, leicht gelocktes Haar, war ein wenig kräftiger als sein Vorgänger und blickte sie mit haselnussbraunen Augen ernst an. Er verbeugte sich und hielt ihr die Hand hin, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein, doch sie krabbelte von ihm weg und raffte sich von allein auf.

„Mein Name ist Viktor von Tiefensee“, stellte der Fremde sich vor. „Ich wurde vom König gesandt, dem Scharfrichter eine weitere Liste zu bringen. Bin ich auf dem richtigen Weg?“

Er sprach völlig normal mit ihr. Als wäre sie irgendjemand, dem er eben begegnet war. Als gäbe es nichts, was sie zu einer Ausgestoßenen machte. Als sähe sie völlig durchschnittlich aus.

„Ist das der Weg zur Hütte des Henkers, der im Dienst des Königs steht?“ Er trat einige Schritte auf sie zu und sie wich zurück.

Konnte es wahr sein? Er zeigte keine Abscheu, keine ungewöhnliche Neugier. Sie suchte in seinen Augen nach der üblichen Reaktion auf ihr Äußeres, die zumeist irgendwo zwischen Mitleid und Spott lag, doch da war nichts. Sein Blick schien neutral.

„Wie heißt du?“, fragte er. „Bist du eine seiner Töchter?“

Sie wich noch etwas weiter zurück. Schließlich nickte sie anstelle einer Antwort und deutete zögerlich in Richtung ihrer Behausung. Er neigte den Kopf und lächelte verhalten.

„Ich danke dir.“

Dann ging er weiter und sie sah ihm nach. Offensichtlich war er ohne Pferd unterwegs. Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um.

„Wirst du noch da sein, wenn ich auf dem Rückweg hier vorbeikomme?“

Wieso will er das wissen?, dachte Tonja. Was soll diese Frage? Was will er denn von mir? Sie blickte hinter sich, aber außer ihr war ja niemand da. Demnach konnte er nur sie meinen.

Wieder nickte sie stumm und ärgerte sich sogleich über sich. Wieso war sie nicht in der Lage gewesen, ihm eine anständige Antwort zu geben, noch dazu bei einer so simplen Frage? Wieso hatte sie nicht einfach Nein gesagt?

Er ging einige Schritte rückwärts und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Dabei lächelte er ihr nochmals zu und erst als er über eine Wurzel stolperte, wandte er sich ab und folgte weiter dem Pfad zur Hütte des Henkers.

Sein Lächeln brannte sich in ihre Gedanken ein.

6.

Gewagtes Manöver

 

Felia starrte durch die Gardine in die Ferne, während der Vater vor der Tür mit einem Schleifstein die Klinge des Richtbeils schärfte. Das tat er immer, wenn ein Bote kam, weil dieser schon allein deshalb respektvoll Abstand hielt. Wenn das nicht reichte und der Blick des jungen Mannes trotzdem suchend zum Fenster wanderte, erhob sich der Vater und ließ das Beil durch die Luft schwingen, wobei ein feines Geräusch entstand.

Felia war sich ganz sicher, dass der Bursche mit den blonden Locken zurückkäme, um sie wiederzusehen. Vielleicht wagte er es gar, dem Vater trotz des Beils die Stirn zu bieten und nach ihr zu fragen.

Von allen Boten war der gestrige der hübscheste gewesen – und zudem der frechste. Schließlich hatte er ihnen ja aufgelauert und zwei Haarsträhnen erbeutet.

In der Nacht hatte sie davon geträumt, wie er anstelle einer Locke ihre Hand genommen, sie auf das Pferd gezogen hatte und dann mit ihr davongaloppiert war. Leider hatte sich ein Schatten an den Schweif des Pferdes geheftet und dann hatten schwere Donnerschläge die Luft erschüttert.

Felia wusste, dieser Schatten konnte nur ihre Schwester gewesen sein, der wie ein übler Hauch über allem lag. Ständig mahnte sie der Vater: „Sei lieb zu Tonja! Tonja ist ja so eine talentierte Werkerin und so einfallsreich.“ Tonja, Tonja, Tonja …! Sie konnte es nicht mehr hören.

Sie wollte nur weg. Felia verabscheute diese Hütte. Und vor allem hasste sie es, dass ihr Vater jeden Mann verschreckte, der sich der Behausung und ihr näherte. Zahlreiche Kuriere hatten intensive Blicke durch das Fenster gesandt und ihr so signalisiert: „Komm doch heraus!“, aber sie hatte sich letztlich nicht getraut, weswegen sie auch wütend auf sich selbst war.

Heute würde sie es wagen. Wenn derselbe Bote wie gestern erschiene, würde sie vor die Tür treten und sich den strengen Anweisungen des Vaters widersetzen.

Plötzlich trat aus unerwarteter Richtung abseits des Weges ein junger Mann heran. Selbst Edmund Wetter schien überrascht und erhob sich, wobei er die geschärfte Axt hin und her schwingen ließ.

Felia sprang auf, aber welch eine Enttäuschung! Es war nicht derselbe Bote. Dieser hier hatte braunes Haar und nicht blondgelocktes. Er war durchaus ebenfalls schmuck anzusehen, aber dennoch; Felias Hoffnung zerplatzte.

„Hochverehrter Edmund Wetter, ich bringe Euch eine weitere Liste mit den Namen Todgeweihter, die bald hingerichtet werden sollen“, sagte der Fremde und überreichte dem Vater eine Rolle. „Außerdem würde ich gerne Eure Töchter kennenlernen“, fügte er unumwunden hinzu.

Felias glaubte, sich verhört zu haben. Dieser Bote fand den Mut, ihren Vater unverblümt um die Bekanntschaft mit seinen Töchtern zu bitten? Sie musterte ihn. Er war recht ansprechend, wenngleich nicht ganz so wie der junge Mann vom Vortag. Eine verrückte Hoffnung erwuchs in ihr. Vielleicht hatte dieser hier eine Nachricht von dem anderen für sie?

Abrupt lief sie zur Tür und riss sie auf. Sofort fuhr der Vater erbost herum.

„Ins Haus mit dir!“, rief er und richtete sich zur vollen Körpergröße auf, die stattliche ein Meter neunzig maß. Zugleich ließ er seine imposanten Muskeln spielen, die von der Benutzung der Axt gut in Schuss waren. Doch Felia war flink und lief an ihrem Vater vorbei.

„Kommt!“, rief sie dem Boten zu und riss ihn am Arm in die Richtung des Waldes.

„Bleibst du wohl hier!“, brüllte der Vater und setzte den jungen Leuten nach. Doch Felia kannte jeden Winkel des Waldes und sie war schnell. Sie zog den überraschten Boten durch viele verwinkelte Wege und sprang über Stock und Stein und umgefallene Baumstämme. Als ihr allmählich das Herz in der Brust zu zerbersten drohte, riss sie ihn am Arm in eine Felsnische. Sie war ein geheimes Versteck aus Kindertagen, das der Vater so schnell nicht finden würde, weil es durch Gestrüpp verborgen und im Vorbeirennen kaum zu erkennen war.

In der Felsenspalte verharrten die beiden, schwer nach Luft ringend. Während die laute, zornige Stimme von Edmund Wetter mal näher, mal ferner durch den Wald hallte, beruhigte sich ihre Atmung.

„Hast du eine Botschaft für mich?“, fragte Felia den Boten hoffnungsvoll.

Der wirkte erstaunt und schien wenig begeistert über ihr Verhalten.

„Was hättest du denn gerne für eine?“

„Na, eine von dem Boten, der gestern hier war. Hat er dir keine für mich mitgegeben?“

„Du meinst von Pr ... ähm, von Hektor?“

„Ist das sein Name? Hektor?“, erwiderte sie verträumt.

„Der meinige lautet im übrigen Viktor und wie heißt du?“

„Willst du mir weismachen, du kennst meinen Namen nicht?“

Viktor schüttelte den Kopf. Dann grinste er schelmisch.

„Aber ich habe eine Nachricht für die schöne Tochter des Henkers, wenn sie mir ihren Namen verrät“, sagte er. Seine Stimme klang verführerisch.

Felia mochte ihn, aber er war dennoch nicht so beeindruckend wie der Bote des Vortages.

„Ich heiße Felia“, antwortete sie.

Wie ein erbostes Echo hörte sie in der Ferne den Vater ihren Namen rufen. Lange konnte sie ihn nicht mehr warten lassen. Er klang ungeheuer wütend und es war so gut wie sicher, dass sie schwer bestraft würde.

„Ich sage dir, was Hektor dir ausrichten lässt, wenn du mir einen Kuss gibst.“ Bevor Felia protestieren konnte, denn sie hatte ja seine Bedingung erfüllt und ihm ihren Namen verraten, beugte sich Viktor blitzschnell vor und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Sie gab nach und ein warmes Gefühl durchfuhr sie. Doch dann ließ er sie los, ein wenig zu schnell, wie sie fand, und verließ die Nische.

„Warte!“, rief sie. „Wie lautet die Nachricht?“

„Es gibt keine!“, antwortete Viktor und lachte frech. Dann rannte er davon und verschwand zwischen den Bäumen. Irgendwo hörte sie die Stimme des Vaters, die nun einen leicht verzweifelten Klang angenommen hatte.

Felia war fuchsteufelswild – aber irgendwie auch wieder nicht.

7.

Des Wassers Lauf

 

Tonja saß am Ufer des Baches, genau an der Stelle, wo ihr Viktor zuvor begegnet war. Sie hätte nicht begründen können, wieso, aber sie fühlte sich wie verzaubert. Als hätte er sie mit den Worten „Wirst du noch da sein,…?“ mit Magie an diesen Ort gebunden.

Doch es waren nicht die Worte allein. Auch der Klang seiner Stimme hatte einnehmend geklungen und auf Tonja ehrlich und hoffnungsvoll gewirkt. Nachdem die Frage ausgesprochen worden war, hatte es in ihren Ohren gerauscht. Sie hatte auf die Baumstämme gestarrt, zwischen denen er verschwunden war, und immer wieder in ihrem Kopf die Frage wiederholt: „Werde ich noch da sein, wenn er zurückkommt?“

Inzwischen stand die Sonne hoch über den Wipfeln, die ein leuchtendes Dach bildeten wie eine grüne Kathedrale. Eine Zeit lang hatte sie den Bachlauf beobachtet und geglaubt, nochmals das gerettete Fischchen vom Vortag gesehen zu haben. Aber da es hier viele Fische gab, war es sicherlich nicht dasselbe.

Durch den Regen in der Nacht war der Bachlauf angeschwollen und es gab kaum noch Steine, auf denen ein Fischchen stranden würde.

Die Stimme ihres Vaters schallte in der Ferne durch den Wald. Er rief zornig nach Felia. Es freute Tonja, dass sie ihm wieder Ärger bereitete. Sollte sie nachschauen, was sich ereignet hatte? Aber nein, sie würde es früh genug erfahren.

„Du hast ja tatsächlich gewartet!“

Erschrocken sah sie auf. Wie unaufmerksam von ihr! Sonst gelang es nie jemandem, ihr unbemerkt so nah zu kommen. Wie hatte er sich anschleichen können? Nervös erhob sie sich von ihrem Platz.

Während ihrer Wartezeit hatte sie sich fest vorgenommen, diesen Viktor zu fragen, weshalb sie hatte warten sollen.

„Was willst du von mir?“, platzte es aus ihr heraus.

„Ich will einen Kuss“, sagte er unverblümt.

Völlig verblüfft vergaß Tonja alles Weitere, was sie ihn hatte fragen wollen, denn um nichts in der Welt wäre sie darauf gekommen, dass jemand so etwas von ihr verlangen könnte. Machten Männer das so? Gingen sie umher und forderten Küsse von fremden Frauen? Sollte es ihr schmeicheln? Sie errötete. Was dachte er von ihr? Und dann fiel ihr wieder ein, wie sie aussah, und sie senkte den Blick.

Er trat näher heran. Nur zögerlich wich sie zurück.

Dieser Bote gefiel ihr besser als jener vom Vortag, aber sie hätte beim besten Willen nicht sagen können, warum.

Ihre fehlende Reaktion auf sein Ansinnen nutzte er aus und riss sie an sich. Dann drückte er seine Lippen auf die ihren.

Das war ein Schock. Alles an der Situation fühlte sich für sie seltsam und verwirrend an. Tonja stieß ihn sofort von sich und schlug ihm mit aller Wucht ins Gesicht.

Seine Überraschung war echt. Er hielt sich die Wange und torkelte belustigt einige Schritte zurück.

„Interessant“, sagte er bloß und lachte. „Guter Schlag, Henkerstochter!“

Dann wandte er sich ab und rannte davon.

Tonja starrte ihm nach, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Eine Zeit lang blieb sie noch an Ort und Stelle stehen und mühte sich, die innere Aufruhr in den Griff zu bekommen. Auf den Weg zurück zur Hütte wusste sie immer noch nicht, was sie fühlte.

Weinend trat sie in die Stube.

Dort fand sie Felia, ebenfalls in Tränen aufgelöst.

„Wo ist Vater?“, fragte Tonja.

„Ich weiß es nicht“, schluchzte die jüngere Schwester.

„Was ist denn geschehen?“

„Der Bote, der heute da war ...“ Felia bekam die Worte kaum heraus. „Na ja, ich dachte, er hat eine Nachricht von dem anderen, dem von gestern. Da bin ich hinaus und mit ihm in den Wald gelaufen. Vater war außer sich vor Zorn. Ehrlich, so habe ich ihn noch nie erlebt! Jetzt darf ich überhaupt nicht mehr in die Stadt, sagt er. Nie mehr!“

Sie heulte laut auf, aber Tonja hatte kein Mitleid. Im Gegenteil. Felia hatte es verdient.

„Warum machst du auch so etwas?“

Felia wurde wütend.

„Weil ich hier raus will. Raus aus diesem Gefängnis!“

In der Ferne zogen Wolken auf und ein Blitz zuckte über den Himmel.

„Und was ziehst du überhaupt für ein Gesicht, du Missgeburt?“

Tonja ballte die Fäuste.

„Das geht dich gar nichts an!“, fauchte sie. „Du hast die Strafe, die Vater dir auferlegt hat, verdient.“

Damit verließ sie die Wohnstube und zog sich in das Schlafzimmer zurück. Ein kurzes Donnergrollen begleitete sie.

 

In der Nacht konnte Tonja nicht schlafen. Immer wieder tauchte der Moment vor ihren Augen auf, in dem Viktor sie an sich gerissen und geküsst hatte.

Sie durchforstete ihre Erinnerungen, ob er in irgendeiner Form von ihrem Aussehen schockiert gewesen war, als er sie gesehen hatte, doch da war nichts gewesen. Keine Irritation über ihr Äußeres. Als ob die Narben in ihrem Gesicht und das hängende Auge nicht existierten.

Sie richtete sich auf und beschloss, einen Spaziergang zu machen, da sie voller Unruhe war, und zog sich leise an, um Felia nicht zu wecken.

„Wo willst du hin?“, fragte diese prompt. Offenbar war Tonja nicht leise genug gewesen. Sie antwortete ihr dennoch nicht, was sich als Fehler herausstellte, denn daraufhin folgte ihr die Schwester hinaus aus der Hütte.

Eine Weile liefen sie schweigend durch den dunklen Wald.

„Geh zurück!“, herrschte Tonja die Jüngere an.

„Ich will aber nicht.“

„Ich bin die Ältere und du tust, was ich sage!“

„Das werde ich nicht. Nur, wenn du mir verrätst, was mit dir los ist.“

Tonja stapfte weiter, aber Felia ließ nicht locker. Sie schien wieder von Bosheit befallen zu sein, denn ihr Blick wurde störrisch und hochmütig.

„Weißt du eigentlich, dass der Bote von heute ebenfalls um mich geworben hat?“

„Halt den Mund!“, antwortete Tonja, denn sie wusste genau, was nun geschehen würde: Felia würde ihrer ganzen schönen Verwirrtheit den Todesstoß verleihen. Sie zerstörte immer alles. Selbst wenn sie es nicht einmal wollte.

„Er forderte einen Kuss von mir“, gluckste die Jüngere triumphierend.

Tonja blieb stehen und Felia rannte in sie hinein.

„Nun denn, Schönheitskönigin: Er verlangte gleichfalls einen Kuss von mir“, schnaubte Tonja gehässig. Sie wollte triumphierend klingen, aber es gelang ihr nicht, denn offensichtlich hatte der Bursche sie beide zum Narren gehalten.

„Du lügst. Wer sollte schon von dir einen Kuss wollen?“

Das traf Tonja ein weiteres Mal, und weitaus heftiger. Warum nur war sie nicht gefeit gegen die gehässigen Äußerungen ihrer Schwester?

Sie wünschte sich, allein zu sein.

„Nein, du blöde Kuh! Ich lüge nicht“, fuhr sie Felia an. In der Ferne ertönte ein Donnergrollen. Sollte es denn schon wieder gewittern?

„Dieser Viktor …“, sprach Tonja weiter, „… so hat er sich mir jedenfalls vorgestellt, dieser Viktor und der Bote vom Tag zuvor haben ein Spiel mit uns gespielt. Ein gemeines Spiel. Vielleicht war es eine Mutprobe. Oder sie haben eine Wette abgeschlossen, wie sie an unserem gefürchteten Vater vorbeikommen und unser ansichtig werden.“

„Du glaubst, das alles …“

Tonja, der die wahre Bedeutung ihrer eigenen Worte soeben erst klar wurde, war noch nicht fertig und unterbrach die jüngere Schwester. „Das ist ganz offensichtlich! Der Erste brachte eine Haarlocke als Beweis und der Zweite strebte danach, ihn zu übertrumpfen. Sicher war er nicht allein. Jemand muss die unglaubliche Heldentat ja bezeugen.“

Diese Äußerung brachte Felia zum Schweigen. Zweifel und Unglauben spiegelten sich in ihrem Gesicht. Endlich einmal war Tonja nicht die Einzige, die verletzt worden war. Allerdings würde die Jüngere wieder ihr die Schuld an dieser Situation geben. Ohne die hässliche Schwester wäre ja schließlich keine Mutprobe nötig – furchterregender Vater hin oder her.

Nach diesen Worten folgte die Jüngere ihr nicht weiter, und recht bald geriet sie in der Dunkelheit außer Sichtweite. Tonja war endlich allein.

Der Weg ging nun leicht aufwärts und nachdem sie eine geraume Zeit gelaufen war, fand sie die Stelle, an der der Bach aus dem Berg sprudelte. Dort setzte Tonja sich hin und tat sich selbst leid. Sie weinte darüber, dass es ihr nicht gelang, den Neid auf Felias Schönheit abzustellen. Und sie trauerte, weil sie ja wirklich an allem schuld war. Ihretwegen war der Vater besorgt. Ihretwegen hielten die Menschen es für eine Mutprobe, in den Wald zu gehen, und sie war ebenso schuld daran, dass die jüngere Schwester sich eingesperrt fühlte.

Plötzlich spürte sie einen Luftzug und blickte auf.

Nah bei ihr schwebte eine ätherische Gestalt in der Luft, deren Gewand aus vielen Schlieren bestand, die sich aus umherfließenden Wasserperlen bildeten.

„Hab keine Angst, denn ich will dir kein Leid“, sagte das Wesen mit einer hellen, sanften Stimme. „Ich bin Camena, die Nymphe, die diese Quelle bewacht. Du hast mir das Leben gerettet und ich bin dir erschienen, um meine Dankbarkeit auszudrücken.“

 

8.

Ernstes Spiel

Viktor trat zusammen mit seinem Begleiter Gunter, der im Hintergrund ein braver, unsichtbarer Zeuge der Heldentaten gewesen war, vor den Prinzen.

„Nun denn“, bemerkte Hektor und seine Unzufriedenheit war ihm dabei anzusehen, „du hast mich geschlagen. Vorerst.“

„Wie Gunter bezeugen kann“, bekräftigte Viktor und stutzte dann. „Was meinst du mit vorerst?“

„Ich sagte doch, ich werde die Blüte der schönen Tochter pflücken. Sie ist wahrlich reif dafür.“

„So willst du sie heiraten?“

„Die Tochter eines Henkers?“ Der Prinz lachte. „Das wäre nicht standesgemäß.“

Viktor missfiel das. Er selbst war der Sohn einer Frau niederen Standes, die durch die Hochzeit mit einem ehrenvollen Mann – seinem Vater – in den Adel gehoben worden war.

„Jetzt blick nicht so unzufrieden drein, Viktor“, rief Hektor. „Lass uns auf die Töchter des Henkers anstoßen und hoffen, dass unsere Hälse niemals die Bekanntschaft mit seinem scharfen Beil machen werden.“ Die Augen des Prinzen blitzten und Viktors Abneigung gegen Hektor nahm weiter zu.

„Ich trinke erst mit dir, wenn du mir versprichst, die Töchter nicht weiter zu belästigen. Bislang war es ein Schabernack, durch den kein größerer Schaden entstanden ist. Doch weiter sollte ein Mann von Ehre nicht gehen.“

In der Taverne, in der sich der Prinz mit seiner Gefolgschaft befand, wurde es still.

„Viktor von Tiefensee, Ritter der unschuldigen Fräulein?“, spottete Hektor.

„Dein Name lautet ‚von Hohenehr‘. Willst du ihn Lügen strafen?“, fragte Viktor. „Versprich, dass du dich im Weiteren den Töchtern gegenüber untadelig verhalten wirst.“

Viktor verlor zunehmend seine Achtung vor dem Prinzen, was nicht ungefährlich war. Er durfte sich keinesfalls dazu hinreißen lassen, allzu rigoros zu widersprechen. Wie der König von Weossuno zögerte auch sein Sohn nicht, Kontrahenten, die in seinen Augen unangenehm wurden und sein unberechenbares Wesen infrage stellten, aus seinem Einflussbereich zu entfernen. Viktor wusste, dass sein Vater, der Graf von Tiefensee, von ihm verlangen würde nachzugeben und den Prinzen nach seinem Gusto gewähren zu lassen. Genau das aber bereitete ihm großes Unbehagen.

„Nein“, erwiderte Hektor.

Nun hätte man eine Nadel im Raum fallen hören können. Der Prinz grinste.

„Wenn ich’s so überdenke ... Vielleicht hast du recht“, lenkte er überraschend ein.

Viktor entspannte sich. Für einen kurzen Moment hatte er sich in eine äußerst unangenehme Situation manövriert. Und dennoch, er wollte nicht, dass die jungen Frauen Schaden nahmen. Sie waren unschuldig.

„Ich sollte sie heiraten“, setzte Hektor hinzu. „Aber nur dann, wenn du der Hässlichen den Hof machst.“

Jetzt gab es verhaltenes höhnisches Gelächter.

„Was ist, Moralapostel? Ist dir der Preis zu hoch?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752114775
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Hexen Verwechslung Prinzen Märchennovelle

Autor

  • Jana Jeworreck (Autor:in)

Jana Jeworreck studierte Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt „Kreatives Schreiben“ bei Prof. Dr. Hanns-Josef Ortheil an der Universität Hildesheim. Nach ihrem Diplom arbeitete sie zunächst am Theater in Ingolstadt, München und Umgebung. 2012 erschien ihr erstes Buch, der Fantasyroman „Reise in die Mitte von Mera“, im Eigenverlag sowie das gleichnamige Hörbuch. 2017 bis 2019 folgte die Fantasytrilogie „Dreiland“ mit großem Erfolg.
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Titel: Die Töchter des Henkers