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Teuflische Pläne

von Ben Lehman (Autor:in)
155 Seiten
Reihe: München-Krimi, Band 5

Zusammenfassung

Sylvia Weber, Buchhalterin bei newlabels, einem der angesehensten Modegeschäfte Münchens, findet in der Tiefgarage eine Leiche. Offensichtlich ein Selbstmörder, der sich aufgehängt hat: ein durchtrainierter, großer Mann. Schnell jedoch stellen die Rechtsmediziner fest, dass es sich nicht um einen Selbstmord handelt, sondern um einen aufgehängten Toten. Welches Motiv steckt hinter diesem Mord? Der Tote sollte offensichtlich zur Schau gestellt werden. Aber warum? Wem sollte er eine Warnung sein? Wanninger und sein Team bekommen zusätzlich zu ihrem anderen Fall nun auch noch diesen aufs Auge gedrückt, was bei niemandem Begeisterung auslöst, denn der andere Fall ist hoffnungslos genug: ein ertrunkener Asylant, der deutliche Verletzungsspuren am Körper aufweist, die darauf hindeuten, dass er mit Absicht unter Wasser gedrückt worden war. Doch weil niemand etwas gesehen haben will und keiner Deutsch spricht, ist die K3 noch keinen Schritt weiter in ihren Ermittlungen. Und die Stimmung sinkt gänzlich gegen Null, als Kerstin Mahler, ehemals K2, Wanningers Team als Unterstützung zugewiesen wird, da keiner sie besonders mag und Thomas sowie Wanninger schon einmal Auseinandersetzungen mit ihr hatten, die sie lieber vergessen würden. In neuer personeller Besetzung geht die K3 diesen schwierigen Fall an und stößt auf eine Ungereimtheit nach der anderen. Für den Toten wurde von einer Firma eine Wohnung angemietet. Warum? Keiner kann etwas über ihn aussagen, keiner weiß, was er beruflich machte. Zusätzlich taucht auch noch ein amerikanischer Diplomat auf, der den Ermordeten in Deutschland suchte. Und als wäre das nicht genug, bleibt es nicht bei einem Toten. Wird die K3 das Puzzle zusammensetzen? Denn diesmal wird das BKA eingeschaltet, um den Fall zu übernehmen. Und ein Fallanalytiker wird der K3 auch noch vor die Nase gesetzt. Verderben zu viele Köche den Brei oder schafft es die K3 auf ihre eigene unnachahmliche Art, denn Fall zu lösen? Ein teuflischer Fall, ein Spinnennetz an Beziehungen, ein Buch, das man in einem Rutsch durchlesen muss.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum:

Texte: © Copyright by Ben Lehman
Umschlag: © Copyright by Ben Lehman
Verlag: Ben Lehman

Von-der-Tann-Straße 12
82319 Starnberg
mail@benlehman.de


Teuflische Pläne

Fünfter München-Krimi

2.

Obwohl gerade noch bester Laune, einen super Song auf den dezent geschminkten Lippen, erschrak sie kurze Zeit später wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sylvia Weber war an diesem Tag eigentlich ziemlich früh auf dem Weg zu ihrem neuen Arbeitsplatz, den sie vor wenigen Monaten mithilfe eines guten Bekannten ergattert hatte. Immer wieder lächelte sie still vor sich hin, wenn sie sich auf dem Weg zur Arbeit daran erinnerte, dass Pflügler ausgerechnet ihr davon erzählt hatte. Schließlich hätte er es auch irgendeiner anderen Bekannten sagen können. Sie war eben zur richtigen Zeit am richtigen Platz gewesen. Doch heute bahnte sich Schreckliches an, sie wusste es nur noch nicht. Wäre sie an diesem Morgen besser etwas später aufgebrochen, dann wäre ihr so manches erspart geblieben.

Eigentlich konnte sie es noch immer nicht so richtig fassen, dass sie überraschend schnell erste Buchhalterin in diesem edlen Designergeschäft mit eigenem Top-Label geworden war, auch wenn ihr ein glücklicher Zufall zu Hilfe gekommen war. Sie sah nämlich besonders ansprechend aus, besonders für Männer. Ein echt toller Aufstieg im Vergleich zu ihrer früheren Tätigkeit in der Metallbranche. Statt von Schrauben, Nägeln, Blechen, Werkzeugen und anderem toten Zeug plötzlich von den Reichen und Schönen unserer Welt umgeben zu sein, ein Traum. Was gab es Schöneres als diesen Job? Einfach zum Schwärmen. Wie die Beraterinnen und Berater aus dem Verkauf bei newlabels in der Theatinerstraße, musste auch sie, nein, durfte sie, obwohl im Büro tätig, die Kreationen aus den neuesten Modekollektionen direkt nach Produktfreigabe erwerben und auch täglich tragen. Klar, nur der wohlhabenden Kundschaft wegen, die immer die Kleidung aller Mitarbeiter kritisch beäugte. Natürlich kam jede Angestellte diesem verlockenden Angebot sehr gerne nach, man weiß ja schließlich, was man seiner Position schuldig ist. Und wie sie seitdem die Männer auf der Straße oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln, egal ob jung oder alt, anstarrten. Da machte U-Bahnfahren neuerdings wirklich Freude, völlig schnuppe wie voll die Züge waren. Sie unterschied sich einfach deutlich von anderen Frauen, die, wenig vornehm ausgedrückt, in Sack und Asche rumrennen. Dabei waren zum Glück die Einstandspreise für Mitarbeiterinnen geradezu unglaublich klein, alles fast so lächerlich niedrig wie beim Klamotten-Anton in der Neuhauser Straße. Da griffen natürlich alle Beraterinnen mit Freude zu.

Doch an diesem Morgen war bereits nach dem Aufwachen alles wie verhext gelaufen. Noch schläfrig, verpasste sie dem Wecker unabsichtlich einen Schlag. Der flog als Antwort in hohem Bogen durch das Schlafzimmer, die zwei Batterien AA segelten durch die Gegend, sie verschwanden irgendwo. Sogar die Kaffeemaschine streikte, weil die Kapsel klemmte. Dann eben nicht, im Büro gibt’s Gott sei Dank immer Kaffee der edelsten Marken. Als sie später den Marienplatz überquerte, musste sie wiederholt verschiedenen Lieferanten in ihren riesigen Fahrzeugen ausweichen, trotz Fußgängerzone. Ob die es alle schaffen würden, bis spätestens zehn Uhr verschwunden zu sein? Kaum. Die Morgensonne strahlte fast widerlich gleißend auf den Rathausturm, heute hatte sie auch noch die Sonnenbrille vergessen.

Wieso klingelte sie ausgerechnet an diesem Tag nicht am Personaleingang, wie sonst fast immer? Sie kam doch nie mit ihrem alten Polo zur Arbeit, deshalb hatte sie in der Tiefgarage sowieso nichts zu suchen. Für die unanständig hohe Monatsmiete eines Tiefgaragenstellplatzes in der Münchner Innenstadt kann man sich etliche neue Fummel anschaffen und diese später im Secondhand meistbietend verscherbeln. Einige Freundinnen mit gleicher Kleidergröße bedrängten sie oft schon im Vorfeld, wenn die neue Kollektion gerade auf den Markt kam. Der Teufel musste sie geritten haben, dass sie ausgerechnet an diesem heißen Sommertag durch die Tiefgarageneinfahrt ging, vielleicht, weil es dort unten immer so schön kühl war, im Gegensatz zu draußen.

Als sie um den dicken Stützpfeiler schlenderte, sah sie ihn. Er war an der Mauer heruntergerutscht, als die Lebensgeister sich von ihm verabschiedet hatten, bis die brutale Schlinge den schweren Körper gebremst hatte. Das Seil war oben um ein Heizungsrohr gewickelt, in kaum zwei Meter Höhe. Irgendwie automatisch überlegte Sylvia, dass es ihm bei seiner Körpergröße sicher nicht schwergefallen war, das Seil an diesem Heizungsrohr zu befestigen. Vielleicht musste er sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen. Aber wieso bringt sich jemand ausgerechnet in der Tiefgarage von newlabels um? Zuerst starrte sie sekundenlang mit angehaltenem Atem auf den zusammengesackten Körper. Sein Mund war weit geöffnet, doch von der aufgedunsenen Zunge verschlossen. Als sie erkannte, was da geschehen war, konnte sie endlich Luft holen und schrie ihren Schock voller Entsetzen heraus. Gerade kurvte der vornehme Verkaufsleiter von newlabels, Jason Kandler, mit seinem Porsche-Cabrio um die Ecke. Als er Sylvia so erledigt dastehen und schreien sah, rief er erschrocken aus dem heruntergelassenen Seitenfenster: „Sylvia! Um Gottes Willen, was fehlt dir?“

„Da!“ Sylvia deutete auf die Leiche, die Kandler aus seinem Fahrzeug wegen des Stützpfeilers noch nicht sehen konnte. Wieder mal sprang er mit einem seiner oft praktizierten, eleganten Sätze über die geschlossene Tür seines Cabrios, er sah eigentlich fast immer elegant aus, und rannte auf Sylvia zu, obwohl er üblicherweise vornehm dahinschritt, manchmal sogar dahinschwebte. In dem Augenblick, als er um den dicken Stützpfeiler trat, sah auch er ihn hängen und wurde leichenblass. Alle wussten, dass Jason Kandler äußerst zart besaitet war. Er hatte bisher garantiert noch nie eine Leiche so hautnah gesehen.

„Mein Gott! Sylvia, los, komm, wir müssen …“

Er packte sie am Arm und zog sie hinter sich her zum Lift. Zittrig und blass fingerte er mit der anderen Hand an seinem Mobiltelefon herum. Aber es ging nichts. Oben angekommen, riss er die Tür auf. „Jetzt! Endlich ein Netz.“ Er wählte die 110 und schrie sein Entsetzen in das Mikro. Dann dauerte es nur kurze Zeit, bis der erste Streifenwagen vor dem inzwischen geöffneten Haupteingang in der Theatinerstraße quietschend bremste. Vier Beamte rissen die Türen auf und preschten zum Eingang. Kandler, noch immer leichenblass, hielt sie auf. „Los …, da! Kommen Sie!“ Er deutete Richtung Lift und begleitete die Beamten zitternd zur Tiefgarage. Inzwischen hatten sich etliche morgendliche Fußgänger versammelt. Neugierig waren sie stehen geblieben und reckten die Hälse. „Was ist denn da los?“, wollte einer wissen, doch niemand beachtete ihn.

Unschlüssig umkreisten die Polizisten den Leichnam. „Der ist tot“, bemerkte einer ziemlich überflüssig.

Ein zweiter nickte. „Eben. Sollen wir ihn …?“

Der Dritte schüttelte den Kopf. „Dürfen wir nicht anfassen. Du weißt doch …“

Der Vierte griff entschlossen zum Telefon und verschwand umgehend nach oben, um eine Verbindung herstellen zu können.

Wenig später tauchten die Rechtsmediziner der Mordkommission, Dr. Jablonka und Dr. Gerstenkron, auf.

„Wieder so ein armer Teufel, der nicht mehr weiter wusste.“ Jablonka schüttelte traurig den Kopf. „Und das im angeblich so reichen Deutschland. Diese idiotischen Statistiken. Dann lassen Sie uns mal an die Arbeit gehen, Alex.“ Alexander Gerstenkron zog gerade die dünnen Latexhandschuhe über, danach öffnete er den Einsatzkoffer. „Leichenstarre ist noch nicht abgeklungen“, murmelte er und betrachtete die Leiche sorgfältig von oben bis unten. „Keine sichtbaren Verletzungen, keine Hämatome, keine Abschürfungen.“

Jablonka nickte. „Ist auch meine Meinung. Viel können wir während der Leichenstarre sowieso nicht tun. Dann wollen wir mal die Details aufnehmen …, da kommt gerade der Fotograf, der darf zuerst ran, anschließend hauen wir wieder ab und lassen ihn uns später auf den Tisch legen.“

„Ich untersuch ihn noch nach irgendwelchen Verletzungen“, entgegnete Gerstenkron.

„Gut, Alex, ich rufe inzwischen unseren Boss, Dr. Dobler, an. Vielleicht sollte er vorsichtshalber ein paar Leute von der Spusi herschicken.“

„Trotz des Selbstmords?“, wunderte sich Gerstenkron.

„Ja, warum nicht? Ist sicher besser. Soll er entscheiden.“ Er hatte bereits sein Mobiltelefon in der Hand und schimpfte, wie die anderen vorher: „Kein Netz. Alex, ich geh mal raus auf die Straße!“

Der Referatsleiter Dr. Dobler, Chef der Mordkommission München, war sofort am Telefon. „Jablonka hier, Morg´n Chef. Wir haben hier eine Leiche, hat sich in der Tiefgarage des Klamottenladens newlabels in der Theatinerstraße erhängt. Armer Teufel. Vielleicht sollten Sie vorsichtshalber jemanden herschicken. Die Streifenpolizisten sind doch mit so was überfordert.“

„Okay, mach ich, Jablonka“, antwortete Dobler und legte auf.

3.

Hauptkommissar Josef Wanninger, Chef der meist erfolgreichen Abteilung K3 der Mordkommission München, fluchte ärgerlich: „Das hätte der Dobler uns wirklich ersparen können. Manchmal meine ich, dass es ihm Freude bereitet, uns dauernd rum zu hetzen.“

Wanninger war zwar der heimliche Star unter den Ermittlern der Mordkommission, wollte darauf jedoch nicht angesprochen werden. Vom Wesen ziemlich kauzig, Kolleginnen und Kollegen der Kripo hatten sich daran längst gewöhnt, arbeitete er bei seinen oft schwierigen Fällen immer sorgfältig, bedacht und normalerweise erfolgreich. Manch aussichtslose Fälle hatte er, Doblers Meinung nach, erst nach oft viel zu langer Zeit gelöst. Darüber gab es nicht selten überflüssige Diskussionen. Doch so blieb der Weg dieser Akten in die Ablage der offenen Fälle erspart. Die Leitung der Kripo gab ihre Zufriedenheit mit Wanningers Arbeit ungern zu und drückte jedes Mal auf noch mehr Tempo, Chefs sind oft so. Doch Wanninger war Perfektionist und ging seinen Weg, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Mit seinen Kollegen, Thomas Huber und Florian Moser, war er ein eingespieltes Team. Eine weitere Kollegin, Lena Paulsen, mussten sie vor einiger Zeit in grenzenloser Trauer zu Grabe tragen. Lena war die ideale Ergänzung der kleinen Gruppe gewesen. Mit ihrer Klugheit, ihrem Scharfsinn und ihrer Freundlichkeit hatte sie manchen Irrweg erkannt und nicht selten zur Lösung schwieriger Fälle beigetragen. Die drei Männer glaubten lange Zeit, diesen Verlust nicht verkraften zu können. Selbst Wanninger, der manch schwierige Zeit erlebt hatte, war wochenlang geneigt, seine berufliche Laufbahn an den Nagel zu hängen und seinen gewiss verdienten Vorruhestand zu beantragen. Nie zuvor war ein K3-Mitarbeiter im Dienst ermordet worden, Lena war damals die Erste. Auf Dr. Doblers Drängen hatte sich Wanninger schließlich überreden lassen, seine Tätigkeit fortzusetzen, oft mit traurigem Blick. Er war seitdem nicht mehr so ganz der Alte. Dobler erreichte schließlich sogar, dass eine junge Polizistin, die gerade ihre Polizeischule beendet hatte, vorübergehend im K3-Team zur Einarbeitung aufgenommen wurde. Simone Boese war zwar eine sympathische und engagierte junge Frau, doch definitiv kein richtiger Ersatz für die ermordete Lena Paulsen. Wanninger hatte von Dr. Dobler verlangt, dass die Tätigkeit von Simone Boese vorübergehend ist und bleibt, Dobler hatte es versprochen. Um die entstandene Lücke von Lena Paulsen zu schließen, war Wanninger zusätzlich ein weiterer Kollege aus dem Ermittlerteam K7, Max Grundmann, den alle ganz gut leiden mochten, zugeteilt worden. Trotzdem war die Gruppe aufgrund weiter steigender Belastung nach wie vor unterbesetzt.

„Reg dich nicht auf, Sepp“, reagierte Thomas auf Wanningers Schimpfen, „dann haben wir dem Dobler mal einen kleinen Gefallen erwiesen. Vielleicht sind alle anderen Kollegen tatsächlich gerade voll im Einsatz. Nun haben wir bei ihm was gut. Sind doch nur ein paar Stunden Arbeit.“

„Was soll das?“, schimpfte Wanninger, „Wir haben zehn Ermittlerteams …“

„Zwölf“, korrigierte Thomas.

„Noch schlimmer, immer schickt er uns so blöde Fälle. Mit dem Badeunfall kommen wir auch keinen Schritt weiter. Das war doch garantiert kein Unfall. Irgendeiner seiner Asylantenkumpels hat ihn wahrscheinlich unter Wasser gedrückt. Die lösen doch Streitereien auf ihre Weise. Die Hämatome am Körper des Toten sprechen eine deutliche Sprache. Und dauernd müssen wieder andere Dolmetscher her. Diese Kerle kommen doch alle von Gott weiß woher und sprechen irgendein Kauderwelsch.“

Florian mischte sich ein und versuchte Wanninger zu beruhigen. „Ich meine auch, dass wir die paar Stunden Einsatz wegen des Selbstmords nicht auf die Goldwaage legen sollten. Ich bin derselben Meinung wie Thomas, wir haben bei Dobler jetzt was gut. Das sollten wir uns besser aufheben. Wenn du ihn jetzt anpfeifst, Sepp, verpufft das alles.“

Wanninger stutzte kurz, dann äußerte er. „Na gut, aber beim nächsten Mal …“ Er hob bedeutungsvoll die Augenbrauen, dann winkte er ab.

Gerade öffnete der Rechtsmediziner Dr. Jablonka die Tür und trat ein. „Hallo, Freunde“, grinste er und ging direkt auf Wanninger zu.

„Dann weiß ich schon Bescheid“, knurrte Wanninger. „Wenn du uns Freunde nennst, bedeutet das garantiert nichts Gutes.“

„Sei doch nicht immer so misstrauisch, Sepp, wir sind doch Freude, oder nicht?“ Jablonka ließ sich seine gute Laune, die ihn immer auszeichnete, nicht verderben. Damit verdrängte er die oft brutalen Aufgaben seines schwer nachvollziehbaren Jobs als Rechtsmediziner. „Ich wollte euch einfach mal wiedersehen.“

„Dann rück schon raus, Heini!“

„Gibt’s bei euch keinen Kaffee?“

„Könnte ich machen“, reagierte Simone Boese.

„Nichts da!“, brummte Wanninger grimmig, „Sie werten die Aussagen auf Ihrem Schreibtisch aus. Heini, was gibt’s?“

„Wenn du heute so eine Stinklaune hast, dann bitte! Ich hau besser gleich wieder ab. Ich wollte euch nur einladen, einen Blick auf den Erhängten zu werfen. Alex hat ihn gerade in der Mache.“

„Na also, dacht ich´s mir doch. Ein Erhängter, kein Selbstmörder“, grinste Wanninger nun süffisant, „kenn ich dich, oder kenn ich dich nicht, Heini? Wieso kommst du sofort wieder zu uns? Lass Dobler erst entscheiden.“

„Hat er schon, jawohl, Sepp, hat er schon. Alles bereits erledigt. Begleitet mich einfach, ihr könnt bei uns eine Tasse Kaffee trinken. Unsere neue Kollegin Susanne macht das gerne für euch.“

Wanninger stand mühsam auf, er spürte seine kürzlich durchgeführte Hüftoperation noch immer deutlich, besonders, wenn er zuvor längere Zeit gesessen hatte, und knurrte: „Ich trink doch im Leichenhaus keinen Kaffee.“

„Mein Gott, seit wann bist du dermaßen überempfindlich?“

„Ich dachte, du kennst mich.“

„Gut, dann vielleicht die Kollegen?“

Bevor Jablonka in der Rechtsmedizin die Tür öffnete, hörten sie bereits laute Jazzmusik.

„Bei euch geht’s aber lustig zu“, wunderte sich Thomas Huber.

Jablonka grinste. „Alex hat sich inzwischen prima eingearbeitet. Er behauptet, dass ihm bei Jazzmusik alles viel leichter von der Hand geht.“

„Mit alles meinst du wahrscheinlich eure schreckliche kleine Kreissäge?“, vermutete Wanninger.

„So schrecklich ist die gar nicht. Ist eins unserer wichtigsten Hilfsmittel. Und Alex beherrscht sie wirklich ganz ausgezeichnet. Stellen Sie den Lärm ab, Alex!“ Jablonka deutete auf den CD-Player, der auf dem Fensterbrett stand.

Gerstenkron drückte die Stopptaste. „Vier Gäste, welche Ehre.“

„Keine Ehre“, murrte Wanninger. „Der bestand darauf“, dabei deutete er auf Jablonka.

Simone starrte seit einiger Zeit auf den Blechtisch, auf dem die inzwischen geöffnete Leiche aus der Tiefgarage lag und krächzte: „Alex, wieso schneidest du einen Selbstmörder auf?“

Gerstenkron grinste überlegen. „Verstehe, du hast so was vielleicht noch nie gesehen?“

Simone schüttelte den Kopf und wurde immer blasser.

„Bevor wir Selbstmord diagnostizieren“, erläuterte Gerstenkron, „müssen wir immer hundertprozentig sicher sein, dass es einer war. Sonst gibt’s Ärger mit dem Boss.“

„Und? Seid ihr sicher?“

„Eben nicht.“

Wanninger hatte sie beobachtet. „Simone, möchten Sie lieber wieder rausgehen? Nicht, dass Sie uns hier noch umkippen.“

„Nein, nein, geht schon.“

„Wieso seid ihr nicht sicher?“, wollte Thomas wissen.

Gerstenkron grinste hinterhältig. „Nun ja.“ Er konnte sich trotz seiner ziemlich blutrünstigen Arbeit nicht beherrschen und lachte laut los. „Weil wir es noch nie erlebt haben, dass sich einer das Genick bricht und anschließend Selbstmord begeht.“

„Sag bloß!“, erschrak Florian.

„Es gibt keinen Zweifel, er ist an Genickbruch gestorben. Nun könnt ihr euch mal darüber Gedanken machen, wie er danach in der Tiefgarage an den Haken gekommen ist.“

„Und warum er ausgerechnet dort aufgehängt wurde“, ergänzte Thomas.

„Natürlich. Aber ihr seid die Ermittler. Wir liefern euch nur das Material.“

Thomas trat dicht an den Blechtisch heran und murmelte: „Alt ist der noch nicht.“

„Richtig“, bestätigte Alex. „Ich schätze, dass er so zwischen 30 und 40 Jahre alt ist. Wir werden ihn noch genauer untersuchen. Aber da ist noch was Auffälliges.“

„Und zwar?“, wollte Simone wissen, die inzwischen dicht an der Leiche stand, sie hatte sich wieder im Griff.

„Schaut ihn euch mal genauer an. Dieser Mann hat einen durch und durch trainierten Körper. Ich würde sagen, ein richtig sportlicher Typ, fast ein Athlet.“

„Was sollen wir daraus schließen?“ Simones Farbe wechselte inzwischen zu leuchtendem Rot.

„Keine Ahnung. Ich wollte euch nur darauf aufmerksam machen. So einem sportlichen Typ brichst du nicht einfach mal das Genick. Ausgenommen, er wurde von einem Gleichstarken überrascht.“

„Hm …“, überlegte Thomas. „Als er gefunden wurde, hatte er abgetragene, ärmliche Kleidung an. Wie passt das zusammen?“

Alex grinste. „Sportlich heißt nicht gleich reich. Dann macht euch mal verschiedene Gedanken!“

„Wie sieht es mit Spuren aus?“

„Jede Menge, die Frage ist nur, von wem?“

„Hattest du behauptest, dass Dobler uns den Fall zuschanzen will, oder war das ein Hörfehler?“, wandte sich Wanninger an Jablonka.

„Kein Hörfehler. Hat er ganz sicher gesagt“, nickte der.

„Wir werden ja sehen“, murrte Wanninger.

Kaum zurück in ihrem Büro, trat Dr. Dobler bereits ein, anscheinend sehr guter Laune. „Hallo zusammen! Ich grüße euch.“

„Sie können gleich zur Sache kommen, Chef“, entgegnete Wanninger mit eisiger Miene. „Wir kommen soeben aus der Rechtsmedizin.“

„Auch gut“, entgegnete er. „Ich wollte Sie eigentlich schonend darauf vorbereiten. Dann eben nicht. Herr Wanninger, ich kann nicht anders, K3 muss den Fall übernehmen. Die personelle Situation möchte ich mit Ihnen jetzt gerne besprechen.“

Wanninger schluckte kurz. „Wenn ich das richtig verstanden habe, hat sich unser Max Grundmann schwerer verletzt, als ursprünglich geglaubt, und wird leider längere Zeit ausfallen. Ich denke, das können wir ohne ihn wirklich nicht schaffen.“

„Habe ich mir auch überlegt“, erklärte Dobler. „Ich verspreche es Ihnen, lieber Herr Wanninger, morgen haben Sie Ersatz. Bitte enttäuschen Sie mich nicht, bitte.“ Er wartete eine Sekunde, als keine Reaktion folgte, fuhr er fort. „Gut, dann ist das jetzt ausgemacht. Ich muss wieder, also bis dann.“

Lange blickten sie auf die geschlossene Tür.

Wanninger fauchte vor sich hin.

„Der war aber schnell weg“, murmelte Simone.

Thomas fixierte Wanninger, dann kicherte er: „Dem hast du es aber gesagt.“

Wanninger bekam einen roten Kopf und zog ihn ein. Doch er antwortete nicht.

Am nächsten Morgen erschien der angekündigte personelle Ersatz für Max Grundmann. Die Tür wurde aufgestoßen, hereinkam, mit einer Tasche voll diverser Utensilien, die Kollegin Kerstin Mahler, bisher K2.

„Guten Morgen zusammen“, lächelte sie. „Herr Dobler hat mich gebeten, bei Ihnen auszuhelfen, Herr Wanninger, bis Kollege Grundmann wieder genesen ist.“

Wanninger und Thomas erschraken sichtlich.

„Äääh …, wusste gar nicht …“, stotterte Wanninger. Schließlich gab er sich einen Ruck. „Guten Morgen, Frau Mahler, bitte nehmen Sie dort Platz.“ Er deutete auf Max Grundmanns Schreibtisch.

„Danke, ich hol noch schnell meine restlichen Unterlagen.“

Als Frau Mahler die Bürotür geschlossen hatte, schimpfte Thomas los: „Mit der will ich garantiert nichts zu tun haben, sag ich dir gleich. Die hat mich mal dermaßen blöd angequatscht, dass ich ihr am liebsten eine runtergehauen hätte.“

Wanninger zögerte erst, dann murmelte er: „Kann ich verstehen, mir geht es nicht viel besser. Aber ich kann sie nicht ablehnen, weil wir das alles allein nicht schaffen werden. Wie sollte ich Dobler klarmachen, dass wir sie nicht leiden können?“

„Na gut. Mein Vorschlag wäre“, entgegnete Thomas blitzschnell, weil er mit dieser Antwort gerechnet hatte, „dass wir zwei Teams bilden. Das müssen wir sowieso. Florian ermittelt mit der Mahler und ich mit Simone.“

„Ja freilich“, regte sich Florian auf. „Du schnappst dir die schöne Frau und mir bleibt die Giftspritze. Warum nicht umgekehrt?“

Thomas sprang mit hochrotem Kopf hoch. „Wenn du mir das antust, Sepp, kündige ich zum nächsten Termin. Und das ist mein voller Ernst.“

Wanninger stöhnte. „Florian, können wir das nicht vorübergehend so vereinbaren, bis Max wieder gesund ist. Thomas dreht ja jetzt schon fast durch.“

Florian stierte auf seine Schreibtischplatte. „Vielleicht kündige ich auch.“

„Ach komm, Florian, mach es mir nicht so schwer“, entgegnete Wanninger. „Ich verspreche dir, dass es nur vorübergehend sein wird.“

4.

Am nächsten Tag besprach Wanninger mit den Kollegen dieses Vorgehen. „Frau Mahler, wir müssen zwei Ermittlerteams bilden, Dr. Dobler hat uns einen weiteren Fall aufs Auge gedrückt.“

„Hab ich bereits vernommen“, entgegnete sie.

„Ich habe mir gedacht, dass Sie mit Florian zusammenarbeiten und Thomas mit Simone. Die ist bei uns zwar noch recht neu, aber irgendwie muss sie gerade jetzt noch mehr in die Tagesarbeit eingebunden werden. Vielleicht sind Sie mit dieser Lösung einverstanden?“

„Bin ich, Herr Wanninger“, lächelte sie. „Thomas und ich vertragen uns vielleicht irgendwann auch mal wieder, oder, Thomas?“

Thomas nickte fast unmerklich, wobei er Frau Mahlers Blick auswich.

„Dann wäre das beschlossen“, ergänzte Wanninger zufrieden. „Frau Mahler und Florian übernehmen bitte den Fall des ertrunkenen Asylanten. Alle Zeugen müssen noch einmal eingehend vernommen werden. Bitte seid nicht zu tolerant. Ich bin mir sicher, dass die sehr viel mehr wissen, als sie freiwillig rausrücken. Lasst euch nicht auf der Nase rumtanzen. Nehmt auch die Übersetzer ordentlich ran, die Asylanten sprechen doch tausend verschiedene Dialekte.“

„Darauf freu ich mich heute schon“, brummte Florian mit ärgerlichem Gesichtsausdruck.

„Gut“, nickte Wanninger, ohne auf Florians Bemerkung einzugehen. „Thomas und Simone kümmern sich um den Erhängten aus der Tiefgarage. Holt euch von der KTU den Bericht, Spuren und so weiter, von der Rechtsmedizin deren Bericht und dann geht’s los.“

„Und was machst du?“, wollte Florian wissen.

„Als Erstes bespreche ich unser Vorgehen mit Dobler, dann mit Jablonka, dann mit dem Chef der zuständigen KTU-Gruppe, die die Untersuchung durchgeführt hat. Anschließend stehe ich dort zur Verfügung, wo es am meisten brennt.“

Florian und Frau Mahler brüteten über den Akten des ertrunkenen Asylanten.

„Ehrlich gesagt“, meinte Frau Mahler, „kann ich mir nicht vorstellen, wie wir den Fall lösen können. Wir haben keinen einzigen Zeugen, der eine vernünftige Aussage macht.“

„Leider“, bestätigte Florian. „Ich schlage vor, dass wir die Übersetzer anrufen und für morgen Vormittag eine weitere Vernehmung ansetzen. Die sollen die Kerle mitbringen, wir wissen doch nicht einmal, wo sie zurzeit untergebracht sind. Wir müssen deutlich machen, dass wir von ihnen absolute Ehrlichkeit erwarten. Vielleicht sollten wir auch die Möglichkeit einer Abschiebung erwähnen, könnte doch sein, dass einer weiche Knie bekommt.“

„Welchen Ermittlungsrichter bitten wir um Teilnahme?“

„Ääähm, ich arbeite oft mit Richter Meier zusammen.“

„Gut, ich rede mit ihm.“

Am nächsten Morgen warteten Florian, Frau Mahler und Richter Meier im Anhörungsraum 1. Kurze Zeit später erschienen die Übersetzer Rami Oberdorn und Resul Jussuf. Sie hatten fünf Asylanten im Schlepptau und stellten sie vor, vier Männer und eine Frau, die angeblich mit dem Opfer bekannt oder sogar befreundet gewesen waren.

„Das Ehepaar Lumbuba“, Übersetzer Oberdorn deutete auf die beiden Schwarzafrikaner, der Mann mit einer Frisur aus vielen Zöpfchen, sie kahlgeschoren, „kommt aus Eritrea, er heißt Haile, seine Frau Makeda.“

„Dann darf ich die drei Herren arabischer Herkunft vorstellen“, sagte der zweite Übersetzer Resul Jussuf in leicht versnobten Ton. „Die Herren aus Syrien“, er deutete auf die beiden links sitzenden, bärtigen Männer, „sind Hussein Jaffa und Sharif Ben Gossera. Jener Herr“, er deutete auf den dritten, „kommt aus Afghanistan, sein Name ist Fath Modis.“

Richter Meier eröffnete die Anhörung. „Ist wahrscheinlich alles bekannt, ich wiederhole es noch einmal. Also, laut den Ermittlungsunterlagen waren etliche Männer gemeinsam am Wochenende am Langwieder See, um Alkohol zu trinken und sich zu erholen.“ Er hob kurz die Augen und kräuselte die Stirn, die beiden Übersetzer nickten zustimmend. „Der Ertrunkene, um den es heute geht, war ein Mann aus Syrien, namens Mohammad al Said. Er wollte angeblich im See schwimmen gehen und ist dabei zu Tode gekommen. KTU und Rechtsmedizin fanden heraus, dass Spuren darauf hindeuten, dass er unter Wasser gedrückt worden ist. Da die hier anwesenden Personen zu dieser Zeit zugegen waren, soll herausgefunden werden, was tatsächlich geschehen ist. Die beiden Beamten der Mordkommission, Frau Mahler und Herr Moser, werden die Befragung durchführen. Bitte!“

„Ich würde vorschlagen“, meldete sich Frau Mahler, „dass wir die Gruppen getrennt vernehmen. Ich könnte mit dem arabisch sprechenden Übersetzer Herrn Jussuf und den Männern aus Syrien und Afghanistan in den Nebenraum gehen. Was halten Sie davon, Herr Meier?“

„Sehr guter Vorschlag, dann gibt es weniger Sprachen. Danke Frau Mahler.“

Sie stand auf und verließ mit den vier Männern den Raum.

„Herr …“, Florian schaute auf seinen Block, „Herr Rami Oberdorn …, versteht das Ehepaar …“, wieder prüfte er, „das Ehepaar Lumbuba ein wenig Deutsch oder Englisch?“

„Wenig“, wollte er antworten, doch der Mann aus Eritrea unterbrach, „gut Deutsch lernen, gut Englisch talken.“ Dabei nickte er heftig.

„Ja, ja“, winkte Oberdorn ab.

„Ich hätte gerne eine Schilderung von jenem Zusammensein, das mit dem Tod des Mohammad al Said endete.“

Oberdorn übersetzte dem Ehepaar Lumbuba Mosers Frage. Es entstand eine längere Diskussion, die immer heftiger wurde. Schließlich beendete Richter Meier die Auseinandersetzung. „Also, was ist so schwierig an dieser einfachen Frage, Herr Oberdorn?“

„Nix Frage“, rief jedoch Lumbuba, „nix wissen …“

„Herr Oberdorn!“, pfiff Meier diesen an.

Oberdorn antwortete: „Er behauptet, nichts zu wissen. Mohammad sei nicht sein Freund gewesen.“

„Darum geht es noch nicht“, rief Meier genervt. „Er soll schildern, was er gesehen hat.“

„Nix sehen, nix Freund, looking schön Frau.“ Dabei deutete er auf seine Frau, die fette Makeda, die eindrucksvoll nickte und ihn am Hals tätschelte.

„Herr Oberdorn.“ Meier war jetzt äußerst nervös. „Ich will wissen, was er und seine Frau gesehen haben, sonst gar nichts.“

Florian mischte sich ein: „Sagen Sie dem Mann, dass er in Deutschland zu Ehrlichkeit verpflichtet ist, andernfalls kann Haft, auch umgehende Abschiebung drohen.“

Oberdorn übersetzte, daraufhin folgte ein wirres Kauderwelsch, das nicht enden wollte.

„Das hätten Sie besser nicht angedeutet“, knurrte Meier.

„Die sagen doch sonst nichts“, zischte Florian zurück.

Nach längerer, immer lauterer Diskussion sprang schließlich der Farbige hoch und rief mit enormer Lautstärke in hoher Fistelstimme Meier zu: „Nix du abschieben, du nix wissen von Eritrea. Banditen, alle. Du gar nix verstehen, alles Mörder, wir beide gut Bürger, schön Makeda und ich und …“

„Ruuuheee!“, brüllte Meier aus Leibeskräften. „Oberdorn, erklären Sie dem Kerl, dass hier eine richterliche Anhörung stattfindet. Wenn er sich nicht sofort mäßigt, schicke ich beide auf der Stelle in Arrest.“

Oberdorn schoss daraufhin blitzschnell hoch, drückte Lumbuba auf seinen Stuhl und redete dabei auf ihn ein. Lumbuba starrte mit weit aufgerissenen, weiß blitzenden Augen, sichtlich entsetzt und ängstlich zu Richter Meier und diskutierte danach wieder lang und breit mit Oberdorn, dann mit seiner Frau, jedoch deutlich leiser. Nach einiger Zeit bedeutete Oberdorn ihm, zu schweigen, und erklärte ruhig: „Herr Lumbuba behauptet, gar nichts zu wissen und nichts gesehen zu haben. Er hätte sich nur um seine liebe Frau gekümmert und habe mit keinem Blick gesehen, was währenddessen im Wasser geschehen ist. Im Übrigen kenne er jenen Mohammad fast gar nicht und könne sich auch nicht vorstellen, wieso er ertrunken ist. Er wisse also auf keinen Fall das Geringste, doch die anderen, im Nebenraum anwesenden Männer seien alles Freunde gewesen.“

Danach nickte er Lumbuba wohlwollend zu. Der riss noch immer die Augen weit auf, umarmte seine dicke Frau, wobei er nur den halben Umfang schaffte, und murmelte: „Nix wissen, nix kennen Mohammad. Frau auch nix kennen.“

Richter Meier stöhnte und sagte leise zu Florian: „Und jetzt?“

Florian antwortete ebenso leise: „Keine Ahnung. Entweder er lügt wie gedruckt, oder er hat wirklich nichts gesehen. Wir werden es ihm nicht nachweisen können.“

Daraufhin flüsterte Meier Florian zu: „Ich denke eher, dass er lügt. Sie bleiben noch hier und befragen die beiden weiter, ich gehe inzwischen zu Frau Mahler, vielleicht war sie erfolgreicher.“

Meier stand auf und verließ den Raum.

„Wohin geht er?“, wollte Oberdorn wissen.

Florian lächelte süffisant. „Herr Meier wird herausfinden, ob Herr Lumbuba die Wahrheit gesagt hat. Oberdorn übersetzte, Lumbuba wurde deutlich stiller.

Als Meier die Tür zum Nebenraum öffnete, war dort ebenfalls gerade eine heiße Diskussion im Gange. Frau Mahler zog die Augenbrauen demonstrativ hoch, als sie Meier erblickte.

„Wie ist der Stand?“ Meier musste fast brüllen, damit Frau Mahler ihn verstehen konnte.

„Sie sehen es ja“, rief sie zurück.

„Ruhe jetzt!“, donnerte Meier, schlagartig zuckten die drei Männer zusammen. „Herr …“, er blickte kurz auf seinen Notizblock, „Herr Jussuf, was geht hier vor?“

„Wir versuchen gerade herauszufinden, wer von den drei Herren etwas gesehen hat.“

„Und? Wer hat was gesehen?“

„Das ist es ja“, erwiderte Jussuf. „Herr Jaffa erklärte gerade, dass er Mohammad sehr gut kannte, sie waren sogar befreundet. Er schwört jedoch, dass Mohammad gewiss nicht unter Wasser gedrückt worden sei. Die Polizei muss sich geirrt haben. Mohammad hätte kurz zuvor seinen Freunden erklärt, dass er jetzt schwimmen gehen wolle. Er habe gesagt, es seien so viele Menschen, die im See schwimmen, dann will er das ebenfalls machen.“

„Heißt das, er konnte schwimmen?“, wollte Meier wissen.

„Weiß ich nicht. Er hätte jedenfalls gesagt, wenn das alle können, könne er es auch. Er habe die gleichen Rechte wie die Deutschen, deshalb wolle er unbedingt schwimmen gehen.“

„Und was sagen die beiden Männer aus Syrien?“

„Sie haben keine Ahnung und hätten Mohammad eigentlich kaum gekannt.“

„Was machen wir jetzt?“, raunte Meier Frau Mahler zu.

„Auf keinen Fall das Gesicht verlieren“, flüsterte sie zurück.

Meier nickte und erklärte dann laut und deutlich: „Herr … Jussuf, bitte sagen sie den drei Männern, dass sie sich zu unserer Verfügung halten müssen. Wir werden morgen weitere Zeugen vernehmen und sie dann noch einmal vorladen.“

„Welche Zeugen?“, wunderte sich Jussuf.

„Darüber möchte ich jetzt nicht reden …, ist noch vertraulich“, antwortete Meier und verabschiedete die vier Männer ziemlich schnell. Dasselbe erklärte er im Nachbarzimmer Oberdorn, dort verließ die kleine Gruppe ebenfalls den Raum. Lumbuba konnte sein zufriedenes Grinsen nur schwer unterdrücken.

Als Meier mit Florian und Frau Mahler allein war, atmete Meier sehr tief aus und sagte dann: „Sie sehen mich erledigt wie selten zuvor. Wir sind nicht einen Schritt weitergekommen. Ihr wisst, wie viele Flüchtlinge wir in den nächsten Monaten oder Jahren noch zu erwarten haben. Mir wird heute schon ganz schlecht, wenn ich an die Befragungen bei leichten oder schwereren Delikten denke. Die werden uns alle auslachen und garantiert nichts gesehen oder gehört haben und überhaupt nicht verstehen, was wir von ihnen wollen. Wir leben ganz einfach in einem anderen Kulturkreis. In ihren Ländern wird nicht lange gefackelt, eine kurze Anhörung und dann …“ Er machte eine eindeutige Geste. „Dass es bei uns viel gesitteter zugeht, haben sie alle längst erkannt. Ihr habt gesehen, wie Lumbuba hämisch gegrinst hat, als er gehen durfte. Vielleicht war er es. Macht‘s gut, auf Wiedersehen.“

Meier verließ hängenden Kopfes den Raum.

„Herr Wanninger wird sich freuen, wenn wir ihm von der Anhörung berichten“, murmelte Frau Mahler.

„Der kann ganz schön ausrasten, das kann ich Ihnen sagen.“

„Wir können auch du sagen“, entgegnete Frau Mahler, „ich bin die Kerstin.“

„Okay, Florian“, nickte Moser leicht irritiert.

„Du weißt wahrscheinlich, dass ich mit Thomas mal ein Problem hatte“, erwiderte Kerstin Mahler. „Hab schon gesehen, wie er die Stirn runzelte, als ich gestern hereinkam.“

„Der fängt sich schon wieder.“

„Würde mich freuen. Ich kann es dir ja kurz erzählen, damit du von mir kein falsches Bild bekommst. Liegt schon Jahre zurück. Er hatte mal ein Problem mit einer Freundin, ausgerechnet in einem Tanzlokal, in dem ich zufällig ebenfalls zu Gast war, mit meinem damaligen Mann. Thomas und ich kannten uns damals noch nicht. Er ist plötzlich total ausgerastet, hat ihr vor allen Gästen eine Szene gemacht und ihr dann eine runtergehauen. Ich bin dazwischen gegangen, um sie zu beschützen. Daraufhin ging er auf mich los. In letzter Sekunde konnte ich meinen Ausweis zücken und ihm unter die Nase halten. Er drehte sich um und verließ das Lokal. Du wirst es nicht glauben, aber am nächsten Morgen begegneten wir uns zufällig am Eingang des Präsidiums. Ich glaube, wir haben beide gleich bescheuert aus der Wäsche geguckt.“

Florian gackerte: „Ich kann mir Thomas in der Situation gut vorstellen. Hat er irgendwas gesagt?“

„Wenig. Er sagte nur ‚Ach, Sie‘, aber es war mehr ein Brummen.“

Florian dachte, dass das jetzt eine gute Gelegenheit wäre. „Wanninger ist auf dich auch nicht gut zu sprechen.“

„Ach ja, der Wanninger.“ Kerstin lächelte sanft. „Ich glaube, der ist schwer in Ordnung. Wir waren mal beide nicht so gut drauf. Es ging um einen Mordfall, den wir gemeinsam lösen sollten. Wir waren bis zu diesem Zeitpunkt noch völlig erfolglos. Wanninger nimmt sich so was immer sehr zu Herzen. Er wollte, dass ich abends nach fünf Uhr noch eine wichtige Untersuchung abschließe. Ich hatte aber keine Zeit mehr, musste meine Kinder vom Kindergarten abholen. Ich war damals bereits alleinerziehend und unsere Kindergärten verstehen keinen Spaß, wenn du die Kinder nicht sehr pünktlich abholst.“

„Ja, und?“

„Wie gesagt, Wanninger war an dem Tag nicht gut drauf. Er schimpfte, dass die jungen Frauen heutzutage alle sofort ein paar Kinder in die Welt setzen müssen und dann ihre Männer zum Teufel jagen. Dann gab ein Wort das andere und Wanninger ist zuletzt explodiert. Ich habe das bei ihm später nie wieder so extrem erlebt. Seitdem sind wir uns immer aus dem Weg gegangen.“

„Wie lange ist das her?“, wollte Florian wissen.

„Ach, schon mehr als fünf Jahre, viel mehr.“

„Das könnte man doch auch mal ausräumen, oder nicht?“

„Gerne. Würdest du mir helfen?“

„Ääähm …“

„Okay, hab schon verstanden.“

„Ja, ja, doch. Wirklich!“

5.

Wanninger bat seine Mitarbeiter zur Besprechung.

„Wir könnten zuerst berichten“, schlug Florian vor, „bei uns geht es dieses Mal schnell.“

Wanninger stutzte kurz, er schaute von einem zum anderen und sagte dann: „Na gut, wie du meinst. Was habt ihr in der Angelegenheit des ertränkten Mannes aus Eritrea erreicht?“

Florian erklärte: „Nicht aus Eritrea, Chef, der Mann mit Namen Mohammad al Said stammte aus Syrien.“

„Ist doch egal“, winkte Wanninger ab.

„Also gut, ich möchte nicht lange herumreden. Wir hatten zwei Übersetzer sowie zwei Syrer, einen Afghanen und ein Ehepaar aus Eritrea. Angeblich waren es Freunde des laut Gerichtsmedizin ermordeten Mannes. Ich und Kerstin …“ Er deutete auf Frau Mahler.

„Aha, die Kerstin“, murmelte Thomas und verzog das Gesicht. Er fing sich einen scharfen Blick von Wanninger ein.

„Also, da gab es einen Vorschlag des Haftrichters Meier, dass …“

„Es war mein Vorschlag“, warf Kerstin Mahler ein.

„Wanninger wurde zum zweiten Mal ungeduldig, es war ihm deutlich anzusehen. Doch er äußerte sich wieder nicht.

„Kerstin schlug also vor, dass wir getrennt vernehmen. Sie, der Übersetzer für Arabisch, die beiden Syrer und der Afghane gingen in ein Nebenzimmer. Ich blieb mit Herrn Meier, dem eritreischen Ehepaar Lumbuba und deren Übersetzer im Besprechungsraum 1. Herr Meier bemühte sich nach allen Regeln der Kunst, aus dem Ehepaar irgendetwas Sinnvolles herauszubekommen. Leider Fehlanzeige. Es gab Diskussionen, Streitereien und immer wieder Beteuerungen, dass sie nichts wüssten, nichts gesehen und nichts gehört hätten, weil die beiden so schrecklich verliebt seien und nur Augen füreinander haben.“

„Wie die drei Affen“, murmelte Thomas.

„Schließlich gab Meier entnervt auf und ging zu Kerstin ins Nebenzimmer. Ich sollte währenddessen den drei Anwesenden klarmachen, dass sie sich zu unserer Verfügung halten sollen, bis wir weitere Verdächtige verhört haben.“

„Welche Verdächtige? Haben wir doch nicht“, reagierte Wanninger erstaunt.

„Na ja, das sollte ich sagen, es war Meiers Idee. Du kannst ihn fragen.“

„Ja, ja, weiter! Dann ging Meier also zu Frau Mahler. Gab es bei euch wenigstens irgendetwas Handfestes?“

„Leider nicht. Die drei wären sich mit dem Übersetzer beinahe in die Wolle geraten, Herr Meier brach schließlich ab und schickte alle nach Hause.“

Wanninger überlegte erst, dann murmelte er. „Wenn das unser neuer Staatsanwalt erfährt ... Der soll angeblich ein scharfer Hund sein.“

„Du hättest garantiert auch nicht mehr herausbekommen, Sepp“, entschuldigte sich Florian. „Schließlich ist Richter Meier nicht von gestern.“

„Das ist wahr“, nickte Wanninger etwas besänftigt. „Dann berichtet ihr bitte, Thomas und Simone, damit der Tag nicht völlig für die Katz war.“

„Eher schon …“, zögerte Thomas. Wanningers Gesichtsfarbe wurde eine Spur dunkler, doch er beherrschte sich wieder.

„Ich will es auch kurz machen.“ Thomas warf einen schnellen Blick zu Simone, die zuckte die Schultern. „Das Problem ist, dass zwar sicher ist, ääähm, laut Alex Gerstenkron, dass der Mann keinen Selbstmord begangen hat, leider hat die Spusi keinerlei Hinweise zur Identität gefunden. Keinen Ausweis, irgendwelche Papiere, keine Geldbörse, lediglich einen Wohnungsschlüssel, sonst nichts Verwertbares. Gar nichts!“

„Spuren, DNA oder sonst was?“

„Schon. Muss aber erst ausgewertet werden.“

Wanninger vergaß den Mund zu schließen. „Und jetzt?“

„Sag du es mir!“

„Der Wohnungsschlüssel …, seid ihr da weitergekommen?“

Thomas schüttelte den Kopf.

Wanninger überlegte. „Wenn es sich um einen Systemschlüssel handelt, können wir über den Hersteller und die Schlüsselnummer die Adresse herausbekommen.“

„Simone hat das bereits in die Wege geleitet.“

„Gut“, nickte Wanninger. „Habt ihr in dem Laden … äääh, dem, wie heißt er doch gleich wieder?“

newlabels“, endlich konnte auch Simone etwas beitragen.

„Ja, newlabels. Habt ihr dort nachgefragt. Irgendeiner muss den doch kennen, wenn er in deren Tiefgarage ermordet wurde.“

Thomas und Simone schüttelten gleichzeitig den Kopf.

„Wir haben viele Mitarbeiter befragt“, erklärte Simone. „Angeblich kennt niemand diesen Mann. Der Verkaufsleiter, Herr Kandler, erklärte, es wäre einfach, in die Tiefgarage zu gelangen, weil immer wieder irgendjemand rein- oder rausfährt. Dann steht das Tor jedes Mal ein bis zwei Minuten offen.“

„Oh Gott!“, schnaubte Wanninger. „Der neue Staatsanwalt heißt übrigens Dr. Wolff. Er hat schon zweimal bei mir angerufen, er wartet ungeduldig auf meinen Bericht. Am liebsten würde ich mich auf der Stelle krankmelden.“

„Was ist denn mit unseren Staatsanwälten Dr. Junginger und Dr. Sommer?“ wollte Florian wissen.

„Ach was“, erregte sich Wanninger, „Junginger wurde nach Frankfurt versetzt, auf eigenen Wunsch, er wollte aus Bayern weg. Das soll es auch geben. Und die Sommer macht Urlaub. Immerhin haben wir ja auch gerade Ferienzeit, falls ihr das noch nicht bemerkt haben solltet.“

Thomas hatte inzwischen eine ebenso rote Birne wie Wanninger. „Also, Sepp. Da brauchst du uns jetzt keine Vorwürfe zu machen. Wir haben absolut ordentlich gearbeitet, darauf kannst du dich wirklich verlassen.“

„Ist mir schon klar. Trotzdem ist der Wolff ein scharfer Hund.“

„Ein scharfer Wolf“, grinste Kerstin.

Wanninger stierte sie wortlos an.

„Wie sollen wir weiter vorgehen?“, überbrückte Florian die kritische Phase.

Wanninger kratzte sich am Kopf. Schließlich grinste er. „Ihr ladet die weiteren Zeugen zur Vernehmung.“

„Welche Zeugen?“

„Die Zeugen, die Meier noch vernehmen wollte.“

„Ach so, die“, grinste nun auch Florian. „Ich werde ihn ansprechen und um die Namen bitten. Und dann?“

Wanninger zuckte die Schultern. „Wir denken noch mal gemeinsam nach. Ich rede auch mit Dr. Dobler. Inzwischen könnt ihr mit Thomas und Simone versuchen, die Identität des Erhängten zu lüften. Zum Beispiel die Nachbarschaft in der Theatinerstraße mit dem Foto befragen, vielleicht auch einen Aufruf an unsere Bürger über die Tageszeitungen.“

Thomas nickte. „Damit könnten wir weiterkommen. Wir werden auch beim Schlüsselhersteller Druck machen …“ Ein Blick zu Simone folgte. „Die sollen die Adresse rausrücken! Wenn wir erst einmal wissen, wo er gewohnt hat, sind wir ein Stück weiter.“

„Danach können wir die Umgebung abgrasen, Nachbarn, Geschäfte, in denen er eingekauft hat und so weiter. Also los!“ Wanninger erhob sich und schien froh zu sein, dass er sich erst einmal zurückziehen konnte, um über den Stand der Dinge nachzudenken.

6.

Am nächsten Morgen erschien das Foto des ermordeten Mannes in den führenden Münchner Tageszeitungen mit folgendem Text:

Unbekannter Toter in Tiefgarage Theatinerstraße aufgefunden

Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Wer kennt diesen Mann? Sachdienliche Hinweise bitte an die Kripo München, Tel.: 089 12345678. Die Staatsanwaltschaft München hat für Hinweise auf die Person des Ermordeten eine Belohnung in Höhe von 300 Euro ausgelobt.

„300 Euro … Ist ja nicht gerade viel“, überlegte Thomas.

Simone war anderer Ansicht. „So leicht verdientes Geld für einen einzigen Anruf. Ich verdiene nicht so viel wie du und würde es mir niemals entgehen lassen, wenn der zum Beispiel mein Nachbar gewesen wäre.“

Thomas überlegte kurz, dann nickte er. „Ja, kann schon sein.“

Tatsächlich erhielten sie mehr Anrufe, als sie erwartet hatten. Allerdings war bei den meisten Anrufern klar, dass sie nur an der Belohnung interessiert waren. Sie behaupteten, den Mann im Supermarkt, am Marienplatz, in der Sendlinger Straße, in der Puplinger Au, beim Joggen, im Englischen Garten oder in einem vorbeifahrenden Auto erkannt zu haben. Einer behauptete, dass der Mann unter der Reichenbachbrücke lebe.

„Das war zu erwarten.“ Wanninger war enttäuscht.

„Puplinger Au ist lustig“, meinte Simone.

Thomas grinste. „Kennst du dich dort aus?“

„Dachtest du, dass ich auch nackt rumlaufe?“

„Wer weiß?“

Doch plötzlich meldete sich eine Frau, die sich sicher war, den Mann sehr gut zu kennen. Das Gespräch nahm Kerstin Mahler entgegen.

„Wieso glauben Sie, dass Sie ihn kennen, Frau …“ Kerstin schaltete den Lautsprecher ein, die Kollegen hatten längst große Ohren.

„Jungwirt, Elisabeth Jungwirt“, antwortete sie. „Er wohnt genau gegenüber von mir. Ich kenne ihn deswegen sehr gut, weil ich bei ihm ein- bis zweimal pro Woche verschiedene Arbeiten verrichte, Staubsaugen, Fenster putzen und so weiter. Da muss man schließlich nicht lange nachdenken.“

„Toll, Frau Jungwirt, Ihre Adresse?“

„Ich wohne in Bogenhausen, in der Mühlbauerstraße.“

„Und wie heißt der Mann?“

„Sein Name ist …, ja, sein Name war Johnsen. Robert Johnsen, weiß ich genau, weil ich auch oft seinen Briefkasten leere.“

„Offensichtlich kein Deutscher? Ich meine, der Name Johnsen klingt nach einem Engländer oder Amerikaner.“

„Doch, ich glaube schon, dass er Deutscher ist …, also war. Er sprach gut Deutsch, so wie wir auch.“

„Haben Sie heute schon mal bei ihm geklingelt?“

„Muss ich nicht. Ich habe einen Schlüssel. Er ist nicht zu Hause, seit ungefähr zwei Tagen nicht.“

Wanninger und die Mitarbeiter deuteten aufgeregt auf eine Besprechung hin, Kerstin hatte verstanden und antwortete: „Frau Jungwirt, wir müssen Sie dringend bitten, nichts in der Wohnung des Herrn Johnsen zu berühren. Wir werden umgehend zu Ihnen kommen und gemeinsam mit unseren Kollegen von der kriminaltechnischen Abteilung die Wohnung auf Spuren untersuchen. Bitte erwarten Sie uns in einer halben Stunde.“

Wanninger strahlte zufrieden. „Endlich mal eine echte Spur.“

Kerstin Mahler wählte bereits die Nummer der Spurensicherung. „Kollegen, ihr müsst uns begleiten. Wir haben die Wohnung des ermordeten Erhängten gefunden.“

Wanninger wollte in alter Gewohnheit Thomas und Florian beauftragen, doch Kerstin erhob Einspruch: „Ich gehe auch mit, Chef, habe schließlich mit Frau Jungwirt gesprochen.“

„Na gut“, stimmte Wanninger zu, „dann bleibst du hier, Florian, schließlich sollten wir dort nicht alle aufkreuzen. Thomas zog ein langes Gesicht, weil er ungern mit Kerstin arbeiten wollte. Das war nicht zu übersehen, doch er fügte sich Wanningers Entscheidung.

Frau Jungwirt war eine kleine, dicke, quirlige, aber resolute Frau, etwa fünfzig bis sechzig Jahre alt. Sie trug eine bunte Arbeitsschürze, die bereits etliche Jahre auf dem Buckel hatte. Sie erwartete das Aufgebot der Kriminalpolizei bereits nervös an der Haustür, den Wohnungsschlüssel in der Hand.

„Ich warte bereits seit einer halben Stunde auf Sie“, rief sie den Polizisten vorwurfsvoll entgegen.

„Ging nicht schneller, Frau Jungwirt“, entgegnete Kerstin. „Wir mussten erst alle Kollegen zusammentrommeln.“

Die angebliche Wohnung des Robert Johnsen befand sich in der zweiten Etage. Als Frau Jungwirt öffnen wollte, hielt Thomas sie zurück. „Wir haben bei dem Toten einen Schlüssel gefunden. Lassen Sie mich erst prüfen, ob der zu dieser Wohnung passt.“

Er passte. Sie wollten sich vordrängen und die Wohnung rasch betreten, doch der Leiter der Spurensicherung, alle trugen bereits die weiße Schutzkleidung, bremste sie. „Lasst uns erst unsere Tatortarbeit durchführen.“

Thomas stutzte. „Wieso Tatortarbeit? Er wurde doch in der Tiefgarage ermordet.“

„Trotzdem, Thomas, gebt uns wenigstens einen kleinen Vorsprung.“

Thomas zuckte die Schultern und blieb stehen.

„Vielen Dank, Frau Jungwirt“, sagte Kerstin. „Sie haben uns sehr geholfen. Lassen wir erst einmal unsere Kollegen ihre Arbeit verrichten. Ich bin sicher, wir müssen Ihnen anschließend sowieso viele Fragen stellen.“

Eher ungern öffnete sie die eigene Wohnungstür gegenüber und verschwand zögernd.

Wenig später winkte ein Mitarbeiter der Spusi. „Jetzt könnt ihr!“

Thomas und Kerstin zogen Latexhandschuhe über und betraten ebenfalls die Wohnung des Ermordeten. Sie bestand aus einem kleinen Flur, einem Wohn- und Schlafzimmer, einer kleinen Küche, sowie einem Bad mit Dusche.

„Habt ihr was entdeckt?“, wollte Kerstin im Vorbeigehen wissen.

„Müssen wir erst auswerten. Es gab haufenweise Fingerabdrücke, Haare, Hautpartikel, na ja, das übliche. Sobald wir alles überprüft haben, bekommt ihr den Bericht. Ich denke, wir können auch etliche DNA-Ergebnisse liefern. Dann macht euch jetzt an eure Arbeit. Übrigens gibt es im Schlafzimmer einen leer geräumten Safe. Die Tür war nur angelehnt, innen eine Schachtel zur Aufbewahrung eines Revolvers. Vielleicht hat er das Schießgerät mitgenommen und die Tür offengelassen.“

Die Mitarbeiter der Spusi zogen die Schutzanzüge wieder aus und verstauten sie. Daraufhin verließen sie das Haus.

Thomas und Kerstin blickten sich zuerst im Wohnzimmer lange und sorgfältig um. Nichts deutete auf einen möglichen Kampf hin. Anscheinend hatte Johnsen seine Wohnung allein verlassen, das würde bedeuten, dass es kein erzwungener Aufbruch war. Die aktuelle Tageszeitung lag noch zusammengefaltet auf dem Wohnzimmertisch, der Fernseher war ausgeschaltet, die Fenster geschlossen. Im billigen Holzschrank fanden sie verschiedene Schriftstücke, einen Fotoapparat, ein Laptop, keine Papiere.

„Sieht aus, als wäre er nur mal eben einkaufen gegangen“, überlegte Thomas.

Sie packten alles ein und betraten das Schlafzimmer. Dort war das Bett ordentlich gemacht, vielleicht von ihm selbst? Sie beschlossen, diesbezüglich Frau Jungwirt zu befragen. Der in der Wand eingebaute Safe mit geöffneter Tür, wie die Spusi erwähnt hatte, wies keinerlei Einbruchmerkmale auf, war also per Schlüssel geöffnet worden. Auf dem Fußboden stand unter dem Safe ein primitives Bild mit Alpenpanorama in einem Holzrahmen, vermutlich hing es normalerweise als Sichtschutz über dem Safe.

„Total leer“, murmelte Thomas, nachdem er mit seiner Taschenlampe den Innenraum ausgeleuchtet hatte. „Bestimmt hatte er hier außer dem Revolver seinen Pass, Geld und sonstige Papiere verstaut. Darum hat er ihn vollkommen ausgeräumt. Oder sein Mörder hat ihm alles abgenommen.“

„Die ganze Wohnung sieht nicht nach Einbruch aus“, entgegnete Kerstin.

„Trotzdem. Er hätte den Safe wenigstens wieder verschließen können. Er scheint doch ein sehr ordentlicher Mann gewesen zu sein.“

„Zum Glück kennen wir seinen Namen“, sagte Kerstin. „Lass uns weiter prüfen!“

Auch die Küche machte einen aufgeräumten Eindruck, es stand kein Essgeschirr herum. Im Flur auf einem hölzernen Rost ein paar abgetragene Hausschuhe, an einem Haken eine dunkle Lederjacke.

Sie betraten wieder das Wohnzimmer und standen nachdenklich herum. „Nichts Ungewöhnliches, Thomas“, meinte schließlich Kerstin, „ich darf doch Thomas sagen?“

Er nickte.

„Ich heiße Kerstin, wie du weißt.“

Wieder nickte Thomas. Es schien ihm schwer zu fallen, als er sagte: „Aber ohne Küsschen!“

„Um Gottes willen, nein!“

„Dann reden wir jetzt mit Frau Jungwirt, … Kerstin.“

Frau Jungwirt öffnete sofort nach dem ersten Klingeln, wahrscheinlich stand sie bereits von Anfang an lauschend hinter der Tür.

Sie wurden in ihr einfaches, altmodisches Wohnzimmer geführt. Thomas begann: „Frau Jungwirt, Sie sagten uns, dass Ihr Nachbar Robert Johnsen heißt. War er alleinstehend?“

„Ja, ja, natürlich alleinstehend.“

„Da sind Sie sich sicher?“

„Doch, bin ich. Wir haben uns manches Mal unterhalten. Wäre er liiert gewesen, wüsste ich das.“

„Gut. Er war kein alter Mann, ich schätze höchstens vierzig Jahre alt, was halten Sie von ihm?“

„Das Alter könnte stimmen. Er hat immer viel erzählt, wenn ich ihn jedoch irgendetwas Persönliches fragte, wechselte er sofort das Thema.“

„Aha. Wissen Sie, ob er denn eine Freundin hatte?“

„Ich glaube nicht, weil er nie Damenbesuch bekam. Das hat mich schon gewundert. Vielleicht war er …, äääh …“

„… meinen Sie schwul?“

„Wie man so sagt.“

„Dann hätte er einen Freund gehabt haben können. Ist Ihnen da etwas aufgefallen?“

Frau Jungwirt schüttelte den Kopf. „Nicht ein einziges Mal. Er bekam niemals Besuch. Hat ja hier erst seit wenigen Wochen gewohnt.“

„Man könnte also sagen, dass er ein Einzelgänger war. Aber mit Ihnen hat er sich gerne unterhalten.“

„Ja eben, glaube ich wenigstens. Ich habe ihn schon gemocht, ich meine, er mich auch. Er war zu mir immer nett und freundlich, hat auch immer prompt bezahlt, wenn ich für ihn gearbeitet habe, nur in persönlichen Dingen war er richtig verschlossen.“

„Wissen Sie, wo Herr Johnsen früher gewohnt hat?“

Sie schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, bei persönlichen Fragen blieb er stumm wie ein Fisch.“

„Gut. Wer ist denn Eigentümer des Hauses? Er muss verständigt werden.“

„Ja, ja. Ich schreibe Ihnen die Telefonnummer der Hausverwaltung auf.“

„Was war denn Herr Johnsen von Beruf?“

„Ääähm …, auch das weiß ich nicht genau. Aber es muss irgendetwas Geheimnisvolles gewesen sein.“

„Ach ja? Wieso glauben Sie das?“

„Weil er seine Wohnung immer sofort verschloss, sowie er nach Hause kam. Wenn ich klingelte, wollte er immer wissen, wer draußen steht, obwohl er durch den Spion lugte. Sieht man schließlich von draußen.“

Kerstin zuckte die Schultern. „Ich denke, das ist eher vorsichtig als geheimnisvoll. In einer großen Stadt wie München sollte jeder Alleinstehende vorsichtig sein, Sie auch, Frau Jungwirt. Passiert schließlich mehr als genug.“

Frau Jungwirt schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht. Ich habe ihn natürlich gefragt, was er beruflich tut. Er antwortete immer, dass er darüber nicht reden möchte, weil das so kompliziert sei. Ich habe ihn auch manchmal gefragt, wo er immer hingeht, ob er arbeitet oder ins Kino geht oder zu einer Freundin. Da hat er mich nur angegrinst und den Zeigefinger auf die Lippen gelegt.“

„Vielleicht hat er sich mit Ihnen einen Spaß gemacht, Frau Jungwirt“, lächelte Kerstin. „Ging er immer zur gleichen Zeit?“

„Nein, das war ja auch so geheimnisvoll. Manchmal verschwand er nachts, dann wieder am frühen Morgen oder irgendwann am Nachmittag. Oft war er tagelang weg. Anfangs habe ich gefragt, wo er war, später nicht mehr. Natürlich habe ich genau gewusst, wann er weg ist, weil ich immer Dienstag und Freitag meine Arbeit verrichten sollte. Wenn er tagelang weg war, hatte ich weniger zu tun, außer eine Pflanze zu gießen, diesen Ficus benjamina im Wohnzimmer, der viel Wasser braucht. Haben Sie bestimmt gesehen. Wenn er ging, verschwand er immer sehr leise, eine richtige Heimlichtuerei, ich konnte mir darauf keinen Reim machen. Aber vielleicht wollte er nur, dass es niemand im Hause hört.“

„Ja, das klingt recht merkwürdig, Frau Jungwirt“, überlegte schließlich Thomas. „Waren Sie eigentlich heute Morgen in seiner Wohnung, weil sein Bett so ordentlich gemacht war?“

„Nein, heute nicht. Morgen ist erst Freitag. Herr Johnsen hat sein Bett immer selbst gemacht, er war überhaupt sehr ordentlich.“

„Danke, Frau Jungwirt. Im Augenblick genügt uns das. Wir setzen uns mit der Hausverwaltung in Verbindung und werden Sie bestimmt noch einmal befragen müssen, wenn wir Näheres über Herrn Johnsen herausgefunden haben. Auf Wiedersehen.“

Kerstin informierte die Hausverwaltung G. Hauser in der Prinzregentenstraße. Nach Prüfung teilte die Hausverwaltung mit, dass Robert Johnsen seine Wohnung in der Mühlbauerstraße nicht persönlich angemietet hatte. Der Mietvertrag lief auf eine Firma namens mediscore, mit der die Hausverwaltung immer wieder mal in Geschäftsverbindung stand. Weil mediscore auch die Miete überwies, habe man auf detaillierte Informationen über Herrn Johnsen verzichtet. „Wir fordern von anderen Mietern natürlich immer einen Einkommensnachweis an sowie eine Kopie der polizeilichen Meldebestätigung.“

7.

„Vielleicht ist an der Annahme von Frau Jungwirt doch was dran“, vermutete Kerstin am nächsten Morgen gegenüber Wanninger und den Kollegen. „Sie weiß über Johnsen weder wo er früher gewohnt hat, ob er liiert ist, noch welcher beruflichen Tätigkeit er nachgeht und so weiter. Sie sagt, wenn sie ihn irgendwas Persönliches fragte, blieb er stumm wie ein Fisch. Und nun stellt sich heraus, dass auch die Hausverwaltung keinerlei persönliche Angaben hat. Wir müssen unbedingt mit dieser Firma mediscore Kontakt aufnehmen.“

Wanninger hatte die Wange in den linken Handballen gestützt und starrte nachdenklich in die Ferne.

Thomas wartete einige Zeit, dann sagte er: „Was meinst du dazu, Sepp? Oder hast du gar nicht zugehört?“

„Ich versuche mir vorzustellen, welche Gründe Johnsen gehabt haben könnte, aus seiner Vergangenheit so ein Geheimnis zu machen. Vielleicht war er vorher inhaftiert? Oft ist das der wahre Grund.“

„Ein weiterer Anlass, mit der Firma mediscore Kontakt aufnehmen. Die werden einiges über ihn erklären können, zum Beispiel, warum sie für ihn die Wohnung angemietet hatten und sogar die Miete bezahlten.“

„Wer macht das?“

„Ich“, meldete sich Simone aufgeregt, „ich kann das!“

Wanninger nickte. „Dann können Sie erst einmal in unserem Zentralcomputer nachforschen. Vielleicht kommen wir damit noch ein Stück weiter.“

Welche Überraschung, als sich herausstellte, dass im Zentralcomputer kein Robert Johnsen gespeichert war, weder in der Mühlbauerstraße in München, noch in einer anderen Stadt Deutschlands.

„Das besagt noch gar nichts“, winkte Wanninger ab. „Vielleicht schreibt er sich ein wenig anders. Vielleicht Josef oder Johann. Vielleicht auch nicht Johnsen sondern ganz anders, vielleicht Chappman oder Schappmann …“

„Quatsch! Wie kommst du auf diese blöden Namen, nur, weil es englisch klingt. Chappmann! Mann, mit Chappi fütterst du deinen Hund“, reagierte Thomas leicht genervt.

Wanninger grinste. „Hab keinen Hund, ich dachte, du weißt das. Vielleicht heißt der auch sonst irgendwie. Oder er ist Österreichischer oder Schweizer Staatsbürger und in München noch nicht gemeldet …, muss er bekanntlich nicht, wenn er nur vorübergehend hier arbeitet.“

„Aber wer war sein Arbeitgeber?“, wollte Florian wissen.

„Keine Ahnung? Die Leute von mediscore wissen das sicher. Findet es heraus!“, befahl Wanninger. „Frau Jungwirt hatte doch erklärt, dass er erst vor wenigen Wochen in die Mühlbauerstraße gezogen ist. Außerdem kann es auch sein, dass er noch nie polizeilich aufgefallen ist. Dann gibt’s in unserem Zentralcomputer keinerlei Hinweise. Wetten, dass ich zum Beispiel auch nicht zu finden bin.“

Simone lächelte ihn an. „Soll ich das prüfen, Chef?“

„Ja, bitte, Simone, aber nicht unter Wanninger, sondern unter Johnsen oder ähnlichen Namen. Und bei allen Behörden nachfragen!“

Thomas schüttelte verständnislos den Kopf. „Heute bist du irgendwie …“

Doch auch im Münchner Zentralregister war kein Robert Johnsen gemeldet.

„Ihr macht mir vielleicht Spaß“, brummte Wanninger. „Nehmt euch diese Frau Jungwirt noch mal vor. Vielleicht ist sie so oder so …“, er machte eine eindeutige Geste, „wie alt ist die eigentlich?“

„Auf keinen Fall dement“, reagierte Kerstin. „Ich fahr gleich hin.“

Wanninger war einverstanden.

Doch auch Kerstin kam ergebnislos zurück: „Sie war außer sich, als ich ihr mitteilte, dass wir den Namen Robert Johnsen nirgendwo gefunden haben. ‚Ich bin doch nicht verrückt‘, rief sie mir zuletzt nach.“

„Und jetzt?“ Wanninger runzelte die Stirn.

„Du bist der Chef“, brummte Thomas.

„Dann besucht endlich diese Firma mediscore. Die feinen Herrschaften sollen erklären, wer Johnsen ist und warum sie für ihn die Wohnung angemietet haben und sogar die Miete bezahlen.“

Das Telefon klingelte, Florian nahm ab.

„Ja, hier Pförtner Wassermann. Bei mir steht ein Herr …, wie ist Ihr Name? Ein Herr Clemens. Der möchte Herrn Hauptkommissar Wanninger in der Angelegenheit Johnsen sprechen.“

„Ich komm ihn sofort abholen.“ Florian sprang auf, eilte zur Tür und rief zurück zu den Kollegen: „Ein Herr Clemens oder so will dich in der Sache Johnsen sprechen, Sepp.“

Kurze Zeit später betrat Florian mit jenem Herrn Clemens das Büro.

„Jack Clemens ist mein Name“, stellte er sich vor und ging auf Wanninger zu. „Sind Sie Hauptkommissar Wanninger?“

Wanninger nickte. „Grüß Gott, Herr Clemens. Bitte nehmen Sie Platz. Sie kommen in der Angelegenheit Johnsen.“

Clemens nickte. Er war etwa vierzig Jahre alt, mittelgroß, von sehr kräftiger Statur, dunkelbraune Haare, leichte Stirnglatze, normal gekleidet. „Ja, richtig. Das heißt, dass es sich um die Angelegenheit Johnsen handelt, habe ich erst von Ihrem Pförtner erfahren.“

Wanninger stutzte. „Nanu, das ist aber ungewöhnlich. Unser Pförtner Wassermann ist sonst nicht so redselig.“

Clemens wehrte ab. „Keine Sorge, der kann nichts dafür. Ich habe ihm das Foto aus der Zeitung gezeigt, daraufhin rief er bei Ihnen an und nannte den Namen Johnsen.“

„Ja …, wieso kommen Sie zu uns, wenn Sie den Mann gar nicht kannten?“

Clemens grinste hinterhältig. „Natürlich kannte ich ihn, sehr gut sogar, allerdings nicht unter diesem Namen. Es hat mit diesem Mann eine besondere Bewandtnis. Zum Beispiel benutzt er wiederholt verschiedene Namen. Den Namen Johnsen hatte ich in Zusammenhang mit ihm bisher noch nie gehört.“

Nach diesem Paukenschlag starrten alle Clemens an. Der lächelte, als hätte er die Auswirkung seiner Äußerung vorhergesehen.

Wanninger fasste sich schnell und beschloss, erst einmal ein wenig Zeit zu gewinnen. „Dürfen wir Ihnen einen Kaffee anbieten?“

„Ja, gerne.“

„Bitte Simone, vielleicht würden Sie …“

Simone sprang auf und sauste schnell zur Thermoskanne, um die nächsten Sätze möglichst nicht zu verpassen.

Thomas stand inzwischen neben Clemens. „Herr Clemens, es ist Ihnen sicher nicht entgangen, dass wir aufgrund Ihrer Bemerkung ziemlich überrascht sind.“

„Klar, ich bin es gewohnt, Leute zu beobachten … und zu überraschen. Aber das war noch gar nichts“, grinste er verstohlen. „Sie werden noch sehr viel mehr überrascht sein, wenn ich fortfahre.“

Wanninger hatte sein Pokerface aufgesetzt, obwohl er in Wirklichkeit bis in die Haarspitzen gespannt war. Schließlich brummte er eher beiläufig: „Nun machen Sie es nicht so spannend. Was glauben Sie, welche Fantastereien wir hier oft zu hören bekommen, Herr Clemens.“

Clemens ließ sich deutlich Zeit und stichelte ein wenig: „Was wissen Sie denn über jenen Johnsen?“

„Wir stellen hier die Fragen, Herr Clemens“, pfiff ihn Wanninger an. „Was wissen Sie über diesen Robert Johnsen oder wen auch immer Sie auf diesem Foto erkannt zu haben glauben?“

Clemens grinste wieder hinterhältig und zwar so lange, bis Thomas die Geduld verlor. „Herr Clemens, entweder Sie reden jetzt oder wir beenden das Gespräch. Wir haben für Wichtigtuer wenig Zeit.“

„Okay.“ Clemens wurde auf der Stelle ernst. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie ein wenig aus der Reserve locken wollte. Zuletzt nannte sich jener Johnsen Bob Mitchell. Das ist übrigens auch sein richtiger Name. Ich weiß das. Zwischendurch benutzte er verschiedene andere Namen, wenn es nötig war.“

„Herr Clemens“, Wanningers Miene war inzwischen eisig, „bevor Sie weiter erzählen …“

„… nicht erzählen, einigen wir uns auf berichten, Herr Wanninger.“

„Gut, berichten. Doch vorher würden wir gerne Ihren Personalausweis oder Pass einsehen.“

„Habe ich leider nicht bei mir. Hier ist meine Visitenkarte.“

Clemens schob eine Visitenkarte zu Wanninger über den Tisch. Der hob sie hoch und las: „Jack Clemens, wohnhaft in München, Königinstraße 5.“

Wanninger stutzte: „Diese Adresse …“

„Ja, ja. Sie vermuten richtig. Das ist die Adresse des Konsulats der Vereinigten Staaten von Amerika.“ Wanningers Gesicht verfärbte sich leicht dunkelrot, doch er sagte nichts.

„Ich bin amerikanischer Staatsbürger und befinde mich in Deutschland wegen Ihres Robert Johnsen. Ob Sie es glauben oder nicht.“

Wanninger stutzte längere Zeit irritiert, dann schob er Simone die Visitenkarte zu und brummte: „Bitte prüfen, Simone!“

„Ich bin selbstverständlich ordnungsgemäß eingereist“, bemerkte Clemens.

„Okay“, reagierte Thomas. „Genug des Vorgeplänkels. Sie behaupten also, jenen Mann als Bob Mitchell zu kennen. Woher kennen Sie ihn und was wissen Sie über ihn?“

„Mitchell ist ein Verbrecher, besser gesagt, er war es. Nicht immer, doch er ist auf die schiefe Bahn geraten und ein Verbrecher geworden. Er ist amerikanischer Staatsbürger mit deutscher Abstammung. Er ging in Deutschland zur Schule, als sein Vater im Auftrag seines Arbeitgebers für viele Jahre in Deutschland tätig war.“

„Welcher Arbeitgeber war das?“

„Wenn ich mich recht entsinne, war es der Computerkonzern IBM. Wegen seines langjährigen Aufenthalts im Kindesalter sprach Bob Mitchell natürlich akzentfrei Deutsch. Kinder lernen sehr schnell. Seit zwei Jahren wird er in den USA gesucht wegen mindestens zweier Morde. Kurz bevor seine letzte Identität aufflog, hat er sich, raffiniert wie er war, nach Deutschland abgesetzt. Zu spät lief die Fahndung nach ihm an. Wie wir dann herausfanden, wollte er seine Spur geschickt verwischen. Doch unser Geheimdienst konnte seinen Fluchtweg ermitteln. Mitchell buchte den ersten Flug, den er bekommen konnte, der ging nach Rio de Janeiro. Dort hat er sich wahrscheinlich neue Papiere besorgt und reiste kurze Zeit später in München ein, mit seiner neuen Identität als Robert Johnsen.“

Wanninger und seine Mitarbeiter starrten ihren Überraschungsbesuch sprachlos an.

Clemens lächelte wieder still vor sich hin. „Na, habe ich Ihnen zu viel versprochen, als ich sagte, dass ich Sie noch mehr überraschen werde?“

Thomas hatte sich erhoben und ging im Raum auf und ab.

„Da haben Sie sicher Recht, Herr Clemens, falls Sie uns nicht gerade einen Bären aufgebunden haben“, sagte er schließlich. „Sie werden verstehen, dass wir diese abenteuerliche Geschichte nicht so einfach hinnehmen können und dürfen.“

Clemens nickte. „Okay. Prüfen Sie und fragen Sie.“

Inzwischen hatte Simone die Ergebnisse in der Hand. „Herr Clemens ist ordnungsgemäß eingereist und ist amerikanischer Staatsbürger. Er wohnt im amerikanischen Generalkonsulat und besitzt Diplomatenstatus.“

Wanninger erschrak unauffällig.

„Sind Sie damit zufrieden, Herr Wanninger?“

„Sie sprechen so gut Deutsch, Herr Clemens.“

„Mein Vater war bei der US-Army in der Nähe von Frankfurt stationiert. Meine Mutter wollte wegen der vielen hübschen Mädchen am dortigen Standort auf Nummer sichergehen und wohnte währenddessen mit mir und meiner jüngeren Schwester ebenfalls hier. Wir besuchten beide eine deutsche Schule. Später besuchte ich, zur Verbesserung meiner Sprachkenntnisse, in New York das Goethe-Institut.“

Wanninger nickte. „Verstehe! Wie sicher sind Sie eigentlich, dass der Verstorbene Robert Johnsen Ihr gesuchter Verbrecher Bob Mitchell ist?“

„Kann ich noch nicht endgültig sagen. Wir haben verschiedene DNS-Proben, die wir nach einigen Verbrechen sicherstellen konnten. Diese sollten noch überprüft werden. Ein Konsulatsmitarbeiter, er ist Rechtsmediziner, sollte das mit Ihren Kollegen in der Rechtsmedizin untersuchen. Wäre das möglich?“

„Natürlich“, bestätigte Wanninger. „Ich gebe Ihren Wunsch an die Leitung der Kriminalpolizei weiter. Wir melden uns dann bei Ihnen. Ich meine, dass wir noch verschiedene Fragen an Sie haben werden.“

„Okay“, lächelte Clemens, „dann auf Wiedersehen. See you.“

Simone begleitete Clemens zur Pforte. Als sie die Tür geschlossen hatte, meinte Wanninger: „Nun habe ich schon so viele Dienstjahre auf dem Buckel, doch immer wieder gibt es neue Überraschungen.“

„Lass uns das erst einmal überprüfen, Sepp“, überlegte Florian. „Selbst, wenn die ganze verrückte Story der Wahrheit entspricht, sind wir jetzt keinen einzigen Schritt weiter. Was hat dieser Clemens denn zur Lösung des Verbrechens beigetragen?“

„Meine ich auch“, meinte Kerstin. „Er hat überhaupt nichts Wesentliches zur Klärung des Mordfalles beigetragen. Er hat nur über seine Vergangenheit geredet. Ich frage mich, wieso dieser Mann hier bei uns in Deutschland nach einem amerikanischen Verbrecher sucht, dessen aktuellen Namen er nicht einmal kennt.“

„Das hat was für sich“, stimmte Wanninger zu. „Er glaubt ihn zu kennen, das muss aber nicht stimmen. Schließlich hatten wir genügend Anrufer, die ihn ebenfalls erkannt haben wollen. Wieso sollen wir dem Ami mehr glauben als jedem anderen Anrufer?“

„Ich fand die ganze Story eigentlich irgendwie unglaubwürdig, wenn auch interessant“, überlegte Thomas.

Wanninger entschied: „Ich bin völlig eurer Meinung. Deshalb gehen wir weiter vor, wie besprochen. Wir müssen herausfinden, wieso jene Firma mediscore die Wohnung angemietet und ihm überlassen hat. Außerdem müssen wir unbedingt bei der Klamottenfirma newlabels nachforschen. Wieso wird dieser Johnsen ausgerechnet in deren Tiefgarage zum Schein aufgehängt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ohne irgendeinen wichtigen Grund geschehen ist. Meines Erachtens wollte der Mörder damit irgendjemandem irgendetwas klarmachen. Vielleicht wollte er dieser Person mitteilen, dass es ihr ebenso ergehen könnte. Egal warum, der Betroffene hat das sicher verstanden. Dann macht euch mal auf den Weg. Ich werde unseren Chef über diesen sonderbaren Besuch informieren. Wenn dieser Clemens im Auftrag der Vereinigten Staaten recherchiert, muss Dobler das wissen. Dann sogar noch mit Diplomatenpass. Vielleicht muss er jetzt das LKA oder das BKA einschalten.“

8.

Wanninger wurde beim Referatsleiter der Mordkommission, Dr. Dobler, vorstellig und informierte ihn über den Stand der Dinge.

„Herzlich wenig, Herr Wanninger, was Sie mir da berichten. Eigentlich gar nichts“, schimpfte Dobler in mieser Tageslause. „Ich dachte, dass es Ihnen nach Ihrer Hüftoperation wieder bessergeht. Doch jetzt …“

Wanninger schnaubte vernehmlich. „Sehr gut, Herr Dr. Dobler. Sehr gut geht es mir. Wirklich sehr gut. Ich tu, was ich kann. Und auf mein Team lass ich nichts kommen. Hervorragende Mitarbeiter, vielleicht die besten in der gesamten Mordkommission.“

„Na, na, Herr Wanninger. Nun übertreiben Sie mal nicht gleich so schrecklich. Wir haben etliche starke Teams und das wissen Sie auch. Ich höre es nicht gerne, wenn jemand die Kollegen schlechtmacht.“

Wanninger fluchte leise und starrte Dobler böse an. „Hab was Anderes gesagt!“

Doch Dobler schimpfte weiter: „Sagen Sie mir lieber, was wir mit dem ertränkten Farbigen machen sollen. Wollen Sie das einfach mir nichts dir nichts im Sande verlaufen lassen? Da bin ich wirklich nicht einverstanden.“

Wanninger starrte ihn an und entgegnete: „Schieben Sie nicht alles auf die Abteilung K3. Vergessen Sie bitte Herrn Meier nicht. Schließlich hat er, als zuständiger Ermittlungsrichter, auf eine Verhaftung verzichtet.“

„Und jetzt? Was jetzt, Wanninger?“

„Ich würde vorschlagen …“ Wanninger war klargeworden, dass er gegen den Leiter der Mordkommission andere Töne anschlagen musste. Um sein Gesicht spielte ein leichtes Grinsen. „… würde vorschlagen, wir geben die Sache an die Polizeiinspektion Pasing zurück. Dort wurde der Fall aufgenommen. Wir brauchen weitere Zeugen, so ist auch Herrn Meiers Meinung. Und wir, K3, wir führen nur Befehle und Anordnungen aus.“

„Aha, dann haben Sie das mit Meier wohl schon abgesprochen?“

Wanninger stutzte kurz. „Nicht abgesprochen, ich hatte ihn gefragt. Oder darf ich das auch nicht mehr?“

„Sie sollten nicht gleich wieder beleidigt sein, Wanninger! Schließlich haben wir alle einen guten Ruf zu verlieren.“

„Bin nicht beleidigt. Ich möchte nur wissen, woran ich bin“, brummte er.

„Also gut“, entgegnete Dobler ein wenig sanfter, „ich lass die Inspektion 45 weiter ermitteln. Wahrscheinlich kommt auch da nichts raus. Diese farbigen Kerle decken sich doch alle gegenseitig. Verstehst ja nicht einmal ein einziges Wort.“

Wanninger berichtete daraufhin über den aktuellen Ermittlungsstand des aufgehängten Robert Johnsen.

Dobler hörte ohne Zwischenbemerkung zu, doch seine Stirnfalte wurde immer steiler und ließ nichts Gutes erahnen. Als Wanninger schließlich auf den Besuch des Amerikaners Jack Clemens zu sprechen kam, platzte ihm offensichtlich der Kragen. „Was soll denn das heißen, Wanninger? Diskutieren Sie jetzt sogar schon mit irgendwelchen Privatpersonen über unsere Mordfälle?“

Wanninger schüttelte den Kopf und legte ihm die Recherche von Simone Boese auf den Tisch. „Dieser Clemens ist anscheinend Ermittler eines amerikanischen Geheimdienstes. Und er besitzt einen diplomatischen Status.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752118605
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Münchner City Selbstmord? teuflisch edle Mode Asylant Krimi Ermittler

Autor

  • Ben Lehman (Autor:in)

Ben Lehman kommt aus dem Bayerischen Wald und lebte in München. Seit zehn Jahren ist der Starnberger See seine neue Heimat. Der Informatiker arbeitete als Programmierer und Systemanalytiker, auch in internationalen Unternehmen in New York und Northampton. Sein erfolgreiches Softwarehaus wurde vor einigen Jahren veräußert. Danach begann er seine ehrenamtliche Tätigkeit für die Peter-Ustinov-Stiftung bis zu dessen Tod, Schwerpunkt die Organisation der Peter-Ustinov-Mädchenschule in Afghanistan.
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Titel: Teuflische Pläne