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Weh euch, ihr bunten Heuchler, die ihr der Witwen Häuser fresset

von Bernard Shaw (Autor:in) Vitaly Baziyan (Übersetzung)
78 Seiten

Zusammenfassung

Oscar- und Literaturnobelpreisträger Bernard Shaw schrieb über dieses Stück: „Ich habe einen Aufruhr provoziert, und das Gefühl war so angenehm, dass ich beschloss, es erneut zu versuchen.“ Ohne immer wiederholende Schlagzeilen über steigende Mieten, Luxus-Sanierung, Gentrifizierung sind aktuelle Nachrichten von heute nicht mehr zu denken. Da die meisten Zuschauer und Leser in Deutschland statistisch gesehen Mieter sind, gewinnt dieses Werk von Bernard Shaw (geschrieben 1885-1892) sowohl eine besondere Aktualität als auch gesellschaftliche Brisanz. Denn bis jetzt hat sich offensichtlich nicht viel geändert: Probleme sind die Gleichen geblieben und die Lösungen fehlen oft. Ein reicher, skrupelloser Besitzer heruntergekommener Wohnhäuser häuft Schrottimmobilien an, um sie an die armen Menschen zu vermieten. Die Mieten lässt er mit Hilfe seines schäbigen Gehilfen kassieren – wenn nötig – auch auspressen. Auch der Großadel scheut sich nicht davor, mit Immobiliengeschäften Reichtum zu erlangen. Um auf einen Fuß mit den ganz Großen zu gelangen, lässt ein Slums-Vermieter seine Tochter in die beste Gesellschaft einheiraten. Zuerst wehrt sich aber der Schwiegersohn, ein junger romantischer Adelsspross und frischgebackener Arzt, die Mitgift aus derartigen Quellen anzunehmen: Er lässt die Hochzeit platzen. Im Laufe der Handlungen unterliegt er der Versuchung, sich mit Entschädigung für gleich nach der Sanierung abgerissene Mietshäuser zu bereichern. Damit gewinnt er seine Ex-Verlobte zurück. Am Ende ist der jüngst vom Immobilienhai gefeuerte Gehilfe wieder dabei und feiert sein fulminantes Comeback als Neureicher auf der Bühne. Alle handelnden Personen scheinen mit sich selbst sehr zufrieden zu sein. Bernard Shaw schrieb an seinen ersten deutschen Übersetzer Siegfried Trebitsch (22.12.1868 – 3.06.1956): „ Your religious education has been badly neglected. Get a Bible and look at Ev. Matthae XXIII, 14. “Weh euch, die Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr der Witwen Häuser presset…” The play should be called „Witwen Häuser" or „Weh euch, ihr Heuchler”, or something else out of the Bible.” In einem Aufsatz schrieb der Dramatiker über das Theaterstück 1898: „Ich übergab es [das Theaterstück] Herrn Grein, der es mit allen seinen originellen Schwabenstreichen und Albernheit dem Publikum ad absurdum im Royalty Theatre präsentierte. Es sorgte für eine Sensation ... und ich wurde sofort berühmt-berüchtigt als Dramatiker."

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Erster Akt

An einem schönen Nachmittag im August in den 1880er Jahren. Der Biergarten im Innenhof eines Hotels in Remagen am Rhein ist mit einem Staketenzaun umzäunt. Rechts, wenn man den Rhein Richtung Bonn hinabschaut, sieht man eine Gartenpforte zum Flussufer. Das Hotel ist links. Es hat einen hölzernen Anbau mit einer Table d’Hôte Speisetafel am Eingang. [Table d’Hôte ist ein gemeinsames Essen in Hotels mit einer festen Speisenfolge.] Ein Kellner ist in Bereitschaft.

Zwei englische Touristen erscheinen in der Lobby des Hotels. Der jüngere Doktor Harry Trench ist etwa 24 Jahre alt, kräftig gebaut, mit dickem Hals, kurz geschnittenen und schwarzen Haaren und den kumpelhaften Umgangsformen eines Medizinstudenten: offenherzig, hastig, ziemlich jungenhaft. Der andere, Herr William de Burgh Cokane, ist älter, wahrscheinlich 40 Jahre alt oder möglicherweise 50, ein magerer Herr mit schütter werdenden Haaren und gekünstelten Manieren, nervös und empfindlich. In den Augen eines scharfen, mitleidlosen Beobachters ist sein Benehmen von einer unnatürlichen, angeborenen Lächerlichkeit geprägt.

COKANE (auf der Türschwelle des Hotels gebieterisch zu einem Kellner): Zwei Bier für uns hier draußen. (Der Kellner geht, um Bier zu holen. Cokane tritt in den Biergarten ein. Trench folgt ihm) Dank meinem Takt, Harry, haben wir ein Zimmer mit der besten Aussicht im Hotel. Wir fahren mit dem Zug morgen los und schauen Mainz und Frankfurt an. Es gibt eine sehr anmutige weibliche Statue im Privathaus eines Adligen in Frankfurt. Auch ein Zoo. Am nächsten Tag Nürnberg! Die feinste Sammlung von Folterinstrumenten in der Welt.

TRENCH (gut gelaunt): Es klingt gut. Schaue bitte den Fahrplan an, okay? (Er nimmt einen Bradshaws Continental Railway Guide aus seiner Jackentasche heraus und wirft ihn auf einen der Tische)

COKANE (beugt sich, um sich hinzusetzen): Pah! Der Sitz ist so staubig. Diese Ausländer sind in ihren Gewohnheiten leider nicht besonders sauber.

TRENCH (lebhaft): Das macht nichts, mein alter Freund. Kopf hoch, Billy, Kopf hoch! Genieße es. (Er schubst Cokane auf den Stuhl und setzt sich ihm gegenüber, nimmt seine Pfeife heraus und singt laut)

Schenke den Rheinwein ein: Lass ihn strömen,

wie ein freier und reißender Fluss –

COKANE (empört): Im Namen der guten Sitten, Harry! Hast du nicht vergessen, dass du ein vornehmer Mann bist und kein Straßenhändler während der Feiertage im Hampstead Heath Park? Würdest du davon träumen, dich so in London zu benehmen?

TRENCH: So ein Quatsch! Ich bin ins Ausland gekommen, um mich zu amüsieren. Du würdest das auch tun, wenn du nach vier Jahren Stress an der medizinischen Hochschule und Schufterei während des Praktikums im Krankenhaus die Prüfungen bestanden hättest. (Er bricht wieder mit einem Lied)

COKANE (erhebt sich): Trench, entweder reist du wie ein vornehmer Mann, oder du reist allein. Genau das macht die Engländer auf dem Kontinent unbeliebt. Es mag keine Rolle spielen, was die Einheimischen betrifft, aber die Leute, die an Bord des Dampfers in Bonn einstiegen, waren Engländer. Ich habe mich den ganzen Nachmittag unwohl gefühlt, was sie über uns denken müssen. Sieh unser Aussehen an.

TRENCH: Was stimmt nicht mit unserem Aussehen?

COKANE: Nachlässigkeit, mein lieber Mitreisender, Negligenz. Auf dem Dampfer war ein wenig Nachlässigkeit ganz akzeptabel, aber hier in diesem Hotel werden sich einige von Gästen sicher zum Abendessen passend anziehen, und du hast nichts als dieses Norfolk Jackett. Woher sollen sie wissen, dass du aus einem guten Haus stammst und über gute Beziehungen verfügst, wenn du das nicht durch deine guten Manieren und deine Kleidung zeigst?

TRENCH: Pah! Die Dampfer-Leute waren der letzte Abschaum – Amerikaner und alle möglichen Leute. Sie können sich erhängen, Billy. Wir brauchen uns ihretwegen keine Gedanken zu machen. (Er schlägt ein Streichholz und zündet seine Pfeife an)

COKANE: Hör auf damit, mich in der Öffentlichkeit mit Billy anzusprechen, Trench. Mein Name ist Cokane. Ich bin sicher, dass sie einflussreiche Leute sind: Das distinguierte Aussehen des Vaters hat selbst dich beeindruckt.

TRENCH (sofort ernüchtert): Was? Diese Leute? (Er bläst das Streichholz aus und steckt seine Pfeife in die Jackentasche ein)

COKANE (folgt seinem Vorteil triumphierend): Hier, Harry, hier: in diesem Hotel. Ich habe den Regenschirm des Vaters in der Lobby erkannt.

TRENCH (mit einem Hauch von echter Scham): Ich denke, ich musste eine Wechseljacke mitnehmen. Aber zusätzliche Gepäckmengen sind so lästig und (plötzlich aufsteigend) auf alle Fälle können wir hineingehen und uns waschen. (Er dreht sich um, um ins Hotel zu gehen, bleibt aber in Bestürzung stehen und sieht, wie drei Leute den Biergarten betreten) Ach was! Sie sind hier.

Eine Dame und ein distinguierter Herr, gefolgt von einem Boten mit ein paar Tragetaschen, die nicht wie Gepäck, sondern wie Papiertüten aussehen, treten in den Biergarten ein. Sie sind offensichtlich Vater und Tochter. Der Vater ist ein wohlerhaltener Fünfzigjähriger, von großer Statur und aufrechter Haltung. Seine durchdringende, gebieterische Stimme und sein imposanter Stil mit seiner starken Adlernase und seinem entschlossenen, glatt rasierten Mund, geben ihm einen Hauch von Wichtigkeit. Er trägt einen hellgrauen Gehrock mit Seidenfutter, einen weißen Hut und ein Fernglas in einem neuen Lederetui: ein respekteinflößender Selfmademan für Diener und nicht leicht zugänglich für jedermann. Seine Tochter ist eine gut gekleidete, gut ernährte, gut aussehende, willensstarke junge Frau. Sie sieht damenhaft aus, aber bleibt immer noch die Tochter ihres Vaters. Trotzdem ist sie frisch und attraktiv, und es schadet ihr nicht, lebendig und energisch zu sein, statt delikat und raffiniert.

COKANE (schnappt sich schnell den Arm von Trench, der wie gelähmt das Paar anstarrt): Bleib gelassen, Harry: Benimm dich ruhig und vernünftig! (Er will mit ihm zum Hotel gehen. Der Kellner kommt mit zwei Krüge Bier heraus. Zum Kellner) Ceci-la est notre table. Est ce que vous comprenez Français? Das ist unser Tisch. Verstehst du Französisch?

DER KELLNER (spricht Kölsch): Jo, natörlich, mi Häär. All klor, mi Häär.

DER DISTINGUIERTE HERR (zum Boten): Lege diese Dinge auf diesen Tisch. (Der Bote versteht nicht)

DER KELLNER (mischt sich ein): De Hääre han dä Desch genomme, mi Häär. Dorf ich Üch einen anderen aanbeede –?

DER DISTINGUIERTE HERR (streng): Du hättest es mir früher sagen müssen. (Zu Cokane mit einer sichtbaren Herablassung): Es tut mir leid, Sir.

COKANE: Kein Problem, mein lieber Sir. Kein Problem. Behalten Sie unseren Tisch, ich flehe Sie an.

DER DISTINGUIERTE HERR (dreht ihm kalt den Rücken zu): Danke. (zum Boten): Lege sie auf diesen Tisch. (Der Bote bewegt sich nicht, bis der Herr auf die Papiertüten zeigt und befehlerisch auf den anderen Tisch klopft)

BOTE: Jo, natörlich, mi Häär. (Er legt die Papiertüten ab)

DER DISTINGUIERTE HERR (holt eine Handvoll Geld heraus): Kellner!

DER KELLNER (ehrfürchtig): Jo, mi Häär.

DER DISTINGUIERTE HERR: Tee. Für zwei. Hier draußen. Los!

DER KELLNER: Jlich, mi Häär. (Er geht ins Hotel)

Der distinguierte Herr wählt eine kleine Münze von seiner Handvoll Geld aus und gibt es dem Boten, der sie mit einer unterwürfigen Berührung seiner Kappe erhält und weggeht. Seine Tochter setzt sich und öffnet einen Umschlag mit Fotos. Der distinguierte Herr nimmt einen Baedeker Reiseführer heraus, stellt einen Stuhl für sich selbst und dann, bevor er sich hinsetzt, schaut Cokane mutwillig an, als ob er nur darauf wartet, dass Cokane schnellstmöglich vom Fleck verschwindet. Cokane nimmt tapfer seinen Platz mit einem Hauch bescheidener guter Manieren am seinen Tisch wieder ein und ruft zu Trench, der unentschlossen im Hintergrund herumstreift.

COKANE: Trench, mein lieber Freund, dein Bier wartet auf dich. (Er trinkt)

TRENCH (froh über den Vorwand, zu seinem Stuhl zurückzukehren): Danke, Cokane. (Er trinkt auch)

COKANE: Übrigens, Harry, ich wollte dich schon lange fragen, ob Herzogin Roxdale Schwester deiner Mutter oder deines Vaters ist? (Dieser Satz ruft eine sofortige Reaktion hervor. Der distinguierte Herr ist sichtbar interessiert)

TRENCH: Meiner Mutter natürlich. Warum ist das dir in den Sinn gekommen?

COKANE: Einfach so, nichts. Ich habe nur gedacht, – tja! Sie wird erwarten, dass du heiraten würdest, Harry. Ein Arzt sollte heiraten.

TRENCH: Was hat sie damit zu tun?

COKANE: Sehr viel, lieber Junge. Sie wird sich darauf freuen, deine Frau in die Londoner Gesellschaft einzuführen.

TRENCH: Was für ein Unsinn!

COKANE: Ach, du bist jung, mein Lieber, du weißt noch nicht, wie wichtig diese Dinge sind. Sie scheinen nur zeremonielle Kleinigkeiten zu sein, aber in Wirklichkeit sind sie die Federn und Räder eines großen aristokratischen Systems. (Der Kellner bringt ein Tablett mit Teeservice und Teesachen zum Tisch des distinguierten Herrn. Cokane erhebt sich und spricht den Herrn an): Mein lieber Sir, entschuldigen Sie die Störung, aber mir bleibt ein Unbehagen nicht los, dass Sie doch unseren Tisch bevorzugen und dass wir Ihnen im Wege sind.

DER DISTINGUIERTE HERR (wohlwollend): Danke. Blanche, dieser Herr bietet uns freundlicherweise seinen Tisch an, wenn du ihn bevorzugst.

BLANCHE: Oh, danke: Mir ist es egal.

DER DISTINGUIERTE HERR (zu Cokane): Wenn ich mich nicht irre, waren wir Mitreisende auf dem Dampfschiff, mein Herr.

COKANE: Mitreisende und Landsleute. Ah, wir fühlen den Charme unserer eigenen Sprache sehr selten, bis er unsere Ohren unter fremdem Himmel erwischt. Haben Sie das zweifellos auch bemerkt?

DER DISTINGUIERTE HERR (ein wenig verwirrt): Hm! Aus einem romantischen Blickwinkel möglicherweise, sehr wahrscheinlich. Der Klang des Englischen lässt mich in der Tat so fühlen, als ob ich zu Hause bin. Aber ich mag es nicht, mich zuhause zu fühlen, wenn ich im Ausland bin. Es ist nicht genau das, wofür ich so viel Geld ausgegeben habe. (Er schaut Trench an) Ich denke, dieser Herr war auch auf dem Dampfschiff.

COKANE (handelt als Meister der Zeremonien): Mein geschätzter Freund Doktor Trench. (Der distinguierte Herr und Trench erheben sich) Trench, mein Lieber, erlaube mir, vorzustellen – ähm –? (Er sieht den Herren fragend an und wartet auf seinen Namen)

DER DISTINGUIERTE HERR: Gestatten Sie mir, Ihre Hand zu schütteln, Doktor Trench. Mein Name ist Sartorius und ich habe die Ehre, mit Herzogin Roxdale bekannt zu sein, die, wie ich glaube, eine nahe Verwandte von Ihnen ist. Blanche. (Sie blickt herauf) Doktor Trench. (Sie verbeugen sich)

TRENCH: Vielleicht sollte ich Ihnen auch meinen Freund Cokane vorstellen, Herr Sartorius: Herr William de Burgh Cokane. (Cokane macht eine komplizierte Verbeugung. Sartorius akzeptiert es mit Würde. Der Kellner kommt zurück)

SARTORIUS (zum Kellner): Noch zwei Tassen.

KELLNER: Jo, Mista. (Er geht ins Hotel)

BLANCHE: Mögen Sie Zucker, Herr Cokane?

COKANE (nimmt seinen Stuhl zum Teetisch mit): Vielen Dank. (zu Sartorius) Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen. Harry, bringe deinen Stuhl mit.

SARTORIUS: Sie sind herzlich willkommen. (Trench bringt auch seinen Stuhl zum Teetisch und sie setzen sich alle um den Tisch herum. Der Kellner kommt mit zwei weiteren Tassen)

KELLNER: De Toble d’Hôte öm half sechs, mi Häär. Dorf ich Üch noch jet aanbeede?

SARTORIUS: Nein. Du kannst gehen. (Der Kellner geht ab)

COKANE (mit süßer Stimme): Überlegen Sie, hier etwas länger zu bleiben, Miss Sartorius?

BLANCHE: Wir haben vor, Rolandseck zu besuchen. Ist es da auch so schön wie an diesem Ort?

COKANE: Harry, den Baedeker Reiseführer. Vielen Dank. (Er konsultiert den Index und liest über Rolandseck)

BLANCHE: Zucker, Doktor Trench?

TRENCH: Vielen Dank. (Sie reicht ihm eine Zuckerdose und sieht ihn bedeutungsvoll für einen Moment an. Er blickt hastig hinunter und ängstlich zu Sartorius hinauf, der sich mit einem Stück Brot und Butter beschäftigt)

COKANE: Rolandseck scheint ein äußerst interessanter Ort zu sein. (Er liest laut)„Er ist einer der schönsten und meistbesuchten Orte am Fluss, umgeben von zahlreichen Villen und schönen Gärten, die hauptsächlich wohlhabenden niederrheinischen Kaufleuten gehören und sich entlang bewaldeter Hänge des Dorfes erstrecken.“

BLANCHE: Das klingt zivilisiert und komfortabel. Ich bin dafür, dass wir dahin gehen.

SARTORIUS: Genau wie unser Sitz in Surbiton, Liebling.

BLANCHE: Ganz genau.

COKANE: Haben Sie einen Landsitz am Fluss? Ach, ich beneide Sie.

SARTORIUS: Nein: Ich habe lediglich eine möblierte Villa für den Sommer in Surbiton gemietet. Ich wohne am Bedford Square. Ich bin Mitglied des Gemeindevorstands und muss in der Gemeinde wohnen.

BLANCHE: Noch eine Tasse, Herr Cokane?

COKANE: Danke, nein. (zu Sartorius) Ich nehme an, dass Sie diese kleine Stadt Remagen schon angeschaut haben. Da gibt es keine Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, außer der Apollinariskirche.

SARTORIUS (empört): Außer welcher Kirche?

COKANE: Der Apollinariskirche.

SARTORIUS: Man gibt der Kirche einen seltsamen Namen. Typisch für den Kontinent muss ich sagen.

COKANE: Ah, ja, ja, ja. Da kommen unsere Nachbarn manchmal zu kurz, Herr Sartorius. Woran sie gelegentlich versagen, ist ein guter Geschmack. Aber in diesem Fall sind sie nicht schuldig. Apollinaris Mineralwasser wurde nach der Kirche benannt und nicht die Kirche nach dem Wasser.

SARTORIUS (als wäre das ein mildernder Umstand, aber keine vollständige Entschuldigung): Ich bin froh, das zu hören. Ist die Kirche gut bewertet?

COKANE: Der Baedeker Reiseführer bewertet sie mit Sternen.

SARTORIUS (respektvoll): Oh, dann würde ich sie gerne besichtigen.

COKANE (liest laut vor): – wurde 1839 von Zwirner, dem späteren berühmten Architekten des Kölner Domes, auf Kosten des Grafen Fürstenberg-Stammheim errichtet.

SARTORIUS (sehr beeindruckt): Wir müssen sie bestimmt anschauen, Herr Cokane. Ich hatte keine Ahnung, dass der Architekt des Kölner Doms so kürzlich gelebt hat.

BLANCHE: Es reicht mit Kirchen, Papa. Sie sind alle gleich und ich bin zu Tode müde von ihnen.

SARTORIUS: Tja, mein Liebling, wenn du das für vernünftig hältst, eine lange und teure Reise zu unternehmen, um alle Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, die es hier gibt, und dann nach Hause zu fahren, ohne alles zu besichtigen –

BLANCHE: Nicht heute Nachmittag, Papa, bitte.

SARTORIUS: Mein Liebling: Ich möchte, dass du alles anschauest. Das ist ein Teil deiner Erziehung –

BLANCHE (erhebt sich mit einem gereizten Seufzer): Oh meine Erziehung! Sehr gut, sehr gut. Ich nehme an, ich muss es durchmachen. Gehen Sie mit, Doktor Trench? (mit einer Grimasse) Ich bin mir sicher, dass die Johanniskirche ein Leckerbissen für Sie sein wird.

COKANE (lächelt leise und schelmisch): Ach, vortrefflich, vortrefflich, sehr gut. (ernsthaft) Aber wissen Sie, Miss Sartorius, es gibt hier tatsächlich sowohl mehrere Johanniskirchen als auch mehrere Apollinariskirchen.

SARTORIUS (nimmt sein Fernglas und geht moralisierend zur Gartenpforte vor): Hinter jedem Scherz steckt immer ein Funken Wahrheit, Herr Cokane.

COKANE (folgt ihm): Das stimmt! Sie haben vollkommen recht!

Sie verlassen philosophierend den Biergarten. Blanche macht keine Bemühungen, ihnen zu folgen. Sie beobachtet, bis sie sicher außer Sicht sind, und stellt sich dann vor Trench auf und sieht ihn mit einem rätselhaften Lächeln an, das er mit einem halb verlegenen, halb selbstgefälligen Grinsen erwidert.

BLANCHE: Gut! Du hast es endlich geschafft.

TRENCH: Ja. Zumindest hat Cokane es geschafft. Ich habe dir gesagt, er würde es schaffen. Er ist in einer gewissen Weise ein Esel, aber er hat ein außergewöhnliches Taktgefühl.

BLANCHE (verächtlich): Taktgefühl! Das ist kein Taktgefühl: Das ist eine Neugier. Neugierige Leute können durch viel Übung sehr leicht mit Fremden ins Gespräch kommen. Warum hast du nicht selbst meinen Vater auf dem Dampfer angesprochen? Du warst mutig genug, mich anzusprechen, ohne vorgestellt zu werden.

TRENCH: Ich hatte keine sonderliche Lust, mit ihm zu reden.

BLANCHE: Ist es dir wahrscheinlich nicht in den Sinn gekommen, dass du mich dadurch in eine falsche Position gebracht hast?

TRENCH: Oh, das sehe ich nicht so. Außerdem, es ist nicht leicht, deinen Vater anzupacken. Natürlich, jetzt, als ich ihn kennengelernt habe, sehe ich ein, dass er angenehm genug ist, aber man muss ihn zuerst kennenlernen, oder?

BLANCHE (ungeduldig): Jeder hat Angst vor Papa: Ich weiß allerdings nicht, wieso. (Sie setzt sich wieder und schmollt ein wenig)

TRENCH (zärtlich): Jetzt ist aber alles in Ordnung, nicht wahr? (Er setzt sich neben sie)

BLANCHE (heftig): Ich weiß es nicht. Woher soll ich das wissen? Du hast kein Recht gehabt, mich an diesem Tag am Bord des Dampfers anzusprechen. Du hast gedacht, ich wäre allein, weil (mit falschem Pathos) ich meine Mutter nicht bei mir hatte.

TRENCH (protestierend): Ach was! Komm! Du warst es, die mich angesprochen hat. Natürlich war ich nur froh über die Möglichkeit, aber Mensch, wirklich! Ich hätte mich nicht vom Fleck gerührt, wenn du mich dazu nicht ermuntert hast.

BLANCHE: Ich habe dich nur nach dem Namen eines Schlosses gefragt. Da war nichts, was für eine wohlerzogene, anständige Frau unartig ist.

TRENCH: Natürlich nicht. Warum solltest du nicht fragen? (mit einer erneuerten Zärtlichkeit) Aber jetzt ist alles in Ordnung, nicht wahr?

BLANCHE (leise, ihn vieldeutig ansehend): Ist es so?

TRENCH (plötzlich schüchtern): Ich – ich denke schon. Was ist übrigens mit der Apollinariskirche? Dein Vater erwartet, dass wir ihm folgen, oder?

BLANCHE (verbeißt ihren Groll): Ich würde dich nicht aufhalten, wenn du sie ansehen willst.

TRENCH: Kommst du nicht mit?

BLANCHE (das Gesicht von ihm launisch abgewandt): Nein.

TRENCH (alarmiert): Hör zu: Du bist nicht beleidigt, nicht wahr? (Sie sieht ihn eine Weile vorwurfsvoll an) Blanche, (Sie brüstet sich sofort, übertreibt es und erschreckt ihn) ich bitte um Verzeihung, dass ich dich mit deinem Vornamen anrede, aber ich – äh – (Sie korrigiert ihren Fehler, indem sie ihren Ausdruck schlagfertig mildert. Er reagiert mit einem Redefluss) Du hast nichts dagegen, oder? Ich habe das Gefühl – ähm – es stört dich nicht. Na schau mal. Ich habe keine Ahnung, wie du das empfangen würdest. Es muss schrecklich überstürzt sein, aber die Umstände lassen nicht zu – Mein höchster Mangel an einen gewissen Takt – (Er stolpert mehr und mehr und ist unfähig zu sehen, dass sie ihre Ungeduld kaum zügeln kann) Nun, wenn ich Cokane wäre –

BLANCHE (ungeduldig): Cokane!

TRENCH (erschrocken): Nein, nicht Cokane. Obwohl ich dir versichere, ich wollte über ihn nur sagen –

BLANCHE (fällt ihm ins Wort): Dass er mit Papa bald zurückkommt.

TRENCH (stumpf): Ja. Sie können nicht sehr lang abwesend sein. Ich hoffe, dass ich dich nicht aufhalte.

BLANCHE: Ich dachte, du würdest mich aufhalten, weil du mir etwas zu sagen hast.

TRENCH (völlig entnervt): Gar nicht. Zumindest nichts Besonderes. Das heißt, ich fürchte, du würdest das nicht für sehr wichtig halten. Ein anderes Mal vielleicht –

BLANCHE (unterbricht ihn): Welches andere Mal? Woher weißt du, dass wir uns jemals wiedersehen werden? (beharrend) Sag es mir jetzt. Ich will, dass du es mir jetzt sagst.

TRENCH: Na gut, ich dachte, dass – wenn wir uns entscheiden können – oder nicht – zumindest – ähm – (Seine Nervosität entzieht ihm die Sprechfähigkeit)

BLANCHE (hat keine Hoffnung mehr und gibt auf): Ich glaube nicht, dass Sie in der Lage sind, eine Entscheidung zu treffen, Doktor Trench.

TRENCH (stottert): Ich dachte nur – (Er sieht sie mitleiderregend an. Sie zögert einen Moment und dann legt ihre Hände mit einer kalkulierten Impulsivität in seine Hände. Er schließt sie mit einem Aufschrei der Erleichterung in die Arme und raubt einen Kuss) Liebe Blanche! Wenn du mir nicht herausgeholfen hättest, hätte ich definitiv den ganzen Tag hier gestanden und gestottert.

BLANCHE (versucht, sich aus seiner Umarmung zu befreien): Ich habe dir nicht herausgeholfen.

TRENCH (hält sie): Ich meine natürlich nicht, dass du es mit Absicht gemacht hast. Nur instinktiv.

BLANCHE (immer noch nicht besänftigt): Aber du hast nichts gesagt.

TRENCH: Was kann ich noch sagen, außer das? (Er küsst sie wieder)

BLANCHE (überwältigt durch den Kuss, aber macht beharrlich weiter): Aber Harry –

TRENCH (freut sich, dass sie ihn mit seinem Namen anspricht): Ja!

BLANCHE: Wann werden wir heiraten?

TRENCH: In der ersten Kirche, der wir begegnen. In der Apollinariskirche, wenn du möchtest.

BLANCHE: Nein, aber ernsthaft. Das ist ernst, Harry: Du musst keine Scherze darüber machen.

TRENCH (blickt plötzlich zur Pforte und lässt sie schnell los): Sch! Still! Sie kommen zurück.

BLANCHE: Ach, verdammt – (Ihr Wort wird durch das Klingeln einer Glocke aus dem Inneren des Hotels übertönt. Der Kellner erscheint auf der Türschwelle und läutet mit der Glocke. Cokane und Sartorius treten in den Biergarten ein)

KELLNER: Des Omdessn Toble d’Hôte en zwanzig Minutte, ming Dama un Hääre. (Er verschwindet wieder)

SARTORIUS (sehr ernst): Ich erwartete von dir, dass du uns begleitest, Blanche.

BLANCHE: Ja, Papa. Wir wollten euch gerade folgen.

SARTORIUS: Wir sind ziemlich verstaubt: Wir müssen uns zum Table d’Hôte bereit machen. Ich denke, du solltest lieber mitkommen, mein Kind. Komm.

Er bietet Blanche seinen Arm an. Der Ernst seines Verhaltens überwältigt alle Anwesenden. Blanche nimmt still seinen Arm und geht mit ihm ins Hotel. Cokane, kaum weniger aufgeblasen als Sartorius selbst, betrachtet Trench mit unnachsichtiger Strenge eines Richters.

COKANE (missbilligend): Nein, mein lieber Junge. Nein, nein. So geht es nicht. Das bringt mich zum Erröten. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so beschämt gefühlt. Und alles deinetwegen. Du hast die Unerfahrenheit dieses wehrlosen Mädchens ausgenutzt.

TRENCH (hitzig): Cokane!

COKANE (unaufhaltsam): Ihr Vater scheint ein vornehmer Mann zu sein. Ich habe mir die Ehre seiner Bekanntschaft verschafft. Ich habe dich vorgestellt. Ich ließ ihn glauben, dass er seine Tochter mit voller Zuversicht in deiner Obhut lassen könnte. Und was sehe ich, wenn wir zurückkommen? Was sieht ihr Vater? Oh, Trench, Trench! Nein, mein Lieber, nein, nein. Das ist gegen den guten Geschmack, Harry! Was für schlechte Manieren!

TRENCH: Unsinn! Es gab nichts zu sehen.

COKANE: Nichts zu sehen! Sie, eine perfekte Dame, ein wohlerzogenes Mädchen, war genau genommen in deinen Armen, während der Kellner eine schwere Glocke läutete. Aber du sagst: „Es gab nichts zu sehen!“ (Cokane doziert mit einer doppelten Härte) Hast du keine Prinzipien, Trench? Hast du keine religiösen Überzeugungen? Sind dir gewisse gesellschaftliche Verhaltensregeln nicht bekannt? Du hast sie genau genommen geküsst –

TRENCH: Du hast den Kuss nicht gesehen.

COKANE: Wir haben den Kuss nicht nur gesehen, sondern auch gehört: Der Knall hat definitiv in Richtung Rhein niedergeschlagen. Du scheust dich nicht einmal vor Lügen zurück, Trench.

TRENCH: Unsinn, mein lieber Billy. Du –

COKANE (irritiert): Und jetzt fängst du schon mal wieder an. Benutze diesen Kosenamen nicht. Wieso sollten mich andere Leute, die Leute von Rang und Namen respektieren, wenn ich bei jeder Gelegenheit von dir Billy gerufen werde? Mein Name ist William: William de Burgh Cokane.

TRENCH: Ach, sei nicht beleidigt, mein alter Freund. Was nützt es, sich bei jeder Kleinigkeit aufzuregen? Es ist selbstverständlich für mich, dich Billy zu benennen: Das passt irgendwie zu dir.

COKANE (gekränkt): Du hast kein Feingefühl, Trench, und kein Taktgefühl. Ich habe es noch keinem gesagt, aber ich fürchte, dass es nichts und niemand auf der ganzen Welt gibt, der einen wirklich vornehmen Mann aus dir machen wird. (Sartorius erscheint auf der Türschwelle des Hotels) Da kommt mein Freund Sartorius, der dich sicherlich nach einer Erklärung deines Verhaltens fragen wird. Ich würde mich wirklich nicht wundern, wenn er eine Peitsche mitbringt. Ich verlasse dich, um kein Zeuge dieser peinlichen Szene zu sein.

TRENCH: Gehe nicht weg, Donnerwetter. Ich will mit ihm gerade jetzt nicht allein bleiben.

COKANE (schüttelt den Kopf): Taktgefühl, Harry, Taktgefühl! Guter Geschmack! Savoir faire! (Er geht weg. Trench versucht, in die entgegengesetzte Richtung zu entwischen, und schlendert zur Gartenpforte)

SARTORIUS (hypnotisierend): Doktor Trench.

TRENCH (stoppt und dreht sich um): Oh, Sie sind es, Herr Sartorius? Wie haben Sie die Kirche gefunden?

Sartorius zeigt wortlos auf einen Stuhl. Trench, halb hypnotisiert von seiner eigenen Nervosität und der Eindringlichkeit von Sartorius, setzt sich hilflos hin.

SARTORIUS (setzt sich neben ihn): Sie sprachen mit meiner Tochter, Doktor Trench.

TRENCH (versucht sich, natürlich zu verhalten): Ja. Wir haben uns unterhalten – genau gesagt – geplaudert – während Sie mit Cokane in der Kirche waren. Sind Sie mit Cokane zurechtgekommen, Herr Sartorius? Ich bin überzeugt, dass er eine großartige Einfühlungsgabe im Umgang mit Menschen hat.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752129199
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Literaturkritik Klassiker Dramatik Englische Literatur Humor

Autoren

  • Bernard Shaw (Autor:in)

  • Vitaly Baziyan (Übersetzung)

Der ehemalige Hochschuldozent Vitaly Baziyan ist Linguist, Anglist und Shavian. Er hat die meisten Originalbriefe von Bernard Shaw ausführlich studiert. Insgesamt hat er sechs Theaterstücke von Bernard Shaw aus dem Englischen ins Deutsche neuübersetzt: Candida, Majorin Barbara, Die Millionärin, Weh euch, ihr bunten Heuchler, die ihr der Witwen Häuser fresset, Wie er ihren Ehegatten belog und Pygmalion. Alle diese Übersetzungen gehören zur Büchserie Die vielleicht besten deutschen Übersetzungen.
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