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Liebe von Anfang an

Die Ennbergs 2

von Annmarie Wallandt (Autor:in)
213 Seiten
Reihe: Die Ennbergs, Band 2

Zusammenfassung

Die liebenswerte Rosa, das Restaurant, ihre drei Kinder und eine neue tiefe Liebe ... Rosas Sohn Johannes Ennberg wurde durch seinen zwielichtigen WG-Kollegen Ludwig in die kriminellen Machenschaften einer russischen Bruderschaft hineingezogen. Die Rettung war in Gestalt des Geschäftsmanns Richard Felsinger gekommen, der Rosa nun nicht mehr von der Seite weicht. Johannes „Jonki“ erholt sich nur langsam von dem persönlichen und finanziellen Tiefschlag. Doch die Vergangenheit holt ihn mehrfach ein. Ludwigs ehemalige Freundin Maria kreuzt ständig Jonkis Wege und sein Computer spuckt Nachrichten auf Russisch aus. Eine neue Gefahr, eine Laune des Schicksals oder mehr? Der erste Teil der ebook-Serie wurde unter dem Namen "Rosas kleines Familiencafé" vom mtb Verlag veröffentlicht. Die Ennbergs - die ganze Serie: Liebe zu Mittag - Die Ennbergs 1 (Printversion), Liebe von Anfang an - Die Ennbergs 2, Liebe für immer - Die Ennbergs 3, Liebe in schweren Zeiten - Die Ennbergs 4, Liebe auf Probe - Die Ennbergs 5, Liebe heilt alles - Die Ennbergs 6.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Besuchen Sie uns im Internet: www.annmariewallandt.com

1. Auflage – Copyright © 2020 Annmarie Wallandt mit freundlicher Unterstützung von editio historiae, Leopoldauerplatz 42, 1210 Wien

mail@annmariewallandt.com

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden – das gilt auch für Teile daraus.

Redaktion und Layoutgestaltung: MMag. DDr. Marianne Eschlböck

Titelbild: pixabay– Karolina Grabowska

Alle Romanfiguren, Firmen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

2

Rosa saß in Richards Küche. Sie hatte nur den Morgenmantel übergeworfen, denn das dazu passende Nachthemd hatte sie nach dem Duschen nicht wieder angezogen. Sie nippte genüsslich am besten Espresso, den sie je getrunken hatte und freute sich über die Aussicht durch das riesige Glasfenster. Neptun saß neben ihr und hatte den Kopf auf ihren Oberschenkel gelegt. Mit seinen trüben Hundeaugen himmelte er sie an und sabberte sie durch eine seiner Zahnlücken voll. Sie sah das betagte Tier an. „Wie gut, dass mir Richard gleich drei Garnituren von dieser Nachtwäsche geschenkt hat. Mit dir ihm Haus darf die Waschmaschine keinen Ruhetag einlegen.“

Sie hörte das Rattern des elektronischen Türschlosses und drehte sich zu Richard um, der vom Laufen zurückkehrte. Er kam völlig verschwitzt in die Küche. Rosa lächelte und sah wieder Neptun an. „Noch einer, der die Waschmaschine dringend braucht.“ Richard beugte sich zu ihr und küsste sie. „Guten Morgen, schönste aller Frauen. Ich muss duschen. Kommst du mit?“, fragte er sie hoffnungsvoll.

„Nein, Herr Unersättlich. Ich habe meine Haare gerade erst trocken bekommen und ich muss bald los.“ Sie verengte ihre Augen. „Es ist ja sehr erfreulich, dass bei Communicate nur die Telefonzentrale Dienst hat. Deine Leute wollen aber vielleicht auch etwas zu Mittag essen. Da komme wohl ich ins Spiel.“ Sie stupste Neptun an und stand auf. Aufgrund einer Vorahnung hob sie beide Hände und stoppte Richard, der ihren Morgenmantel auseinanderziehen wollte. „Nein, auf deine Verführungsmasche bin ich auch nur beim ersten Mal hereingefallen. Ich muss noch wirklich viel kochen für heute und einer meiner Lieferanten kommt vorbei.“

Richard hatte Rosa schon am Anfang seiner Urlaubswoche in sein Haus abgeschleppt. In den darauffolgenden Tagen hatte Rosa keine Nacht mehr zu Hause verbracht und hatte ihre liebe Not damit, ihre Wochenroutine aufrechtzuerhalten. Richard konnte nicht genug von ihr bekommen. Es waren für Rosa unliebsame Erinnerungen wachgeworden, was es bedeutete, unter akutem Schlafmangel Höchstleistungen zu erbringen, doch diesmal waren die Ursachen ganz andere – viel angenehmere. Trotzdem schenkte sie Richard einen strengen Blick.

„Gut, ich fahre dich hin und zu Mittag sehe ich dich wieder. Das halte ich aber nur aus, weil ich dich dann volle zwei Tage für mich habe.“

„Das ist der erste Ostersonntag, den die Kinder ohne mich verbringen“, murmelte Rosa.

„Über das Alter zum Körbchen suchen sind die lieben Kleinen längst hinaus und“, nun legte Richard Herausforderung in seine Augen, „wenn ich mich richtig erinnere, Gnädigste, dann kam der Vorschlag für unser gemeinsames Wochenende“, er zeigte zwischen sich und Rosa hin und her, „von ihnen. Die Wettervorhersage ist für den Montag wesentlich besser. Ihr werdet eure traditionelle Osterwanderung bei viel mehr Sonnenschein machen können.“

Rosa hatte ihre Deckung fallen lassen und Richard nutzte das sofort aus. Er riss sie in seine Arme und vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge. Seine Hand wanderte unter den Saum des Morgenmantels. Sie quiekte entsetzt auf: „Lass mich sofort los, du stinkender Unhold!“

Richards Schultern bebten vor Lachen. Seine Stimme klang hohl: „Meinst du etwa Neptun? Er tut dir doch gar nichts.“

Am Ostermontag schien es Rosa, dass sie das Wochenende in einer Art Zeitraffer verbracht hatte. Die schönen Stunden waren ihr wie Sand durch die gespreizten Finger gerieselt. Wie durch ein Wunder fühlte sie sich ausgeschlafen und hatte sich bei den Spaziergängen mit Neptun entspannt. Jetzt wusste sie, warum Richard in seiner geringen Freizeit wirklich gerne auf Neptun aufpasste. Der betagte Hund entschleunigte seinen Tagesablauf ganz automatisch. Mit Neptun an der Seite konnte man nichts schnell erledigen. Für Richard war es eine Wohltat, sein gewöhnliches Tempo auf den Rhythmus des Tieres herunter zu drosseln. Der CEO von Communicate war ständig beruflich so viel unterwegs, dass es ihm gar nicht eingefallen wäre, im Urlaub auch wegzufliegen. Andrerseits war Richard nicht gerne allein zu Hause und so war er normalerweise mit Neptuns vierbeiniger Gesellschaft durchaus zufrieden.

Doch nun gab es Rosa in seinem Leben und für ihn war es selbstverständlich, dass er jede freie Minute mit ihr zusammen war. Richard hatte nur bedauert, dass es für die von ihm herbeigesehnten Übernachtungen in seinem liebevoll restaurierten Oldtimer-Wohnmobil noch zu kalt war. Sonst hätte er die gemeinsamen Tage mit ihr und Neptun zweifellos lieber beim Campen verbracht. So waren sie meistens zu Hause geblieben. Aufgrund ihrer gemeinsamen Begeisterung für die Folgen und Filme aus Star Trek, hatten sie eng aneinander gekuschelt ferngesehen und versucht, einander mit Hintergrundwissen zu übertrumpfen. Am Schluss stand es 50:50. Rosa lächelte und dachte an Richards Freude, als sie mit geradezu kindlicher Begeisterung seine Sammlung bewundert hatte. In ihrer ersten gemeinsamen Nacht hatte Rosa von Richards Spleen rund um seine Manschettenknöpfe, die allesamt mit den Filmerfolgen Star Trek oder Star Wars in Verbindung standen, erfahren. Fast zwei Stunden hatte sie zu jedem seiner Stücke irgendeine Frage gehabt. Sie hatte sich eine von Richards Lesebrillen aufgesetzt, um die fein gearbeiteten Details besser würdigen zu können UND sie hatte sogar den kleinen R2-D2 von der verfemten Konkurrenzserie Starwars (das ging für Rosa normalerweise gar nicht) sehr knuffig gefunden.

Nun stand Rosa in der kleinen Küche ihrer Familienwohnung und belegte selbstgemachte Bagels. Als Beilage gab es hartgekochte, bunte Ostereier und einen Kartoffelsalat. Sie zählte gerade die Plastikschüsseln ab, als die Wohnungstür aufgesperrt wurde. Evi kam mit Jonki herein, den sie wahrscheinlich am Gang getroffen hatte. Zum Festtag hatte er sich frisch rasiert und seine Haare waren noch feucht von der Dusche. Er begrüßte seine Mutter und warf einen unauffälligen Blick auf ihre Hände. Er wollte sehen, ob Richard seine Ankündigung schon wahrgemacht hatte. Nein, noch nichts. Er schien einen anderen Moment abzuwarten. Jonki lächelte und deutete mit dem Kopf zum vollen Küchentisch. „Kann ich noch kurz etwas mit Grisu machen?“ Sein jüngerer Bruder Christian, von allen Grisu genannt, steckte mitten in den Vorbereitungen für seinen Schulabschluss und hatte Jonkis Mithilfe für eine Präsentation eingefordert. Rosa sah sich um und schaute dann Evi fragend an, die prompt antwortete: „Das Ostergebäck ist im Rohr und braucht noch ungefähr zehn Minuten.“ Jonki deutete die Aussage als Zustimmung und verschwand in seinem ehemaligen Zimmer, das er sich jahrelang mit Christian geteilt hatte.

Evelyn zeigte auf die Schüsseln und fragte hoffnungsvoll: „Kommt Richard vielleicht mit?“

Rosa schüttelte den Kopf. „Er ist mit Neptun zu seinen Eltern gefahren, um ihn zurückzubringen. Sie sind seit gestern von ihrer Urlaubswoche zurück. Er verbringt den Tag mit ihnen und ein paar Verwandten. Ab morgen muss er dann wieder Mr. Geschäftsmann sein.“ Rosa holte bunte Trinkbecher aus einem Schrank. „Der Saft ist fertig und die Thermoskanne mit dem Kaffee auch. Fehlt noch was?“

Evi zählte auf, was ihr einfiel: „Gabeln, Servietten, Picknickdecke, ... ich denke, dass du an alles gedacht hast. Wie viele Rucksäcke hast du?“

„Mit Jonkis altem Rucksack sind es drei. Jonki und Grisu müssen die ganze Zeit ran. Tina und ich wechseln uns ab. Du hast den Pensionistinnenbonus und musst gar nichts tragen.“

Evelyn hob belustigt die Augenbrauen. „Die Verteilung ist nur gerecht; bei den Mengen, die die beiden Herren futtern.“

Tina kam aus ihrem kleinen Zimmer und wollte gerade ein Heft in ihre Umhängetasche stopfen. Die Familienfreundin runzelte die Stirn. „Können die Asiaten nicht zu Hause bleiben? Da gibt es kein Ostern.“

Rosas Tochter, die sich für ein Studium der Koreanistik entschieden hatte, hob den Kopf, strich eine Strähne ihrer rotblonden Haare zurück und lächelte entschuldigend. „Ich wollte nur während der Zugfahrt hineinschauen. Gleich nach den Ferien habe ich eine Prüfung.“

Evelyn seufzte. „Ich sehne mich nach den Zeiten zurück, als wir euch mit Mau-Mau unterhalten konnten.“ Tina nahm die liebenswerte, ältere Frau in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Heute Abend spielen wir, ja? Und Pokern auch. Jonki schuldet mir eine Revanche. Er hat letztes Jahr alle meine Schokoeier gewonnen und anschließend die Rückgabe verweigert. Ich hatte dann echten Süßkram-Notstand.“

Während der Fahrt und der gemütlichen Wanderung erzählte Jonki kurz von seinem Anlauf, einen neuen Mitbewohner zu finden und wunderte sich, weil er sich mehr Resonanz erhofft hatte. „Nichts. Kein einziger Anruf“, brummte er ungehalten. Jeden Tag, den er die Kosten für die Wohnung alleine aufbringen musste, musste er auch länger auf sein Motorrad warten. Tina schlug ihm vor, noch weitere Zettel aufzuhängen. „Es gibt noch eine kleine Anschlagtafel in der Mensa und manche Institute haben auch eine Pinnwand aufgehängt. Meistens werden irgendwelche Studienunterlagen DRINGEND gesucht, aber manchmal sind auch Ankündigungen von Unifesten oder eben Unterkünften dabei.“

Jonki war mit Tinas Idee nicht sehr glücklich. Er hatte die Rennerei auf der Uni schon gehasst, als er sich kurz nach dem Abschluss der Informatikschule für ein Semester eingeschrieben hatte. Dann hatte er zusammen mit seinem Freund Markus fast drei Jahre als Freiwilliger beim Militär verbracht und die Lust auf die Rumhockerei in irgendwelchen stickigen Unterrichtsräumen war ihm vergangen. Die Informatikschule hatte ihn gut genug auf das vorbereitet, was die Arbeitswelt von ihm erwartete. Der Rest hing von seinem Interesse und Geschick ab. Und damit basta!

In der weiteren Unterhaltung drehte sich alles um die großen Veränderungen, die sich in Rosas Leben ereignet hatten. Das völlig unerwartete Auftauchen eines Mannes, der ihre Mutter mit allen ihren Liebenswürdigkeiten und Schwächen haben wollte, wurde von den Geschwistern sehr begrüßt. Der Zeitpunkt hätte nicht günstiger sein können. Da sich Johannes schon auf dem Weg in seine komplette Unabhängigkeit befand und ihm seine, im Alter nahestehenden Geschwister bald folgten, war schon oft der Gedanke an Rosas weiteres Leben aufgetaucht. Richard nahm unbewusst viel Druck von der jüngeren Generation. Rosa beantwortete geduldig alle Fragen, doch sie gab sich eher zurückhaltend. An einem gewissen Punkt stoppte sie ihre Kinder: „Es läuft nichts davon. Geben wir der ganzen Sache mehr Zeit, ja?“

Auf der Rückfahrt erhielt Rosa eine Nachricht, dass Richard wahrscheinlich recht spät zu Hause ankommen würde. Gleichzeitig wollte er wissen, ob er auf ihre Gesellschaft hoffen durfte. Für einen schwachen Moment war Rosa in Versuchung geführt, doch in Gedanken ging sie ihr Arbeitspensum für den nächsten Tag und die kommende Woche durch. Entschlossen schrieb sie zurück:

Nein, brauche dringend Schlaf. Morgen ist ein harter Tag. Du musst auch fit sein. Dicker Kuss Rosa

3

Wie beinahe täglich in den letzten Jahren hörte Rosa frühmorgens ihre Lieblingsradiosendung. In einem Bericht ging es um einen Skandal, den eine sehr bekannte Werbeagentur verursacht hatte. Für eine Kampagne waren bereits extrem dünne Models zu weiteren Gewichtsabnahmen gezwungen worden und eines der Mädchen war am Set kollabiert. „Der Zustand von Lara M. ist nach wie vor kritisch. Sie befindet sich in stationärer Behandlung. Die verantwortliche Agentur PR Brand bedauert den Zwischenfall außerordentlich und hat sich von der Mitarbeiterin, die das Projekt zu verantworten hatte, getrennt“, berichtete der Sprecher.

Rosa schüttelte verständnislos den Kopf, während sie in der Restaurantküche Gemüse klein hackte und das Fleisch für ihren geplanten Eintopf in feine Streifen schnitt. Bei diesen eintönigen Arbeiten ließ Rosa ihren Gedanken freien Lauf. Sie hatte von Richard bis auf ein SMS mit einem Gute-Nacht-Kuss nichts mehr gehört und sie merkte, dass sie fast ständig an ihn dachte. Rosa wusste, dass sich Richard fix vorgenommen hatte, seine zweite Lebenshälfte mit ihr an seiner Seite zu verbringen. Doch war sie selbst bereit dazu? Als Frau fühlte sie sich geschmeichelt, weil Richard sie in ihrer Gesamtheit anbetete und auch auf der menschlichen Ebene hatten sie bereits viele Synapsen geknüpft. Doch reichte das für mehr? Richard war seit Jahrzehnten ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann. Nach Rosas Schätzung drehten sich 90 % seines Daseins um den Erfolg seiner Firma Communicate und das Wohlergehen seiner Angestellten. In Rosas Leben gab es, zwar in viel kleinerem Maßstab, etliche Parallelen. Auch sie widmete einen großen Teil ihrer Lebenszeit ihrem Unternehmen und dem Wohlergehen anderer Menschen – in ihrem Fall ihren Kindern, na ja, Erwachsenen. War es Zeit für Veränderungen? Der Gedanke an die finanzielle Sicherheit, die Richard zweifelsohne repräsentierte, war sehr verlockend, aber musste sie dafür zurückstecken oder sogar alles aufgeben? Rosa liebte die Stunden rund um Mittag, wenn unter der Woche 60 bis 70 Gäste kamen, um sich von ihr verköstigen zu lassen. Würde sie ihr kleines Restaurant behalten? Oder alles für eine Beziehung mit Richard aufgeben? Würde er denn zurückstecken können oder wollen? War der Preis für ein Leben mit Richard vielleicht Einsamkeit und zu viel Tagesfreizeit?

Die übliche Tageshektik ließ Rosa keine Zeit für weitere Gedanken. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Richard am ersten Arbeitstag nach seinem Urlaub zu Mittag vorbeischauen konnte, wie so oft in den letzten Wochen. Als sie am frühen Abend endlich dazu kam, auf ihr Mobiltelefon zu schauen, war sie doch überrascht, dass Richard sich überhaupt nicht gemeldet hatte – keine verpassten Anrufe, kein SMS. Als er auch ihren Anruf nicht beantwortete, beschloss sie auf dem Heimweg einen Umweg über sein Büro zu machen. Rosa zog sich sorgfältig um und frisierte sich länger als normalerweise für ihren Weg nach Hause. Sie stopfte die gebrauchte Kochkleidung in ihre Handtasche und kontrollierte, ob sie alles mitgenommen hatte. Bevor Rosa abschloss, drehte sie zufrieden alle Lichter ab. Ja, das fühlte sich gut an: Nach einem erfolgreichen Tag alle Agenden ruhen lassen und den Abend mit einem netten Partner verbringen.

Rosa kannte das gläserne Bürogebäude seit dem Moment, als sie völlig aufgelöst zu Richard gestürmt war, um von ihm nach Jonkis Festnahme die Adresse eines guten Anwalts zu bekommen. Sie hatte damals nicht ahnen können, dass er alle Hebel in Bewegung setzen würde, um ihr zu helfen. Verwundert blieb sie vor dem hell erleuchteten Gebäude stehen. Rosa hatte damit gerechnet, dass alles dunkel sein würde und vielleicht eine Art Nachtportier seinen Dienst versah. Doch stattdessen ging es in der riesigen Eingangshalle geschäftig zu. Die Rezeption war voll besetzt und ungefähr fünfzig Frauen und Männer standen in Grüppchen zusammen. Alle schienen auf etwas zu warten. Eine junge Frau im perfekt sitzenden Tailleur kam lächelnd auf Rosa zu. „Guten Abend. Herzlich willkommen bei Communicate. Wie schön, dass Sie kommen konnten.“ Sie drückte Rosa ein Klemmbrett in die Hand. „Bitte seien Sie so freundlich und füllen Sie vor der ersten Runde noch dieses Formular für uns aus. Wir legen es dann Ihrem Bewerbungsbrief und Ihrem Lebenslauf bei.“ Bevor Rosa etwas sagen konnte, war die Angestellte schon mit der Begrüßung weiterer Neuankömmlinge beschäftigt. Rosa sah sich erstaunt um. Sie schnappte einen Gesprächsfetzen auf. „Das ist das erste Mal, dass ich mir für ein Bewerbungsverfahren nicht unter irgendwelchen Vorwänden frei nehmen musste. Das ist sehr angenehm, dass wir abends eingeladen wurden.“

„Ja, es kann aber auch darauf hindeuten, dass unsere zeitliche Flexibilität getestet wird. Wenn du von hier um 19:00 Uhr heimgehen möchtest, fragen sie dich wahrscheinlich, ob du einen Halbtagsjob hast.“

„Es ist sicher hart, aber wenn du in deinen Lebenslauf schreiben kannst, dass du persönlicher Assistent der Geschäftsleitung von Communicate warst, kriegst du jeden anderen Job auch.“

Plötzlich ging Rosa ein Licht auf. Sie war mitten in das Auswahlverfahren für Richards neuen Assistenten oder Assistentin geraten. Der Anblick einiger junger sehr hübscher Frauen versetzte Rosa einen leichten Stich. Richard würde doch nicht denselben Fehler begehen wie bei Sabine Hellwag? Die letzte Assistentin des CEO hatte ihren Chef glühend, am Rande des Stalkings, verehrt und, als sie sich nicht erhört fühlte, den kriminellen Machenschaften von Ludwig Fedotows russischer Bruderschaft Tür und Tor zu Communicate geöffnet.

Rosa beschloss, zur Rezeption zu gehen. An der Theke erntete sie das nächste Lächeln. „Guten Abend. Herzlich willkommen bei Communicate. Was darf ich für Sie tun?“ Die Empfangsdame hob ihre Hand und deutete auf das Klemmbrett. „Ich sehe, Sie haben Ihr Exemplar unseres Formulars schon erhalten. Haben Sie eine Frage zum Ausfüllen? Wie kann ich Ihnen helfen?“, sprudelte sie hervor. Das Übermaß an Kommunikationsprofessionalität zerrte an Rosas Nerven. Sie holte Luft und sagte so geduldig wie möglich: „Mein Name ist Rosa Ennberg. Ich versuche, Herrn Dr. Felsinger zu erreichen.“ Bei ihrem letzten Erscheinen hatte die diensthabende Dame das System konsultiert und Rosa war sofort empfangen worden. Heute sah das Protokoll wohl einen anderen Ablauf vor. Die ausgezeichnet geschulte Kraft nickte und lächelte. „Ja, Frau Ennberg. Nach der zweiten Runde unseres Auswahlverfahrens nimmt sich unser CEO gerne Zeit für ein persönliches Gespräch mit Ihnen.“

Rosa spürte, dass ungebetene Kräfte in ihr zu arbeiten begannen. Sie wollte lieber gehen, bevor sie die Geduld verlor. Gerade als sie sich verabschieden wollte, schoss der Kopf der Empfangsdame zur Seite. „Oh, guten Abend, Herr Dr. Felsinger. Wie darf ich Ihnen bitte behilflich sein?“

„Vielen Dank, Sarah. Ich kümmere mich um die Dame.“ Richard fixierte Rosa mit seinem Saphirblick und er entdeckte das Klemmbrett in ihrer Hand. In seinen Augen begann es diabolisch zu funkeln. „Guten Abend, Frau Ennberg. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie sich nicht die geringste Hoffnung auf die ausgeschriebene Stelle machen können.“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie haben sehr viele andere Qualifikationen. Ich hatte gehofft, mich deutlich genug ausgedrückt zu haben: Die Zukunft hält neue Aufgaben und Chancen für Sie bereit.“

Die ahnungslose Empfangsdame floh vor der drohenden Konfrontation und wandte sich geschäftig anderen Dingen zu. Rosa hielt Richard das Klemmbrett hin. „Guten Abend. Herzlich willkommen bei Communicate. Wie schön, dass Sie kommen konnten.“ Sie zeigte mit Nachdruck auf das Formular. „Bitte seien Sie so freundlich und füllen Sie vor der ersten Runde noch dieses Formular für uns aus. Wir legen es dann Ihrem Bewerbungsbrief und Ihrem Lebenslauf bei.“ Sie weidete sich an Richards Grübchen, während er versuchte, ein Lachen zu unterdrücken und legte noch ein Scheibchen drauf. „Ich bin mir sicher, dass Sie mit Ihren Qualifikationen hier genau richtig sind.“

Richard nahm ihr das Klemmbrett ab und legte es auf die Empfangstheke. „Darf ich Sie jetzt zum Ausgang begleiten, Frau Ennberg?“ Er nahm Rosa am Arm und drückte sie sanft. Sarah folgte der Szene mit wachsender Besorgnis. Sie hatte noch nie erlebt, dass ihr Chef jemanden so offensichtlich und an der Grenze zur Unhöflichkeit vor die Tür setzte. Sie hätte noch mehr gestaunt, wenn sie gewusst hätte, dass der CEO von Communicate die Dame bis um die nächste Häuserecke mit sich schleifte, um sie dann schwungvoll in die Arme zu nehmen. Richard fiel über Rosas Mund her. „Ich habe dich so vermisst. Ohne dich habe ich heute Nacht kaum ein Auge zugetan“, flüsterte er ihr zwischen seinen Küssen zu. Er schob seine Hände unter Rosas Jacke und umarmte sie bei ihrer Taille. Er genoss es, dass sie dadurch gegen ihn fiel und er ihre weiche Oberweite an seiner Brust spüren konnte.

Rosa sah ihn prüfend an. „Na, harter Tag heute?“ Richard nickte und deutete mit dem Kopf zum anderen Ende der Straße, wo sich ein Park befand. Er nahm Rosa bei der Hand. „Hilf mir, dem Irrenhaus für ein paar Minuten zu entfliehen.“

Hand in Hand spazierten sie zu den Grünflächen und Richard suchte eine Bank mit Blick auf den Ententeich aus. Rosa konnte ihm ansehen, dass er schon von seinen letzten Reserven zehrte. Sie kramte in ihrer Tasche, für die sie sich von ihren Kindern schon des Öfteren Neckereien anhören musste, weil Rosa für jede Lebenslage immer das Richtige darin fand: Mamas Mary-Poppins-Bag. Sie förderte eine Box zu Tage, auf der ein fröhlicher Drache Grisu mit einem Feuerwehrschlauch hantierte. „Frische Schinken-Käse-Muffins; Christians Jause für morgen. Du brauchst sie im Moment dringender. Ich lasse mir zu Hause etwas Anderes für ihn einfallen.“

Richard lachte und öffnete die Schachtel. „Danke, ich lasse mich sehr gerne von dir betüdeln.“ Er biss in den ersten Muffin. „Mmm“, brummte er zufrieden und lehnte sich zurück. Rosa ließ ihm Zeit und genoss die Zweisamkeit. Ihr Blick blieb an einem Entenpaar hängen. „Aus einer Dokumentation erfuhr ich einmal, dass Enten ihr ganzes Leben lang zusammenbleiben“, begann sie zu plaudern. „Ich wusste das nicht und habe einmal Tränen gelacht, als ich genau hier ein Entenpaar beim Streiten beobachtete. Es war so menschlich. Sie schimpfte furchterregend laut quakend und watschelte dabei ständig davon. Er folgte ihr mit sehr betroffenem Gesichtsausdruck und suchte offensichtlich das Versöhnungsgespräch.“ Rosas Blick war in die Vergangenheit gewandert und sie lächelte. „Ich kann gar nicht zählen, wie viele Stunden ich mit den Kindern hier verbracht habe.“ Sie deutete auf den hinteren Teil der Parkanlage. „In der schönen Jahreszeit haben wir auf diesem Spielplatz jede Minute ausgenutzt. Aus praktischen Gründen nahm ich unser Abendessen immer gleich mit.“ Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Dose. „Zu Hause brauchte ich die Kinder nur mehr in die Badewanne und anschließend ins Bett zu stecken. Und jeden Abend lief die Waschmaschine.“

Richard wusste aus einem früheren Gespräch mit Rosa, dass sie es mit der Kleidung und den anderen Sachen der Kinder recht entspannt genommen hatte. Er lächelte: „Ich vermute, du hast sie nach Herzenslust im Matsch spielen lassen.“

Rosa nickte. „Ja, sie hatten alle Freiheiten. Dafür ist ein Spielplatz da.“ Sie lächelte, als ihr eine Episode von früher einfiel. „Einmal hatte Tina ein ziemlich blaues Auge, weil sie im Kindergarten einen Streit schlichten wollte und dabei ... äh ... zwischen die Fronten geraten war. Jonki zerriss sich am selben Tag bei einem abenteuerlichen Manöver auf dem Klettergerüst beide Hosenbeine und Christian hatte im Sandkasten ein Wasserloch ausgehoben, um sich wie ein glückliches Wildschein ausgiebig darin zu wälzen.“ Sie strich mit den Händen über ihr Gesicht und ließ die Hände auf ihren Wangen liegen. „Du hättest sie sehen sollen. Ich war darauf gefasst, dass jemand die Fürsorge ruft, damit mir die Kinder auf der Stelle wegen grober Vernachlässigung und Misshandlung entzogen werden.“

Richard lachte schallend und seine ganze Anspannung war wie weggewischt. Er hatte alle drei Muffins verdrückt und war wieder voller Tatendrang. Er gab ihr die Schachtel zurück. „Danke, mein wunderbare Rosa, genau das und deine netten Erzählungen habe ich jetzt gebraucht.“ Er lächelte sie an. „Jedes Mal, wenn ich mit dir zusammen bin, geht es mir gut.“

„Wie war der Tag bei deinen Eltern?“, fragte sie sanft. „Neptun war vermutlich überglücklich, dass er wieder bei ihnen war“, fuhr sie fort. Richard nickte, doch in seinen Augen tauchte ein Schatten auf. Rosa sah ihn prüfend an. „Ist etwas nicht in Ordnung?“

„Meinem Vater geht es nicht besonders gut. Sie haben mir gestern gebeichtet, dass er eine recht große Operation braucht und auf irgendeiner Warteliste steht.“ Er schüttelte unwillig den Kopf. „Bei all den finanziellen Mitteln, die ich ihnen zur Verfügung stellen kann, lässt er sich auf eine Warteliste setzen. Ich gestehe, dass ich das nicht besonders gut aufnahm.“ Richards Kiefer mahlten vor Wut. Rosa hob ihre Hand und strich ihm über die Wange. Augenblicklich entspannte er sich.

„Was hatten sie für Gründe?“, wollte sie wissen. Richard seufzte. „Es gibt da irgendeinen Spezialisten, der in der Karwoche nicht operiert. Mein Vater erklärte mir, dass es wegen des Personalmangels in den Ferien sei.“ Rosa lächelte. „Und du wolltest natürlich sofort wissen, warum dein Vater keinen fixen Termin gleich nach Ostern hat.“

„Mmh, ja“, gab Richard zu. „Ich ließ meine Eltern aber in Ruhe und telefonierte heute selbst mit dem Arzt. Er holte mich von meiner Palme runter und versicherte mir, dass mein Vater in besten Händen sei. Seine anderen Fälle seien aber noch dringender und sobald sich eine Gelegenheit ergäbe, sei mein Vater sofort dran.“ Richard blies die Luft aus und legte seinen Arm um Rosa. Sie lehnte sich an seine Schulter. „Hat der Arzt einen Termin in Aussicht gestellt?“

„Vermutlich Anfang nächster Woche. Neptun kommt dann wieder zu mir.“ Richard küsste Rosa auf den Scheitel. „Ich muss noch für ungefähr eine Stunde ins Büro zurück und morgen in aller Früh fliege ich nach London. Verbringst du die Nacht bitte trotzdem mit mir? Ich lasse dich auch schlafen“, sagte er leise.

Rosa nickte. „Wie lange bist du weg?“, wollte sie wissen. Sie sah auf und merkte, dass Richard nicht sehr glücklich wirkte. „Ich hoffe, nur einen, maximal zwei Tage. Unser Verkaufsleiter, Severin Jester – du kennst ihn ja von der Veranstaltung, bei der du mit dabei warst – hat irgendeinen russischen Oligarchen an der Angel und der will den Deal nur mit dem CEO aushandeln.“

„Wieso in London?“ Sie spürte, dass Richard mit den Schultern zuckte. „Er residiert dort.“ Er lachte leise. „Vermutlich, weil sein aktuelles Liebchen lieber auf der Bond Street als im GUM shoppen geht.“ „GUM?“ „Das ist ein riesiges Einkaufszentrum in Moskau. Es war schon zu Sowjetzeiten ein Warenhaus und ist jetzt eine angesagte Shoppingmall, aber eben nicht die Bond Street.“ Er seufzte. „Ich kann dir sagen, dass ich aus verständlichen Gründen keine rechte Lust auf die Russen habe. Nach der Geschichte mit den Fedotows – danke, kein Bedarf!“

Rosa musste lachen, aber gleichzeitig spürte sie, wie sich ihr Magen bei den Erinnerungen verknotete. Sie löste sich aus Richards Umarmung. „Gut, ich gehe in der Zwischenzeit nach Hause.“ Richard sah auf seinen Mikrogrider von Tag-Heuer. „Ich hole dich um neun Uhr ab.“

Rosa stopfte die Box in ihre Handtasche. „Grisu wird sich morgen selbst um seine Jause kümmern müssen“, murmelte sie. „Rosa, mein Liebling, ich bin mir sicher, dass er alle Kriterien für eine beschränkte Geschäftsfähigkeit erfüllt.“ Er sah die Fragezeichen in ihren Augen. „Soll in Juristendeutsch heißen, dass er sich seit dem siebten Lebensjahr seinen Süßkram und seine Micky-Maus-Hefte selbst kaufen darf.“ Richard grinste sie an. „Der Bäcker, der vermutlich auf dem Weg zur Schule liegt, wird sich genauso vorbildlich um ihn kümmern wie du.“ Richard war schnell genug und wich Rosa aus, bevor sie ihn in die Seite knuffen konnte.

4

Johannes hob irritiert den Kopf. Klingelte es tatsächlich an seiner Wohnungstür oder litt er aufgrund der Menge von Arbeit schon an einer aggressiven Form von Tinnitus? Er blinzelte, um die Welt außerhalb seines Bildschirms wieder wahrzunehmen. Seine Knie protestierten, als er aufstand. „Ja, ich komme ja schon“, grummelte er ungehalten und erkannte durch das Milchglas seiner Wohnungstür Marias hübsche Rundungen. Er stöhnte auf. Widerwillig legte er den Schlossriegel um und machte die Tür auf. „Hallo, Maria“, sagte er zurückhaltend.

Maria riss die Augen auf. „Bist noch oder schon wieder im Pyjama?“

Johannes sah verwirrt an sich herab. Er trug tatsächlich noch die Sachen, in denen er oft schlief. Das altersschwache T-Shirt stammte noch aus den Tagen vor seiner Militärzeit und spannte sich um seinen Brustumfang. Die schlabbrige Hose passte ihm besser, war deswegen aber nicht wesentlich kleidsamer.

„Wie spät ist es?“ Jonki fuhr sich durch die Haare. „19:00 Uhr“, gab Maria leise zurück. Sie hielt einen Papiersack hoch. „Ich habe ein frisches Kartoffelbrot gebacken und bin gekommen, weil ich dir einen Vorschlag machen möchte.“

Johannes schwante übles, doch seine Mutter hatte ihn zu gut erzogen, um die junge Frau noch weiter auf dem Gang herumstehen zu lassen. Er trat einen Schritt zurück und hielt die Tür auf. Als Maria an ihm vorbeiging, stiegen ihm ihr zarter Blumenduft und der Geruch des frischen Brots in die Nase. Für die Erweckung männlicher Instinkte war er zu müde, doch sein Magen knurrte laut.

Maria drehte sich zu ihm. „Sollen wir lieber gleich essen?“ Sie drückte ihm ihr Mitbringsel in die Hand. Er nickte dankbar und deutete mit dem Kopf auf die Garderobe. „Du kennst ja den Hausbrauch.“

Jonki verschwand in der Küche und entdeckte im Papiersack neben dem Brot noch eine verschließbare Schüssel. „Was ist das andere?“, wollte er wissen, während er zwei Teller bereitstellte.

„Ein Frühlingsaufstrich mit frischem Bärlauch.“ Maria kam in die Küche. Jonki lächelte. „Wir haben am Montag bei unserer Wanderung auch eine Menge davon eingesammelt. Meine Mutter macht dann Ravioli oder Aufläufe damit. Schmeckt toll.“ Er stellte eine gebrauchte Frühstücksschüssel ins Spülbecken. Seine Besucherin hob die Augenbrauen. „Viel hast du ja heute noch nicht gegessen.“

Johannes zuckte mit den Schultern. „Ich muss ein ziemlich großes Projekt fertigbringen und ärgere mich schon seit vier Uhr früh mit einer Datenbank herum.“ Er stellte zwei Gläser auf den Tisch und füllte einen Krug mit Leitungswasser. Das heiß ersehnte Bier in seinem Kühlschrank musste warten, bis er mit der Arbeit fertig war. Er sah auf. „Servietten habe ich keine. Ich kann nur ein Tuch von der Küchenrolle anbieten.“ Maria signalisierte ihm, dass es für sie okay war. Sie holte das Schneidbrett von der Ablage und zog die Lade auf, in der das Brotmesser lag. Ihre Kenntnisse der Küche erinnerten Jonki unangenehm daran, wie viel Zeit sie mit Ludwig verbracht hatte. Angeblich hatten sie intensiv an einem Programm gearbeitet, das Kindern in Zeiten der Smartphones den Umgang mit Computermaus und Tastatur wieder nahebringen sollte. Maria wollte das Projekt als Abschlussarbeit für ihr Studium der Heil- und Sonderpädagogik abgeben. Johannes wusste, dass Ludwig die ganze Arbeit zusammen mit seinen eigenen Geräten und Jonkis ganzer EDV-Ausrüstung bei seinem ziemlich überstürzten Aufbruch mitgenommen hatte. Das schmerzte ihn jetzt noch.

Maria schnitt das frische Brot auf und der aufsteigende Duft stimmte Johannes versöhnlicher. Sie legte drei Scheiben auf seinen Teller und nahm sich selbst eine. „Woran arbeitest du?“

Johannes nahm sich eine beträchtliche Menge Aufstrich, verteilte ihn etwas auf dem Brot und biss zuerst kräftig zu, bevor er Maria antworten wollte. Er war für weitere Höflichkeiten einfach zu hungrig. Während des Kauens zeigte er mit dem Daumen nach oben und seine grauen Augen lächelten Maria an. Nach dem zweiten Bissen sagte er: „Im Prinzip könnte das jede gute Bürokraft wahrscheinlich besser hinkriegen, aber der hochnäsige Kerl zahlt gut.“ Johannes verzog das Gesicht. „Es geht um die Kontaktdatenbank einer Gräfin von Bumsti, die mit einer Benefizgala Geld für Waisenhäuser in Rumänien sammeln möchte. Die edlen Gäste haben alle, wirklich ALLE, irgendeinen Titel. Der Assistent, ein Herr von Boden, hat diese Anreden, Titel und Namen sowie die Adressen in eine Tabelle geklopft und scheitert nun aber an der Verwertung der Daten.“ Johannes verdrückte das restliche Brot und nahm sich die nächste Scheibe. Während er wieder großzügig Aufstrich verteilte, erklärte er weiter: „Er will die Kuverts direkt bedrucken, die Einladungen personalisieren und einen Spendenaufruf mit der korrekten Anrede haben. Es geht immerhin um tausend Leute.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich kenne mich mit dem ganzen Titelkram überhaupt nicht aus. Herr von Boden hat mich von Anfang an merken lassen, dass Leute wie ich normalerweise nicht einmal dieselbe Luft atmen dürfen wie er und eben jene Gräfin von Bumsti. Aber er ist auch ziemlich verzweifelt. Es geht um die richtige Position dieser Titel - vorgestellt, nachgestellt und was weiß ich. Eine Datenbank kann aber immer nur ein Feld identifizieren und platzieren.“ Johannes war wieder in seinem Element. „Wenn jetzt jemand Herr Kammersänger, Professor und Hofrat Sonstwas ist, dann muss jeder Titel in einem eigenen Feld stehen. Ist alles richtig, kann ich dem Seriendokument genau sagen, dass er hier Titel 1, dann Titel 2 und dann Titel 25 einfügt. Nur so klappt das. Ich zerpflücke schon den ganzen Tag diese blöde Tabelle und erweitere sie.“ Er holte genervt Luft. „Das funktioniert jetzt, aber Herr von Boden hatte keine Zeit mehr, um mir die Sache in der nötigen Tiefe zu erklären. Wie sagt man es jetzt richtig? Dr. Exzellenz, Professor Magister, Hochwohlgeboren Dr. oder Dr. Hochwohlgeboren? Es gibt sogar Eminenz und Magnifizenz.“ Johannes schüttelte verständnislos den Kopf.

Maria zuckte mit den Schultern. „Na, ja. Die Sache mit den Titeln ist im Grunde recht einfach.“ Sie deutete mit der Hand verschiedene Schritte an. „Es wird zwischen den Anreden, Adelstiteln, akademischen Titeln und Berufstiteln sowie verliehenen Titeln unterschieden. Bei den Adelstiteln gibt es titulierte und nicht titulierte Adelsnamen sowie ein paar kleine Ausnahmen. Für die akademischen Würden gibt es genaue Regeln, in welcher Reihenfolge sie angegeben werden. Da muss man dann nur noch auf den Doktor honoris causa aufpassen. Im englischen Sprachraum und seit der Systemumstellung bei uns werden nachgestellte akademische Titel verwendet wie Bachelor und Master.“

Johannes hatte sein Brot sinken lassen und sah Maria mit offenem Mund an. Sie spielte verlegen mit ihrem Küchentuch. „Meine Großmutter war so eine Freiin von Bumsti, wie du sagen würdest. Sie hat mir das Protokoll jeden Sonntagnachmittag eingebläut, wenn wir zu Kaffee und Kuchen geladen waren.“

„Geladen? Ja, das ist wohl der richtige Ausdruck“, murmelte Johannes.

Maria verschränkte die Arme vor der Brust, wobei sich ihre Oberweite erfreulich nach oben rundete. Johannes war einen Moment abgelenkt. Doch Marias berechnender Blick ließ seine Alarmglocken klingeln. „Hör zu, Jonki, ich helfe dir bei dieser Sache und du wirst dafür über meinen Vorschlag nachdenken.“

Erst jetzt fiel Johannes wieder ein, dass Maria ja aus einem bestimmten Grund gekommen war. Er signalisierte seine Bereitschaft, ihr zuzuhören.

„Die zuständige Stelle auf der Uni hat bis September keine Studentenzimmer frei und ich muss in zwei Tagen aus Sabines Wohnung ausziehen.“ Jonkis Miene verhärtete sich. Maria konnte sein „Nein“ auch hören, ohne dass er es aussprach. „Es ist nur für den Rest des Semesters und den Sommer. Im September bekomme ich fix ein Zimmer in einem Studentenwohnheim.“ Sie suchte nach Argumenten. „Ich kann auch das Putzen übernehmen.“

Johannes starrte zuerst Maria an, dann die verbliebene Scheibe Brot auf seinem Teller und zuletzt die Schüssel mit dem Aufstrich. Nach einer gefühlten Ewigkeit lehnte er sich zurück und verschränkte nun seinerseits die Arme. „Nur vier Monate?“, hakte er nach.

Völlig überrascht von der plötzlichen Kehrtwende nickte Maria und fiepte: „Ich glaube, ja.“ Sie überschlug rasch die Kalendermonate. „Ja.“

„Einverstanden“, brummte Johannes. Sein tiefer Bass fuhr ihr in die Glieder. Maria hielt kurz den Atem an. Dann sah ihr Johannes direkt in die Augen. „Das mit dem Putzen bleibt so, wie es ist. Wenn meine Mutter dahinterkommt und Mütter haben für so etwas irgendein eigenes Radar eingebaut, dass ich meinen Dreck nicht selbst wegräume, dann macht sie mich um einen Kopf kürzer.“

Maria zuckte kurz zusammen, denn sie hatte Jonkis Mutter schon in voller Rage erlebt. „Ja, das kriegt sie problemlos hin“, wisperte sie. Sie sah, dass Johannes sein letztes Stück Brot in Angriff nahm. Sie zeigte auf die Theke. „Möchtest du noch etwas?“

Jonki sah auf und verengte die Augen. „Lass das gleich von Anfang an gut sein, Maria. Aber trotzdem, danke, nein.“

„Oh, tut mir leid“, wisperte sie. „Ich bin es von zu Hause noch so gewöhnt.“

„Deine Familie hat sich von dir bedienen lassen?“, fragte Jonki fassungslos.

Maria hob kaum merklich die Schultern. „Ich weiß nicht, irgendwie war es selbstverständlich. Ich habe auch bei Sabine alles gemacht, weil ich ja bei ihr wohnen durfte.“

Johannes verbiss sich jeden weiteren Kommentar und sagte: „Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich gleich weiterarbeiten. Folgender Vorschlag: Ich räume die Küche auf und ziehe mir andere Sachen an. In der Zwischenzeit siehst du dich im freien Zimmer um. Es sind noch ein paar Möbel da oder hast du eigene Sachen?“

„Nur ein Bett und einen Schreibtisch.“

Jonki nickte. „Ich kann das vorhandene Bett im Keller unterbringen. Schau dir bitte den Kasten an, ob er für deinen ganzen Kram reicht.“

„Oh, ich habe nicht so viel zum Anziehen.“ Sie lächelte verlegen. „Das war eher etwas für meine Schwester. Sie hatte eine sehr vorteilhafte Figur.“

„Was verstehst du unter vorteilhaft?“ Johannes ließ seinen Blick über Marias nette Kurven gleiten.

„Größe 34. Sie konnte wirklich alles tragen.“

„Mmh, das sagt mir nichts. Aber 34 klingt nicht so, als würde ein richtiger Mann gerne damit knuddeln.“

Marias Wangen liefen flammend rot an und sie floh in das freistehende Zimmer. „Ich sehe mir den Kasten an.“

Johannes sah ihr kurz nach und ging dann mit einem Kopfschütteln in die Küche. Er räumte schnell auf und suchte in seinem Zimmer nach einem Paar sauberer Jeans. Während er ein frisches T-Shirt überstreifte, hörte er Maria fragen. „Bist du fertig?“

„Ja, ja, komm rein.“ Maria hatte ihre Tasche um die Schulter gehängt und folgte Jonkis Aufforderung, auf seinem Schreibtischsessel Platz zu nehmen. „Ich hole noch einen Sessel aus der Küche.“

Maria nahm Platz und sah sich im Zimmer um. Besonders viel schien Johannes nicht zu brauchen. Sein Bett war so ordentlich gemacht, dass sich Maria darüber wunderte. Sie lächelte, als sie auf dem Nachtkästchen einen netten Stoffeisbären entdeckte, der Jonki durch seine Kindheit begleitet haben dürfte.

An Möbeln besaß Johannes nur seinen Arbeitstisch und eine Kommode. Auf einem Regalbrett darüber thronten zwei Motorradhelme und wurden von einigen, zerlesenen Informatikbüchern flankiert. An den Wänden hingen mehrere Poster – ausnahmslos alle mit Bildern von Protagonisten oder Hintergrundszenen aus der Filmreihe von Starwars. Maria kannte Jonkis Begeisterung für den ewigen Kampf zwischen den Jedi-Rittern und der dunklen Seite der Macht. Er hatte sogar eine der Hauptfiguren, den kleinen grünen Meister Yoda als Firmenlogo und den Namen Jodamatik gewählt.

Maria schaute weiter. In der verbliebenen freien Zimmerecke lagen mehrere Hanteln. „Kein Wunder, dass er aussieht wie Captain America“, murmelte Maria und kramte in ihrer Studientasche nach einem Blöckchen mit Haftnotizen. Sie warf einen Blick auf Jonkis Arbeit. Eine riesige Tabelle mit eng beschrifteten Feldern füllte den Bildschirm. Maria scrollte durch die Liste, nahm einen von Jonkis Stiften und fing mit dem Beschriften der gelben Haftnotizen an. Johannes kehrte mit dem Küchensessel zurück, rollte Maria samt Sessel sanft zur Seite und quetschte sich neben sie.

„Wieso schreibst du den Firmennamen eigentlich Jodamatik mit J?“, wollte Maria wissen und zeigte auf eine Ecke des Laptops.

„Mein voller Name lautet Johannes Daniel“, antwortete er knapp und beließ es bei dieser Erklärung. Er sah, was sie vorhatte und stapelte einige Bücher, damit sie eine freie Fläche hatte. Es dauerte eine Weile, bis alle Titel aufgeschrieben waren.

„Wunderbar“, stellte Maria zufrieden fest und begann mit der Positionierung der Notizen. Dabei erklärte sie mit der Engelsgeduld, die eine Lehrerin für einen besonders minderbemittelten Schüler an den Tag legen würde, die Regeln. Johannes musste lächeln, doch er war so müde, dass er sie gewähren ließ. Während Maria die verschiedenen Möglichkeiten durchging, setzte Jonki ihre Erläuterungen um. Zwei Stunden später konnte er das Modell für die personalisierten Einladungen abspeichern, hatte den Kopf für den Spendenbrief fertig und stellte mit Marias Hilfe die richtige Beschriftung für die Kuverts zusammen. „Die haben doch alle einen an der Waffel“, murmelte Johannes, als er seine Arbeit endlich beenden konnte. Dann grinste er übers ganze Gesicht. „Nun habt vielen Dank, Fräulein Hochwohlgeboren Maria Exzellenz von und zu Hellwag, Bachelor.“

„Oje“, stöhnte Maria auf. „Du hast ja überhaupt nichts kapiert.“

Johannes lachte laut und lächelte Maria dann auf eine Art und Weise an, dass ihr dabei ganz warm wurde. „Ich WILL es auch gar nicht kapieren. Ich kontrolliere noch einmal alle Abstände und morgen früh verlässt die ganze edle Schar auf Nimmerwiedersehen meine Wohnung.“

5

Richard beugte sich über Rosa und weckte sie mit einem Kuss auf. Er war frisch geduscht, fertig angezogen und roch dezent nach einem fantastischen Aftershave. „Guten Morgen, Dornröschen.“ Er lächelte und strich ihr einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Wie spät ist es?“, brabbelte sie verschlafen.

„Kurz vor fünf.“ Richard lachte leise. „Du wolltest aufgeweckt werden.“

„Mmh, ja, das war gestern. Das gilt heute nicht mehr. Wie kannst du so unverschämt wach sein?“

„Kalte Dusche. Pass auf, wenn du dich nachher drunter stellst.“ Rosa grummelte etwas Unverständliches. Richard nahm seine Uhr vom Nachtkästchen und kontrollierte sein Telefon. „Nicht aufgeladen. Ich muss es auf dem Weg zum Flughafen im Auto anstecken.“

Rosa rappelte sich aus dem Bett hoch. Sie zog Richard weich und warm wie sie war in ihre Arme. Er stöhnte. „Du machst es mir so nicht leichter, mein Liebling.“

„Gute Reise und komm bitte bald wieder“, flüsterte Rosa und gab ihm einen liebevollen Schubs, damit er sie wieder losließ.

„Lass mich wissen, wenn du gegangen bist. Ich aktiviere dann später die Alarmanlage vom Telefon aus.“ Er stahl Rosa noch einen Kuss.

Nachdem er gegangen war, stand sie noch ein paar Augenblicke leicht desorientiert im Schlafzimmer und bekam nur vage mit, dass die schwere Haustür ins Schloss fiel. „Dusche oder zuerst doch der Kaffee?“, murmelte sie und ließ die Dusche gewinnen. In weiser Voraussicht stellte sie den Regler der Wassertemperatur um und entschied sich für das sanfte Regenwaldprasseln. Für ihre Verhältnisse ungewöhnlich lange Zeit später stieg sie erfrischt auf den flauschig weichen Badezimmerteppich und vergrub sich in den Frotteebademantel. Zuerst konnte sie das fremde Geräusch nicht zuordnen, aber dann identifizierte sie das Klingeln des Festnetztelefons. „So früh?“, wunderte sich Rosa und ließ es klingeln.

Der Anrufbeantworter sprang an. „Richard? Richard, bist du wach? Hier ist Mama. Bitte ruf mich dringend zurück.“

Als Rosa mit dem Anziehen fertig war, klingelte es wieder. „Richard, noch einmal Mama. Ich kann dich auch am Mobiltelefon nicht erreichen. Bitte ruf mich an.“

Rosa war gerade dabei, Richard eine Nachricht zu schicken, als das Telefon wieder klingelte. Rosa stand neben der Kaffeemaschine und überlegte, ob sie abheben sollte. Sie gab sich einen Ruck. „Hallo, hier bei Dr. Felsinger“, meldete sie sich korrekt. Sie hörte, wie am anderen Ende der Leitung der Hörer weggehalten wurde, doch mit wenig Erfolg. „Da hat eine Frau abgehoben. Ist das eine Reinigungskraft?“, sagte ein Mann leise, der wohl Richards Vater war.

Rosa war schon versucht zu sagen, dass sie die Köchin sei, als Richards Mutter intervenierte. „Ach, herrje, Arthur nein! Das muss diese nette Rosa sein. Richard hat uns doch von ihr erzählt.“ Arthur wurde der Hörer entwunden.

„Ähm, ja. Hallo, darf ich bitte Rosa sagen? Hier ist Irmgard, Richards Mutter.“

Rosa lächelte. „Ja, gerne. Hallo, Irmgard. Richard ist vor einer halben Stunde zum Flughafen aufgebrochen. Ich schicke ihm eine Nachricht und er ruft Sie dann sicher bald zurück.“

„Oje“, kam es von Irmgard. Der folgende Satz klang hohl und durfte Arthur gelten. „Richard ist schon weg. Was machen wir denn jetzt?“

„Hallo, Rosa“, meldete sich Richards Mutter zurück. „Entschuldigen Sie bitte. Ich bin so furchtbar verwirrt.“

„Alles kein Problem. Worum geht es denn?“

Irmgard holte Luft und sprudelte über: „Ich weiß nicht, ob Richard etwas erzählt hat. Mein Mann muss doch operiert werden und wir erhielten vom Krankenhaus den Anruf, dass er heute drankommen kann. Die Dame am Telefon sagte, dass sie sich so früh melden wollten, damit Arthur auf jeden Fall nüchtern bleibt.“ Irmgard holte Luft. „Jetzt wissen wir nicht, wo Neptun bleiben kann.“

Nun war es Rosa, die Luft holte. „Ja, Richard erzählte mir von der Sache. Er wollte Neptun am Wochenende holen kommen.“

Im Hintergrund sagte Arthur etwas zu seiner Frau. Sie drehte wieder den Kopf vom Hörer weg. „Nein, ich fühle mich gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass du alleine ins Spital fährst.“

„Hallo, Rosa“, sagte Irmgard wieder. „Bitte verzeihen Sie, dass wir Sie so lange aufhalten. Es ist alles sehr schwierig für uns.“

Rosa fühlte Irmgards Verzweiflung beinahe körperlich. „Richard ist nur für zwei Tage weg. Wenn Sie es möchten, kann ich Neptun nehmen. Er ist ja ein sehr lieber Hund.“

„Das könnten Sie für uns tun? Oh, Richard sagte uns ja, dass Sie ganz wunderbar seien.“

Rosa lächelte. „Können Sie irgendwie Neptuns Transport in die Stadt organisieren? Ich habe leider kein Auto.“ Und weiß auch gar nicht, wo Sie eigentlich genau wohnen, fügte sie in Gedanken hinzu.

Irmgard verhandelte im Hintergrund wieder mit ihrem Mann. „Hallo, Rosa. Arthur sagt, dass unser Nachbar jeden Tag zur Arbeit in die Stadt fahre. Wir fragen ihn, ob er den Hund zu Ihnen bringen kann. Richard erzählte uns, dass Sie ein ausgezeichnetes Restaurant führen. Leider wird es uns nicht so schnell möglich sein, einmal zu Ihnen zum Essen zu kommen. Das wäre doch sehr nett gewesen. Kann Neptun denn dort bei Ihnen sein?“, sorgte sich Richards Mutter.

„Ja, das geht. Ich richte einen Platz für ihn und ich weiß ja auch, wann er ungefähr vor die Türe muss. Die Zeit, zu der er Futter bekommt, ist mir ebenso bekannt.“

„Oh, das ist ja alles ganz wunderbar. Wir geben unserem Nachbarn das Hundefutter mit. Wie ist denn bitte die genaue Adresse? Und haben Sie auch eine Telefonnummer, die Sie uns geben können?“

Mit einer Engelsgeduld sagte Rosa alles so langsam auf, bis Irmgard ihr signalisierte, dass sie verstanden hatte. „Wie können wir Ihnen nur jemals danken?“

„Ich mache es sehr gerne. Richten Sie bitte Ihrem Mann alles Gute für den Eingriff aus. Richard wird sich sicher bald bei Ihnen melden.“

„Ja, danke sehr, Rosa. Und auf Wiederhören.“

„Auf Wiederhören.“

Für einen Wimpernschlag verwünschte Rosa ihre Großmütigkeit, doch sie wusste auch, dass sie das einzig Richtige tat. Sie sammelte Neptuns Liegedecke auf und ein Spielzeug, das er gerne mit seinen verbliebenen Zähnen bearbeitete. Sie fand in Richards futuristischer Küche einen Einkaufssack und stopfte Neptuns Futterschüssel zu den anderen Sachen. „Die Leine wird er wohl mithaben“, murmelte sie und sah sich kurz im Haus um, ob sie nichts vergessen hatte.

Rosa ging aus Gewohnheit zu Fuß zum Mittagstisch und genoss die laue Luft, die einen herrlichen Frühlingstag ankündigte. Eine knappe Stunde später traf sie im Restaurant ein. Ihre Putzhilfe Mimi war wohl früher als üblich gekommen und schon wieder davongeeilt, doch Rosa konnte riechen, dass sie ihre Arbeit so gründlich wie immer erledigt hatte. Kaum hatte sie ihren Mantel abgelegt und ein Plätzchen für Neptun gerichtet, wurde ihr Logiergast durch ein forsches Klopfen angekündigt.

„Guten Tag. Ich bin der Nachbar der Familie Felsinger. Bitte entschuldigen Sie mich gleich wieder. Ich muss dringend weiter.“ Er drückte Rosa die Leine in die Hand und stellte eine schwere Einkaufstasche mit Hundefutter ab. Zwei Sekunden später saß er wieder im Auto und fädelte sich in den dichten Morgenverkehr ein. Der gute Neptun wedelte Rosa mit seligem Blick an. „Hallo, mein Lieber, ich dachte nicht, dass wir uns so schnell wiedersehen. Du wohl auch nicht.“ Rosa überlegte kurz. „Wenn wir hier schon so nett beisammen stehen, dann drehen wir lieber gleich einmal eine Runde um den Häuserblock.“ Rosa befestigte Neptuns Leine kurz am Türknauf und holte ihren Mantel wieder vom Haken. Zum Glück entschied sich Neptun gleich bei der ersten Gelegenheit für eine gründliche Erleichterung seiner Blase. Er konnte schon längst nicht mehr Bein heben und markieren. Rosa ließ ihn noch etwas herumschnüffeln und kehrte dann in den Mittagstisch zurück. Neptun war etwas verwirrt, als er seine Decke an einem neuen Ort erkannte, doch seine Behäbigkeit siegte schnell. Er ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer nieder.

Rosa warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sie noch ganz gut in der Zeit war. Sie sperrte die Tür nicht wieder zu, sondern drehte nur eine altmodische Glocke herunter, die ihr später den Briefträger ankündigen würde. Rosa eilte in den Abstellraum, der ihr gleichzeitig als Umkleide diente und wählte für den Tag eine grüne Kochhose mit dazu passender geblümter Jacke. Routiniert drehte sie ihre Haare zusammen und band sich ein grünes Kopftuch um. Sie hörte die Glocke und dann gleich die Stimme ihrer Tochter. „Ja, hallo, Neptun“, grüßte sie freudig. Sie hatte den Labrador kennengelernt, als Richard jeden Tag der Karwoche mehrere Stunden im Mittagstisch verbracht hatte.

„Hallo, Mama. Geht es dir gut? Ich bin immer noch etwas verwirrt, wenn du in der Früh nicht da bist.“

„Ja, alles bestens. Neptun bleibt für zwei Tage bei uns.“

Tina zog die Nase kraus. „Oje, gerade heute früh hat uns Sir John wieder mit seiner Anwesenheit beehrt.“

Der riesige, gelbäugige Stubentiger zog bei Familie Ennberg seit mehr als zehn Jahren in unregelmäßigen Abständen ein und wenige Tage später wieder aus. Rosa wusste bis heute nicht, wem er gehörte oder, ob er überhaupt einen Besitzer hatte. Aber er war nie ungepflegt oder zerzaust. Wahrscheinlich gönnte er sich nur hin und wieder eine Auszeit, um den Ennbergs seine Gunst zu erweisen. Rosa schnalzte mit der Zunge. „Die beiden müssen sich eben arrangieren. Zur Not komplimentieren wir Sir John hinaus. Neptun hat keinen anderen Platz, wo er hingehen kann.“

Tina knuddelte eine Weile selig mit dem alten Hund und eiste sich nur für eine Tasse frischen Kaffees los. „Kann ich eine Weile hier lernen?“, fragte sie unerwartet.

Rosa lächelte. „Ja, gerne. Bis kurz vor zwölf herrscht elegische Ruhe.“

Tina richtete sich an dem Tisch ein, wo Richard immer gesessen hatte und prompt wechselte Neptun zu ihr. Er liebte es, auf irgendjemandes Füßen zu liegen und Rosas Tochter schien es auch sehr zu gefallen.

Am späten Nachmittag hatte Rosa alle Spuren des Tages weggeräumt und auf dem Herd köchelte eine Bärlauch-Käse-Sauce, die sie am nächsten Tag mit Nudeln servieren wollte. Ihr Mobiltelefon kündigte eine eingehende Nachricht an. Sie war von Richard:

Du bist nicht nur die schönste, sondern auch die beste aller Frauen. DANKE, dass du dich um Neptun kümmerst. Mein Vater hat die OP gut überstanden. Gruß von meinen Eltern. Kuss von mir.

Richard hatte ein rotes Herz neben seine Nachricht gesetzt und am Schluss ein U. Rosa war in der Emoji-Sprache noch immer nicht ganz firm. Doch nach kurzem Nachdenken lächelte sie über die Liebeserklärung. „So ein Kindskopf“, murmelte sie. Sie wandte sich zu Neptun. „Komm, alter Knabe. Wir können nach Hause gehen.“

Aus Rücksicht auf den betagten Hund bummelte Rosa ausnahmsweise die Einkaufsstraße entlang und hatte das Gefühl, in einer völlig fremden Stadt zu sein. Einige Geschäfte hatten sich verändert. Rosa entdeckte auch ein paar Neuerungen auf der Straße. Die Stadtverwaltung hatte eine eigene Fahrradspur angelegen lassen und am Straßenrand hatten einige Parkplätze begrünten Inseln weichen müssen. Oje, dachte Rosa. Ich sollte etwas öfter durch die Stadt gehen.

In ihrem Wohnhaus musste sie mit Neptun die Aufgabe bewältigen, die Stiege zum ersten Stock hinaufzukommen. „Daran habe ich leider nicht gedacht, mein Guter.“ Sie wartete geduldig, bis Neptun die Stufen in seinem Tempo bewältigt hatte. Als sie den Schlüssel ins Türschloss stecken wollte, ging die Tür auf. Grisu lächelte. „Ich habe dich im Stiegenhaus reden hören.“ Sein Blick fiel auf den Hund. „Tina hat mir ein SMS geschickt, mit der Erlaubnis Sir John zu einem hübschen Pelzkragen zu verarbeiten, wenn er Neptun etwas tut.“ Er bückte sich und streichelte das betagte Tier.

Rosa sah im hinteren Teil des Korridors zwei gelbe Augen bedrohlich aufleuchten. Sir John, der seinen Namen der beachtlichen Ähnlichkeit mit John Falstaff aus dem gleichnamigen Bühnenstück von Shakespeare verdankte, lag wie eine Sphinx am Boden. Es hätte majestätisch aussehen können, doch sein dicker Bauch stand links und rechts in zwei Halbkugeln ab. Der arme Neptun erholte sich noch von den Stiegen und stand schnaufend im Türbereich. Sir John erhob sich und schritt hochnäsig auf den Eindringling zu. Neptun senkte gutmütig seinen Kopf, als der Kater vor ihm hielt. Im selben Moment als Rosas Hoffnung wuchs, dass ihre Hausgäste miteinander auskommen würde, fauchte Sir John. Mit unglaublicher Geschwindigkeit fetzte er Neptun mit ausgefahrenen Krallen über die ergraute Schnauze und zischte ins Wohnzimmer ab.

Der Hund fiepte laut und sah Rosa mit traurigen Augen an. Sie sah Christian aufgebracht an. „JETZT hast du auch meine Erlaubnis. Dieses Mistvieh wird ein Pelzkragen!“, rief sie. Sie ging in die Knie und untersuchte Neptuns Nase. Er hatte drei arge Schrammen abbekommen und an zwei Stellen blutete er.

Grisu war Sir John ins Wohnzimmer gefolgt. „Er hat sich unters Sofa verkrochen. Ich werfe ihn später hinaus. Neptun kann inzwischen bei mir sein.“

„Ja, nimm bitte die Picknickdecke und mach ein Plätzchen für ihn. Ich hole etwas Desinfektionsmittel.“

Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, überlegte Rosa, was sie für das Abendessen richten könnte. Sie klopfte bei Grisu an. Nachdem er geantwortet hatte, schaute sie ins Zimmer und musste lächeln. Ihr Sohn lag am Boden und ging irgendwelche Lernunterlagen durch. Sein Kopf lag auf Neptun, der auf der Seite ausgestreckt ein Schläfchen machte.

„Mein ewig hungriger Sohn, genügen für heute Abend eine Suppe und ein paar Kartoffelwedges?“

Grisu brummte: „Danke, klingt gut. Lass es bitte nur sehr viele Wedges sein. Hast du auch Majo?“

Rosa nickte und wollte die Tür wieder schließen. Plötzlich wurde sie fast von den Füßen gerissen, als sich Sir John mit seinem Gewicht zwischen ihren Beinen durchdrängte und in Grisus Zimmer wetzte.

„Oh, nein!“, rief sie und versuchte, den Kater zu erwischen. Doch Sir John war schneller und verkroch sich unterm Bett.

Grisu winkte ab. „Ist schon gut, Mama. Ich passe auf Neptun auf.“

Rosa seufzte und musste an eine von Richards Aussagen denken. Danke, kein Bedarf!, erinnerte sie sich. Das stimmte wohl. Sie hatte im Moment überhaupt keinen Bedarf an häuslichen Streitigkeiten unter Vierbeinern, für die sie im Grunde nicht zuständig war.

6

Am nächsten Morgen gelang es Rosa, Sir John auf die Feuertreppe vor dem Wohnzimmerfenster zu verbannen und nach einem Blick auf Neptun, schrieb sie eine Nachricht an Johannes:

Brauche bitte kleinen Liebesdienst, tausche gegen Kaffee und Schokomuffins. Mama

Als Jonki in seinem ehemaligen Zuhause eintrudelte, saß seine Schwester am Küchentisch. „Mama ist gerade im Bad.“ Sie fixierte ihren älteren Bruder. „Frisch rasiert? Hemd? Hast du endlich eine ordentliche Arbeit gefunden?“

Johannes zog eine Grimasse und nahm sich einen frischen Kaffee. Dann suchte er sich zwei Muffins aus und ließ sich auf den Küchensessel fallen. „Nur für das Protokoll, Lieblingsschwester. Ich habe schon längst eine ordentliche Arbeit und ich muss dann gleich zu einem Kunden, der aus einem der vergangenen Jahrhunderte übriggeblieben ist. Weißt du, was Mama von mir will?“

Tina schüttelte den Kopf. „Hat schon jemand bei dir für das Zimmer angerufen?“

Jonki zögerte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. „Nein, es hat niemand angerufen.“ Das stimmte ja auch. Er schälte den Muffin aus seiner Form. „Was ist eigentlich Kleidergröße 34?“, wollte er von Tina wissen.

Seine Schwester schnaufte ungehalten. „Fischgräte abwärts. Wieso?“, hakte sie sofort nach.

Johannes hob die Schultern. „Habe ich irgendwo aufgeschnappt. Ist nicht so wichtig.“ Er ignorierte den Röntgenblick seiner Schwester und verdrückte sein Frühstück.

„Hallo, mein Großer.“ Rosa stürmte in die Küche. „Danke, dass du dir Zeit genommen hast. Aus verschiedenen Gründen ist Neptun seit gestern bei uns. Kannst du ihn bitte nachher über die Stiege hinuntertragen?“

Johannes sah für einen Moment unglücklich drein. Rosa entdeckte seine für ihn ungewöhnliche Kleidung. „Hast du eine neue Arbeit?“

Ihr Sohn seufzte genervt. „Nein, aber bei einem Kunden, den ich nach dem heutigen Tag hoffentlich nie wiedersehe, kommt das besser an.“

„Gut, ich sorge dafür, dass Neptun nicht sabbert. Es ist nur dieses eine Mal. Richard kommt heute wieder zurück.“

Diese Überzeugung hielt sich bei Rosa bis kurz vor Mittag. Die neue Nachricht von Richard versetzte ihr einen ziemlichen Schock:

Verhandlungen dauern länger als gedacht. Kann noch nicht weg. Kuss Richard

Evelyn sah, dass Rosa ihr Telefon entsetzt anstarrte. „Was ist denn los?“, fragte sie alarmiert. Ihre Freundin hob den Kopf und sah dann zu Neptun, der friedlich auf seiner Decke döste. „Mein neuer Hausfreund bleibt mir länger erhalten als geplant.“ Sie holte Luft. „Er ist ja kaum präsent und das Futter, das Richards Eltern für ihn mitgaben, reicht wahrscheinlich für sein ganzes restliches Hundeleben. Mir machen die Stiegen zu Hause Sorgen.“

„Und, was ist, wenn du bei Richard wohnst?“, schlug Evi vor.

„Das bot er mir schon vor seiner Abreise an. Ich wollte aber nicht alleine dortbleiben.“ Sie sah noch einmal zu Neptun. „Ich frage zuerst Jonki nach seinen Plänen und, wenn es gar nicht geht, dann rede ich mit Richard.“

Am späten Nachmittag traf die nächste Hiobsbotschaft ein. Eines von Mimis Kindern war krank geworden und sie konnte nicht zum Putzen kommen. Mimis Mutter Danka, die für diese Notfälle einsprang, war nach Kroatien gefahren, um eine Verwandte zu pflegen. „Na, toll“, murmelte Rosa. Resigniert suchte sie alle Putzutensilien zusammen und ließ heißes Wasser in den Kübel für das Aufwaschwasser laufen. Gerade als sie den Hahn zudrehte, ging die Tür auf und eine gertenschlanke, hochmodisch gekleidete Frau betrat den Mittagstisch. Mit einer einstudierten Geste schob sie ihre Sonnenbrille in ihren nachtschwarzen Bob. Unter ihrem halblangen Kamelhaarmantel lugte ein schwarzes Etuikleid hervor, das knapp über den Knien endete und ihre makellosen Beine zeigte. Rosa bekam schon beim Anblick der hohen Stöckelschuhe Fußschmerzen und fragte sich mit jeder Sekunde, die verstrich, was diese Frau von ihr wollte. Eine vage Erinnerung juckte sie wie einen Floh, der sich aber nicht zu erkennen gab.

„Guten Tag, ich bin auf der Suche nach Frau Ennberg“, kam es aus dem perfekt geschminkten Mund.

„Ja, bitte.“ Rosa richtete sich auf.

„Oh“, die Frau taxierte Rosa. „Ich dachte, Sie seien die Putzkraft.“

Plötzlich fiel es Rosa wie Schuppen von den Augen. Evelyn hatte ihr einmal ein Foto aus einer ihrer Lieblingszeitschriften gezeigt. Es gab keinen Zweifel, wer diese Besucherin war: Richards Ex-Frau.

Rosas Magen krampfte sich zu einem Klumpen aus Eis zusammen. Zur Sicherheit lehnte sie sich an die Theke und holte Luft. „Nein, meine Hilfe ist ausgefallen und ich habe nicht viel Zeit“, konstatierte Rosa.

Das falsche Lächeln ging in ein befriedigtes Schmunzeln über. „Ja, machen wir es kurz. Mein Name ist Verena Veith. Ich habe Richards Nachnamen nie angenommen, weil ich in der Werbebranche schon unter Veith bekannt war.“ Sie hob ihre perfekt gezupften Augenbrauen. „Nun hat es in meinem Leben einige wichtige Veränderungen gegeben und wie es der Zufall so wollte, bin ich Richard gestern in London begegnet.“

„London?“, krächzte Rosa.

„Richard mietet seit Jahren immer eine Suite im Savion, wenn er in London ist. Mein Projekt war abgeschlossen und ich checkte gerade aus meinem Zimmer aus, als er zum Einchecken kam.“

Rosa wurde ungeduldig. Was will diese Frau?, schrie es in ihrem Kopf. „Wozu sind Sie hier?“, stieß Rosa hervor.

Verena verzog den Mund kurz zu einer Schnute. Rosa hasste diese Geste im selben Augenblick. „Ich wollte Sie wissen lassen, dass ich alles daransetzen werde, um mir Richard wieder zurückzuholen. Vor ein paar Jahren war ich noch nicht so weit, aber jetzt bin ich bereit dazu, ihm das Kind zu schenken, dass er sich so sehr wünscht.“

Rosa spürte, dass sich ihr Mittagessen den Weg nach oben bahnen wollte. Sie schluckte hart. „Wozu erzählen Sie mir das?“, würgte sie hervor.

Diesmal wanderte nur eine perfekte Augenbraue nach oben. „Ich habe da so Gerüchte gehört, dass Richard mit einer Restaurantbesitzerin namens Rosa angebandelt hat. Nun, da es nur eine einzige Rosa in der ganzen Stadt gibt, die ein Restaurant ...“, Verena sah sich um und zog die Lippen kraus, „... eher eine Imbissbude betreibt, zählte ich zwei und zwei rasch zusammen.“ Es folgte wieder die Schnute. „Aber, wie ich das sehe, sind Sie wohl kaum eine ernst zu nehmende Konkurrenz. Obwohl Sie mit einer gewissen Fruchtbarkeitsfigurine durchaus Ähnlichkeiten haben, sind Sie viel zu alt, um ein Kind zu bekommen.“

Rosa merkte, dass sie weiß wie ein Leintuch wurde. „Sie haben sich in der Adresse geirrt und das falsche Restaurant sowie die falsche Frau beleidigt. Gehen Sie bitte wieder.“

Neptun wählte genau diesen Moment, um seine Runde um den Häuserblock einzufordern. Verenas dunkelbraune Augen weiteten sich beim Anblick des alten Labradors. „Neptun? Neptun ist bei Ihnen?“ Sie lächelte diabolisch. „Dann war es wohl doch die richtige Adresse und die richtige Imbissbudenbesitzerin.“

„Neptun?“, fragte Rosa. „Der Hund heißt Pluto und dort ist der Ausgang. Adieu.“

Nachdem Verena Veith zur Tür hinausstolziert war, rannte Rosa zur Toilette und spie zusammen mit dem Mittagessen, das ganze Gift, das sie schlucken musste und, so wie es sich für sie anfühlte, ihre Seele gleich mit aus dem Leib. Als sie merkte, dass ihr Körper nichts mehr zu geben hatte, sank sie von Weinkrämpfen geschüttelt auf den Boden und hielt sich an der Sanitärkeramik fest. Neptun trottete zu ihr und legte seinen Kopf auf ihr Knie. „Ach, mein Lieber. Findest du auch, dass ich aussehe wie die Venus von Willendorf?“ Rosa wischte sich mit dem Ärmel ihrer Kochjacke über die nassen Wangen. Sie sah Neptun an. „Weißt du, dass mich das weniger stört als die Bemerkung mit der Imbissbude? Und sie hätte wenigstens sagen können, dass ich zu alt bin, um NOCH ein weiteres Kind zu bekommen.“

Rosa stütze ihren Kopf auf die Hand. Diese furchtbare Frau hatte es mit relativ wenigen Worten geschafft, Rosas Selbstachtung komplett auseinanderzunehmen. Sie hatte ihr Aussehen beleidigt, ihre Leistungen als Mutter vollkommen übergangen, ihr Lebenswerk herabgewertet und Richards tiefe Zuneigung als Tändelei abgetan. Rosa wusste von Richards früherem Kinderwunsch. Er war auch für wenige Tage Vater einer kleinen Tochter gewesen. Doch das Frühchen hatte keine Überlebenschance gehabt. Richard gab nach wie vor Verena die Schuld an Rebeccas viel zu früher Geburt. Sie hatte weitergearbeitet und war auf Diät geblieben, weil ihr die Karriere und ihr Aussehen mehr bedeutet hatten. Und nun sollte alles anders sein? Verenas Auftritt hatte nicht den Eindruck einer tiefergehenden Läuterung vermittelt.

Nach einer Weile fiel Rosa ein, dass Neptun vor die Tür musste. Sie rappelte sich auf und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Dann nahm sie nur das Kopftuch ab und machte sich mit dem Hund auf den Weg. Sie führte Neptun bis zum Park, den sie vor ein paar Tagen auch mit Richard besucht hatte. Tief in Gedanken versunken ließ sie sich auf dieselbe Parkbank sinken und starrte auf die Enten. Neptun nahm die Pause dankbar an und döste auf Rosas Füßen. Rosa konnte nicht verhindern, dass sich Verena Veith in ihren Kopf drängte. Richard hatte nie den Eindruck vermittelt, dass er seiner gescheiterten Ehe nachtrauerte. Und Rosa wusste mit Bestimmtheit, dass er sie so schätzte, wie sie war. Doch wie kam diese Veith überhaupt auf die Idee, wieder Chancen bei Richard zu haben? War es tatsächlich nur zu diesem Treffen am Hotel-Check-In gekommen? Und wie tief war Richards Kinderwunsch tatsächlich verwurzelt? Wusste Verena etwa, welche Knöpfe sie drücken musste, um ihn in ihre Arme zurückzutreiben? Wellen der Eifersucht und des Zweifels überfielen Rosa. Als sie mit Neptun in den Mittagstisch zurückkehrte, merkte sie, dass sich etwas in ihr verändert hatte. Zuerst war es nur ein kleiner Riss, doch dieser vertiefte sich mit dem Wachsen von Ärger und Verunsicherung zu einem mächtigen Graben zwischen ihr und Richard.

Johannes hatte im Laufe der Jahre feine Antennen für die Stimmungen seiner Mutter entwickelt. Als sie ihn am frühen Abend anrief, steckte er im Kellerabteil und versuchte, Platz für das Bett zu schaffen, das Maria nicht brauchte. Rosas leise Bitte um nochmalige Hilfe mit Neptun genügte ihm, um zu wissen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Mama brauchte ihn wirklich. Er versetzte dem sperrigen Bettrahmen einen Tritt, um die Prozedur abzukürzen und knallte die Tür zum Kellerabteil zu. Zum hundertsten Mal verfluchte er den zwischenzeitlichen Verlust seines Motorrads und musste mit seinen Laufschuhen Vorlieb nehmen. Nach wenigen Minuten kam er etwas außer Atem im Stiegenhaus an. Seine Mutter saß mit verweinten Augen auf der untersten Stufe und Neptuns Kopf ruhte auf ihrer Schulter. Jonki ging vor ihr in die Hocke und sah sie an. „Na, einen harten Tag gehabt?“

7

Am nächsten Morgen saß Johannes wieder in der Küche seiner Mutter. Er sah Tina besorgt an. „Hat sie irgendetwas gesagt? Hat es etwas mit Richard zu tun?“, löcherte er seine Schwester.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wie es scheint nicht. Ich stellte ihr gestern natürlich die gleiche Frage. Aber sie zeigte mir sogar das SMS, das er als Abendgruß geschickt hatte. Der Mann liebt Mama abgöttisch.“

Jonki nahm einen Schluck Kaffee und runzelte die Stirn. „Hat sie vielleicht Geldsorgen?“

„Unsere Mutter? Sie hat doch alle Fixkosten immer für sechs Monate im Voraus beisammen.“ Tina schüttelte den Kopf entschiedener als zuvor. „Hör zu, Jonki. Sei einfach für sie da und zu gegebener Zeit wird sie uns sagen, was sie bedrückt.“ Dann deutete sie mit dem Kinn auf die abgewetzten Jeans, die er trug. „Wieder viel Tagesfreizeit?“, neckte sie ihn.

Der große Bruder verdrehte die Augen. „Nein, ich habe das Zimmer vermietet und heute ist der Umzug. Ich habe meine Hilfe angeboten.“

Tinas Augen verwandelten sich sofort in Röntgenstrahlen, doch Jonki hatte nicht die geringste Lust, weitere Fragen zu beantworten. Seine Mutter rettete ihn. Sie schaute in die Küche. „Ich bin fertig, Jonki. Tinaschatz, sehe ich dich am Abend? Grisu kommt auch.“ Das Mädchen nickte.

Johannes lächelte. Einem von ihnen ging es aus irgendwelchen Gründen nicht gut und alle zogen den Kreis sofort enger. Der berühmte Familienkitt der Ennbergs entfaltete zum wiederholten Male seine Wirkung. Er überschlug seine Tagesplanung. „Ich bin um sieben da, Mama.“

Nachdem er Neptun sicher auf der Straße abgesetzt hatte, ging Jonki zur Adresse, die ihm Maria auf eine ihrer Haftnotizen aufgeschrieben hatte. Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er das Vestibül des Gründerzeithauses betrat. Die Treppe war mit einem schmutzabweisenden Teppich überzogen und die Handläufe aus Messing funkelten wie Gold. Er nahm den Lift bis in den letzten Stock. Im ausgebauten Dachgeschoss gab es zwei Lofts als bescheidene Bleibe für Vielverdiener und Jonki musste nicht lange nachsehen, wo Maria wohnte. Die Tür stand weit offen und sie rannte geschäftig durch den dahinterliegenden Raum. Sie entdeckte ihn. „Hallo, Jonki. Danke, dass du gekommen bist.“ Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Die Möbelpacker sollten jeden Moment da sein.“

Johannes sah sich um. Im zentralen Raum standen eine Sitzgarnitur aus Leder, mehrere Kommoden und noch andere Möbel herum. „Soll das alles in dein Zimmer?“, fragte er skeptisch.

„Was? Nein, nein. Das ist alles verkauft. Die Übersiedlungsfirma wird diese Sachen zuerst einladen und dann mein Zeug.“ Maria zeigte auf ein geblümtes Bett mit Baldachin, vor dem zwei Koffer und drei Übersiedlungskisten standen. Daneben wartete ein zierliches, sehr antikes Gebilde auf vier Beinen. „Nennst du das Ding da etwa Schreibtisch?“

„Das ist ein zweihundert Jahre alter Sekretär.“ Maria verengte die Augen, weil sie Jonkis Gedanken erriet. „Ja, er ist von besagter Freiin von Bumsti.“ Johannes hob mit einem entwaffnenden Lächeln beide Hände. „Dein ganzes Glück, meine Holde.“

Auf dem Gang kündigte ein Poltern das Eintreffen der Möbelpacker an. Nun ahnte Johannes, warum Maria ihn um Hilfe gebeten hatte. Beim Anblick der drei Männer, die selbst aussahen wie Schränke, drückte sich Maria sofort in seiner Nähe herum. Sie wollte mit diesen fremden Männern nicht alleine sein. Jonki übernahm die Begrüßung und die Einweisung der Leute, wobei nur einer für eine wirkungsvolle Kommunikation zu haben war. Anhand der Zettel, die der Chef der Umzugsfirma seinen Mitarbeitern mitgegeben hatte, identifizierten sie das Ladegut, die richtige Reihenfolge und die beiden Adressen, wo die Sachen hinzubringen waren. Anschließend machten sich die Männer in beachtlichem Tempo mit Luftpolsterfolie oder weichen Decken an das Verpacken der Möbel. Johannes überwachte die Männer gerade beim Verladen, als eine ihm bekannte Dame auf das Haus zukam. „Frau Dr. Breitenegg“, grüßte er ehrlich erfreut. Die Anwältin von Communicate, der Jonki viel zu verdanken hatte, lächelte überrascht. „Johannes, wie schön, Sie zu sehen. Geht es Ihnen gut?“

Er nickte. „Ja, bald ist alles wieder im Lot.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Lift. „Maria wollte unbedingt das freie Zimmer mieten. Es ist ja nur für vier Monate.“

Silvia Breitenegg nickte. „Ja, sie erzählte es mir. Ich bin hier, um ihr bei der Übergabe der Wohnung behilflich zu sein. Sie hatte Bedenken, dass der Hausverwalter unangenehm wird, weil sie dieses Sonderkündigungsrecht in Anspruch nahm. Gut, ich gehe besser nach oben.“

Kaum war die Anwältin oben angekommen, betrat ein rothaariger Herr im perfekt sitzenden Anzug das Haus. Er sah Johannes an und näselte: „Sie wissen, dass der Lift nicht für den Transport von Lasten verwendet werden darf.“

Jonki hob kurz die Augenbrauen. „Gerade ist eine Dame nach oben gefahren, die sich sicher darüber freut, als Last bezeichnet zu werden.“

„Finden Sie das witzig?“

„Nehmen Sie es, wie Sie es wollen. Ich wurde so erzogen, dass ich zuerst begrüße, mich vorstelle und dann mein Anliegen vorbringe.“

Der Mann, der besagter Hausverwalter sein dürfte, ließ Johannes ohne ein weiteres Wort stehen und stolzierte zum Aufzug.

„Ich hoffe, Frau Dr. Breitenegg macht diesem Affen die Hölle heiß“, murmelte Jonki und griff zu, als Marias Sekretär gefährlich zu schwanken begann.

Es dauerte noch eine Weile, bis alle Sachen sicher verstaut waren. Vor allem die teuren Designermöbel mussten laut einer eigens ausgehandelten Vertragsklausel unbeschädigt beim neuen Eigentümer ankommen. Jonki kümmerte sich um Marias Koffer – sie schien tatsächlich nicht viel Kleidung zu besitzen – und ihre Übersiedlungskisten.

„Wir dann fertig“, hörte Jonki einen Packer sagen. „Gut, ich fahre kurz nach oben und sehe, ob es losgehen kann.“

Als die Lifttür aufging, hörte er Silvias energische Stimme. „Wie Sie nun feststellen konnten, ist alles in bester Ordnung. Es gibt keinen Grund, die Rücknahme der Wohnung weiter hinauszuzögern oder die hinterlegte Kaution nicht umgehend auf das von Frau Hellwag angegebene Konto zu überweisen.“

Johannes betrat die Wohnung und signalisierte der Anwältin, dass alles fertig eingeladen war. Maria hatte sich hinter Silvia gestellt und sie war sehr blass um die Nase. Kein Wunder, dass sie Hilfe braucht. Viele Konflikte hat sie noch nicht ausgetragen, dachte Jonki und ging wieder auf den Gang hinaus. Silvia gab dem hochnäsigen Hausverwalter weiter kalt-warm. „Ich wurde soeben darüber informiert, dass die Umzugsfirma ihre Arbeit abgeschlossen hat. Die beantragte Zeit für die Ladezone läuft in diesen Minuten aus. Wollen Sie, dass meine Klientin ein Organmandat riskiert?“ Das Klimpern bei der Übergabe der Wohnungsschlüssel sagte Jonki, dass der Hausverwalter klein beigeben musste. Maria kam nach wenigen Augenblicken mit ihrer Jacke und ihrer Tasche im Arm heraus. „Er hat jeden Einbaukasten, jedes Elektrogerät und alle Sanitäranlagen kontrolliert. Dann ist er das ganze Parkett auf der Suche nach Kratzern abgegangen und wollte wissen, ob es Schimmel in den Bädern gegeben hatte“, flüsterte Maria atemlos. „Ich bin froh, dass ich hier wegkomme.“

Silvia segelte mit hochzufriedener Miene aus der Wohnung. Die Übernahmebestätigung hielt sie wie eine Trophäe in die Höhe. Sie bestiegen gemeinsam den Lift und die Anwältin hielt Maria das heiß ersehnte Papier hin.

„Ich hatte es noch nie mit einem so unsympathischen Hausverwalter zu tun“, stellte Frau Dr. Breitenegg fest. Sie sah Maria an. „Sagen Sie mir bitte nächste Woche Bescheid, ob die Kaution überwiesen wurde.“

In der Eingangshalle strahlte Silvia beim Händeschütteln zuerst Maria und dann Johannes an. „Na, dann ihr zwei. Alles Gute für die Zukunft!“ Sie eilte davon und Maria sah Jonki etwas verloren an. Er deutete mit dem Kinn auf die wartenden Männer. „Es ist höchste Zeit zum Abfahren. Wir spendieren ihnen einen Kaffee und machen uns aus, wann wir uns bei meiner Wohnung treffen. Wir werden am besten zu Fuß hingehen. Das dauert ungefähr zwanzig Minuten.“

Zu Mittag war die ganze Übersiedlung über die Bühne gegangen und Maria kochte ein paar Spaghetti, um sich bei Johannes zu bedanken. Nach dem Essen und Aufräumen ging er in sein Zimmer. Konzentriert versank er in seine Arbeit. Kurz vor sieben kam er umgezogen wieder heraus und nahm seinen Parka von der Garderobe. Maria steckte den Kopf aus der Küche. „Gehst du weg?“, fiepte sie.

„Ja, zu meiner Mutter. Sie braucht etwas von mir.“

„Wie lange bleibst du denn fort?“, hakte Maria nach.

Johannes zog seine Jacke langsam an und kontrollierte, ob er den Schlüssel eingesteckt hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit hob er den Kopf und fixierte Maria, die immer noch auf eine Antwort wartete. Seine tiefe Stimme brummte: „Maria, wir sind nicht verheiratet. Ich gehe und komme, wie ich es muss und will. Du wirst es genauso handhaben. Ich habe dir in der Wohnung alles gezeigt, was du wissen musst.“

Maria sah ihn mit großen Augen an und hob abwehrend ihre Hände. „Ja, ja, ist gut.“

Jonki ging ein paar Schritte auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Sie musste zu ihm aufschauen. „Du musst mit dem Alleinsein zurechtkommen. Ich bin aber kein Student, der sich die Nächte um die Ohren schlagen kann. Ich stehe jeden Tag sehr früh auf, um zu arbeiten. Ich kann dir zumindest sagen, dass ich abends meistens ab zehn Uhr zu Hause bin. Geht es dir damit besser?“ Maria nickte. „Ja, danke, Jonki.“

Johannes traf beim Mittagstisch ein und begegnete vor dem Eingang seinem jüngeren Bruder. „Hi, Kleiner, weißt du schon alle Termine?“ Grisu lernte und fieberte seinem Schulabschluss entgegen. Er stöhnte. „Ja, die schriftlichen Prüfungen stehen alle für Ende Mai fest. Der mündliche Teil ist dann Mitte Juni. Mann, ich kann es kaum erwarten, dass es vorbei ist.“

Jonki lachte wissend und machte die Tür auf. Evelyn stand an der Theke und füllte zwei Wasserkrüge. Jonki sah sie fragend an. Evi schüttelte stumm den Kopf. Rosa hatte also nach wie vor nicht damit herausgerückt, was sie traurig machte. Tina deckte den Tisch von Don Giovanni für sechs Leute. Sie hob den Kopf. „Richard hat sich gerade gemeldet. Er kommt gleich vorbei und wird mit uns essen.“

Ein wenig später näherte sich Richard voller Vorfreude dem Mittagstisch. Er konnte durch die Glastür Rosas Kinder bei diversen Tätigkeiten beobachten. Dabei scherzten sie mit der Wahloma Evelyn. Neptun stand allen im Weg, doch nur so konnte er sicherstellen, dass er mit von der Partie war. So muss es sein, wenn man zu seiner Familie heimkommt, schoss es Richard durch den Kopf. Er blieb kurz stehen und ließ seine Gedanken treiben. Er spürte, wie sich ein Gefühl tiefer Zufriedenheit in seiner Brust ausbreitete. Vielleicht hatte sich das Schicksal etwas Gutes dabei gedacht, ihm eine fertige Familie zu schenken. Genauso hätte es sein sollen, wenn er Rosa im Alter von dreißig Jahren kennengelernt hätte. Doch wäre er dann denselben Weg gegangen, wie er ihn gewählt hatte? Wäre er an dem Punkt seines Lebens, wo er sich befand? Hätte er sich denn für die Zeit mit seiner Familie entschieden oder seine Arbeitswut ausgelebt? Hätten sie zusammen auch drei Kinder gehabt? Hätte die Ehe gehalten?

Richard drängte alle Fragen zur Seite und stieß die Tür zu seinem neuen Leben auf. Sofort wurde er von allen freudig begrüßt. Neptun sabberte begeistert seine Anzughose voll und ließ sich sogar zu einem Bellen hinreißen. Rosa steckte den Kopf aus der Küche und schenkte ihm ein kurzes Lächeln. Richard wünschte sich nichts sehnlicher als sie in die Arme zu nehmen, doch das musste warten.

Rosa hatte sich von ihren düsteren Gedanken mit Kochen abgelenkt und es gab Bärlauch-Kartoffelcremesuppe, Hackbraten mit Rosmarinkartoffeln und Salat. Zum krönenden Abschluss servierte sie einen Sandkuchen mit Zitronenglasur. Ohne Frage war das Essen ein voller Erfolg und es blieb kaum etwas übrig. Neptun hatte sich unter den Tisch gequetscht und schaffte es, mindestens vier Leuten auf den Füßen zu liegen. Die Grundlage für einen erfolgreichen Abend im Familienkreis war da, aber es schien nur Richard aufzufallen, dass Rosa fast nichts aß. Sie war auch blasser als sonst und unter ihren schönen Augen prangten dunkle Ringe. Warum geht es ihr nicht gut?, fragte er sich besorgt, doch wie die Umarmung musste ein Gespräch unter vier Augen warten.

Johannes unterhielt die Tischrunde gerade mit seiner Episode über die Datenbank für diese Spendengala und den ganzen Titeln, mit denen er gekämpft hatte. Richard merkte aus leidvoller Erfahrung auf: „Stand ich zufällig auch auf dieser Liste?“

Jonki grinste unverschämt. „Ich denke nicht. Dein schäbiger Doktortitel war als Aufnahmekriterium sicher zu minderwertig.“

Richard lachte schallend und betrachtete es als Auszeichnung, den Neckereien der Familie ebenfalls ausgeliefert zu sein. Er legte seinen Arm um Rosa und spielte mit ihren offenen Haaren. Evelyn übernahm das Aufsetzen des Abschlusstees und die Geschwister bestanden darauf, dass ihre Mutter bei Richard sitzen blieb, während sie mit dem Abräumen begannen. „Geht es dir gut?“, fragte Richard leise gegen Rosas Schläfe.

Sie lehnte sich gegen ihn und schüttelte den Kopf.

„Kommst du mit mir nach Hause und erzählst du mir, was los ist?“

Rosa schüttelte wieder den Kopf und Richard spürte eine Eiseskälte in sich ausbreiten. Er musste sich mit Gewalt zum Warten zwingen, denn die Familie hatte Vorrang.

Richard wurde erst um neun erlöst, als sich alle verabschiedet und sich gegenseitig eine gute Nacht gewünscht hatten. Endlich konnte er Rosa in die Arme nehmen, doch er merkte, dass sie sich etwas sperrte. Er legte seine Wange an ihre Schläfe. „Was ist passiert, mein Liebling?“ Seine Unruhe wuchs, weil er Rosas Tränen auf sein Hemd tropfen spürte.

„Richard, das mit uns kann nicht gut gehen“, stieß sie zwischen zwei Schluchzern hervor. „Ich ... ich habe angeblich Ähnlichkeit mit der Venus von Willendorf, betreibe eine Imbissbude und bin zu alt, um Kinder zu kriegen. Du ... du hast doch etwas Besseres verdient.“

Richard griff unter Rosas Kinn, hob sanft ihren Kopf und sah ihr in die verweinten Augen. „Zu Punkt 1, mein Schatz, unsere Vorfahren waren sehr weise Leute und es stimmt nicht. Deine Proportionen sind perfekt und mir gefällt jeder Zentimeter von dir. Punkt 2 ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Punkt 3 kannst nur du beurteilen. Da kenne ich mich zu wenig aus. Aber ich finde deine Kinder ganz besonders gelungen und freue mich sehr, wenn sie mich immer so ungezwungen wie heute Abend akzeptieren. Sie passen ganz perfekt zu meinem Alter. Und zu Punkt 4: Ich werde jeden Tag hart daran arbeiten müssen, um deiner würdig zu sein, mein Liebling.“ Er küsste sie sanft. „Wie kommst du auf das alles?“

„Ich wurde gestern ‚sehr freundlich‘ auf diese Umstände hingewiesen.“

Richards Kopf fuhr hoch. In seinen Augen brannte Mordlust. Wer hatte es gewagt, die Liebe seines Lebens so unglücklich zu machen? „Von wem?“, stieß er hervor.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739478807
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Unterhaltung Liebesroman Spannung Hindernisse Liebe

Autor

  • Annmarie Wallandt (Autor:in)

Annmarie Wallandt möchte ihren Leserinnen und Lesern mit unterhaltsamen Geschichten vergnügliche Lesestunden bescheren.
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Titel: Liebe von Anfang an