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Kellerwelt

von Niels Peter Henning (Autor:in)
370 Seiten

Zusammenfassung

Ein Mann erwacht in einem Keller, ohne Gedächtnis und ohne Identität. Er weiß nur eins: Er muss hier raus - so schnell wie möglich. Er dürfte überhaupt nicht hier sein. Wenn sie ihn hier drin erwischen, dann wird er nie wieder das Tageslicht sehen. Und der Entsorger ist bereits unterwegs, um ihn zu holen. Er versucht, aus dem Keller zu flüchten, doch er findet den Ausgang nicht. Stattdessen verirrt er sich in einem Labyrinth voller Todesfallen. Naturgesetze besitzen hier keine uneingeschränkte Gültigkeit mehr. Und er ist nicht alleine hier unten. Außer ihm existieren noch weitere Menschen in der Kellerwelt. Jeder einzelne ohne Gedächtnis. Jeder einzelne ohne Hoffnung, den Keller jemals wieder zu verlassen. Und je weiter ihn seine Reise durch die Korridore der Kellerwelt führt, desto deutlicher spürt er die Präsenz eines unheimlichen Wesens. Eines Wesens, das er nicht kennt und das er nicht kontrollieren kann. Ein Wesen, das zu unvorstellbarer Grausamkeit fähig ist, wenn man es von der Leine lässt. Dieses Wesen ist er selbst. Bewaffnet. Und gefährlich.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

 

 

KELLERWELT

 

Ein Roman von

 

Niels Peter Henning

Impressum

© 2015, 2020 Niels Peter Henning

 

Autor und Umschlaggestaltung:

 

Niels Peter Henning

Finkenweg 25

35440 Linden

E-Mail: info@niels-peter-henning.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Und los!

Aufwachen.

Er riss die Augen auf.

Verdammt!

Was sollte das hier sein?

Ein kleiner Raum. Wände aus Beton und eine schwere Feuertür. An der Decke führte eine Arbeitsleuchte einen nahezu aussichtslosen Kampf gegen die Dunkelheit.

Und Feuchtigkeit. Überall Wasserflecken. An den Wänden tränten Auswaschungen herab. Ein Tropfen fiel von der Decke und landete in einer Pfütze in der Mitte des Raumes. Außerdem bedeckte eine Art Schmiere große Flächen der Wände.

Er befand sich offenbar in einem Keller. In einem ziemlich heruntergekommenen Keller, um genau zu sein. Er hatte hier geschlafen, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Doch weswegen hatte er das getan? Normalerweise schlief er nicht in einem Keller. Normalerweise schlief er … woanders. Wo? Das fiel ihm nicht ein. Woanders eben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Bett.

Er hätte gerne noch weiter über seine Schlafgewohnheiten nachgedacht, doch stattdessen blitzte ein anderer Gedanke in seinem Kopf auf: Er musste hier raus.

Er musste raus, und zwar schnell. Auf der Stelle. Sofort.

Weswegen? Das wusste er nicht. Doch er fühlte sich hier drin nicht wohl. Er sollte nicht hier sein. Jemand suchte nach ihm. Wenn dieser Jemand ihn erwischte, dann würde er nie wieder das Tageslicht erblicken.

Er stutzte. Das waren reichlich dramatische Gedanken. Doch sie fühlten sich irgendwie richtig an. Auch wenn er nicht wusste, wo er sich gerade befand - er steckte in einer ziemlich üblen Lage. Und deswegen musste er verschwinden.

Also los, aufstehen!

Gar nicht so einfach. Seine Beine waren eingeschlafen. Sie spielten nicht mit und ließen ihn zunächst wieder auf sein Hinterteil plumpsen. Doch er gab nicht auf und kämpfte sich auf die Füße. Dabei kam er sich vor wie ein alter Mann.

Er fragte sich, wie er wohl in diesen Keller gelangt war. Hatte er sich nach einer Sauforgie hier verkrochen, um seinen Rausch auszuschlafen? Oder war er vor jemanden weggelaufen und hatte sich hier versteckt?

Eine Horde Kopfschmerzen galoppierte durch seinen Schädel und zertrampelte alle Gedanken. Besser, er stellte sich zunächst keine Fragen. Besser, er akzeptierte die Situation einfach, wie sie war. Er musste nur einen Ausgang finden. Sobald er wieder an der frischen Luft war, würden die Kopfschmerzen nachlassen. Und dann würde sich alles aufklären.

Zunächst einmal musste er ein Treppenhaus finden. Oder einen Aufzug. Und dann nichts wie weg, ab nach draußen. Sie durften ihn auf keinen Fall hier drin erwischen.

Nur vier Schritte bis zur Tür. Er stieg über die Pfütze in der Mitte des Raumes hinweg. Für einen Augenblick schaute er dabei nach unten und erblickte sein eigenes Spiegelbild. Er blieb wie angewurzelt stehen und sah genauer hin. Er sah genau das, was er erwartet hatte - sein Gesicht. Und doch war ihm die Visage, die sich in der Wasseroberfläche spiegelte, völlig fremd.

Es handelte sich eindeutig nicht um eine optische Täuschung. Wenn er zwinkerte, dann zwinkerte die Visage in der Pfütze zurück. Alles war so, wie es sein sollte. Dennoch hatte er das Gefühl, sich selbst nicht zu erkennen.

Doch er hatte keine Zeit, sich über sein Aussehen Gedanken zu machen. Er musste auf schnellstem Weg hier raus. Also löste er sich vom Anblick seiner Visage und drückte den Türgriff nieder.

Abgeschlossen.

Er stutzte. Welcher Idiot hatte ihn eingesperrt? Dann sah er den Schlüssel im Schloss. Offenbar war er selbst der Idiot gewesen.

Als er den Schlüssel drehte, fühlte es sich an, als sei das Schloss mit einer Mischung aus Sand und Öl gefüllt. Das passte zu dieser Ekelatmosphäre hier unten. Doch weswegen hatte er sich eingeschlossen? Sein Gehirn lieferte auch darauf keine Antwort. Es lieferte lediglich Kopfschmerzen. Dieses verdammte Gehirn!

Er riss die Tür auf. Sie mündete in einen Korridor. Auch hier sah er Beton, Dreck, Schmiere und Feuchtigkeit. Und auch hier kämpften Arbeitsleuchten mit mäßigem Erfolg gegen die Dunkelheit an und tauchten den Korridor in eine schmutzige Mischung aus Orange und Braun. Wasser tropfte ebenfalls - zwar nicht in Sichtweite, doch er hörte das Plätschern, wenn ein Tropfen den Boden erreichte. Ansonsten herrschte Stille. Totale, atemlose Stille.

Sollte er sich nun nach rechts oder nach links wenden? In welche Richtung er auch blickte, der Korridor verlor sich bereits nach wenigen Schritten in der Dunkelheit. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich willkürlich für eine Richtung zu entscheiden. Er wandte sich nach rechts und marschierte los. Es dauerte nicht lange, dann mündete der Korridor in einen anderen Korridor ein.

Er schaute um die Ecke. Zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Er sah nichts. Nur einen weiteren leeren Korridor mit Pfützen, Dreck und Finsternis. Keine Wegweiser, keine Hinweisschilder.

Also entschied er sich für die andere Richtung. Er ging zurück, vorbei an der Tür, hinter der er aufgewacht war. Dann weiter, bis er erneut eine Einmündung erreichte. Auch hier schaute er in beide Richtungen. Wieder nichts. Wieder keine Hinweisschilder, wieder keine Wegweiser. Nur das Übliche: Dreck, Feuchtigkeit, Bernsteinlicht.

Was war das hier für ein Gebäude? Es musste doch irgendwelche Hinweisschilder geben, oder nicht? Zumindest die Fluchtwege hätten ausgeschildert sein müssen. Grüne Schilder mit Strichmännchen, die auf ein weißes Rechteck zuliefen. Oder Schilder, die auf Feuerlöscher hinwiesen. Irgendetwas in dieser Art. Doch hier gab es keine Schilder. Hier gab es nichts außer Dreck.

Hatte der Bauherr auf die Schilder verzichtet? Waren sie ihm zu teuer gewesen? Oder lief er in einer nur halb fertig gestellten Bauruine herum? Wenn ja, was tat er dann hier? Und wo sollte sich diese Bauruine befinden? Er erinnerte sich nicht daran, jemals von einer solchen Ruine Notiz genommen zu haben.

Nein, er durfte sich nicht mit diesen Fragen aufhalten. Er musste hier raus, ob mit Hinweisschildern oder ohne. Also marschierte er weiter. Er hielt sich links und wandte sich noch einmal nach links. Er tat dies ohne besonderen Grund, sondern nur, weil es ihm gerade in den Sinn kam. Hier musste doch irgendwo der Ausgang sein.

Er hatte es irgendwie in dieses Gebäude hinein geschafft, also würde er auch wieder einen Weg nach draußen finden. Schließlich konnte man sich in einem Keller nicht verirren. Zumindest nicht, soweit er sich erinnerte.

Eine Weile später änderte er jedoch seine Meinung: Man konnte sich durchaus in einem Keller verirren. Zumindest hatte es ihn nicht die geringste Mühe gekostet, sich hoffnungslos zu verlaufen.

Er fragte sich, wie lange er nun schon durch die Korridore irrte. Er warf einen Blick auf sein Handgelenk. Keine Uhr. Das fand er seltsam. Hatte er nicht immer eine Uhr getragen? Er wusste es nicht.

Seine Armbeuge juckte. Er rieb über den Stoff seiner Jacke und ging weiter. Anfangs hatte er Vorstöße in alle möglichen Richtungen gewagt. Er hatte Abzweigungen ausprobiert und war dann wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt. Das hatte funktioniert, so lange er sich an den Rückweg erinnern konnte. Doch es hatte ihn keinen Schritt vorwärts gebracht. Bis auf eine Sackgasse hatte er überhaupt nichts gefunden. Die Korridore führten einfach weiter - und immer weiter. Und überall sah er nur Dreck und Verwahrlosung.

Dann, irgendwann, hatte er die Orientierung verloren. Anfangs war er kurz in Panik geraten, denn der kleine Raum mit der Pfütze darin stellte für ihn einen ruhenden Punkt dar - wie eine Konstante in einer Reihe von Zufallszahlen, die sich ständig veränderte. Doch seine Panik war schnell verflogen. Ob er sich in der Nähe des Raums befand oder nicht - es spielte keine Rolle. Er fand den Ausgang nicht.

Er fand überhaupt nichts.

So hatte er begonnen, ohne Plan und ohne Konzept durch die Korridore zu irren. Erreichte er Gabelungen, Abzweigungen oder Einmündungen, so wählte er seine Richtung willkürlich.

Dabei hatte der Drang zur Eile immer weiter nachgelassen. Der Drang hatte nur zugenommen, wenn er wieder zu seinem Startpunkt zurückgekehrt war. Zuletzt war er beinahe hysterisch geworden. Um ein Haar hätte er sich sogar in die Hose gekackt. Blieb er jedoch in Bewegung, dann machte ihm der Drang weniger zu schaffen. Natürlich wollte er dann immer noch so schnell wie möglich raus aus diesem Keller, doch er fürchtete sich nicht mehr davor, jeden Augenblick erwischt zu werden. Solange er nicht stehen blieb, konnte ihn sein Verfolger nicht aufspüren. Zumindest nahm er das an.

Und auch seine Kopfschmerzen gaben allmählich Ruhe. Sie hatten sich in seinen Hinterkopf zurückgezogen. Dort brummten sie noch immer vor sich hin, doch seine Gedanken klarten weit genug auf, um einige Überlegungen anzustellen.

Er erinnerte sich nicht an seinen Namen. Egal, wie sehr er sich anstrengte - er konnte sich einfach nicht erinnern. Er erinnerte sich an überhaupt nichts. Welche Frage er sich auch stellte, sein Gehirn antwortete mit weißem Rauschen. Allmählich hatte er das Gefühl, er schleppe ein kaputtes Radio in seinem Kopf herum.

Kein Name, keine Adresse, keine Kindheit, keine Vorlieben.

Nun gut, wenn sein Gedächtnis Urlaub eingereicht hatte, dann musste er zu anderen Mitteln greifen, um seine Identität wieder herzustellen. Schließlich trug jeder Mensch eine Reihe von Gegenständen bei sich, mit deren Hilfe er sich identifizieren ließ. Zum Beispiel einen Ausweis.

Der Gedanke, in seinem eigenen Ausweis nachzuschauen, um sich wieder an seinen Namen zu erinnern, wirkte zwar reichlich lächerlich, doch ihm blieb nichts anderes übrig. Er fragte sich, wie er diese Episode seinen Freunden und Bekannten erklären sollte. Wenn er ihnen erzählte, was er erlebt hatte, würden sie sich vor Lachen krümmen. Zumindest nahm er das an, denn er konnte sich nicht an seine Freunde erinnern. Er wusste noch nicht einmal, ob er Freunde hatte.

Er öffnete den Klettverschluss seiner Jacke und begann, in den Taschen nach einem Ausweis zu suchen. Er suchte - und suchte - und suchte … und fand nichts.

Diese Jacke musste über mindestens 200 Taschen verfügen. Hinzu kamen noch einmal 150 Taschen in den Hosen. Minimum. Wenn nicht gar mehr. Doch in keiner davon fand er einen Ausweis. Er fand kein Portmonee, keinen Schlüssel, keine Scheckkarte, kein Mobiltelefon. Er fand überhaupt nichts. Alle Taschen waren leer. Ein Abklopfen seines Oberkörpers mit beiden Händen bestätigte es. Er führte keinen einzigen dieser kleinen Hinweise mit sich, die eine Person beschrieben. Man hatte ihn komplett ausgeräumt.

Dann stutzte er. Hatte er da eben einen Klettverschluss an seiner Jacke geöffnet? Keinen Reißverschluss? Keine Knöpfe? Was trug er da eigentlich für eine Jacke? Und in welcher Hose steckte er? Er schaute an sich herunter. Schwarze Kleidung. Militärischer Schnitt. Robustes Material. Dazu geschnürte Stiefel. Sie passten wie angegossen und wirkten solide und strapazierfähig. Auch wenn er sich nicht daran erinnerte, jemals solche Stiefel besessen zu haben - er wusste, er konnte tagelang darin marschieren, ohne sich eine Blase zu laufen.

Es handelte sich eindeutig nicht um Straßenkleidung. Also überlegte er, zu welchem Beruf diese Kleidung wohl passen mochte. Möglicherweise gab ihm dies einen Hinweis auf seine Identität.

Er dachte an einen privaten Sicherheitsdienst. Doch das passte nicht. Auf deren Kleidung prangte meist ein Schriftzug. „Security" oder so. An seiner Kleidung konnte er keine Beschriftung erkennen. Dann dachte er an paramilitärische Einheiten. Doch er lebte nicht in einem Land, das paramilitärische Truppen unterhielt. Er lebte … woanders. Er wusste es nicht mehr. In jedem Fall fühlte sich die Idee mit den paramilitärischen Einheiten nicht richtig an.

Er zog die Jacke aus und begann, ihre Innenseite abzusuchen. Auch hier fand er nichts. Kein Etikett, das Aufschluss über den Hersteller gegeben hätte. Auch keine Hinweise, wie diese Jacke zu reinigen war.

Er nahm an, in den restlichen Kleidungsstücken würde er ebenfalls keine Anhaltspunkte finden. Deswegen verzichtete er darauf, in den Stiefeln nachzusehen oder die Hose fallen zu lassen. Er fasste aber kurz in seinen Nacken und tastete den Bund seines T-Shirts ab. Nichts. Kein Etikett.

Und er selbst? Trug er vielleicht irgendwelche Tätowierungen? Allmählich driftete diese Sache zwar ins Absurde ab, doch er warf einen Blick auf seine Unterarme. Keine Tätowierungen. Doch was er dort sah, ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben.

Er sah einen Einstich in seiner linken Armbeuge.

Er benötigte einen Moment, um diese Entdeckung zu verdauen. Dann setzte er sich wieder in Bewegung.

Immerhin wusste er nun, in welche Richtung sich sein Gedächtnis verabschiedet hatte. Keine Sauforgie, kein Filmriss, kein Unfall. Stattdessen hatte man ihn entführt und ihm irgendwelche Chemikalien in die Blutbahn gepumpt.

Danach hatte man ihn hier ausgesetzt, mit einem Kopf, so hohl wie ein aufgeblasener Luftballon. Das Zeug, das man ihm injiziert hatte, hatte sein Gedächtnis zugemauert. Vielleicht hatte es seine Erinnerungen auch geradewegs aus seinem Schädel gespült. Wenn es sich so verhielt, dann war alles verloren. Dann war seine Identität am Arsch, und zwar endgültig.

Doch weswegen hatte man ihm so etwas angetan? Was wurde von ihm erwartet? Weswegen wurde er verfolgt? Er wusste es nicht. Er wusste noch nicht einmal, woher er von seinem Verfolger wusste.

Er zog seine Jacke wieder an und beschleunigte seine Schritte. Die Entdeckung des Einstichs machte die Sache kompliziert. Würde er es wirklich nach draußen schaffen? Irgendjemand hatte ihn zu einer Laborratte degradiert. Dieser Jemand würde ihn wohl kaum nach draußen spazieren lassen, damit er die Polizei verständigen konnte. Im Gegenteil: Dieser Jemand würde alles tun, um ihn abzufangen, bevor er den Ausgang erreichte. Vielleicht war genau deswegen ein Verfolger hinter ihm her.

Doch er würde einen Ausweg finden. Natürlich würde er einen Ausweg finden. Schließlich war noch niemand in einem Keller verloren gegangen - jedenfalls nicht, soweit er sich erinnerte.

 

Vernichtungsauftrag

Aufwachen.

Er riss die Augen auf.

Dann sprang er auf und sah sich um. Er hatte einen Albtraum gehabt. Es war um Dreck gegangen. Dreck und Unordnung. Das konnte er überhaupt nicht leiden. Dreck und Unordnung machten ihn stinksauer.

Als er sich umsah, entdeckte er nichts davon. Er sah nur Fliesen. Weiße Fliesen. Dazwischen die rechten Winkel der Fugen. Ordnung und Sauberkeit.

Alles klar, nur ein Albtraum. Kein Grund zur Aufregung.

Doch das stimmte nicht. Das war nicht nur ein Albtraum gewesen. Diesen Dreck und diese Unordnung gab es tatsächlich. Außerhalb dieses Raumes herrschte das Chaos. Verfall und Verwahrlosung.

Er hatte keine Ahnung, woher er das wusste. Im Grunde genommen erinnerte er sich an überhaupt nichts. Er wusste nicht einmal seinen eigenen Namen. Doch das war ihm egal. Sein Name war nicht wichtig.

Einige andere Dinge wusste er. Er wusste beispielsweise, dass die Dissidenten schuld an all diesem Dreck waren. Sie trieben sich dort draußen herum. Menschlicher Abfall, der sich aufführte wie ein Rudel nackter Affen.

Er ballte seine Fäuste. Diese Dissidenten machten alles kaputt. Sie zerstörten alles, was sie sahen. Wenn er an die Dissidenten dachte, dann war er kurz davor, einen Koller zu bekommen. Gerade in diesem Augenblick war es wieder soweit. Wäre jetzt ein Dissident in diesen Raum spaziert, dann wären die Fetzen geflogen. Zuerst hätte er dem Dissidenten einen Schwinger in die Magengrube verpasst. Dann hätte er sein Knie in die Höhe gerissen und dem Kerl die Nase gebrochen. Und dann hätte er ihm mit den Daumen die Augen in den Kopf gequetscht.

Ein schöner Gedanke.

Doch es kam niemand in den Raum spaziert. Er stand hier, ganz alleine. Und er wusste nicht, was er mit seiner Wut anfangen sollte. Er musste irgendetwas zerschlagen. Zerstören. Entsorgen.

Doch in diesem Raum gab es nichts, was er hätte zerstören können. Es gab nur die Liege, auf der er aufgewacht war. Eine mit schwarzem Leder überzogene Liegefläche, die auf einem soliden Metallgestell ruhte. Er hätte bestenfalls auf das Polster einprügeln können, doch dies hätte ihn nicht befriedigt. Polster bluteten nicht.

Also blieben nur noch die Wände. Er hätte einige Fliesen zertrümmern können, doch auch das machte keinen Sinn. Fliesen bluteten ebenfalls nicht.

Gerade als er dabei war, komplett die Fassung zu verlieren und mit dem Kopf voran gegen eine Wand zu rennen, fiel sein Blick auf die Tür.

Hoppla. Eine Tür. In seiner Raserei hatte er sie glatt übersehen. Er zwang sich, für einen Augenblick still zu stehen und seine Wut zu zügeln. Da hatte er einen Fehler gemacht. Er hätte sich zunächst einmal seine Umgebung etwas genauer anschauen müssen, bevor er einen Koller kriegte

Wenn er seine Aufgabe erfüllen wollte, dann durfte er sich solche Nachlässigkeiten zukünftig nicht mehr erlauben. Ansonsten würde er blindlings in einen Hinterhalt laufen - und alle Kinder würden ihn auslachen.

Scheiß Kinder.

Während er die Tür betrachtete, überlegte er, ob sie da draußen auf ihn lauerten. Vielleicht hockten sie im nächsten Raum und machten sich über ihn lustig. Na, das würde er ihnen austreiben!

Er stieß die Tür weit auf und stürmte in den nächsten Raum, bereit, einige Knochen zu brechen. Doch dort lauerte niemand auf ihn. Keine Kinder. Keine Dissidenten. Er sah nur die gleichen weißen Fliesen und eine weitere Tür. Außerdem lagen einige Kleidungsstücke und ein schwarzer Rucksack auf dem Boden verteilt.

Diese Unordnung ließ ihn beinahe erneut ausrasten. Doch diesmal riss er sich zusammen. Es brachte ihm nichts, wenn er verrückt spielte. Besser, er suchte nach einer Alternative. Er konnte beispielsweise aufräumen. Die Ordnung wieder herstellen. Das war immer noch besser, als auszuklinken und irgendetwas zu Klump zu hauen.

Er schaute sich die Kleidungsstücke etwas genauer an. Auch wenn sie auf dem Boden lagen, sahen sie nicht aus, als seien sie schon einmal getragen worden. Besser, er packte sie zusammen, bevor sie schmutzig wurden.

Er bückte sich nach einer Unterhose und nahm sie vorsichtig mit den Fingerspitzen auf. Dann beugte er sich leicht nach vorne, hielt die Unterhose unter sein Gesicht und fächelte mit seiner linken Hand die Luft nach oben. Er roch nichts. Nicht die geringste menschliche Ausdünstung. Es handelte sich offenbar um eine fabrikneue Unterhose.

Er legte sie zusammen, drapierte sie in eine Ecke des Raums und begann, auch die restlichen Kleider einzusammeln. Als er etwa die Hälfte der Sachen zusammengelegt und in der Ecke aufgestapelt hatte, fielen ihm zwei Dinge auf. Erstens: Es handelte sich um Kleidung für genau eine Person. Zweitens: Er selbst trug überhaupt keine Kleidung.

Er war die ganze Zeit über splitternackt durch die Gegend gelaufen und hatte es nicht einmal bemerkt. Na, das hätte ein ziemliches Hallo gegeben, wenn ihm die Kinder hier irgendwo aufgelauert hätten!

Er zog die Unterhose aus dem Kleiderstapel und hielt sie vor seine Leistengegend. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann würde ihm die Unterhose passen. Er versuchte es - und er behielt Recht. Ebenso verhielt es sich mit den Socken. Auch das T-Shirt passte wie angegossen. Und nun verstand er, was es mit diesen Kleidern auf sich hatte: Sie gehörten ihm. Das Management hatte diese Kleider für ihn bereit gelegt.

Gut. Nun musste er seiner Aufgabe wenigstens nicht nackt nachgehen. Er dachte nach. Was war eigentlich seine Aufgabe? Musste er aufräumen? Ja, offensichtlich. Das Aufräumen hatte seine Wut verfliegen lassen. Er musste Ordnung schaffen. Darum musste es gehen. Er musste entsorgen.

Er nickte zufrieden. Das war seine Aufgabe. Er musste entsorgen. Er war ein Entsorger.

Nachdem er das geklärt hatte, fühlte er sich beinahe wieder rundum wohl. Nur die Gewissheit, außerhalb dieser Räumlichkeiten von Dissidenten umgeben zu sein, machte ihm zu schaffen. Es drängte ihn zur Eile. Er musste sein Refugium so schnell wie möglich verlassen, um mit diesen Dissidenten aufzuräumen.

Während er in die restlichen Kleider schlüpfte, türmte sich diese Aufgabe immer höher vor ihm auf. Es gab unzählige Dissidenten in dieser Welt. Wie sollte er die alle entsorgen? Er konnte unmöglich jeden einzelnen von ihnen aufspüren. Nein, das konnte nicht seine Aufgabe sein. Außerdem fühlte es sich nicht richtig an.

Es würde ihm zwar großen Spaß bereiten, Dissidenten zu entsorgen, doch es fühlte sich nicht richtig an.

Während er seine Stiefel schnürte, kam ihm ein neuer Gedanke: Es ging nicht um alle Dissidenten, sondern nur um einen. Er musste nur einen speziellen Dissidenten finden - seine Zielperson. Die Zielperson galt es zu entsorgen. Dann wäre das Management zufrieden mit ihm. Anschließend konnte er seine Freizeit gestalten, wie es ihm beliebte und ein wenig Spaß mit den übrigen Dissidenten haben.

Ja, das gefiel ihm. Bei solchen Aufgaben ging man mit Freude ans Werk. Er musste nur noch überlegen, wie er seine Zielperson aufspüren konnte.

Er sah an sich hinab. Weißes T-Shirt, weiße Hosen. Schwarze Protektoren an Unterarmen, Ellbogen, Knien und Schienbeinen. Dazu eine schwarze Level-IIIA-Kevlarweste und schwarze Stiefel. Er wirkte wie ein Gladiator in einer futuristischen Arena. Übertrieben martialisch, doch effektiv.

Blieb nur noch der Rucksack. Dessen Gewicht überraschte ihn. Er öffnete die beiden Schnallen und warf einen Blick hinein. Dort entdeckte er mehrere Wasserflaschen und Proteinriegel. Gute Marschverpflegung, die ihn bei Kräften halten würde. Außerdem eine Rolle Toilettenpapier - extrem wichtig.

Er nickte zufrieden und schwang sich den Rucksack auf den Rücken. Dann öffnete er die Tür zum nächsten Raum. Dieser entsprach in seinen Ausmaßen exakt seinen beiden Vorgängern, doch hier gab es weder eine Liege noch Kleidung.

Hier warteten vier Gegenstände auf den Entsorger: Ein AKS-74U-Sturmgewehr mit eingeklappter Schulterstütze, zwei Ersatzmagazine und das Sichtgerät.

Er nahm zuerst die beiden Ersatzmagazine auf - Kurvenmagazine mit einer Kapazität von jeweils 30 Patronen, Kaliber 5,45 x 39 mm. Bei beiden Magazinen drückte er auf die obere Patrone, um den Füllstand zu kontrollieren. Beide waren voll.

Die beiden Magazine verschwanden in den Beintaschen seiner Hose. Dann nahm er sich die Waffe selbst vor. Das AKS-74U stellte eine verkürzte Version des Avtomat Kalashnikova AK-74 dar - eine Waffe mit den Ausmaßen einer Maschinenpistole und der Feuerkraft eines ausgewachsenen Sturmgewehrs. Ideal für den Einsatz durch Sonderkräfte. Er betätigte die Entriegelung des Magazins und zog den Munitionsbehälter aus seinem Schacht. Auch dieses Magazin verfügte über eine volle Ladung von 30 Patronen. Er begann seine Aufgabe also mit insgesamt 90 Patronen. Die Waffe verfügte über eine hohe Kadenz. Bei Dauerfeuer reichte die Munition bestenfalls für drei Feuerstöße von jeweils kurzer Dauer aus. Damit konnte er zwar keinen Krieg gewinnen, doch es würde genügen, um das Primärziel zu entsorgen. Abgesehen davon würde er unterwegs weitere Munition finden. Das Management würde dafür sorgen.

Er kontrollierte das Patronenlager der Waffe. Dann schob er das Magazin wieder in den Schacht, ließ es einrasten und prüfte die Sicherung. Anschließend klappte er die Schulterstütze aus, hob das Gewehr an die Schulter und visierte probeweise die Tür am gegenüber liegenden Ende des Raums an. Effektiv konnte er die Waffe nur im Nahkampf einsetzen, doch etwas anderes als den Nahkampf würde er in dieser Welt ohnehin nicht erleben. Er klappte die Schulterstütze wieder ein und hängte sich die Waffe über die Schulter.

Zuletzt hob er das Sichtgerät auf. Er hielt den Apparat mit beiden Händen vor sich in die Höhe, als halte er eine heilige Reliquie. Ein schwarzes Kästchen aus Metall, gerade groß genug, um in eine Männerhand zu passen. Eine Deckfläche des Geräts wurde vollständig von einem Display eingenommen. An einer Längsseite befand sich eine versenkte Taste. Ein Dissident hätte darin nicht mehr als ein elektronisches Spielzeug gesehen. Ein tragbares Navigationssystem. Oder vielleicht einen Fotoapparat ohne Objektiv. Er hingegen kannte das wahre Potential des Sichtgeräts. Dieses Kästchen verband ihn direkt mit dem Management. Es zeigte ihm alles, was er sehen musste. Es sagte ihm alles, was er wissen musste. Doch er musste vorsichtig damit umgehen. Ein Download aus dem Sichtgerät verursachte Schmerzen. Außerdem musste er genau hinsehen, wenn er Daten anforderte. Das Sichtgerät offenbarte seine Geheimnisse nicht jedem x-beliebigen Idioten, der auf den Knopf drückte. Man musste schon wissen, wie man das Gesehene zu interpretieren hatte.

Er schob das Sichtgerät in seine rechte Hosentasche. Zeit, sich auf den Weg zu machen. Zeit, diesem Gesindel dort draußen Zucht und Ordnung beizubringen. In seinem Kampfanzug würde er über sie kommen wie ein monochromer Albtraum.

Er wurde schon wieder sauer. Doch diesmal versuchte er nicht, sich am Riemen zu reißen. Diesmal ließ er sich ordentlich auf Drehzahl kommen. Er stürmte zur letzten Tür und packte den Türgriff.

Halt!

Gerade während seines letzten Schrittes - hatte er da nicht etwas gehört? Hatte er nicht gerade das Lachen eines Kindes gehört, draußen vor der Tür?

Er hielt den Türgriff in der Hand, doch er drückte ihn nicht nieder. Was, wenn dort draußen die Kinder auf ihn warteten? Würde er seine Aufgabe dann noch erfüllen können? Oder würde er versagen, wie er es schon einmal versagt hatte?

Er wusste es nicht. Und er war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Doch er musste! Das Management würde kein Versagen dulden. Nicht noch einmal. Er schüttelte seinen Kopf, um die Angst zu verscheuchen. Er durfte sich nicht von ihr lähmen lassen.

Es funktionierte. Ein Teil seines Selbstvertrauens kehrte zu ihm zurück. Er würde nicht versagen. Diesmal nicht. Er würde sich nicht von einer Bande von Kindern aufhalten lassen. Er atmete noch einmal tief durch. Dann öffnete er die Tür und trat in den Korridor hinaus.

Genau, was er erwartet hatte: Dreck, Unordnung und Chaos. Der Anblick brachte ihn ordentlich in Rage und ließ ihn die Kinder beinahe völlig vergessen. Hier sah er aus erster Hand, was die Dissidenten anrichteten, wenn man ihnen keinen Einhalt gebot.

Doch genau damit würde er nun beginnen.

Er hatte ein Ziel. Alles, was er nun brauchte, war ein Weg.

Das Sichtgerät aus der Hosentasche zu ziehen gestaltete sich schwieriger, als er angenommen hatte, denn seine Hände zitterten vor Wut. Dann hatte er das Gerät endlich befreit und hielt es mit dem Display voran vor seine Augen. Er wusste, es würde wehtun, doch er benötigte taktische Daten, um sein Ziel ausfindig zu machen. Also biss er seine Zähne zusammen und drückte mit seinem rechten Daumen auf die Taste des Sichtgeräts.

Das Display flackerte wie ein Stroboskop. Er widerstand dem Drang, die Taste loszulassen oder seine Augen zu schließen. Stattdessen starrte er das Display an und ließ sich immer tiefer in dieses Flackern sinken. Seine linke Hand erschlaffte und das Gewehr polterte zu Boden, doch das nahm er schon nicht mehr wahr.

Der Download begann und ließ den Korridor mit all dem Dreck und all dem Chaos in gleißendem Licht versinken.

 

P 226

Weiter. Und immer weiter.

Kein Ausgang in Sicht.

In seinem Kopf herrschte Durcheinander. Ein Teil von ihm fühlte Angst und Hilflosigkeit. Sie hatten ihn entführt, unter Drogen gesetzt und er hatte nichts dagegen tun können. Er fragte sich, was sie ihm darüber hinaus noch antun konnten, ohne ihm eine Chance zur Gegenwehr zu lassen.

Ein anderer Teil fühlte Verwirrung. Wo war er hier gelandet? Welches Gebäude bot genug Platz für einen solchen Keller? Er wanderte bereits seit einer Ewigkeit durch diese Korridore, ohne einen Hinweis auf den Ausgang entdeckt zu haben. Und was wollten die von ihm? Was wurde von ihm erwartet? Niemand würde sich die Arbeit machen, einen Menschen zu kidnappen und ihn unter Drogen zu setzen, wenn er damit nichts erreichen wollte. Niemand würde ein solches Risiko einfach nur aus Spaß eingehen.

Neben Angst und Verwirrung fühlte er Ärger. Wie konnte es jemand wagen, ihn seiner Erinnerungen und seiner Identität zu berauben? Er wollte diesen Menschen nur zu gerne persönlich kennen lernen, von Angesicht zu Angesicht. Dann würde er einige ernste Worte mit ihm wechseln.

Zu diesem Thema hatten sich einige Gewaltphantasien in seinen Kopf geschlichen. Er hatte an das Gefühl gedacht, eine Faust in ein Gesicht zu schlagen. Pflatsch, genau auf die Zwölf. Ein schönes Gefühl. Er hatte auch an einen Fußtritt in die Weichteile gedacht. Dann, irgendwann, war ihm auch der Einsatz einer Schlagwaffe recht attraktiv erschienen.

Als diese Phantasien immer drastischere Züge angenommen hatten, hatte er sich selbst gebremst. Solche Gedanken hatten in seinem Kopf nichts zu suchen. Er war schließlich kein Schläger. Er war nur ein normaler Mann von der Straße. Zumindest fühlte er sich so.

Und über allem lag der Drang, endlich einen Ausweg aus diesem Keller zu finden. Er durfte sich keinesfalls erwischen lassen - so lautete das Mantra, das sich in seinem Kopf wiederholte.

Doch wie sollte er sich orientieren?

Natürlich gab es allerlei Anhaltspunkte. Jeder Korridor sah anders aus. In einigen gab es Pfützen, in anderen liefen Rohre unter der Decke entlang. In wieder anderen flackerte das Licht oder Arbeitsleuchten an der Decke waren ausgefallen. In manchen Korridoren hätten vier oder fünf Männer nebeneinander gehen können, in anderen musste er seine Arme an den Körper pressen, um nicht an den Wänden entlang zu schrammen. Doch all diese Eigenschaften wiederholten sich immer wieder, in allen möglichen Kombinationen. Es gab offenbar nicht nur einen Korridor, bei dem Rohre unter der Decke verliefen, sondern unzählige davon. Und er konnte sich nicht jedes Detail merken. Wenn er einen Korridor betrat, hätte er nicht sagen können, ob er schon einmal hier gewesen war oder nicht. Ihm fehlte einfach ein eindeutiges Merkmal, das er sich hätte einprägen können. Ein Wasserfleck, geformt wie ein gigantischer Pimmel, wäre beispielsweise sehr hilfreich gewesen. Oder Graffiti an einer Wand. Oder so etwas wie diese Tür dort drüben.

Er blieb wie angewurzelt stehen.

Eine Tür?

War er etwa im Kreis gelaufen? War er wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt? Obwohl er damit keinen Schritt weiter gekommen wäre, hätte er sich darüber gefreut. Immerhin stellte diese Tür die einzige Konstante in diesem Keller dar.

Doch als er die Tür öffnete und in den Raum hinein spähte, verpuffte seine Freude. Es gab in diesem Raum keine Pfütze. Er sah lediglich einen Haufen Bauschutt, der sich beinahe über die gesamte hintere Wand erstreckte. Backsteine - die meisten davon zerbrochen. Dazwischen kleineres Geröll. Beton und Mörtel. Es gab auch Holzstücke, die ihre Splitter wie Finger aus dem Haufen streckten. Die Krönung bildete aber ein Gartenstuhl, der oben auf diesem Schutthaufen thronte. Der Rost hatte einen Großteil des weißen Lacks aufgefressen, der das Metallgestell des Stuhles überzogen hatte. Sitzfläche und Rückenlehne bestanden aus einem Plastikgeflecht, das irgendwann einmal blau gewesen sein mochte. Inzwischen war die Farbe zu einem Pastellton verblasst. Einige Schnüre des Geflechts hatten bereits ihren Geist aufgegeben und hingen herab wie die Tentakel eines verendeten Tintenfisches.

Er tappte in den Raum hinein und erschrak, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Doch im gleichen Augenblick fühlte er Erleichterung. Er war nicht im Kreis gelaufen. Stattdessen hatte er Fortschritte gemacht und sich von seinem Ausgangspunkt entfernt. Damit hatte er auch gegenüber seinem Verfolger Boden gut gemacht. Vielleicht sollte er sich nun etwas Zeit nehmen, um sein weiteres Vorgehen zu planen.

Dieser Eingebung folgend, stieg er auf den Schutthaufen und drückte mit einer Hand auf die Sitzfläche des Gartenstuhls. Ob ihn das Ding wohl tragen würde? Er beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen und ließ sich vorsichtig auf dem Geflecht aus Kunststoffschnüren nieder, jederzeit bereit, sofort wieder aufzuspringen, falls die Schnüre reißen sollten. Sie protestierten zwar mit einem Knarren, doch sie schienen zu halten. Also wagte er es, sich zurückzulehnen und einen Augenblick auszuruhen.

Er musste nachdenken. Allerdings nicht über sich selbst. Seine gesamte Vergangenheit konnte er vorerst abhaken - dazu würde ihm ohnehin nichts einfallen. Sobald die Wirkung der Drogen nachließ, würden seine Erinnerungen von selbst wieder zurückkehren. Zumindest hoffte er das. Er sollte sich also darauf konzentrieren, den Ausgang zu finden. Er benötigte ein System, nach dem er vorgehen konnte. Einen Plan, um seinen Weg durch die Korridore zu markieren. Mit seinen eigenen Mitteln konnte er nichts erreichen, denn außer seinen Kleidern trug er nichts bei sich. Aber vielleicht konnte er diesen Schutt unter sich benutzen, um eine Spur zu legen.

Die Idee begeisterte ihn, doch im nächsten Augenblick sprang er auf. Der Stuhl kippte dabei um und kugelte von dem Schutt herunter.

Was glaubte er eigentlich, was er hier tat?

Der Gedanke, in diesem Schutt nach irgendwelchen Gegenständen zu suchen, kam ihm absurd vor. Wenn er sich mit solchen Dingen aufhielt, dann würde man ihn erwischen. Deswegen sollte er sich besser wieder auf den Weg machen und sich auf seine Intuition verlassen, anstatt irgendwelche wirren Pläne zu schmieden.

Er wandte sich ab und flüchtete aus dem Raum. Draußen schlug er sofort wieder die Richtung ein, in die er marschiert war, bevor er die Tür bemerkt hatte. Erst nachdem er einige Abzweigungen passiert hatte, gestattete er sich, sein Tempo ein wenig zu drosseln.

Er fragte sich, weswegen er seine Idee nicht weiter verfolgt hatte. Er hätte seine Hosentaschen mit kleinen Steinen und Betonbrocken füllen können. Damit hätte er eine Spur legen können. Doch in diesem Raum, auf diesem Stuhl, war ihm der Gedanke absurd vorgekommen. Er hätte keinen Moment länger ausharren können, ohne in Panik zu geraten.

Und je länger er über seine Idee nachdachte, desto dümmer kam sie ihm vor. Wenn er hier drin eine Spur legte, dann konnte man ihm bestens folgen. Man musste noch nicht einmal nach ihm suchen. Oh nein, da zog er es lieber vor, eine ganze Weile im Kreis zu laufen.

Was blieb ihm nun übrig? Nichts. Er würde nicht umkehren, auf keinen Fall. Abgesehen davon erinnerte er sich bereits jetzt schon nicht mehr daran, welchen Weg er an der vorletzten Abzweigung genommen hatte. Auf der Suche nach einem Rückweg würde er sich nur noch tiefer in diesem Labyrinth verirren - falls das überhaupt noch möglich war.

Es dauerte nicht lange, bis er die nächste Tür erreichte. Sie sah genauso aus wie die beiden anderen Türen, die er hier unten kennen gelernt hatte: Eine herkömmliche Brandschutztür. Diesmal befürchtete er nicht, er könne im Kreis gelaufen sein. Der Korridor, in dem er gerade steckte, ließ ihm kaum Platz. Die Korridore vor den anderen Türen waren weniger eng gewesen. Also hatte er es mit einem völlig neuen Raum zu tun.

Er öffnete die Tür einen Spalt weit und linste in den Raum hinein. Auch hier erblickte er etwas Schutt auf dem Boden. Backsteine, Mörtel, Beton, Holzsplitter, ein Stück von einer Eisenstange.

Zwischen den Trümmern blinkte etwas Blaues hervor und machte ihn neugierig. Er wollte sehen, was das war. Er betrat den Raum, ging vor dem Schutt in die Hocke, wischte Staub und Steine beiseite und zog das blaue Ding aus dem Schutt hervor. Dann wischte er es ab und begutachtete, was er da in der Hand hielt.

Erst auf den zweiten Blick identifizierte er dieses zerquetschte, in Plastikfolie eingepackte Ding als eine Art Nahrungsriegel. Ein Muster aus blauem Hintergrund und einer orangefarbenen Schliere verzierte die Verpackung. Sah irgendwie poppig aus. Doch er entdeckte keinerlei Beschriftung.

Der Riegel sah aus, als habe ihn jemand zu Boden geworfen und dann mit einem Fußtritt in den Schutt gestampft. Der Inhalt war jedoch an einem Stück geblieben. Er betrachtete den Riegel noch einen Moment lang und fragte sich, wann er wohl zuletzt etwas gegessen hatte.

Er wusste es nicht. Und er hatte keine Zeit zu verlieren. Er musste sofort hier weg. Deswegen verließ er den Raum und ging weiter. Unterwegs drehte er den Riegel in seiner Hand immer wieder von einer auf die andere Seite. Schließlich riss er die Verpackung auf, ließ sie achtlos fallen und begutachtete den Inhalt. Dieses Ding sah aus wie eine kleine Panzerplatte. Oder wie ein Grillanzünder.

Er brach ein Stück davon ab und roch daran. Nichts. Schließlich fasste er sich ein Herz und steckte das Stück in den Mund. Er wollte diese Panzerplatte zwar nicht essen, doch er musste etwas zu sich nehmen. Schließlich wusste er nicht, wie lange er noch durch diesen Keller irren würde. Und das Ding war immerhin wie ein Nahrungsmittel verpackt. Zumindest nahm er das an, denn er erinnerte sich nicht daran, jemals etwas Vergleichbares gesehen zu haben.

Der Riegel schmeckte eigenartig. Interessant. Dieses Zeug schien alle Geschmacksnuancen zwischen süß und salzig in sich zu vereinen, ohne sich dabei auf einen bestimmten Geschmack festzulegen. Er zog vor Überraschung seine Augenbrauen in die Höhe und biss gleich noch ein Stück ab. Tatsächlich schmeckte es besser, als es der Anblick des Riegels hätte vermuten lassen. Bevor er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, hatte er das Ding aufgegessen. Erst nachdem er ein Stück weiter gegangen war, fragte er sich, was er wohl tun sollte, falls ihm dieser Riegel auf den Magen schlug. Würde er dann rechtzeitig eine Toilette finden?

Und warum, zum Donnerwetter, hatte er die Verpackung einfach weggeworfen? Gerade hatte er noch daran gedacht, keine Spuren zu hinterlassen und nun hatte er es doch getan. Da hatte ihn wohl der Hunger zu sehr abgelenkt. Das durfte nicht noch einmal passieren.

Der Korridor bog im Rechten Winkel nach links ab. Dahinter wartete die nächste Tür auf ihn. In diesem Raum gab es keinen Schutt. Stattdessen sah er an der gegenüber liegenden Wand einen Tisch. Es handelte sich um einen niedrigen Campingtisch, den man bei Bedarf zusammenklappen konnte. Auf dem Tisch lagen eine Pistole und drei Magazine.

Er ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und ging zum Tisch. Dort nahm er die Pistole in die Hand. Eine SIG-Sauer P226 SL Black. Er überprüfte den Magazinschacht. Leer. Dann zog er den Verschluss zurück und warf einen Blick in das Patronenlager. Ebenfalls leer. Er führte den Verschluss wieder nach vorne und entspannte den Hahn. Dann legte er die Waffe auf den Tisch zurück und überprüfte nach und nach die drei Magazine. Er fand alle drei voll geladen vor - jeweils 15 Patronen, Kaliber 9 mm Para. Zwei Magazine steckte er in die Taschen seiner Jacke, eines schob er in den Munitionsschacht der Pistole. Dann zog er den Verschluss zurück, ließ ihn wieder nach vorne schnappen und beförderte so die erste Patrone in das Patronenlager. Anschließend entspannte er den Hahn erneut und sicherte die Pistole, bevor er sie hinten in seinen Hosenbund steckte. Dann ging er in den Korridor zurück und setzte seinen Weg fort. Der gesamte Aufenthalt in diesem Raum hatte nur wenige Atemzüge lang gedauert.

Er konnte zufrieden sein. Er hatte etwas Essbares und eine Waffe gefunden. Beides hatte ihn seinem Ziel zwar kaum näher gebracht, doch er hatte nun ein As im Ärmel. Falls er erwischt wurde, konnte er sich verteidigen. Dabei kümmerte es ihn nicht, ob der Besitzer der Pistole die Waffe vermissen würde. Wenn ja, dann konnte sich der Besitzer jederzeit vertrauensvoll an ihn wenden und versuchen, die Pistole zurückzufordern. Er würde den Besitzer dann vom Gegenteil überzeugen. Er hatte ein gutes Argument dafür. Ein Argument mit Kaliber 9 Millimeter.

Außerdem überlegte er, weswegen er in dem Raum mit dem Nahrungsriegel die Eisenstange hatte liegen lassen. Vielleicht hätte er etwas Klebeband auftreiben können, um damit einen Griff zu improvisieren. Damit hätte die Eisenstange eine recht gute Nahkampfwaffe abgegeben.

Als er schließlich realisierte, welche Gedanken er verfolgte, blieb er stehen, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Er griff unter seine Jacke und zog die Pistole aus seinem Hosenbund. Woher wusste er, was er da in der Hand hielt? Und woher wusste er, wie man dieses Ding handhabte? Die Routine, mit der er diese Waffe geladen hatte, erschreckte ihn beinahe ebenso sehr wie der Gedanke, diese Waffe gegen einen Menschen zu richten. Doch vor einigen Augenblicken war ihm dieser Gedanke völlig normal vorgekommen. Und woher kam die Idee, eine Eisenstange zu einer Schlagwaffe umzufunktionieren? So etwas passte nicht zu ihm. Schließlich war er doch nur ein ganz normaler Kerl von der Straße. Er war doch nur ein armer, verängstigter Tropf, der den Ausgang suchte. Er wollte nur hier raus. Mehr wollte er nicht - soweit er sich erinnerte.

 

Zum Loch

Aufwachen.

Sie riss die Augen auf.

An der Decke glimmte eine Funzel vor sich hin. Sie blinzelte in das Licht dieser Funzel. Dann drehte sie sich um und schloss ihre Augen wieder. Sie wollte noch nicht aufstehen. Es gab nichts zu tun.

Sie wollte einfach noch ein wenig liegen bleiben. Aber es ging nicht. Sie konnte nicht mehr einschlafen. Sie fand keine bequeme Haltung und sie schaffte es auch nicht mehr, ihre Augen geschlossen zu halten.

Das konnte nur eines bedeuten: Sie hatte eine neue Aufgabe!

Keine Aufgabe, die ihr der Chef zugeteilt hatte, sondern eine richtige Aufgabe. Um sich zu vergewissern, warf sie einen Blick auf ihre linke Armbeuge. Tatsächlich: Ein Einstich.

Sie schlug den Lappen beiseite, den sie als Decke missbraucht hatte. Dann schwang sie ihre Beine von dem Tisch, auf dem sie geschlafen hatte. Ihre Kleider lagen am Boden verstreut. Sie sammelte sie ein. Während sie in die braunen Kleidungsstücke schlüpfte, die sie als Pfadfinderin kennzeichneten, verhedderte sie sich vor lauter Aufregung mehr als einmal.

Ihre Kleider rochen inzwischen ziemlich streng. Eigentlich wäre es an der Zeit gewesen, eine Quelle aufzusuchen, um die Klamotten zu reinigen. Vielleicht wäre es sogar an der Zeit gewesen, sich nach neuen Kleidungsstücken umzusehen, denn die alten wiesen bereits eine Vielzahl zusätzlicher Nähte und Flicken auf. Doch darüber machte sie sich in diesem Moment keine Gedanken. Sie hatte eine neue Aufgabe - das war viel interessanter.

Sie hüpfte auf einem Bein durch den Raum und versuchte dabei, mit dem anderen Fuß in einen ihrer Stiefel zu schlüpfen. Nachdem sie auf die Nase gefallen war, endete der Versuch, indem sie sich auf den Boden setze und den Stiefel mit Gewalt nach oben zog. Mit dem zweiten Stiefel verfuhr sie ebenso. Die Schnürsenkel mussten warten - die Stiefel hielten auch so.

Sie raffte noch ihren Rucksack ein, dann stürmte sie aus dem Raum. Sie musste unbedingt zum Chef. Er wollte sofort informiert werden, wenn jemand die Siedlung verließ, um eine Aufgabe zu erfüllen. Zuvor musste sie aber noch ein Geschäft erledigen.

Sie tappte zu dem Abschnitt der Siedlung, den sie als Latrine benutzten. Dort suchte sie sich einen Raum mit einem freien Loch im Boden aus. Über dem zweiten Loch in diesem Raum saß gerade eine Beschafferin und verabschiedete sich von ihrer letzten Mahlzeit.

Sie zog ihre Hose herunter und verrichtete ihr Geschäft so schnell wie möglich. Aus ihrem Rucksack zauberte sie ein Stück Stoff hervor, mit dem sie sich reinigte. Danach wanderte der Stoff in eine Plastikhülle, die sie sich aus Verpackungen von Nahrungsriegeln gebastelt hatte. Stoff war zu wertvoll, um ihn in die Latrine zu werfen. Sie würde ihn später an einer Quelle reinigen - zusammen mit dem Rest ihrer Klamotten.

Als sie die Latrine verließ, fragte sie sich kurz, womit sich die Beschafferin wohl reinigen mochte, nachdem sie ihre Mahlzeit losgeworden war. Die Frau hatte nichts bei sich getragen außer ihren Kleidern. Aber das sollte nicht ihre Sorge sein. Sie war eine Pfadfinderin. Sie hatte sich nicht um solche Dinge zu kümmern.

Ob sie wohl schon wusste, was sie zu tun hatte? Damals, als es noch regelmäßig etwas zu tun gab, war sie oft aufgewacht und hatte sofort gewusst, wohin sie ihr Auftrag führen würde. Doch manchmal wusste sie es nicht gleich. Dann fühlte sie einfach nur den Drang, etwas tun zu müssen. Erst nach einer Weile wurde ihr klar, was sie zu tun hatte. Das passierte meistens, wenn sie zu aufgeregt war, um sich zu konzentrieren - genau wie jetzt. Also blieb sie stehen und zwang sich, tief durchzuatmen und nichts zu überstürzen. Das war schwierig, doch sie musste wissen, wohin sie zu gehen hatte. Der Chef würde sie danach fragen und sie wollte eine Antwort parat haben.

Tief durchatmen und nachdenken. Was hatte sie zu tun? Was wurde von ihr erwartet? Sie ließ diesem Drang in ihrem Inneren freien Lauf und wartete ab, wo dieses Gefühl enden würde. Und plötzlich stand ein Gedanke glasklar hinter ihrer Stirn: Sie musste zum Loch.

Peng!

Damit verabschiedete sich ihre gute Laune. Der Drang blieb, doch die Freude verflog wie ein Furz im Sturm. Ausgerechnet das Loch. Sie war bereits zweimal dort gewesen, beide Male völlig umsonst. Beim ersten Mal hatte es ihre Zielperson nicht geschafft, beim zweiten Mal hatte sie einen echten Idioten aus dem Loch gezogen. Und nun musste sie wieder dorthin. In diesem Augenblick wünschte sie sich, sie hätte den Auftrag ablehnen können. Doch das konnte sie nicht. Das konnte niemand. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihren Weg zum Chef fortzusetzen und direkt im Anschluss zum Loch aufzubrechen.

Der Chef saß sicherlich wieder in der Kantine. Seit es nichts mehr zu tun gab, saß der Chef immer in der Kantine. Auf dem Weg dorthin musste sie den Zentralplatz der Siedlung überqueren. Als sie durch das Labyrinth der Materialstapel stapfte und verschiedenen Arbeitern auswich, gesellte sich ein Mann zu ihr und begleitete sie ein Stück. Olivfarbener Overall - ein Kartograph.

»Na, hast es wohl eilig, hm?«

Sie erkannte die Stimme. Dieser Kartograph hatte sie zwei- oder dreimal begleitet, als sie noch dabei waren, das Gebiet zu erkunden. Sie mochte den Kerl nicht. Er sah aus wie eine zu groß geratene Vogelscheuche. Außerdem redete er zu viel. Sie wunderte sich, weswegen er noch lebte. Sie hatte viele Typen wie ihn kennen gelernt. Keiner von ihnen hatte lange überlebt. Sie wunderte sich, wie es dieser hier geschafft hatte, bis jetzt am Leben zu bleiben. Eigentlich hätte er längst tot sein müssen.

Stattdessen lief er neben ihr her und überschüttete sie mit Text. Wie sehr er sich doch langweile und wie sehr er sich freue, eine alte Weggefährtin zu treffen. Es seien ja so viele alte Gefährten ums Leben gekommen und in der Siedlung gebe es so viele neue Gesichter.

Sie versuchte, das Geschwafel auszublenden. Wenn sie schon einem Kartographen begegnen musste, warum hatte es dann dieser Idiot sein müssen? Gegen das Panzerchen hätte sie nichts gehabt. Mit dem hätte sie sich wenigstens richtig unterhalten können. Aber nein, sie hatte ausgerechnet auf einen Dummschwätzer treffen müssen. Einen hässlichen Dummschwätzer.

Schließlich bog der Kartograph zwischen zwei Materialstapeln ab. »Entschuldige, aber ich muss hier drüben weiter. War schön, mit dir zu plaudern. Vielleicht können wir bald mal wieder gemeinsam losziehen.«

Sie hob kurz ihre linke Hand, um der Höflichkeit Genüge zu tun. Sie mochte diesen Typen zwar nicht, doch sie wollte ihn nicht verärgern. Am Ende musste sie tatsächlich irgendwann noch einmal mit ihm losziehen. Dann wollte sie ihn nicht zum Feind haben. Außerhalb der Siedlung musste man sich auf seinen Partner verlassen können.

Nach einigem Geschlängel zwischen den Materialstapeln und einem flüchtigen Gruß hier und dort erreichte sie schließlich die Kantine. Der Chef saß auf seinem Stammplatz und hielt eine Flasche in der Hand - wie immer. Ihm gegenüber hatte ein Beschaffer Platz genommen. Insgeheim beneidete sie die Beschaffer. Sie hatten immer etwas zu tun. Rückten immer wieder aus, um die Räume in der Nähe der Siedlung nach verwertbarem Material zu durchsuchen. Mussten sich dabei nicht einmal in Gefahr begeben, weil sie nur auf bekanntem Gelände unterwegs waren. Es gab Momente, in denen hätte sie gerne mit einem Beschaffer getauscht. Allerdings nicht mit diesem dort. Der schien nämlich ein Problem zu haben.

Der Beschaffer redete auf den Chef ein und gestikulierte dabei, als wolle er einen Mückenschwarm verscheuchen. Der Chef hörte zu und nickte von Zeit zu Zeit. Nebenbei lutschte er an seiner Flasche. Sie würde warten müssen, bis der Chef den Beschaffer abgefertigt hatte.

Es war nicht viel los in der Kantine. Die meisten waren bei der Arbeit. Deswegen musste sie nicht lange nach einem freien Tisch suchen. Sie mochte sich nicht zu einer der Gruppen setzten, die sich an anderen Tischen gebildet hatten. Sie kannte zwar viele Leute vom Sehen, doch ihr stand nicht der Sinn nach einer Unterhaltung. Sie brütete lieber alleine vor sich hin und verdaute die Enttäuschung über ihre neue Aufgabe.

Zum Zeitvertreib musterte sie die Leute. Ihr Blick blieb an einer Frau hängen, die direkt neben der Eingangstür saß und etwas aß. Die Kleidung der Frau mochte einmal gelb gewesen sein. Inzwischen hatte sich die Farbe jedoch so gut wie verabschiedet. Eine Arbeiterin. Und diese Arbeiterin aß Trauben.

Für einen Moment ließ sie dieser Anblick ihren Auftrag vergessen. Da saß eine Arbeiterin und aß Trauben. Echte Früchte. Eine Arbeiterin, die nichts anderes tat, als sich um die Instandhaltung der Siedlung zu kümmern und Material zu sortieren. Sie als Pfadfinderin hingegen hatte unbekanntes Gelände erforscht. Sie war voran gegangen und hatte den richtigen Weg gesucht. Sie hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um die letzten Winkel dieser Welt zu erkunden. Und was musste sie essen? Diese Riegel aus Presspappe. Mit Fairness hatte das nichts mehr zu tun.

Sie spielte mit dem Gedanken, zu dieser Arbeiterin zu gehen und ihr die Trauben einfach wegzunehmen. Was hätte die Frau dagegen tun sollen? Doch dann nahm sie ihre Willenskraft zusammen und löste ihren Blick von den Weintrauben. Sie konnte diese Frau nicht berauben. Diebstahl wurde mit dem Ausschluss aus der Siedlung bestraft. Der Chef würde keine Ausnahme machen. Und wenn sie den Gerüchten Glauben schenken durfte, dann hatte sie auch außerhalb der Siedlung nichts mehr zu erwarten. Unter vorgehaltener Hand wurde rumort, Diebe und Verbrecher würden nach ganz unten verbannt, in die Katakomben. Dort würden sie zu Knochenkauern werden. So wollte sie keinesfalls enden.

Also konzentrierte sie sich wieder auf den Chef. Der Beschaffer hatte seine Arie offenbar zu Ende geredet, denn nun sprach der Chef. Dabei schürzte er oft seine Lippen, grinste viel und vollführte viele Gesten mit offenen Handflächen. »Aber natürlich«, schienen diese Gesten zu sagen, »aber sicher doch. Ich verstehe. Alles klar. Das können wir so machen.« Der Beschaffer hörte wie gebannt zu und nickte von Zeit zu Zeit. Dann zuckte der Chef mit den Schultern. Sie wusste, nun reichte er dem Beschaffer die bittere Pille. Und sie wusste, der Beschaffer würde diese Pille bereitwillig schlucken. Für solche Dinge hatte der Chef ein Talent.

Schließlich beendeten die beiden Männer ihr Gespräch. Der Beschaffer stand auf und verbeugte sich mehrmals leicht vor dem Chef. Dann ging er einige Schritte rückwärts, verbeugte sich noch einmal und rauschte hinaus. Als er ihren Tisch passierte, hörte sie, wie er leise vor sich hin murmelte. Sie sah ihm nach. Auch er würde nicht lange überleben, wenn man ihn in unbekanntes Gebiet schickte. Sie kannte solche Typen. Sie hatte oft mit ihnen gearbeitet.

Der Chef entdeckte sie und winkte. Sie stand auf, ging zu seinem Tisch und setzte sich auf den Stuhl, den der Beschaffer für sie angewärmt hatte.

»Meine allerbeste Pfadfinderin.« Der Chef grinste und lutschte an seiner Flasche. »Lange nicht gesehen. Wie kann ich dir helfen?«

So begann der Chef immer. Er fragte, wie er helfen konnte. Sie fand das sehr geschickt. So kam sich niemand wie ein Bittsteller oder ein Untergebener vor. Doch nun kam sie besser zur Sache. Der Chef mochte es nicht, wenn man um den heißen Brei herum redete.

»Ich habe eine Aufgabe«, sagte sie. »Ich muss weg. Jetzt gleich.«

Der Chef zog seine Augenbrauen in die Höhe. »Du hast einen Auftrag bekommen? Jetzt noch? Das ist ja mal ganz was Neues. Und wohin soll es gehen?«

»Zum Loch.«

Der Chef senkte seinen Kopf und sah sie lange an. Dann atmete er tief ein und griff nach seiner Flasche. »Das gefällt mir aber überhaupt nicht.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Mir auch nicht. Da kann ich aber nichts machen.«

Er trank einen Schluck und schüttelte seinen Kopf. »Verlangt auch niemand.« Er stellte die Flasche wieder auf dem Tisch ab. »Wieder eine Rettungsaktion, wie bei diesen anderen Streunern?«

Sie zuckte erneut mit den Schultern. Sie wusste es nicht. Doch der Chef hatte bereits seine eigenen Schlüsse gezogen. »Natürlich wird das eine Rettungsaktion. Sonst gibt es ja nichts Interessantes beim Loch. Verdammt, dabei hatte ich gerade mit dem Gedanken gespielt, dich bei den Beschaffern einzusetzen. Die Beschaffer grasen einfach nur alles ab, aber du könntest die wirklich interessanten Räume finden, in denen richtig gutes Zeug liegt.«

Sie sah den Chef an. »Ehrlich? Du würdest mich mit den Beschaffern gehen lassen?« Der Gedanke brachte sie schier aus dem Häuschen. Endlich hatte die Langeweile ein Ende und sie konnte wieder einer geregelten Aufgabe nachgehen.

Der Chef nickte. »In letzter Zeit schleppen die Beschaffer nur noch Müll an. Besser, es geht jemand mit, der etwas Brauchbares aufspüren kann.«

»Mann, das ist toll«, rief sie aus. »Ich komme so schnell wie möglich wieder her.«

Der Chef grinste und nickte väterlich. »Ist ja schon gut. Sei bloß vorsichtig. Wenn ich mich recht erinnere, musst du durch mindestens eine Todeszone. Deswegen solltest du nichts überstürzen. Ach ja, und da ist noch etwas.« Er sprach sehr leise. »Du weißt genau, welche Idioten da draußen unterwegs sind. Denk nur an deinen zweiten Ausflug zum Loch. Hätte es dieser Kerl bis hierher geschafft, dann wäre das ziemlich hässlich geworden. Ich wäre garantiert mit diesem Schwachkopf aneinander geraten. Deswegen wäre es vielleicht gar nicht so schlecht, wenn der nächste Streuner im Loch bliebe. Und falls er es schafft, ohne deine Hilfe aus dem Loch zu kommen, dann könntest du ihn einfach erledigen. Hier, schau mal.« Er griff hinter sich und zog eine Pistole aus seinem Hosenbund. Er machte viel Ritschratsch und Klickklack, dann hielt er ihr die Pistole mit dem Griff voran hin. Sie nahm die Waffe und hielt sie vorsichtig in der Hand. Dabei achtete sie darauf, den Abzug nicht zu berühren.

»Normalerweise rücke ich meine Kanonen nicht raus, aber in diesem Fall würde ich eine Ausnahme machen. Das ist eine Baby-Glock. Du hast zehn Schuss im Magazin. Wenn dich jemand anmacht, dann lässt du ihn ganz nah an dich heran kommen. Dann drückst du ihm die Kanone in den Wanst und ziehst zwei- oder dreimal am Abzug. Wenn er umkippt, dann verpasst du ihm noch mindestens zwei Dinger in den Kopf. Dann ist Feierabend. Alles klar?«

Sie drehte die Waffe in ihren Händen und betrachtete sie von allen Seiten. Wenn der Chef die Pistole hielt, sah es aus, als sei sie ein Teil seines Körpers. Bei ihr hingegen eckte und kantete dieses Ding und passte überhaupt nicht richtig in ihre Hand.

»Was mache ich, wenn der Kerl noch steht und aus der Kanone kommt nichts mehr raus?«

Der Chef grinste. »Wenn du die Munition verballert hast, dann wirfst du einfach mit dem Ding.«

Sie grinste zurück. »Ich werde gleich damit werfen. Dann treffe ich wenigstens etwas.« Dann wurde sie wieder ernst. »Aber mal ehrlich: Was soll ich mit dem Ding? Ich kann doch nicht einfach so auf jemanden schießen.«

Der Chef zuckte mit den Schultern. »Nimm die Kanone einfach mit. Zur Sicherheit. Und wenn du tatsächlich einen Idioten aus dem Loch ziehst, dann würdest du mir einen Riesengefallen tun, wenn du ihn irgendwo loswerden könntest. Deppen haben wir hier genug, da brauchen wir nicht noch einen von außerhalb.«

»Da hast du allerdings Recht.«

Sie stand auf. Er nickte ihr zu. »Gehst du sofort los?«

Sie schüttelte ihren Kopf. »Nein. Ich muss noch zum Alten Arsch. Ich brauche Karten. Würde viel zu lange dauern, wenn ich den Weg selbst suchen müsste. Diesmal muss es wirklich schnell gehen. Außerdem will ich rasch wieder nach Hause.«

»Du willst noch zum Alten Arsch?« Der Chef schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Und ich Esel gebe dir eine geladene Knarre in die Hand!«

 

Automatische Waffen

Weiter. Und immer weiter.

Noch immer kein Ausgang in Sicht. Es gab zwar eine ganze Menge Kellerräume, doch er fand weder ein Treppenhaus noch einen Aufzug. Und wenn er einen Aufzug gefunden hätte, dann hätte das dumme Ding mit hoher Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht funktioniert. Im Gegenteil: Die Kabine wäre vermutlich abgestürzt, sobald er auch nur einen Fuß hinein gesetzt hätte.

Stattdessen fand er mehr Nahrung, als er essen konnte. Inzwischen hatte er mindestens drei dieser Nahrungsriegel verputzt. Das Zeug kam ihm allmählich zu den Ohren heraus. Zwei weitere Riegel hatte er in der linken Beintasche seiner Hose verstaut. Dann hatte er eine Plastikflasche mit einer klaren Flüssigkeit darin gefunden. Die Flasche hatte zwar ausgesehen, als habe sie ein Schlammbad hinter sich, doch in der Flüssigkeit hatte er keinerlei Schwebeteilchen oder Verunreinigungen feststellen können. Also war er davon ausgegangen, es handele sich um Wasser.

Natürlich konnte man nicht vorsichtig genug sein - nicht, wenn man entführt und unter Drogen gesetzt worden war. Deswegen hatte er zuerst seine Fingerspitze in die Flüssigkeit getaucht und einen Tropfen abgeleckt. Danach hatte er sich überwunden, einen Schluck zu trinken. Dabei hatte er gezittert wie ein Presslufthammer und einen Teil der Flasche in seinen Ausschnitt gekippt. Tatsächlich enthielt die Flasche aber nichts als Wasser.

Er würde also weder verhungern noch verdursten.

Eigentlich hätte ihn dieser Gedanke beruhigen müssen, doch seine Überlegungen gingen in eine andere Richtung: Wenn er mit Nahrung und Wasser versorgt wurde, dann musste er wohl von einem längeren Aufenthalt hier drin ausgehen.

Seither war seine Frustration mit beinahe jeder Tür gewachsen, die er geöffnet hatte. Dabei hätte er sich eher wundern müssen, denn er hatte verrückte Dinge gefunden. In einem Raum hatte er einen Esstisch gesehen. Dazu vier Stühle. Jemand hatte den Tisch mit vier Blechnäpfen und vier Blechtassen gedeckt. In den Tassen fand er Salzwasser. Das Geschirr war am Tisch festgerostet.

Einen anderen Raum fand er beinahe völlig leer vor. Nur an einer Wand hing ein Bilderrahmen. Darin ein Passfoto. Jemand hatte das Glas des Bilderrahmens zerbrochen und das Passfoto mit schwarzer Farbe unkenntlich gemacht.

In einem weiteren Raum hatte jemand Wände, Decke und Boden mit Augen bemalt. Unzählige Comicaugen - Kreise mit Punkten darin, immer zwei. Das Augenpaar direkt gegenüber der Tür, genau in der Mitte der Wand, hatte geschielt.

Falls sich außer ihm noch jemand hier aufhielt, dann hatte dieser Jemand offenbar ein massives psychisches Problem.

Doch damit nicht genug: Zu seinem Erschrecken lernte er auch noch die Wechselwirkung zwischen den Nahrungsriegeln und Wasser kennen. Dieses Gemenge hatte sich in seinen Eingeweiden in Raketentreibstoff verwandelt. Nun hatte er vor genau dem Problem gestanden, über das er vor einiger Zeit nachgedacht hatte: Es gab keine Toilette!

Also hatte er improvisieren müssen. In einem Raum hatte er zwischen einigen Trümmern mehrere Papierfetzen gefunden. Die Überreste einer Tapete, dem Blümchenmuster nach zu urteilen. Diese Fetzen hatte er benutzt, um sich zu reinigen, nachdem er sich erleichtert hatte. Danach war er sofort weiter gestürmt, denn der Drang, von hier zu verschwinden, hatte ihn wieder übermannt.

Diesmal hatte er sich jedoch ein Grinsen nicht verkneifen können: Sie hatten ihn unter Drogen gesetzt, sie hatten seine Identität geraubt und sie hatten ihn zu einer Laborratte degradiert. Als Ausgleich dafür hatte er ihnen in den Keller geschissen. Das hatten sie nun davon.

Doch selbstverständlich hatte er damit keinen großen Sieg errungen. Er steckte auch weiterhin fest und konnte nichts anderes tun, als um eine Ecke nach der anderen zu biegen und einen Raum nach dem anderen zu kontrollieren.

Gerade hatte er wieder einen Haufen Schutt vor sich. Darin erspähte er eine weiße Verpackung. Das war weder ein Nahrungsriegel noch war es eine Wasserflasche. Als er das Päckchen aus dem Dreck zog, erkannte er auf einer Seite ein rotes Kreuz. Er drückte das Päckchen leicht. Verbandsmaterial? Ja, so fühlte es sich an. Er hoffte zwar, dieses Zeug nicht zu brauchen, doch er würde das Päckchen besser erst öffnen, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Er wollte das Verbandsmaterial nicht verschmutzen und damit eine Infektion riskieren.

In seiner rechten Beintasche hatte er die Riegel verstaut. Also ließ er das Päckchen in seine linke Beintasche gleiten. Es passte haargenau, als sein die Tasche exakt zu diesem Zweck geschneidert worden. Dann trat er wieder in den Korridor. Er wollte weiter marschieren, doch der Kerl im roten Overall stand ihm im Weg.

Diesmal benötigte er ganze zwei Augenblicke um zu verstehen, was er da vor sich sah. Dann noch einen Augenblick, um die SIG-Sauer aus seinem Hosenbund zu ziehen und den Kerl ins Visier zu nehmen.

Dabei fragte er sich, was er da eigentlich tat. Der Griff nach der Waffe schien völlig automatisch abzulaufen. Selbst wenn er es gewollt hätte - er hätte nichts dagegen tun können. Er fühlte sich wie ein Zauberkünstler, der ein weißes Kaninchen aus dem Hut ziehen wollte und stattdessen plötzlich einen Dildo in der Hand hielt.

Der Mann in Rot erschrak mindestens ebenso sehr wie er. Der Kerl rief: »Scheiße!«, fuhr auf dem Absatz herum und verschwand hinter der nächsten Ecke.

Er stand noch gut zwei Wimpernschläge lang dort, stierte die Waffe in seiner Hand blöde an und wusste nicht so recht, was er nun tun sollte. Dann löste sich seine Starre und er rannte los. Endlich hatte er jemanden gefunden, dem er einige Fragen stellen konnte. Vielleicht konnte ihm der Kerl sogar den Weg zum Ausgang zeigen. Doch dazu musste er den Mann zunächst einmal einholen und ihn wegen dieser dummen Geschichte mit der Kanone um Entschuldigung bitten.

Würde sich allerdings herausstellen, dass dieser Kerl zu den Entführern gehörte, dann würde die Entschuldigung ins Wasser fallen. Stattdessen würde er dann an der Stelle weitermachen, an der er seine Kanone in Anschlag gebracht hätte.

In jedem Fall musste er den Burschen zunächst einmal erwischen. Das war leichter gesagt als getan, denn es gelang ihm kaum, den Kerl in seinem Blickfeld zu behalten. Der Mann fegte mit einem Affenzahn von einer Ecke zur nächsten. Glücklicherweise legte der Mann dabei keinen Wert auf Geräuschlosigkeit, sondern rannte einfach drauflos. Wenn er ihn schon aus den Augen verlor, dann konnte er ihn wenigstens nach Gehör verfolgen.

Schließlich ertönte ein Knall. Eine Kellertür war ins Schloss gefallen. Der Mann hatte sich offenbar in einen Raum zurückgezogen. Er atmete auf. Damit saß der Bursche in der Falle.

Eine Abzweigung später sah er auch schon die Tür, hinter der der Mann verschwunden sein musste. Er fackelte nicht lange, riss die Tür auf und stürmte in den Raum. Dort bremste er ab. Sein letzter Schritt verhallte und er sah sich um. Hinter ihm krachte die Tür ins Schloss.

Er hatte damit gerechnet, einen Kellerraum mit einem Durchmesser von nur wenigen Schritten zu sehen. Womit er jedoch eindeutig nicht gerechnet hatte, war diese Halle, in die er gerade gestürmt war.

Die niedrige Decke des Raumes kauerte auf Betonpfeilern, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt waren. Auf dem Boden sah er Markierungen - Streifen, Pfeile, Begrenzungslinien. Unter der Decke schlängelten sich Rohrleitungen und Kabelschächte entlang. Neonröhren schufen zwar einzelne Lichtinseln, doch bereits einige Schritte weiter verlor sich alles in Dunkelheit.

Eine Tiefgarage.

Der Kerl in Rot hatte ihn zu einer Tiefgarage geführt. Hier gab es zwar keine Autos, doch ansonsten sah alles so aus, wie man es von einer Tiefgarage erwartete.

Er konnte sein Glück kaum fassen. Damit endete seine Odyssee, denn in jeder Tiefgarage gab es eine Ausfahrt. Die musste er nur finden. Dann konnte er endlich von hier verschwinden.

Doch da war ein Geräusch, das ihm überhaupt nicht gefiel. Es klang wie das Surren von Zahnrädern in einem mechanischen Spielzeug. Dazu ein Piepsen, das sich in regelmäßigen Abständen wiederholte. Er konnte diese Geräusche nicht einordnen, doch sie machten ihn nervös. Was immer dieses Piepsen auch erzeugte, er musste sich davor in Acht nehmen.

Und so verrückt das auch war: Dieses Geräusch machte ihn mächtig scharf. Mit einem Mal fühlte er eine Art Vorfreude. »Jetzt geht es endlich los«, schien eine Stimme in seinem Kopf zu sagen. Verdammt, er fühlte sich wie ein Dragster, kurz bevor die Ampel auf Grün schaltete!

Bevor er sich daran machte, die Ausfahrt zu suchen, wandte er sich noch einmal zur Tür um. Sollte wider Erwarten etwas schiefgehen, wollte er gerne eine Rückzugsmöglichkeit haben. Als sein Blick auf die Tür fiel, suchte er den Türgriff jedoch vergeblich. Auf dieser Seite bot die Tür nichts als eine glatte Metallfläche. Ein Rückzug war damit ausgeschlossen. Ihm blieb nur der Weg nach vorne.

Schöne Scheiße aber auch. Er wandte sich mit einem Schulterzucken ab und ging in die Tiefgarage hinein. Doch er marschierte nicht einfach drauflos, sondern bewegte sich vorsichtig von Betonpfeiler zu Betonpfeiler. Dabei konzentrierte er sich auf das Surren und das Piepen. Inzwischen war er sich sicher, diese Geräusche aus mehreren Richtungen wahrzunehmen. Eine Geräuschquelle lag links von ihm, eine offenbar direkt voraus.

Dann, plötzlich, verstummte das Surren links von ihm und die Frequenz des Piepens stieg an.

Er stoppte sofort und trat einen Schritt zurück. Damit brachte er eine Säule zwischen sich und die Geräuschquelle. Einen Moment lang schien alles zu stocken, dann begannen Piepen und Surren wieder im gewohnten Rhythmus.

Was immer sich links von ihm in der Dunkelheit befand, es hatte ihn entdeckt. Wäre er stehen geblieben oder in der ursprünglichen Richtung weiter gegangen, dann wäre es aktiv geworden. Er fragte sich, was dann wohl geschehen wäre.

Die Antwort ertönte weiter vorne und rechts von ihm, in den Tiefen der Halle. Dort donnerte eine Maschinenwaffe los. Er sah zuerst ein Aufblitzen, dann überrollte ihn der Schall. Im nächsten Moment hatte er sich auch schon zu Boden geworfen und seine Pistole in Anschlag gebracht. Das Maschinengewehr verstummte beinahe im gleichen Augenblick wieder.

In seinem Kopf herrschte Durcheinander. Wer schoss mit einem Maschinengewehr in einer Tiefgarage um sich? Und vor allem: Auf wen wurde da geschossen?

Dann fiel ihm der Kerl im roten Overall wieder ein. Am Ende hatte der Schütze diesen armen Burschen ins Visier genommen. Das musste er überprüfen. Schließlich wollte er dem Kerl noch einige Fragen stellen.

Er ging in die Hocke und schlich vorsichtig vorwärts. Ein Teil von ihm wollte das nicht tun. Dieser Teil wollte dem Konflikt einfach nur aus dem Weg gehen und nach der Ausfahrt suchen. Doch ein anderer Teil von ihm amüsierte sich gerade köstlich. Dieser Teil wollte nicht nur wissen, wer gerade auf wen geschossen hatte, sondern auch gerne an der Schießerei teilnehmen.

Das Schlimmste: Er genoss diese Gefühle und gab ihnen nur zu gerne nach. Das passte überhaupt nicht zu ihm. Schließlich war er nur ein normaler Mann von der Straße. Er ging Konflikten lieber aus dem Weg und strebte Harmonie an, wann immer es möglich war - zumindest, soweit er sich erinnerte.

Doch im Augenblick spielte das keine Rolle. Im Augenblick machte es ihn einfach nur tierisch an, sich zwischen den Betonpfeilern zu bewegen und dabei seine Umgebung zu sondieren. Mit seinen Augen versuchte er, das Dunkel zu durchdringen, während er sich selbst in den Schatten hielt. Mit seinen Ohren erfasste er das Surren und das Piepen, das er inzwischen aus allen Richtungen wahrnahm. Er huschte von Betonpfeiler zu Betonpfeiler, wie ein Phantom, und näherte sich dem Schauplatz der Schießerei.

Dann sah er den Burschen in Rot. Der Mann kauerte hinter einem Betonpfeiler und zitterte. Rund um diesen Pfeiler lagen Betonbrocken verstreut. Offenbar hatte sich die abgewandte Seite des Pfeilers in eine Kraterlandschaft verwandelt. In der Luft hing noch eine Wolke aus Staub. Jenseits des Pfeilers hörte er das inzwischen bereits vertraute Surren und das Piepen.

Der Kerl in Rot sah ihn und versteifte sich sofort. Er fragte sich, wovor sich der Mann so sehr fürchtete. Er hielt sogar seine Waffe hinter dem Körper verborgen, denn er wollte keinesfalls bedrohlich erscheinen. Er musste dringend mit dem Mann reden, bevor dieser sich zu einer Dummheit hinreißen ließ.

Er versuchte es. »Alles in Ordnung.«

Bei diesen Worten verschluckte er sich beinahe. Seine eigene Stimme erschreckte ihn. Sie klang in seinen Ohren völlig fremd. Der Mann in Rot schien das ähnlich zu sehen, denn er presste sich nur noch fester mit dem Rücken gegen seinen Betonpfeiler. Dabei wimmerte der Mann: »Nein, nein, nein.«

Er atmete tief ein. Dann versuchte er, seinen Ärger auszuatmen. Die Feigheit dieses Burschen regte ihn allmählich auf. Er versuchte es mit einer anderen Frage: »Wo ist der Schütze?«

Der Bursche sagte zunächst überhaupt nichts und starrte ihn nur aus aufgerissenen Augen an.

»Der Schütze«, hakte er nach. »Wo steckt der MG-Schütze? Wenn du mir sagst, wo der Schütze steckt, dann kann ich dir Feuerschutz geben. Hast du das verstanden?«

Der Mann jammerte weiter. »Nein, nein, nein. Nicht schießen. Bitte nicht schießen. Nein, nein.«

Er fragte sich, was dieser Kerl da redete. Wieso dachte der Mann nicht nach? Sie konnten den MG-Schützen ausmanövrieren. Einer startete ein Ablenkungsmanöver, der andere griff an. Riskant, aber machbar. Doch dazu musste der Mann in Rot mitspielen.

»Jetzt reiß' dich zusammen«, zischte er dem Kerl zu. »Ich will dir doch überhaupt nichts tun. Lauf zum nächsten Pfeiler. Wenn das MG zu schießen anfängt, dann kann ich es anpeilen. Los, mach schon!«

Der Kerl winkte heftig ab, schüttelte seinen Kopf und brabbelte unverständliches Zeug vor sich hin.

Allmählich verlor er seine Geduld. Er musste weiter, und zwar schnell. Wenn er noch mehr Zeit vergeudete, dann würde man ihn erwischen. Und dieser Schwachkopf dort drüben saß hinter seinem Betonpfeiler und machte sich in die Hose. Also musste er den Kerl dazu bringen, sich endlich in Bewegung zu setzen.

Er sah nur eine Möglichkeit, die Hysterie des Mannes zu durchbrechen. Dazu richtete er die SIG-Sauer auf den Burschen und schrie ihn an: »Lauf! Los, lauf!«

Das wirkte. Der Kerl starrte noch einen Moment lang in die Mündung der Pistole. Dann schrie der Mann auf, scharrte sich auf die Füße und rannte nach rechts weg. Im gleichen Moment legte die Geschwindigkeit des Piepens rasend schnell zu, bis die einzelnen Pieptöne in einen Pfeifton übergingen. Gleichzeitig eröffnete das Maschinengewehr das Feuer und krakelte Leuchtspuren in die Luft.

Er achtete nicht weiter auf den Kerl in Rot, sondern tauchte um die linke Seite des Betonpfeilers. Von dort aus sah er das Mündungsfeuer des Maschinengewehrs ein ganzes Stück entfernt in der Dunkelheit, ziemlich weit oben, direkt unter der Decke. Bevor er nachdenken konnte, hatte er bereits die SIG-Sauer angehoben und zwei Schüsse auf das Mündungsfeuer abgegeben. Der Donner der Maschinenwaffe verschluckte die beiden Schüsse aus der Pistole. So spürte er lediglich, wie die SIG-Sauer zweimal kurz hintereinander in seiner Hand zuckte.

Das MG verstummte sofort. Er wartete nicht ab, ob sich der Schütze nun auf ihn konzentrierte, sondern stürmte in die entgegengesetzte Richtung los und folgte dem Mann in Rot. Er musste den Burschen nicht lange suchen. Schon nach wenigen Schritten entdeckte er einen leblosen Körper auf dem Boden. Der MG-Schütze hatte ganze Arbeit geleistet und den Kerl buchstäblich perforiert.

Er schlich vorsichtig näher. Das Maschinengewehr schwieg. Auch das Surren und das Piepen waren verstummt. Also riskierte er den letzten Schritt nach vorne und beugte sich über den Mann. Er tastete nach dem Verbandspäckchen in seiner Beintasche, rührte es aber nicht an. Er würde es nicht brauchen. Dem Kerl war nicht mehr zu helfen. Er sah einen Einschuss am Oberschenkel. Zwei weitere Schüsse hatten Löcher in den Oberkörper gestanzt und einer hatte den Kopf getroffen, links neben der Nase. Das hatte dem Burschen den Rest gegeben.

Er machte sich daran, die Kleidung des Mannes abzuklopfen. Dieser Overall verfügte zwar über mehrere Taschen, doch alle waren leer. Der Mann in Rot hatte nichts bei sich. Überhaupt nichts.

Blieb ihm nur noch, mit dem MG-Schützen abzurechnen. Der Mann in Rot hätte ihm vielleicht helfen können, doch der MG-Schütze hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Dafür würde er ihn nun bezahlen lassen. Er würde sich schnell von Pfeiler zu Pfeiler bewegen und dabei willkürlich seine Richtung wechseln. Der Schütze würde keine Gelegenheit haben, sich auf ihn einzuschießen. Mit etwas Glück schaffte er es sogar, das Maschinengewehr zum Überhitzen zu bringen. Dann musste der Schütze das Rohr der Waffe wechseln. In diesem Augenblick konnte er zuschlagen.

Er kontrollierte kurz seine Pistole und begann dann, sich von Pfeiler zu Pfeiler zu bewegen. Das Maschinengewehr schwieg. Entweder wartete der Schütze auf eine günstige Gelegenheit oder er hatte mit seinen beiden Schüssen einen Zufallstreffer gelandet. Dennoch blieb er wachsam und huschte so schnell von Pfeiler zu Pfeiler, wie es ihm möglich war - jederzeit darauf gefasst, sich flach auf den Boden werfen zu müssen, falls das Feuer auf ihn eröffnet wurde.

So näherte er sich der Position des Schützen immer weiter. Dabei kam ein neuer Faktor ins Spiel, denn er hörte ein Surren und ein Piepen rechts von sich. Wenn die Maschinenwaffen diese Geräusche erzeugten, wovon er inzwischen ausging, dann lauerte in der Dunkelheit zu seiner Rechten die nächste Maschinengewehrstellung.

Als er sicher war, sich der Position des Schützen bis auf wenige Schritte genähert zu haben, riskierte er einen schnellen Blick um einen Pfeiler herum. Dann stutzte er. Keine befestigte Stellung. Stattdessen nur irgendwelche Trümmer auf dem Boden. Sonst nichts.

Er schaute noch einmal hin, diesmal einen halben Wimpernschlag länger. Tatsächlich, dort lag nur eine Handvoll Plastiksplitter auf dem Boden verstreut. Sehr viel interessanter fand er hingegen, was unter der Decke hing. Er trat hinter dem Betonpfeiler hervor und ging zu dem Ding hin.

Soweit er sehen konnte, hing dort ein kleiner Geschützturm mit einem Maschinengewehr. Er erkannte eine Mechanik, die eine Drehung der Waffe um die Hochachse erlaubte. Außerdem konnte die Neigung des Maschinengewehrs verstellt werden. Auf diese Weise konnte die Bleispritze nach allen Seiten ausgerichtet werden. Die Munitionszuführung schlängelte sich aus einer Öffnung in der Decke bis zum Gurtzuführer der Waffe. An der Seite des Gestells hing ein Kasten. Darin vermutete er die Stellmotoren und die Steuerelektronik der Einheit. Außerdem gab es am Rohr der Waffe ein Gerät, das ihn an eine überdimensionale Taschenlampe erinnerte. Ein Bewegungssensor, vermutete er. Dieser ganze Apparat war nichts anderes als eine Selbstschussanlage.

Das Gehäuse des Kastens an der Seite der Waffe war zersplittert. Kabel hingen heraus. Im Inneren des Kastens erkannte er mehrere Zahnräder. Damit erklärte sich das Surren, das er die ganze Zeit über im Ohr hatte.

Er hatte mit einem seiner Schüsse einen Volltreffer gelandet, vielleicht sogar mit beiden. Damit hatte er die Selbstschussanlage außer Gefecht gesetzt. Leider hatte er das Feuer einen Augenblick zu spät eröffnet, andernfalls hätte es der Bursche in Rot vielleicht noch schaffen können. Zu schade. Doch das ließ sich nun nicht mehr ändern.

Stattdessen würde er sich wieder auf die Suche nach der Ausfahrt machen. Er hatte hier unten schon viel zu viel Zeit verschwendet. Auf seinem Weg musste er nur die Ohren spitzen und diesen Selbstschusswaffen aus dem Weg gehen, dann konnte ihm nichts passieren.

Er bewegte sich weiter. Dabei achtete er darauf, sich nach Möglichkeit immer in eine Richtung zu gehen, um nicht im Kreis zu laufen. Nach einer Weile musste er sich jedoch eingestehen, den Überblick verloren zu haben. Direkt voraus hörte er Geräusche. Wandte er sich nach rechts oder links, dann nahm er ebenfalls Geräusche wahr.

Schließlich glaubte er, ein Schlupfloch gefunden zu haben, doch schon bald fand er sich wieder von diesen Selbstschussanlagen umgeben. Er hatte sich in eine Sackgasse manövriert. Also drehte er um und ging ein Stück zurück. Wie viele Pfeiler hatte er noch gleich passiert, bevor er in die Sackgasse geraten war? Er wusste es nicht mehr. Verdammt, er hätte mitzählen müssen. Schließlich lief er erneut auf ein Piepen zu. Sackgasse - auch in der entgegengesetzten Richtung.

Allmählich wurde er nervös. Es lief nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Doch er musste raus aus dieser Tiefgarage. Er musste raus aus diesem gesamten Keller, und zwar schnell!

Er wandte sich nach links, doch bereits nach wenigen Schritten beschleunigte einer der Pieptöne. Er blieb sofort stehen und trat einen Schritt zurück. Besser, er versuchte die andere Richtung. Dort kam er nur ein Stück weiter, bevor auch dort ein Piepton beschleunigte. Diesmal bog er scharf nach rechts ab, in seine ursprüngliche Richtung. Vielleicht konnte er sich seitwärts aus dem Erfassungskegel der Waffen bewegen.

Doch noch während er sich vorsichtig seitwärts schob, ging ein zweites Piepen in einen Dauerton über. Er schaffte es gerade noch, sich mit zwei raschen Schritten hinter einen Betonpfeiler zu ducken, als auch schon eine Maschinenwaffe das Feuer eröffnete.

Als normaler Mann von der Straße hätte er sich in einer solchen Situation vor Angst in die Hose kacken müssen. Stattdessen spürte er nur eine Art Aufregung, die er schon beinahe als angenehm empfand. Um einen Weg aus dieser Tiefgarage zu finden, würde er sich auf einen Tanz mit den Selbstschussanlagen einlassen müssen. Mensch gegen Maschine. Dabei würde er entweder einen Ausweg finden oder er würde als menschliches Sieb zwischen den Betonpfeilern enden, genau wie der Kerl in Rot.

Er zog die P226 und überprüfte das Magazin. Vielleicht gelang es ihm, noch eine dieser Kanonen außer Gefecht zu setzen. Vielleicht auch nicht. Er würde es sehen. Dann zögerte er kurz. Sollte er nach rechts oder nach links loslaufen? Welche Seite würde die Selbstschussanlage wohl gerade anvisieren? Wenn er sich für die falsche Richtung entschied, dann würde sie ihn gleich beim ersten Schritt erwischen.

Risiko!

Er entschied sich für links.

 

Feige Sau

Weiter. Und immer weiter.

Das dauerte zu lange!

Er hatte zwar sein erstes Etappenziel erreicht, doch darüber konnte er sich nicht freuen. Im Gegenteil, er war stinksauer.

Es hatte ihn eine Menge Zeit gekostet, den Raum zu finden, in dem seine Zielperson das Dämmerlicht dieser Welt erblickt hatte. Auf dem Weg dorthin hatte nichts, aber auch gar nichts, so funktioniert, wie er es erwartet hatte.

Zunächst hatte ihn der Download aus dem Sichtgerät außer Gefecht gesetzt. Er hatte in das Flackern des Gerätes geblickt und beinahe sofort das Bewusstsein verloren. Irgendwann war er dann auf dem Boden aufgewacht, in all diesem Schmutz. Er hatte mörderische Kopfschmerzen gehabt und seine Muskeln hatten sich angefühlt, als habe er stundenlang Gewichte gestemmt. Seine Nase hatte geblutet und den Kragen seines T-Shirts rot gefärbt. Seine Waffe und das Sichtgerät waren in den Dreck gefallen, doch glücklicherweise hatten beide Gegenstände keinen Schaden davongetragen.

Anstatt die Daten in seinem Kopf zu ordnen und sich umgehend auf den Weg zu machen, hatte er zunächst einen gepflegten Koller bekommen. Als er danach wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, war er endlich losmarschiert.

Immerhin wusste er nun genau, in welche Richtung er sich wenden musste. Er kannte jede Abzweigung und jede Kreuzung. Das Sichtgerät hatte diese Daten in seinem Kopf gespeichert. Zumindest nahm er das an. Eine bessere Erklärung fiel ihm nicht ein.

Dennoch war es ihm nicht leicht gefallen, den Startpunkt seiner Zielperson zu finden. All der Dreck und all die Verwahrlosung hatten ihn immer wieder in Rage gebracht und seine Gedanken vernebelt. Deswegen hatte er mehr als einmal falsche Abzweigungen genommen und sich plötzlich in einer Sackgasse wiedergefunden. Doch er hatte sich selbst diszipliniert, indem er sich vorstellte, was er seiner Zielperson antun würde, wenn er sie fand. Damit konnte er sich zumindest in Gedanken abreagieren und seine Wut in Zaum halten.

Er hatte auch über die Zeit nach seinem Auftrag nachgedacht. Sobald er seine Zielperson entsorgt hatte, ging das Leben weiter. Dann konnte er sich um die restlichen Dissidenten kümmern. Und natürlich um die Kinder.

Die Kinder würde er sich bis zum Schluss aufheben. Sie hatten ihm besonders zugesetzt. Er würde sie erst dann entsorgen, wenn er mit allen anderen fertig war. Dann konnte er die Sache gemütlich angehen und den Spaß richtig auskosten.

Doch nun galt es, sich auf die nahe liegenden Dinge zu konzentrieren. Er sah sich in dem Raum um. Hier hatte sein Ziel vor nicht allzu langer Zeit diese Welt betreten. In diesem kleinen, unscheinbaren Räumchen. Er ließ seinen Blick durch die Ecken des Raumes wandern und suchte nach Hinweisen.

Nichts. Die Zielperson hatte keine Spuren hinterlassen. Keine Gegenstände, keine Unregelmäßigkeiten, nicht einmal einen besonderen Geruch.

In welche Richtung mochte sich seine Zielperson wohl gewandt haben? Und wie groß war ihr Vorsprung inzwischen? Er überlegte. In diesem Abschnitt gab es unzählige Kreuzungen und Einmündungen. Seine Zielperson hatte jedoch sicherlich längst eine Passage zu einem benachbarten Abschnitt aufgespürt. Während ein herkömmlicher Dissident in diesen Korridoren umherirren konnte, bis er im Laufen einschlief, verfügte seine Zielperson über die Fähigkeit, sich intuitiv zu orientieren - ebenso wie er selbst. Die Zielperson benötigte hierfür nicht einmal ein Sichtgerät. Er hatte keine Ahnung, woher er dies wusste. Er wusste es ganz einfach.

Nein, er wusste es nicht.

Er nahm es an. Er glaubte daran.

Tatsächlich wusste er nur eines: Er musste sich beeilen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Wenn er noch mehr Zeit verschwendete, dann würde das hier eine langwierige und unerfreuliche Sache werden.

Besser, er verzichtete darauf, diesen Abschnitt zu durchkämmen. Besser, er begab sich auf direktem Weg zum nächsten Abschnitt und startete dort eine sorgfältige Suche. Er setzte sich in Bewegung.

Obwohl er den Weg kannte, kam er nicht so schnell voran, wie er es sich wünschte. Auch wenn er seine Zielperson bereits im nächsten Abschnitt vermutete, so konnte sie dennoch hier irgendwo auf ihn lauern. Deswegen ließ er Vorsicht walten. Er durfte die Gefahr, in einen Hinterhalt zu laufen, keinesfalls unterschätzen. Diesen Fehler hatte er schon einmal begangen. Zumindest glaubte er, sich daran zu erinnern. Deswegen hielt er sein AKS-74U stets schussbereit und spähte vorsichtig um jede Ecke, bevor er sie umrundete.

Als er schließlich den nächsten Abschnitt erreichte und die erste Tür in Sicht kam, kochte er wieder vor Wut. Seine Zielperson hatte sich längst abgesetzt - und alles nur, weil er zauderte. Alles nur, weil er Angst hatte, er könne versagen. Weil er sich anstellte wie ein kleines Mädchen.

Dabei hatte er es nur mit einem Feigling zu tun. Einem Dissidenten, der sich zwar gerne gegen die Ordnung auflehnte, doch im Kampf Mann gegen Mann jämmerlich versagen würde. Dessen war er sich sicher.

Wovor fürchtete er sich also? Er war ein Entsorger. Niemand legte sich ungestraft mit ihm an. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen und alle dazu notwendigen Instrumente erhalten. Also, Schluss mit diesem Zögern!

Er riss die Tür auf und sah sich um. Schmutz und Unordnung auf dem Boden. Schutt und Trümmer. Außerdem lag hier ein Stuhl, der eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hatte. Der Schutthaufen sah aus, als sei jemand darauf herumgeklettert. Als er genau hinsah, erkannte er sogar einen Fußabdruck im Bauschutt.

Er sah sich den Fußabdruck genauer an. Studierte das Profil. Scharfe, tiefe Rillen. Ein ausgelatschter Dissidententreter hinterließ keine solchen Abdrücke. Das musste ein neuer Stiefel gewesen sein.

Seine Zielperson!

Gut, nun kam er voran.

Er durchkämmte den Abschnitt. Raum für Raum nahm er unter die Lupe. Hier und dort fand er kleine Hinweise - durchwühlte Schutthaufen, die Verpackung eines Nahrungsriegels oder eine leere Wasserflasche. Und dann fand er in einem Raum einen Hinweis, der deutlicher nicht hätte sein können.

Der Gestank überfiel ihn bereits, als er die Tür öffnete. Ein Blick in den Raum bestätigte dann seine schlimmsten Befürchtungen: Dieser Unmensch hatte den Raum beschmutzt!

Da lag Stuhl auf dem Boden. Stuhl!

Und nicht nur das. Dieser Unrat hatte auch noch den sauberen Abfall benutzt, um sich damit zu reinigen.

Diese Entdeckung ließ ihn die Kinder schlagartig vergessen. Sie ließ ihn alle Dissidenten und alle Vorsichtsmaßnahmen vergessen. Bevor er sich bremsen konnte, entfuhr ihm ein Wutschrei. Er stürmte aus dem Raum und blickte sich wild um.

»Wo steckst du?«

Der Korridor schwieg.

»Wo steckst du, du feige Sau?«

Auch darauf erhielt er keine Antwort. Also stürmte er aufs Geratewohl los. Einfach hinein in das Labyrinth. Unterwegs riss er alle Türen auf und warf flüchtige Blicke in die Räume. Irgendwo musste sich dieser Unrat verbergen. Er würde ihn aus seinem Versteck zerren und zurück zu diesem Raum schleppen. Dann würde er die Zielperson zwingen, ihre eigenen Verdauungsprodukte zu fressen. Bis auf den letzten Bissen. Und dann würde er sich sehr viel Zeit nehmen um herauszufinden, wie viele Schmerzen seine Zielperson aushielt.

Doch dazu musste er den Kerl zunächst einmal finden.

Nein, das ging so nicht. Er konnte nicht einfach von Tür zu Tür rennen und auf einen Glückstreffer hoffen. Er musste seine Wut in den Griff bekommen und mit System vorgehen.

Leichter gesagt als getan. Im Augenblick wollte er nur noch toben. Er wollte toben, toben und nochmal toben. Er wusste nicht einmal mehr, in welche Richtung er sich wenden sollte. Es war ihm auch egal. Die Wände standen ihm im Weg herum. Er wollte auf sie einschlagen. Er wollte diese Wände mit dem Kopf voran rammen, um endlich weiter zu kommen.

Er sah nur noch eine Möglichkeit, bevor er vollständig ausrastete: Er musste das Sichtgerät benutzen. Die Gefahr, sein Gehirn damit zu überlasten, interessierte ihn nicht. Dieses Risiko musste er eben eingehen. Im Gegenzug würde der Download den Wutanfall beenden und er würde die Dinge wieder klarer sehen, wenn er aufwachte.

Er nestelte das Kästchen aus seiner Hosentasche hervor. Dann hob er es vor seine Augen. Er musste nur noch die Taste drücken und sich von diesem Flackern verschlingen lassen.

Sein Finger fand den Druckpunkt der Taste. Er biss die Zähne zusammen und wappnete sich für den Schmerz.

In diesem Augenblick hörte er das Geräusch.

Er stutzte und ließ das Sichtgerät sinken. Dann drehte er seinen Kopf, um die Richtung zu bestimmen, aus der das Geräusch ertönt war. Es hatte sich wie ein Rumpeln angehört, durch eine Vielzahl von Wänden gedämpft.

Seine Wut verrauchte von einem Moment zum nächsten. Er wartete ab und lauschte. Dabei schob er das Sichtgerät wieder in seine Hosentasche. Einige Zeit verging. Dann … da! Erneut ein Grollen, irgendwo im Labyrinth. Schwere Waffen. Dauerfeuer. Eine oder mehrere Selbstschussanlagen. Die gab es in der Tiefgarage, wenn er sich recht erinnerte.

Er lachte auf und setzte sich in Bewegung. Diesmal gab es kein Zögern und keine Vorsicht. Er musste die Tiefgarage erreichen, bevor eine Selbstschussanlage die Zielperson erledigte. Das war sein Job. Auf die Unterstützung durch eine Maschine konnte er verzichten.

Als das Grollen kurz darauf erneut ertönte und dabei an Intensität zunahm, beschleunigte er seine Schritte und rannte durch die Korridore. Was immer die Zielperson auch in der Tiefgarage veranstaltete - sie hatte damit ein ordentliches Feuerwerk angezettelt.

Als er die Tiefgarage erreichte, war bereits seit einiger Zeit Ruhe eingekehrt. Bei dem Gedanken, die Selbstschussanlagen könnten die Zielperson ausgeschaltet haben, biss er sich auf die Unterlippe. Das Management würde seinen Auftrag in diesem Fall möglicherweise als Fehlschlag werten. Sie würden sagen, er habe versagt. Sie würde sagen, ein Versager wie er könne nicht länger als Entsorger tätig sein.

Ihm blieb nur zu hoffen, seine Zielperson hatte es in eine ruhige Ecke geschafft und sich dort vor den Selbstschussanlagen verkrochen. Dort würde er sie aufspüren und entsorgen.

Er betrat die Tiefgarage und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Damit hatte er sich selbst den Rückweg abgeschnitten. Doch das war ihm bewusst. Sollte er sich verkalkuliert haben und die Zielperson befand sich noch im Abschnitt hinter ihm, dann würde es ihn eine Menge Zeit kosten, um auf Umwegen dorthin zurückzukehren. Doch dieses Risiko ging er ein. Seine Zielperson würde sich intuitiv immer weiter vorwärts bewegen, von einem Abschnitt zum nächsten. Daher würde sie früher oder später ohnehin hier auftauchen. Abgesehen davon wussten alle anderen Dissidenten über die Tiefgarage Bescheid. Sie mieden diesen Raum und betraten ihn nur im äußersten Notfall. Wenn jemand die Selbstschussanlagen ausgelöst hatte, dann die Zielperson.

Zumindest glaubte er das.

Nein, er hoffte es!

Zunächst zog er das Sichtgerät hervor. Diesmal benötigte er es, um die Selbstschussanlagen zu entschärfen. Hierzu richtete er das Display des Gerätes in den Raum und drückte den Auslöser. Das sollte genügen, um ihn vor einem Angriff zu schützen.

Zumindest glaubte er das.

Doch er wollte nichts riskieren. Die Selbstschussanlagen blieben auch weiterhin aktiv. Er ging zwar davon aus, sie würden ihn nun ignorieren, doch zur Sicherheit blieb er dennoch außerhalb der Feuerbereiche. Das fiel ihm nicht schwer, denn er wusste genau, auf welchen Pfaden er sich bewegen konnte, ohne in Gefahr zu geraten.

Er hatte zwei Selbstschussanlagen umgangen, als er einen Körper am Boden erblickte, genau im Feuerbereich einer dritten Anlage. Er hielt den Atem an und näherte sich vorsichtig. Als er von der dritten Anlage keinerlei Geräusche hörte, wagte er es, an den Körper heranzutreten.

Er stieß den Toten mit der Stiefelspitze an und drehte ihn um. Dann atmete er auf. Es handelte sich nicht um die Zielperson, sondern nur um einen Dissidenten. Offenbar wussten nicht alle Dissidenten, was sie hier erwartete.

Dieser Kerl hier trug rote Kleidung, keine schwarze. Seine Zielperson würde Schwarz tragen. Alle Zielpersonen trugen Schwarz. Er hatte keine Ahnung, woher er das wusste. Er wusste es einfach. So war das nun einmal in dieser Welt.

Doch weswegen hörte er keine Geräusche von dieser Selbstschussanlage?

Er pirschte vorwärts, seine Waffe im Anschlag. Dann sah er die Bescherung. Dabei spürte er, wie das Blut in seinen Kopf schoss. Jemand hatte die Selbstschussanlage entsorgt. Ein Wunderwerk der Technik - mit roher Gewalt zerstört. Das ging nicht auf das Konto des toten Dissidenten dort drüben. Auf keinen Fall!

Nein, hier war mit hundertprozentiger Sicherheit eine Schusswaffe im Spiel gewesen, abgefeuert von jemanden, der verdammt gut damit umgehen konnte. Und das konnte nur seine Zielperson gewesen sein. Niemand sonst war in der Lage, Schusswaffen mit solcher Effizienz einzusetzen.

Nachdem er die Selbstschussanlage entsorgt hatte, hatte sich dieser Untermensch vermutlich auch noch die Zeit genommen, einen Freudentanz aufzuführen.

Er konnte sich seine Zielperson bildlich vorstellen, wie sie mit verzerrter Fratze von einem Bein auf das andere sprang und dabei ein munteres Liedchen sang. Ein Kinderlied.

Diese Vorstellung brachte ihn noch mehr auf Touren. Doch er kämpfte seine Wut nieder. Er musste sich beruhigen, einen kühlen Kopf bewahren. Also atmete er mehrmals tief durch und zwang sich zur Ruhe. Dann setzte er seinen Weg fort.

Er erreichte eine Zone, in der er häufig die Richtung wechseln und Umwege nehmen musste. Wäre er weiter geradeaus marschiert, dann wäre er in ein Labyrinth aus sich überschneidenden Feuerbereichen der Selbstschussanlagen geraten. So weit ging seine Risikobereitschaft nicht.

Irgendwann entdeckte er am Rande seines Blickfeldes einige Betonbrocken auf dem Boden. Seine Zielperson war offenbar geradewegs in diese Suppe aus Selbstschussanlagen marschiert und dort unter Feuer geraten.

Er pirschte sich so nahe heran, wie er es wagte. Durch die Einschläge an den Pfeilern und im Boden konnte er den Weg seiner Zielperson recht gut verfolgen. Er bewegte sich in einem weiten Bogen um die Gefahrenzone herum und behielt dabei die Trümmerspur im Auge.

Schließlich endete die Spur an einer Wand. Auch diesen Bereich hatten die Selbstschussanlagen unter Feuer genommen. Er verfolgte die Spur der Einschläge bis in die Nähe eines Durchgangs.

Er fand sowohl den Durchgang als auch den Raum dahinter leer vor. Seine Zielperson war entkommen. Doch bevor seine Wut wieder auflodern konnte, fiel sein Blick auf zwei Aufzugtüren am Ende des Raumes.

Auf seinem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Wenn seine Zielperson die Tiefgarage auf diesem Weg verlassen hatte, dann würde der Auftrag richtig spaßig werden.

Er drückte die Ruftaste des Aufzuges. Hinter den Türen ertönte ein Rumpeln und ein Knirschen, als sich die Kabine in Bewegung setzte. Er trat einen Schritt zurück und richtete sein Sturmgewehr auf die Türen. Vielleicht kauerte seine Zielperson noch in der Kabine. Vielleicht hatte sie nur darauf gewartet, dass jemand die Ruftaste betätigte. In diesem Fall würde sie eine riesengroße Scheißüberraschung erleben.

Doch die Überraschung blieb aus. Als sich die Türen mit einem Geräusch zwischen Gleiten, Zischen und Knirschen öffneten, fand er die Kabine leer vor.

Nun gut, dann würde er sich eben nach unten begeben und die Sache dort zu Ende bringen. Diesmal befürchtete er nicht, jemand könne ihm die Arbeit abnehmen. Dort unten hausten zwar die Knochenkauer, doch mit denen würde seine Zielperson fertig werden. Sie würde wissen, was zu tun ist, sobald sie die Knochenkauer entdeckte.

Er hoffte nur, es blieben noch einige Knochenkauer übrig, mit denen er sich anschließend vergnügen konnte.

Doch bevor er seiner Zielperson nach unten folgte, benötigte er einen Download. Er hatte zwar das Gefühl, er könne sich dort unten orientieren, doch das konnte ein Irrtum sein. Besser, er frischte seine Daten auf - auch wenn es wehtun würde.

Bevor er es sich anders überlegen konnte, zog er das Sichtgerät aus seiner Tasche, fixierte das Display und drückte den Auslöser. Diesmal dauerte es nur einen Augenblick, bevor das Flackern seine Gedanken hinweg fegte und ihn zu Boden schickte.

 

Katakomben

Aufwachen.

Er riss die Augen auf.

Verdammt, war er etwa eingeschlafen?

Das durfte er nicht. Er durfte nicht schlafen. Er musste weiter. Doch er war gerade so angenehm müde. Außerdem kümmerte es ihn überhaupt nicht, ob er erwischt werden würde oder nicht. Im Gegenteil: Es war ihm egal. Alles war ihm egal. Rosarot egal, in Zuckerwatte verpackt mit grünen Sternen dran. Vollkommen egal.

Erwischt werden. Ja … oben, in der Tiefgarage, hatte ihn eines dieser Maschinengewehre erwischt. Er war gelaufen wie ein Hase, hatte zwischen den Betonpfeilern Haken geschlagen und immer wieder die Richtung gewechselt, doch kurz vor dem Durchgang zum Aufzug hatte ihn ein Maschinengewehr getroffen. Keine große Geschichte. Nur ein Streifschuss. Die Kugel war geradewegs unter seinem linken Arm hindurch geflogen und hatte seinen letzten Rippenbogen angekratzt. Jacke und T-Shirt waren ruiniert, doch seine Haut hatte nur eine Schramme abbekommen.

Wie von Furien gehetzt war er in den Aufzug gestürmt. Auf den Zustand der Kabine hatte er dabei nicht geachtet. Alle Vorsätze, hier unten niemals in einen Aufzug zu steigen, waren in diesem Augenblick dahin gewesen. So hatte er einfach die einzige Taste gedrückt, die das Bedienfeld im Inneren der Kabine noch angeboten hatte. Alle anderen Tasten waren aus dem Feld herausgehebelt oder zertrümmert worden und hatten nur Splitter oder leere Löcher hinterlassen. Daraufhin hatten sich die Aufzugtüren geschlossen und die Kabine war abwärts gerumpelt.

Eigentlich hätte er in diesem Augenblick einen Schreikrampf bekommen müssen. Noch weiter abwärts - das konnte eigentlich überhaupt nicht gehen!

Doch es ging. Und es hatte ihn in diesem Augenblick nicht gekümmert. Viel wichtiger war ihm der Treffer gewesen, den er kassiert hatte. Deswegen hatte er sich die Jacke und das T-Shirt vom Leib gerissen. Seine Seite hatte gebrannt wie Feuer. Beim Anblick des ersten Blutstropfens hatte er dann das Verbandspäckchen aus seiner Beintasche genestelt und sofort aufgerissen. Darin hatte er eine Wundauflage, eine Mullbinde, sowie eine Verpackung mit vier Tabletten entdeckt.

Den Streifschuss hatte er - ohne lange nachzudenken - mit der Mullbinde verarztet. In der Annahme, es handele sich um ein Schmerzmittel, hatte er dann eine der Tabletten geschluckt. Auch darüber hatte er sich in diesem Moment keine Gedanken gemacht. Erst als die Tablette schon zu seinem Magen unterwegs gewesen war, war ihm die Idee gekommen, es könne sich eventuell auch um ein Mittel zur Desinfektion von Trinkwasser handeln. Oder um eine Selbstmordtablette, mit deren Hilfe er seinem Elend ein Ende hätte setzen können.

Doch er hatte Glück gehabt: Es handelte sich tatsächlich um ein Schmerzmittel. Und was für eins! Dieses Zeug hatte ihn komplett ausgeknipst. Er hatte bereits auf Wolke Nummer Sieben Platz genommen, als sich die Aufzugtüren wieder öffneten.

Die Kabine hatte er unter lautem Gesang verlassen. Da ihm kein einziges Lied eingefallen war, hatte er Text und Melodie einfach improvisiert. Im Wesentlichen war es in dem Lied um Beton, weiße Streifen und Wassertropfen gegangen, was bei ihm einen Heiterkeitsausbruch verursacht hatte.

Die Aufzugtüren hatten sich hinter ihm geschlossen und nicht wieder geöffnet. Hier unten gab es keine Ruftaste oder irgendwelche anderen Bedienelemente in der Nähe der Aufzugtüren, doch das war ihm in diesem Augenblick völlig egal gewesen. Also hatte er dem Aufzug den Rücken gekehrt und war aufs Geratewohl in die Katakomben geschwankt.

Beim ersten Blick auf die Katakomben hätte er eigentlich seinen Verstand verlieren müssen. Falls er den Keller für die Hölle gehalten hatte, so stellten die Katakomben einen Ort der Verdammnis dar, für den die Liturgien aller Religionen noch keinen Begriff erfunden hatten.

Licht hatte hier unten Seltenheitswert. Zwar gab es auch hier einige Arbeitsleuchten an der Decke, doch deren Anzahl genügte gerade, um einige Schlüsselstellen wie Abzweigungen oder Kreuzungen zu beleuchten. Statt der Betonwände sah er in diesem Zwielicht nur Backsteingemäuer, in dem ganze Brocken fehlten. Der Boden bestand aus Lehm und verwandelte sich an den Stellen, an denen Wasser von der Decke tropfte, in Schlamm.

Auch hier unten gab es Räume, doch die Türen fehlten. Nur die Scharniere steckten noch in den Wänden. In den Räumen hatte er bislang überhaupt nichts gefunden - nicht einmal Trümmer oder Schutt. Es sah aus, als habe jemand bereits alles Verwertbare eingesammelt. Andererseits hatte er sich bei der Suche auch keine große Mühe gegeben. Stattdessen hatte er versucht, seinem Liedchen einige Textzeilen hinzuzufügen. Irgendwann hatte ihn dann die Müdigkeit übermannt und er war in einem der Räume zu Boden gegangen.

So war er nun aufgewacht und beinahe wieder eingeschlafen, doch die Wirkung der Tablette ließ rasch nach und seine Gedanken klarten wieder auf. Zu seiner Freude war der Schmerz in seiner Seite abgeklungen. Stattdessen juckte der Verband heftig. Er legte seine Jacke ab, zog das T-Shirt nach oben und lüftete die Wundauflage ein wenig. Darunter sah er nur einen roten Striemen und ein wenig getrocknetes Blut. Mehr schien von dem Streifschuss nicht übrig zu sein. Er löste den Verband, wischte das Blut damit ab und untersuchte die Stelle. Tatsächlich: Die Schramme war vollständig verheilt. Er nahm an, seine Verletzung sei nicht so schwerwiegend gewesen, wie er es vermutet hatte. Vielleicht hatte er bei all der Aufregung ganz einfach überreagiert. Er fragte sich nur, woher all das Blut an der Wundauflage stammte. Eine Antwort darauf wusste er nicht.

Er ließ den Verband fallen. Dann kämpfte er sich auf die Beine und richtete seine Kleidung. Vielleicht hatte er einfach nur sehr lange geschlafen. In diesem Fall musste er weiter, und zwar jetzt gleich. Er musste einen Ausweg finden. Ob Katakomben oder nicht - er sollte nicht hier sein. Auch hier unten konnten sie ihn erwischen.

Bevor er sich auf den Weg machte, hielt er noch einmal kurz inne. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er dachte über alles Mögliche nach, doch die Vorgänge in der Tiefgarage interessierten ihn offenbar überhaupt nicht.

Er war gerade von Maschinengewehren beschossen worden. Außerdem hatte er einen Mann buchstäblich in den Tod getrieben. Jedes dieser beiden Ereignisse hätte für sich genommen bereits ausgereicht, um einen normalen Menschen für den Rest seines Lebens zu traumatisieren. Eigentlich hätte er als zitterndes Häufchen Elend in irgendeiner Ecke liegen müssen, sabbernd und unfähig, sich zu bewegen oder zu artikulieren. Stattdessen stand er hier und überlegte, in welche Richtung er nun losmarschieren sollte.

Schlimmer noch: In gewisser Weise hatte er den Tanz mit den Maschinengewehren sogar genossen. Es hatte ihm einen Haufen Spaß bereitet, diese Maschinen auszutricksen. Zum ersten Mal, seit er hier drin aufgewacht war, hatte er sich lebendig gefühlt. Richtig lebendig!

Und der Tod des Burschen in Rot bedeutete ihm überhaupt nichts. Der Kerl hatte den Weg zum Ausgang garantiert auch nicht gekannt. Nur irgendein Trottel, der in eine billige Falle getappt war.

Er schüttelte heftig seinen Kopf, um diese Gedanken loszuwerden. Sie passten nicht zu ihm. Er war doch schließlich nur irgendein Kerl von der Straße, der jeden Tag brav zur Arbeit ging und für seine Familie sorgte.

Die Tabletten. Es mussten die Tabletten sein. Diese Teufelsdinger brachten seine Gedanken auf einen Trudelkurs und warfen ihn aus der Bahn. Er schwor sich, nur noch im äußersten Notfall zu diesen Pillen zu greifen. Von diesem Zeug wurde man nicht nur high, sondern offenbar auch noch aggressiv. Außerdem bekam man Halluzinationen. Anders hätte er sich diese Vogelscheuche, die plötzlich in der Tür stand, nämlich nicht erklären können.

Eine Vogelscheuche?

Er blinzelte und schaute noch einmal hin.

Das war keine Halluzination. Dort stand tatsächlich eine Vogelscheuche und starrte ihn an.

Sein Gehirn schaltete auf Vollautomatik. Er reagierte. Seine rechte Hand zuckte hinter seinen Rücken, um die P226 zu ziehen. Doch diesmal behielt er die Oberhand über seine Reflexe. Seine Hand umklammerte bereits das Griffstück der Waffe, doch er zwang sich, die Pistole dort zu lassen, wo sie war. Stattdessen hob er seine linke Hand und zeigte der Vogelscheuche die offene Handfläche. Alles in Ordnung, signalisierte er ihr. Nicht weglaufen.

Die Vogelscheuche riss die Augen auf und trat einen Schritt zurück, doch sie lief nicht weg. Ihre Kinnlade hing herab und gab den Blick auf die Mundhöhle frei. Die Zähne darin hatten sich in Ruinen verwandelt. Er wusste nicht, ob er diese Mimik als Ausdruck des Schreckens, der Überraschung oder der Freude deuten sollte.

Wie er erst beim dritten Hinschauen erkannte, hatte er es mit einer Frau zu tun. Die Wolle auf dem Kopf dieses Wesens gab keinerlei Aufschluss über das Geschlecht, doch die beiden schlaffen Schläuche am Oberkörper, die von den Lumpen mehr schlecht als recht bedeckt wurden, identifizierten diese Kreatur eindeutig als eine Frau.

Und er ekelte sich vor dieser Frau. Er wollte nichts mit ihr zu tun haben. Seine rechte Hand versuchte noch immer, die SIG-Sauer hervorzuziehen, um die Frau von ihrem Leiden zu erlösen, doch er behielt die Nerven. Auch wenn es ihn alle Selbstbeherrschung kostete, er musste mit dieser Frau reden. Er musste es einfach versuchen, auch wenn ihm dabei übel wurde.

»Hallo.« Er versuchte es mit einem freundlichen Ton und grinste. Dabei achtete er darauf, seine Lippen geschlossen zu halten und seine Zähne nicht zu zeigen. Ein Tier hätte dies als einen Akt der Aggression deuten können - und diese Tante schien eher mit einem Tier als mit einem Menschen verwandt zu sein.

Das Lächeln schien zu wirken, denn die Vogelscheuche klappte ihren Unterkiefer wieder nach oben und verzog ihre Lippen zu einer Grimasse, die er ebenfalls als ein Grinsen deutete. Sehr zu seinem Leidwesen verzichtete sie jedoch nicht darauf, ihre Zähne zu zeigen.

Auch wenn ihm übel wurde, er sprach sie an: »Bitte nicht weglaufen. Ich brauche Hilfe. Nicht weglaufen, ja?«

Das schien zu funktionieren. Die Vogelscheuche entspannte sich ein wenig und grinste weiter. Also fuhr er fort: »Es hört sich zwar verrückt an, aber ich habe mich hier drin verlaufen.« Er grinste noch etwas breiter und zuckte mit den Schultern. »Du bist der erste Mensch, dem ich hier begegne. Könntest du mir vielleicht sagen, wo der Ausgang ist?«

Während er sprach, verflüchtigte sich das Grinsen aus dem Gesicht der Vogelscheuche. Nachdem er seine Frage gestellt hatte, überlegte die Vogelscheuche einen Moment lang. Dann schüttelte sie langsam ihren Kopf. Seine Enttäuschung darüber hielt sich in Grenzen, denn er hatte nichts anderes erwartet. Dieses Klappergestell von einem Menschen hielt sich ganz sicher nicht freiwillig hier unten auf. Daraus schloss er, dass auch sie keinen Ausweg aus diesem Gebäude kannte. Doch möglicherweise kannte sie jemanden, der weiterhelfen konnte.

»Du bist doch sicherlich nicht alleine hier unten, oder?«

Die Frau zögerte einen Augenblick. Dann schüttelte sie erneut ihren Kopf.

»Gut. Das ist gut. Also lebt hier unten noch jemand. Vielleicht kann er mir helfen. Kannst du mich zu ihm bringen?« Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte die Vogelscheuche Schwierigkeiten, seinen Ausführungen zu folgen. Deswegen sprach er bewusst langsam und betonte jedes Wort sorgfältig.

Sie überlegte erneut einige Zeit lang. Gerade als er nachfragen wollte, ob sie ihn verstanden hatte, nickte sie schließlich. Dann krächzte sie: »Essen.«

Er fragte sich, ob er richtig gehört hatte. Zur Sicherheit hakte er noch einmal nach: »Essen?«

Die Vogelscheuche nickte heftig. »Ja, essen. Essen. Essen.«

Sie wartete seine Erwiderung nicht ab, sondern drehte sich auf dem Absatz um und verschwand. Er beeilte sich, ihr zu folgen.

»He, warte mal«, rief er der Vogelscheuche hinterher. »Es ist ja nett von dir, mich zum Essen einzuladen, aber ich habe momentan überhaupt keinen Hunger.«

Und wenn er welchen gehabt hätte, dann wäre er ihm beim Anblick dieser Frau vergangen.

Zu seiner Überraschung blieb die Vogelscheuche tatsächlich stehen und wandte sich zu ihm um. Er musste scharf abbremsen, um nicht in sie hinein zu laufen. Die Duftwolke, die ihm dabei in die Nase stieg, ließ ihn rasch wieder einen Schritt zurück treten.

»Pst«, machte die Vogelscheuche und hielt sich dabei einen ausgestreckten Zeigefinger senkrecht vor die Lippen. Dann flüsterte sie: »Essen«, wandte sich um und ging weiter. Er wusste darauf nichts zu erwidern, also folgte er ihr einfach. Dabei schwor er sich, jegliche Lebensmittel abzulehnen, die sie ihm anbot.

Die Vogelscheuche bewegte sich selbst in den dunklen Passagen der Katakomben mit einer überraschenden Behändigkeit. Mehr als einmal hatte er Mühe, mit ihr Schritt zu halten, ohne im Schlamm auszurutschen oder an einer Abzweigung geradewegs gegen eine Wand zu laufen. Er bog hinter der Frau um eine Ecke, dann um noch eine Ecke - und dann blieb er stehen.

Das Licht hatte sich verändert. Es flackerte. Dann roch er Rauch. Irgendwo weiter vorne brannte ein Feuer. Die Vogelscheuche blickte zu ihm zurück und winkte ihn zu sich. Er zögerte. Mit einem Mal wurde ihm eine Tatsache bewusst, die er völlig verdrängt hatte, seit die Vogelscheuche aufgetaucht war: Er wusste nicht, mit wem er es zu tun hatte. Die Vogelscheuche wirkte nicht gerade wie ein Vorzeigeexemplar der Gattung Mensch, doch vielleicht waren ihre Kumpels noch schlimmer. Deswegen hielt er ein wenig Vorsicht für angebracht.

Er folgte der Vogelscheuche langsam und hielt schließlich an. Hinter der Ecke hörte er bereits das Knistern des Feuers - und Stimmen.

»Ach, guck' mal, wer wieder da ist«, rief eine Männerstimme aus. Der Ausruf wurde mit Gelächter und Beifallsbekundungen quittiert.

»Ja, da isse wieder«, sagte eine zweite Männerstimme und meckerte dabei vor Lachen. Bei diesem Meckern dachte er an ein Tier, doch er erinnerte sich nicht mehr an den Namen dieses Tieres. Er wusste nur noch, dass es Hörner hatte.

»Da isse wieder. Hat ja auch kein Sinn gehabt, gell? Hat kein Sinn gehabt, einfach fortzulaufen.«

»Ich hab' einen«, kreischte die Vogelscheuche.

Die Stimmen verstummten. Alle schienen gleichzeitig Atem zu holen. Dann hörte er eine dritte Männerstimme.

»Du hättest ja sowieso nicht weglaufen können.« Die ruhige Überlegenheit, die in diesem nasalen Tonfall mitschwang, ließ ihn automatisch an einen Menschen denken, der seit geraumer Zeit Drogen konsumierte und deswegen glaubte, über den Dingen zu schweben.

»Nee«, quengelte die Vogelscheuche. »Ich hab' einen. Da drüben isser. Ich muss nicht selbst. Da drüben hab' ich einen.«

Das genügte ihm. Er wollte diese Geschichte hier einfach nur hinter sich bringen und dann schnellstens aus den Katakomben verschwinden. Die Vogelscheuche wollte ihm zum Essen einladen? Also gut, dann würde er sich eben zum Essen einladen lassen und dabei die Freunde der Vogelscheuche ausfragen. Was hatte er schon zu verlieren?

Dennoch kontrollierte er den Ladestand seiner SIG-Sauer, bevor er hinter der Ecke hervor trat. Als er dann die Szenerie sah, die sich ihm bot, wusste er nicht, ob er lachen oder sich übergeben sollte.

In der Mitte des Raumes brannte ein Feuer. Der Rauch zog durch ein Loch in der Decke ab. Auf der ihm abgewandten Seite des Feuers kauerten drei Neandertaler. Anhand ihrer Bärte konnte er sie sofort als Männer identifizieren. Damit endete jedoch ihre Ähnlichkeit mit zivilisierten Wesen. Die Kleidung dieser Gestalten bestand aus Lumpen und Fetzen - ebenso wie die Kleidung der Vogelscheuche. Aus diesen Fetzen ragten Gliedmaßen, vollkommen verdreckt und abgemagert bis auf die Knochen.

Die Vogelscheuche stand auf der ihm zugewandten Seite des Feuers, als müsse sie sich vor einem Standgericht verantworten. Als sie über die Schulter schaute und ihn erblickte, deutete sie sofort auf ihn.

»Da isser. Guckt, ich hab's gesagt. Ich hab' einen.«

Er trat einen Schritt nach vorne. Beinahe gleichzeitig erhoben sich die drei Gestalten hinter dem Feuer. Er wollte die Männer ansprechen, doch von links wehte ein Gestank heran, der seine Konzentration zunichte machte. Als er sich nach der Quelle dieses Gestanks umsah, entdeckte er einen Haufen glitschigen Zeugs in einer dunklen Nische. Das Flackern des Feuers reichte nicht aus, um Einzelheiten zu enthüllen, also ging er einen Schritt auf diesen Haufen zu. Im Grunde wollte er nicht wissen, was einen derartigen Gestank vertrömte, doch in seinen Gedanken blökte eine Alarmsirene los. Bevor er mit diesem Männern sprach, musste er wissen, womit er es hier zu tun hatte.

Er kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Dieses glitschige Zeug war nicht schwarz, wie er anfangs angenommen hatte, sondern rot. Soweit er erkennen konnte, handelte es sich nicht um Schlamm, sondern um eine Art Schläuche. Stränge aus einem roten Material. Und ganz oben auf diesem Haufen …

Er prallte zurück. Seine rechte Hand fuhr hinter seinen Rücken und packte das Griffstück der P226.

Oben auf diesem Haufen lag ein menschlicher Schädel und starrte ihn aus leeren Augenhöhlen an.

 

Orakel

Weiter. Und immer weiter.

Sie ärgerte sich. Der Alte Arsch hatte sich beim Heraussuchen der Karten eine Menge Zeit gelassen. Das tat er immer, wenn man in Eile war.

Außerdem hatte er sie angestiert und sich über die Lippen geleckt. Das fand sie total ekelhaft, denn seine Lippen sahen aus, als gehörten sie einer Mumie. Und als sei das noch nicht genug, hatte er sie auch noch als »Kleines« und »Schätzchen« tituliert.

Doch über all diese Punkte ärgerte sie sich nicht. Zumindest nicht ausschließlich. Das war eben der Alte Arsch. Dieser Name machte durchaus Sinn. Außer Sticheleien und Gemeinheiten konnte man von diesem vertrockneten Furz nicht viel erwarten.

Tatsächlich ärgerte sie sich viel mehr über sich selbst. Schließlich hatte sie dem Alten Arsch eine Steilvorlage geliefert, um sie zu drangsalieren.

Sie hätte dem Alten Arsch einfach nur sagen müssen, der Chef habe sie zum Loch geschickt, um dort nach neuen Seilen zu suchen. Seile konnte man in der Siedlung immer gebrauchen. Das wäre eine gute Ausrede gewesen. Dann hätte sie so tun müssen, als habe sie überhaupt keine Lust, diesen Auftrag auszuführen. Der Alte Arsch hätte sich beeilt, die Karten herauszusuchen - nur, um ihr keine Möglichkeit zu geben, noch etwas zu bummeln und die unangenehme Aufgabe ein wenig aufzuschieben.

Stattdessen hatte sie nicht still stehen können. Ihre Stimme hatte gezittert, als sie nach den Karten fragte. Als der Alte Arsch dann fragte, ob sie es eilig habe, hatte sie sich auch noch zu einem »Ja« hinreißen lassen - für den Alten Arsch Anlass genug, sofort die Handbremse anzuziehen und nur noch mit halber Kraft voraus zu dümpeln.

Wie gerne hätte sie ihn angeschrien, er solle sich gefälligst beeilen. Doch damit hätte sie lediglich einen kompletten Stillstand provoziert. Der Alte Arsch hätte ihr eine Predigt gehalten, wie wichtig er doch sei und dass sich eine junge Rotzgöre wie sie gefälligst nach ihm zu richten habe und nicht umgekehrt. Sie hatte diese Predigt bereits zweimal gehört und keine Lust auf einen dritten Durchgang verspürt. Deswegen hatte sie nichts gesagt, sondern einfach nur abgewartet und dabei versucht, das Zittern in den Griff zu bekommen.

Als der Alte Arsch dann endlich den Stapel Karten über die Theke geschoben hatte, war sie aus dem Kartenarchiv geflüchtet, als seien die Knochenkauer hinter ihr her. Danach war sie durch die Korridore geeilt, bis sie schließlich die Randzone der Siedlung erreicht hatte.

Bis hierher kannte sie sich aus. Sie kannte jede Ecke und jeden Winkel. Doch schon bald würde sich das ändern. Dann würde sie auf die Karten zurückgreifen müssen, wobei sie noch mehr Zeit verlieren würde. Darüber ärgerte sie sich zwar, doch sie musste ihr Tempo ohnehin ein wenig drosseln, um nicht irgendeinem Streuner in die Arme zu laufen.

Eigentlich sollte sich außerhalb der Siedlung niemand mehr aufhalten, bis auf die Kommandos, die der Chef selbst losschickte. Es kursierten aber immer wieder Gerüchte über Streuner, die sich in den Korridoren nahe der Siedlung herumtrieben und den Beschaffern auflauerten. Sie verspürte keine Lust, um eine Ecke zu biegen und plötzlich in eine solche Figur hinein zu laufen. Besser, sie nahm ihr Tempo ein wenig zurück. Falls sie tatsächlich irgendwann einen Streuner vor sich hatte, dann blieb ihr hoffentlich genug Zeit, um das Schießeisen zu ziehen und ihrem Angreifer ein Loch in den Bauch zu ballern - falls sie sich dann noch daran erinnerte, wie man die Kanone bediente.

Als sie dann um eine Ecke bog und tatsächlich in jemanden hinein lief, hatte sie vor lauter Überraschung überhaupt keine Gelegenheit, auch nur an die Baby-Glock zu denken.

Doch es war nur das Orakel.

Das bescheuerte Orakel, das sich immer am Rand der Siedlung herumtrieb und jedem, dem es begegnete, einen gehörigen Schrecken einjagte. Sie hätte daran denken müssen! Doch sie hätte dem Burschen ohnehin nicht aus dem Weg gehen können. Man wusste nie, wo das Orakel auftauchen würde.

Und nun war sie diesem Schwätzer genau in die Arme gelaufen. Er hatte sich vor ihr aufgebaut und blockierte den Weg, indem er breitbeinig und mit ausgestreckten Armen mitten im Korridor stand - wie ein gewaltiges X.

Sie versuchte, unter seiner linken Achselhöhle hinweg zu tauchen, doch er wischte mit seinem Arm nach unten und zwang sie zum Anhalten. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie das Orakel überrennen sollte. Mit seiner Körpergröße passte dieser Kerl zwar kaum durch eine Tür, doch er wog nicht mehr als ein Sack Federn. Sie hätte das Orakel einfach aus dem Weg schieben können.

Doch sie entschied sich dagegen, denn sie wollte den Burschen nicht berühren, so lange es nicht unbedingt nötig war. Im Gegensatz zu allen anderen Siedlern roch das Orakel merkwürdig. Außerdem wuchsen seine Haare und sein Bart wie verrückt. Das hatte sie bislang bei keinem anderen Bewohner der Siedlung beobachten können. Sie hatte den Chef einmal gefragt, weswegen das Orakel so unordentlich aussehe. Der Chef hatte ihr daraufhin erklärt, es habe wohl etwas mit den Chemikalien zu tun, die man immer in die Arme gespritzt bekam. Irgendetwas sei dabei schiefgegangen. Deswegen würde das Orakel auch so merkwürdige Dinge erzählen. Der Chef meinte, das Orakel habe »voll den Durchblick« und wisse Dinge, die der Siedlung nutzen konnten. Deswegen unterhielt sich der Chef auch gerne mit dem Orakel. Das war der zweite Grund, weswegen sie das Orakel nicht einfach beiseiteschob: Sie wollte den Chef nicht gegen sich aufbringen.

»Du bist aber schon lange nicht mehr hier gewesen«, sagte das Orakel. Sie wäre beim Klang dieser Stimme nur zu gerne davongelaufen. Das Orakel sprach nicht, das Orakel zischte. Außerdem redete es immer abgehackt und atmete nach beinahe jedem zweiten Wort scharf durch die Nase ein, so als bekomme es nie genug Luft in seine Lungen. Und um all dem die Krone aufzusetzen, lispelte es auch noch!

»Ich muss weg. Darf ich mal?« Sie versuchte, sich gar nicht erst auf ein Gespräch einzulassen und sich stattdessen rechts am Orakel vorbei zu quetschen, doch das Orakel verlagerte sein Gewicht und blockierte auch diesen Weg.

»Wo willst du denn hin?«, zischte es. »Es ist doch schon längst alles bekannt und gefunden und katalogisiert und kartographiert.«

Für sie klang es wie: »Ef ift doch fon längft allef bekampt.«

Sie wich zunächst wieder auf die linke Seite aus, um dann gleich darauf erneut zur rechten Seite zu wechseln, doch das Orakel ließ sich nicht austricksen.

»Oh Mann, ich habe wirklich keine Zeit, hier lange mit dir zu plaudern«, sagte sie. Dabei ärgerte sie sich über das Zittern, das sich wieder in ihre Stimme einschlich. Der Drang, endlich ihre Aufgabe zu erfüllen, machte ihr heftig zu schaffen. Sie kam einfach nicht voran. »Ich habe einen Auftrag und muss weg, klar? Jetzt lass mich vorbei.«

Das Orakel beugte sich vor, grinste und zeigte dabei Zähne, die dringend einer Reinigung bedurft hätten. Sie kannte außer dem Orakel niemanden, der mit solchen Zähnen im Mund umher lief. Außer vielleicht die Knochenkauer - aber das waren natürlich nur Gerüchte.

»Du hast einen Auftrag, soso. Und von wem hast du diesen Auftrag, hm? Ich möchte wetten, er ist mit einer Nadel in deinen Arm gepiekst worden, nicht wahr?«

Der Atem des Mannes ließ sie einen Schritt zurückweichen. Dieser Atem roch, wie die Zähne aussahen.

»Das geht dich gar nichts an«, sagte sie. »Außerdem ist es ohnehin egal. Interessiert doch keinen. Ich habe einen Auftrag und ich muss jetzt los. Also geh mir bitte aus dem Weg. Oder muss ich erst mit dem Chef reden?«

Das Orakel trat einen Schritt zurück und hob seine Arme abwehrend. Dabei kicherte es. »Der Chef. Ach herrjeh, der Chef. Der allmächtige, allwissende Chef.« Mit einem Satz war das Orakel wieder dicht bei ihr und beugte sich beinahe schon vertraulich vor. »Seien wir doch mal ehrlich: Willst du wirklich den ganzen Weg zurück laufen, nur um dem Chef zu sagen, das böse Orakel wolle dich nicht durchlassen? Würdest du das tatsächlich schaffen? Du siehst doch jetzt schon nicht besonders gut aus. Kannst es gar nicht erwarten, endlich weiter zu kommen. Und was würdest du gewinnen, wenn du mich beim Chef verpetzt? Gar nichts! Du würdest mit dem Chef hier anrücken. Dann würde ich einige nette Worte mit dem Chef wechseln. Dafür hättest du dann die ganze Zeit verschwendet. Es würde dich weitaus weniger Zeit kosten, ein wenig mit mir zu plaudern.«

Sie trat noch einen Schritt zurück. Das Orakel hatte Recht: Sie würde es nicht schaffen, jetzt umzudrehen und zur Kantine zu laufen, nur um den Chef rebellisch zu machen. Eher würde sie sich in die Hose machen oder in den Korridor kotzen. Es war besser, einfach abzuwarten, bis das Orakel gesagt hatte, was es zu sagen hatte - auch wenn sie es nicht hören wollte.

Die Dinge, die das Orakel sagte, lösten manchmal komische Gedanken bei ihr aus. Das waren Gedanken, die sie eigentlich überhaupt nicht denken wollte. Und dann stellte sie sich selbst Fragen, deren Antworten sie nicht kannte und die sie im Grunde überhaupt nicht wissen wollte. Am Ende war sie dann völlig verstört. So erging es jedem, der mit dem Orakel zu tun hatte. Deswegen hatten alle dafür plädiert, das Orakel ganz am Rand der Siedlung unterzubringen.

Das Orakel richtete sich wieder auf. »Da hat dir also jemand in den Arm gestochen und plötzlich glaubst du, irgendetwas tun zu müssen.«

Sie atmete innerlich auf. Es würde nicht allzu schlimm werden. Diese Rede kannte sie bereits. Sie hatte einmal gelauscht, als das Orakel mit dieser Frage einen Beschaffer in die Mangel genommen hatte. Der arme Kerl war anschließend völlig fertig gewesen. Doch bei ihr würde das Orakel auf Granit beißen, denn sie wusste, was nun auf sie zukam. Während das Orakel redete, legte sie sich bereits ihre weitere Strategie zurecht.

»Man kann einem Menschen ziemlich viel psychoaktives Zeug in die Blutbahn pumpen«, dozierte das Orakel, »doch nichts davon würde in der Weise wirken, wie du es gerade erlebst. Man könnte einen Menschen auch nicht ohne weiteres innerhalb weniger Stunden für eine bestimmte Aufgabe konditionieren. Wenn überhaupt, dann müsste man dabei sehr vorsichtig und sehr subtil vorgehen. Man müsste eventuell Hypnose einsetzen. So etwas kann Wochen und Monate dauern. Doch du bist einfach nur eingeschlafen und einige Stunden später mit der fixen Idee aufgewacht, du müsstest irgendetwas tun.«

Nachdem sie diese Rede damals belauscht hatte, hatte sie lange über das Gesagte nachgedacht. Dabei war sie zu keinem Schluss gekommen. Stattdessen hatten ihre Gedankengänge nur zu Verwirrung geführt. Also hatte sie beschlossen, diese Gedanken nicht weiter zu verfolgen - und das funktionierte recht gut.

Sie winkte ab und schüttelte ihren Kopf. »Vergiss es, Orakel. Du brauchst mir gar nicht mit dieser Tour zu kommen. Der Chef sagt zwar immer, ich sei noch ziemlich jung, aber ich habe schon voll die Ahnung, was hier abläuft. Mit deinem Geschwafel kannst du mich nicht erschrecken. Als Nächstes fragst du mich wahrscheinlich, ob ich mir schon mal Gedanken gemacht habe, woher der Einstich an meinem Arm kommt, weil sich ja eigentlich niemand an mich heranschleichen hätte können. Ich habe nämlich in einem abgeschlossenen Raum gepennt.«

Das Orakel stutzte und zog seine Augenbrauen in die Höhe. Damit hatte es offenbar nicht gerechnet. Bevor es seine Fassung wiederfinden konnte, legte sie rasch nach: »Wenn du dann wieder damit anfangen willst, solche Vorgänge seien ja überhaupt nicht möglich und das alles hier sei nicht real und ich solle mir doch einmal Gedanken darüber machen, was Realität eigentlich sei, dann sage ich dir nur Eins: Du kannst mich mal ganz real am Arsch lecken. Ich habe mir schon längst meine Gedanken über das alles hier gemacht. Und soll ich dir noch was sagen? Es interessiert mich einen Scheiß! Realität ist nämlich, dass ich jetzt keine Zeit mehr habe, mir noch mehr von deinen Blödheiten anzuhören. Die kannst du meinetwegen dem nächsten Beschaffer aufquatschen, der hier vorbei kommt. Mir ist das nämlich total schnuppe, klar?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752116946
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Action Labyrinth Mystery Psychothriller Dystopie Utopie Science Fiction Horror

Autor

  • Niels Peter Henning (Autor:in)

Niels Peter Henning erblickte 1967 das Licht des Kreißsaals. Er wuchs in Bad Camberg auf und lebte dort bis zum Jahr 2011. Dann zogen ihn seine Lebensgefährtin sowie eine neue Arbeitsstelle nach Gießen, wo er bis heute die Verwaltung der dortigen Universität in Unordnung und Aufruhr versetzt - wenn er nicht gerade böse Romane verfasst.
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Titel: Kellerwelt