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Der Sohn des Drachen

von Maya Shepherd (Autor:in)
188 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 14

Zusammenfassung

Zweihundert Jahre harrte Dorian aus, bis der süße Geschmack von Blut ihn in die Wirklichkeit zurückholte. Seine Venen waren erfüllt von dem Verlangen nach Rache. Die Zeit der Abrechnung war gekommen. Er sah das Gesicht des Mannes, der ihn bis in seine Albträume verfolgte und den er am meisten auf der Welt hasste. Das Monster, dem er sein Leben verdankte - sein Vater. »Schlaf gut, mein Sohn«, raunte der Drache ihm zu, als er die spitze Klinge in sein Herz bohrte. »Wenn du erwachst, wird nichts mehr sein, wie es war.«

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

1812

Philipp, Ember, Eva, Lavena, Arian, Simonja, Maggy und ihr Frosch Hänsel werden von den Anhängern der bösen Königin durch den Finsterwald gejagt, nachdem sie Margery zur Flucht aus dem Schloss verholfen haben.

Die Gruppe sucht Schutz in einer Höhle, die Maggy durch ein magisches Spinnennetz verschließt, sodass ihre Verfolger erst einmal nicht zu ihnen durchdringen können.

Maggy hat in dem Hexenbuch von Baba Zima über den Zauber des geteilten Herzens gelesen und schlägt den anderen vor, diesen durchzuführen, um Margery das Leben zu retten. Dafür wird das Herz der Prinzessin geteilt – während sie die eine Hälfte behält, wird die andere unter den Anwesenden aufgeteilt. Aus Verzweiflung stimmen alle zu, einen Splitter in sich aufzunehmen, wobei Hänsel jedoch ausgeschlossen wird, da der Zauber sich bei einem Tier nicht umsetzen lässt.

Das Wirken mächtiger Magie löst ein Erdbeben aus, das die Gruppe zwingt, die Höhle zu verlassen, sobald der Zauber vollendet ist. Vor dem Ausgang werden sie bereits von seelenlosen Jägern, Vampiren und Wölfen erwartet, die alle ihren Tod wollen. Sie beschließen, sich aufzuteilen, um es ihren Gegnern schwerer zu machen, sie zu erwischen.

Während Lavena und Arian von seinem Wolfsrudel getötet werden, opfert sich Ember mit ihrer Phönixmagie, um Philipp vor einer Horde Vampire zu beschützen.

Simonja erkennt, dass ihre Entscheidung, sich gegen das Schicksal zu stellen, tödliche Folgen hat, als sie unzählige Nüsse findet, die der Baum des Lebens abgeworfen hat. Ein ihr unbekanntes Mädchen kommt auf sie zu und gibt sich als Rosalie, die tot geglaubte Zwillingsschwester von Margery, zu erkennen. Sie erzählt ihr, dass es schon bald zu einem Krieg der Farben kommen werde, wobei sie selbst für das Böse (Schwarz) und Margery für das Gute (Weiß) stehen werde. Simonja sei die entscheidende rote Kraft dazwischen, von der am Ende alles abhängen werde.

Maggy hat es derweil beinahe geschafft, die Dornenhecke zu erreichen, um zusammen mit der schlafenden Prinzessin aus Engelland zu fliehen. Kurz vor dem Erreichen ihres Ziels stellt sich ihr jedoch Will entgegen, der durch die Spiegelscherben in seinen Augen unter der Kontrolle der bösen Königin steht und sich nicht an seine Vergangenheit erinnern kann.

Durch ein Liebesgeständnis und einen Kuss gelingt es Maggy, zu Will durchzudringen. Doch als dieser wieder ganz er selbst ist, hat die Königin sie bereits mit Vlad Dracul und ihren Anhängern eingeholt. Sie haben Jacob bei sich, um ihn als Druckmittel zu benutzen.

Als Maggy und Will sich dennoch zur Flucht entscheiden, verweigert die Dornenhecke Maggy den Durchgang, da sie kein reines Herz in sich trägt. Sie stellt sich daraufhin mithilfe ihrer Magie der Königin entgegen und bittet Will, ohne sie zu gehen, um die Prinzessin vor ihrer Mutter zu retten. Die Königin hat jedoch weiterhin Macht über ihn, da sie immer noch sein Medaillon besitzt. Der verzauberte Hänsel kann ihr dieses in einem geschickten Moment entwenden, sodass Will die Flucht gelingt.

Als die Königin den Verlust des Schmuckstücks bemerkt, schleudert sie den Frosch mit einem Windstoß gegen die Dornenwand. Hänsel verwandelt sich nach dem Aufprall in einen Menschen zurück, aber stirbt, nachdem er Maggy das Medaillon übergeben hat.

Bevor die Königin auch noch Maggy töten kann, kehrt Will zurück, um sie zu retten. Dabei kommt heraus, dass er ein Herz in seiner Brust trägt, das aus zwei Hälften erschaffen wurde – eine von Jacob und eine von Mary. Dadurch sind die drei so eng miteinander verbunden, dass der Tod des einen auch den Tod für die anderen beiden bedeuten würde.

Außerdem bemerkt die Königin, dass in Maggys Brust ein Splitter des Herzens ihrer Tochter schlägt, und erfährt, dass Schneewittchen ihr Herz unter sieben Personen aufgeteilt hat. Bevor sie Maggy jedoch dazu bringen kann, ihr die Namen der anderen Sieben zu verraten, ersticht Vlad Dracul Will und tötet dadurch auch Jacob und die Königin. Der Fürst der Finsternis gibt zu, dass er die Königin nur benutzt hat, damit diese Margery tötet. Er hatte von jeher vor, sich eines Tages auch der Königin zu entledigen, und hat nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet.

Jacob glaubt, in dem Mohnblumenfeld vor der Dornenhecke zu sterben, doch kurze Zeit später erwacht er in Schloss Drachenburg und steht dem Teufel gegenüber, der ihn in den schwarzen Spiegel blicken lässt, in dem Mary gefangen ist, während ihre leibliche Mutter Elisabeth die Kontrolle über ihren Körper übernommen hat.

Nachdem Jacob die ganze Wahrheit kennt, bietet der Teufel ihm im Tausch für dessen Verstand an, allen Menschen, die in dieser Nacht den Tod fanden, ein neues Leben in einem anderen Jahrhundert zu schenken. Er gewährt dadurch der Geschichte eine Chance auf einen anderen Ausgang.

Jacob stimmt dem Handel zu und beginnt im Auftrag des Teufels, die Märchen zu schreiben, die später als die der Brüder Grimm bekannt werden, um die Wahrheit zu vertuschen.

Auch Eva befindet sich in der Gewalt des Teufels und ist gezwungen, einen zweihundert Jahre andauernden Traum zu spinnen, der alle Bürger Engellands in einen tiefen Schlaf versetzt.

2012

Ember und Philipp steigen nach dem Konzert in eine Limousine, die sie eigentlich nach Königswinter bringen soll, um dort die Suche nach Joe und Julia fortzusetzen. Während der Fahrt stellt sich jedoch raus, dass Rumpelstein sich hinter dem Steuer befindet und die beiden an die Königin ausliefern will. Sie fahren zur Schlosskommende, wo Rumpelstein den Wagen verlässt, ohne die Türen abzuschließen.

Philipp erinnert sich daran, dass seine Sicherheitsleute für einen Fall wie diesen eine Waffe im Wageninneren versteckt haben. Diese nimmt er an sich und wagt gemeinsam mit Ember, auszusteigen, die mit ihrer Phönixmagie ein Stück Stoff entzündet und diesen in den Tank steckt.

Sobald die seelenlosen Jäger, die das Anwesen bewachen, sie entdecken und die Verfolgung aufnehmen wollen, explodiert das Fahrzeug. Dadurch gelingt es Ember und Philipp, in den angrenzenden Wald zu fliehen.

Nun sind aber auch noch die Wölfe, welche an die Königin gebunden sind, hinter ihnen her. Sie stürzen sich in einen Fluss, um ihre Spuren zu verwischen. Nur mit Mühe schaffen sie es zurück ans Ufer und kämpfen sich weiter durch den Wald. Dort werden sie von einem Wolf angegriffen. Als dieser jedoch Philipp in die Augen blickt, verwandelt er sich in einen Menschen. Es ist Arian, der im Jahr 2012 bisher nichts von seiner menschlichen Seite wusste und sich nun durch den Splitter von Margery in seinem Herzen wieder an seine Vergangenheit in Engelland erinnert.

Er ist völlig verzweifelt, weil er glaubt, das Mondmädchen getötet zu haben. Ember und Philipp gelingt es, ihm Hoffnung darauf zu schenken, dass Lavena in dieser Welt noch leben könnte. Sie verabreden sich für den nächsten Abend im Lebkuchenhaus, bevor Arian als Wolf in die Schlosskommende zurückkehrt, um mehr über die Pläne der Königin herauszufinden.

Ein paar Stunden später erwacht Joe allein in Julias Hotelzimmer und bemerkt, dass sich die ›Grimm-Chroniken‹ nicht mehr in seiner Tasche befinden. Erschrocken stürzt er zum Fenster und sieht Julia, wie sie mit dem Buch davonläuft. Er nimmt sofort die Verfolgung auf und jagt ihr durch Königswinter hinterher, bis ihm plötzlich ein Auto den Weg abschneidet. Diesem entsteigt Rumpelstein, den Julia zu kennen scheint. Ehe Joe sich versieht, schlägt sie ihn mit dem Buch nieder.

Er kommt in einem ihm unbekannten, aber sehr vornehm eingerichteten Raum wieder zu sich. Die Tür ist verschlossen und vor den Fenstern befinden sich Gitter, sodass ihm eine Flucht nicht möglich ist. Kurze Zeit später betritt Julia das Zimmer und offenbart ihm ihre wahre Identität: Sie ist Rosalie, die Schwester von Margery. Im Auftrag der bösen Königin hat sie Kontakt zu Joe aufgenommen, um durch ihn an die ›Grimm-Chroniken‹ zu kommen und herauszufinden, wer die Vergessenen Sieben sind.


Vorwort

Liebe Leser,

›Der Sohn des Drachen‹ ist nicht nur der vierzehnte Band der Buchserie ›Die Grimm-Chroniken‹, sondern auch der erste Band der zweiten Staffel. Das bringt ein paar Besonderheiten mit sich, auf die ich euch gern hinweisen würde.

Der einunddreißigste Oktober 2012 ist nicht nur der Geburtstag der Zwillingsschwestern Margery und Rosalie, sondern auch der von Simonja. Weiß, Schwarz und Rot. Erinnert ihr euch?

Sämtliche Handlungen laufen auf diesen einen Tag hinaus, denn er entscheidet über das Schicksal der Welt und läutet den Krieg der Farben ein.

Unseren Protagonisten bleiben keine Monate oder Wochen, um sich auf den letzten Kampf vorzubereiten, sondern genau sieben Tage. Das sind 10.080 Minuten, und jede davon könnte bedeutend sein. Deshalb verweise ich euch nun in den Überschriften auch immer auf die Uhrzeit hin, zu der die aktuelle Handlung beginnt. Auf diese Weise könnt ihr leichter verfolgen, wie viel Zeit bereits verstrichen ist.

Ihr kennt das sicher: Wenn man einem besonderen Ereignis entgegenfiebert, können sieben Tage sehr lang sein. Sieben Tage Urlaub sind hingegen immer ganz schnell vorbei. Zeit ist relativ, das erkannte bereits Albert Einstein.

Ob sieben Tage reichen, um einer Geschichte zu einem neuen, einem besseren, Ende zu verhelfen, erfahrt ihr in der zweiten Staffel der ›Grimm-Chroniken‹.

Ich wünsche euch viel Freude damit.

Liebe Grüße,

Maya Shepherd

Mittwoch,

24. Oktober 2012

Noch 7 Tage

Ein neuer Tag

Mittwoch, 24. Oktober 2012,

9 Uhr

Königswinter, Hotel Loreley, Empfangshalle

Mit verbrannter Kleidung, von der nicht mehr als ein paar Fetzen übrig geblieben waren, betrat Ember den roten Teppich, der sie in die Empfangshalle des noblen Hotels Loreley geleitete. Es war gerade Frühstückszeit, sodass sich jede Menge Menschen in dem herrschaftlichen Raum mit der hohen, stuckverzierten Decke aufhielten, die sie allesamt anstarrten.

Philipp neben ihr machte kaum einen besseren Eindruck, wie er mit nacktem Oberkörper auf die Rezeption zusteuerte, doch anders als sie schien er die Blicke der Gäste gar nicht zu bemerken. Er stellte sich an den Tresen, als wäre es das Normalste der Welt, Ende Oktober beinahe unbekleidet an der Rheinpromenade entlangzuflanieren, und schenkte der Empfangsdame ein freundliches Lächeln.

»Guten Morgen«, begrüßte er sie höflich. »Ich hoffe, Sie können mir weiterhelfen.«

Oh ja, Sie sehen in der Tat aus, als ob Sie Hilfe bräuchten, schien ihr Blick zu sagen, als sie mit großen Augen zwischen Ember und ihm hin und her schaute, viel zu perplex von ihrem Auftritt, um irgendetwas zu sagen.

Philipp fuhr mit einer Gelassenheit fort, als wollte er lediglich nach dem Weg fragen. »Wir sind auf der Suche nach einer Freundin. Ihr Name ist Julia. Sie hat die letzten Nächte hier geschlafen. Wissen Sie zufällig, ob sie hier ist?«

Die Angestellte starrte ihn immer noch an, als würde er eine Sprache sprechen, die sie nicht verstand.

Ember räusperte sich verlegen. »Julia hat lange blonde Haare und ist in unserem Alter. Eventuell ist sie in Begleitung eines blonden, relativ muskulösen Jungen.«

Die Augen der Frau richteten sich automatisch auf den nackten Oberkörper des einstigen Prinzen. Er war zwar nicht so gut trainiert wie Joe, aber dennoch sehr ansehnlich. Ember hatte es im Verlauf des Morgens sogar geschafft, ihn anzusehen, ohne dabei rot zu werden.

Die Dame schüttelte den Kopf, als müsste sie sich von seinem Anblick losreißen, um ihre Gedanken ordnen zu können. »Entschuldigen Sie bitte die Frage, aber geht es Ihnen gut?«

Philipp lachte, als hätte sie einen Witz gemacht, und deutete an sich hinab. »Lassen Sie sich bitte nicht von unserem Auftritt beirren. Wir hatten einen kleinen Unfall, aber uns fehlt nichts.«

Wenn man ihm zuhörte, könnte man meinen, dass die beiden lediglich ein unfreiwilliges Bad im Rhein genommen hätten. Tatsächlich waren sie entführt worden und hatten eine Limousine in die Luft gejagt, nur um dann vor mehreren mit Armbrüsten bewaffneten Jägern und abgerichteten Wölfen in den Wald zu fliehen und beinahe im Fluss zu ertrinken. Nur ein kleiner Unfall.

»Soll ich jemanden für Sie anrufen?«, wollte die Empfangsdame skeptisch wissen, wobei sie die beiden musterte, als wären sie auf den Kopf gefallen und nicht bei klarem Verstand.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Philipp charmant. »Sie würden uns allerdings am meisten helfen, wenn Sie uns sagen könnten, ob das blonde Mädchen, Julia, hier ist. Das ist für uns wirklich sehr wichtig zu wissen.«

»War sie etwa auch bei dem Unfall dabei?«, hakte die Frau bestürzt nach.

»Aber nein«, antwortete Philipp beschwichtigend und machte eine wegwischende Handbewegung. Er griff in die Tasche seiner Lederjacke, die Ember trug, um sich zumindest etwas bedecken zu können, und zog sein Handy hervor. Es war noch feucht vom Rheinwasser. »Ich würde Julia anrufen«, behauptete er, »aber leider kenne ich ihre Handynummer nicht auswendig.«

Die Angestellte atmete tief durch. Sicher hatte sie noch nie zuvor etwas Vergleichbares erlebt. Sie versuchte, professionell zu reagieren, was ihr angesichts der Umstände sichtlich schwerfiel. »Ich darf Ihnen leider keine Auskunft über andere Gäste erteilen.«

Philipp beugte sich noch etwas näher zu ihr über den Tresen und wickelte sie mit seinem gewinnenden Lächeln ein. »Natürlich«, zeigte er sich verständnisvoll. »Aber Sie könnten Julia auf ihrem Zimmer anrufen und ihr Bescheid sagen, dass wir hier sind. Würden Sie das bitte für mich tun?«

Obwohl beide ihr mehr als seltsam vorkommen mussten, erwiderte die Frau nun das Lächeln des Prinzen und nickte entgegenkommend. »Das kann ich gern machen«, bestätigte sie ihm und tippte etwas in ihren PC. Offenbar erinnerte sie sich an Julia, denn sicher gab es nicht viele Mädchen, die ohne die Begleitung eines Erwachsenen verreisten. Wahrscheinlich suchte sie nun nach ihrer Zimmernummer. Irgendetwas ließ sie jedoch innehalten, bevor sie ihr Gesicht wieder Philipp zuwandte. »Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Ihre Freundin hat heute Morgen ausgecheckt«, sagte sie bedauernd.

Philipp und Ember tauschten einen betretenen Blick, ehe Ember sich wieder an die Rezeptionistin wandte. »Hatten Sie zu der Zeit schon Dienst? Wissen Sie zufällig, ob sie in Begleitung eines Jungen das Hotel verlassen hat?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Sie hat um Viertel nach sechs ausgecheckt, da war noch die Nachtschicht hier.« Erneut musterte sie die beiden besorgt. »Sind Sie sicher, dass ich niemanden für Sie anrufen soll oder Ihnen irgendwie helfen kann?«

»Vielen Dank für Ihre Fürsorge«, ergriff Philipp galant das Wort. »Sie könnten uns wirklich helfen. Wäre es möglich, dass wir das Zimmer buchen, das unsere Freundin zuvor bewohnt hat?«

»Es wurde noch nicht gereinigt«, widersprach sie ihm entgeistert.

»Das stört uns nicht«, versicherte Philipp ihr. »Bitte! Sie würden uns damit einen großen Gefallen erweisen.«

Unsicher verzog sie das Gesicht. »Das kann ich nicht machen. Aber ich kann Ihnen gern ein anderes Zimmer anbieten.«

»In Ordnung«, meinte Ember und kam damit Philipp zuvor, der die Empfangsdame erneut bezirzen wollte, um sie umzustimmen. Sie erregten schon genug Aufsehen. Vermutlich würde die Frau ohnehin die Polizei rufen, sobald sie außer Sichtweite waren.

»Haben Sie Ihre Personalausweise dabei?«, wollte die Rezeptionistin nun wissen, wobei sie unbewusst den Blick skeptisch an den beiden auf und ab wandern ließ.

Zu ihrer Überraschung griff Philipp jedoch in die Lederjacke und zog ein nasses Portemonnaie hervor. Darin befanden sich sein Personalausweis sowie eine Kreditkarte. Beides schob er ihr über den Tresen zu.

Embers Ausweis war samt ihrer Jacke verschmolzen, nachdem sie in Flammen aufgegangen war. Da sie das schlecht sagen konnte, meinte sie nur: »Ich habe meinen zu Hause.«

Die Angestellte ließ sich nicht anmerken, ob sie ihr das glaubte, sondern begnügte sich vorerst mit Philipps Pass. Als sie seinen Namen las, stockte sie und schaute verblüfft von seinem Foto in sein Gesicht. »Sind Sie nicht Phil Harmonic, der DJ?«, fragte sie ihn mit gesenkter Stimme.

Philipp grinste sie verschwörerisch an. »Der bin ich«, raunte er. »Aber verraten Sie es niemandem. Ich möchte ungern in diesem Auftritt ein Bild von mir in der Zeitung sehen.« Er zwinkerte ihr zu, woraufhin die Frau leise kicherte.

Ember hätte am liebsten die Augen verdreht. Ganz gleich, ob in Engelland oder in Königswinter, die Wirkung des Prinzen auf das weibliche Geschlecht war zu jeder Zeit und an jedem Ort die gleiche. Sie selbst konnte sich davon nicht ausnehmen, was sie vermutlich am meisten daran störte.

»Meine Lippen sind verschlossen«, versicherte sie ihm aufgeregt und machte sich weiter daran, die Buchung einzugeben, bis sie erneut aufsah. »Wie lange bleiben Sie denn?«

»Nur heute«, antwortete Philipp ihr.

»Möchten Sie ein Einzel- oder ein Doppelzimmer?«

Philipp legte Ember demonstrativ den Arm um die Schultern und erwiderte strahlend: »Ein Zimmer für zwei, bitte.«

Ember wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Sie wollte lieber nicht wissen, was die Frau nun von ihnen dachte. Abgesehen davon, dass sie beide halb nackt waren und wie die verunglückten Darsteller eines Actionfilms aussahen.

»Sind Sie denn schon volljährig?«, wollte die Rezeptionistin nun misstrauisch von Ember wissen. Ihr Blick verriet deutlich, dass sie das nicht glaubte.

»Ja, ich hatte vor einem Monat Geburtstag«, log Ember mit einem erzwungenen Lächeln, das ihre Mundwinkel schmerzen ließ.

»Oh, dann herzlichen Glückwunsch nachträglich«, erwiderte die Dame höflich und legte Philipp ein Blatt zum Unterschreiben vor. Gerade als er damit fertig war, reichte sie ihm eine Postkarte. »Dürfte ich Sie um ein Autogramm bitten? Meine Tochter Anna ist ein großer Fan von Ihnen.«

»Natürlich«, erwiderte Philipp grinsend und hinterließ ein paar Zeilen für das Mädchen auf der Karte. »Möchten Sie vielleicht auch ein Foto für Anna machen?«, bot er großzügig an.

Nun rollte Ember tatsächlich mit den Augen und befreite sich aus seinem Arm, woraufhin Philipp sie schelmisch angrinste.

Die Empfangsdame bekam davon nichts mit, sondern konnte ihr Glück kaum fassen. »Das wäre wundervoll, aber sicher möchten Sie sich erst einmal erholen, oder?«

Aber sicher möchten Sie sich erst einmal etwas anziehen, hätte sie wohl eher sagen sollen.

Philipp machte aber nur eine wegwerfende Handbewegung. »Für ein Foto reicht meine Energie gerade noch.«

Die Frau lachte ungläubig, holte aber ihr Handy hervor, während Philipp sich bereits in Pose warf. Kaum dass sie das Bild gemacht hatte, schlug er ihr vor, dass Ember ein Foto von ihnen zusammen machen könnte, um ihre Tochter etwas neidisch zu machen.

Die Art, wie er Ember angrinste, als er ihr das Mobiltelefon entgegenstreckte, verriet ihr, dass er sich sehr wohl bewusst darüber war, wie unangenehm ihr die Situation war und wie albern sie sein Benehmen fand.

Die Angestellte bedankte sich überschwänglich bei ihm und lud ihn dazu ein, sich jederzeit zu melden, wenn er irgendetwas brauchte. Philipps Berühmtheit würde wohl verhindern, dass sie die Polizei informierte.

Hastig stieg Ember in den Aufzug. Sobald sich die Türen schlossen, schlug sie nach Philipp, der immer noch breit grinste. »Wenn wir gleich eine Meute kreischender Teenager samt Reportern vor der Tür haben, ist das deine Schuld«, fauchte sie verärgert.

Er lachte und hob abwehrend die Arme. »Ich wollte nur freundlich sein. Man sollte sich immer Zeit für seine Fans nehmen.«

Vor zweihundert Jahren hätte er anstatt Fans Untertanen gesagt, aber die Aussage wäre dieselbe geblieben.

Es war unglaublich, dass sie durch Raum und Zeit gereist waren, aber er dennoch der Gleiche zu sein schien – ein Prinz durch und durch.

»Sicher hält die Frau mich jetzt für eines deiner Groupies«, schimpfte sie aufgebracht. Wie er auch noch den Arm um sie gelegt und gesagt hatte, dass er das Zimmer nur für eine Nacht brauchte. Peinlicher ging es wohl kaum!

»Warum interessiert es dich, was irgendwelche Leute von dir denken?«, meinte er auch noch frech, sodass sie ihn am liebsten direkt noch mal geschlagen hätte.

»Tut es nicht«, blaffte sie ihn mit glühenden Wangen an. »Aber hast du bei deinem Gehabe vielleicht auch mal an die Königin gedacht? Du machst es ihr nicht gerade schwer, uns zu finden. Da hätten wir auch gleich in der Schlosskommende bleiben können.«

Die Aufzugtüren öffneten sich mit einem Pling und sie traten in den Gang, der sich davor erstreckte.

»Okay, das war nicht unbedingt klug«, gab Philipp versöhnlich zu. »Aber ich verspreche dir, dass wir längst weg sein werden, bis ihre Lakaien hier auftauchen.«

Ember schnaubte. »Gibst du immer noch leichtfertig Versprechen, von denen du nicht weißt, ob du sie halten kannst?«

»Hey«, sagte Philipp sanft und hielt sie an ihrem Arm fest, ehe er um sie herumtrat und sich vor sie stellte. »Habe ich je ein Versprechen an dich gebrochen?«

Seine Nähe und dazu sein nackter Oberkörper sorgten dafür, dass sich ihre Zunge wie verknotet anfühlte. Alles, was sie zustande brachte, war ein widerspenstiger Blick, dem ein Kopfschütteln folgte – ein Zugeständnis. Er hatte jedes Versprechen gehalten, das er ihr gegeben hatte. Es waren viele gewesen, wenn man bedachte, dass sie sich eigentlich kaum kannten, auch wenn es sich oft nicht so anfühlte.

Er strich ihr tröstend mit den Händen über ihre Arme, die in seiner Lederjacke steckten. »Wir bekommen das irgendwie hin«, versuchte er, sie zu ermutigen.

Ember ärgerte es wahnsinnig, dass sie in seiner Gegenwart kaum atmen konnte, während ihm nicht einmal aufzufallen schien, dass sie praktisch nur in Unterwäsche vor ihm stand. Sie war es nicht gewohnt, sich von irgendetwas einschüchtern zu lassen, schon gar nicht von so etwas Absurdem wie einem nackten Männerkörper und blauen Augen.

»Es wäre ein Anfang, wenn du es schaffen würdest, dir etwas zum Anziehen zu besorgen«, murrte sie ausweichend und löste sich von ihm.

Anstatt vor dem Zimmer stehen zu bleiben, das Philipp gebucht hatte, ging sie bewusst eine Tür weiter. Er wollte bereits protestieren, da sagte sie: »Während du mit der Rezeptionistin geflirtet hast, habe ich in ihrem Computer nachgesehen, welches Zimmer Julia bewohnt hat.«

Philipp nickte anerkennend. »Das war natürlich von mir so beabsichtigt«, behauptete er schmunzelnd und beobachtete Ember dabei, wie sie sich mit der Zimmerkarte an der verschlossenen Tür zu schaffen machte.

Ein paar Handgriffe später verschaffte sie sich mit einem Klicken Zutritt zu dem Raum und schlüpfte in das Innere. An dem zerwühlten Bett erkannte sie auf Anhieb, dass der Reinigungstrupp noch nicht da gewesen war. Allerdings konnte sie auch Joes Tasche nirgendwo herumstehen sehen, wie sie gehofft hatte. Darin hatte er die ›Grimm-Chroniken‹ überall mit hingeschleppt, selbst in die Diskothek, in der Philipp als DJ seinen Auftritt gehabt hatte. Entweder war er diese Nacht nicht mit Julia ins Hotel zurückgekehrt oder er hatte es mit ihr am Morgen bereits wieder verlassen.

Sie ließ ihren Blick weiter durch das Zimmer gleiten, als Philipp plötzlich rief: »Schau mal, hier ist ein Koffer!«

Ember war sofort bei ihm und kniete sich auf den Boden, um den weißen Handgepäckkoffer hervorzuziehen, der unter das Bett gerutscht oder geschoben worden war. Der Deckel war nur zugeklappt, sodass sie ihn mit einem Handgriff öffnen konnte. Auf den ersten Blick befand sich darin nicht mehr als Kleidung. Sie holte eine weiße Damenbluse hervor, an der sich sogar noch das Preisetikett befand.

»Gehört das Julia?«, fragte Philipp sie.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Ember. »Aber es sieht nach etwas aus, das sie tragen würde, soweit ich sie kennengelernt habe.«

In dem Koffer befanden sich noch mehr Oberteile sowie zwei Hosen und Unterwäsche – alles war neu. Ansonsten gab es jedoch nichts, was auf die Besitzerin schließen ließ.

»Ich verstehe das nicht«, meinte Ember stirnrunzelnd. »Wer verreist mit lauter neuer Kleidung und verlässt dann das Hotel, ohne seine Sachen mitzunehmen?«

»Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass sie selbst ausgecheckt hat«, gab Philipp zu bedenken. »Das könnte auch jemand anderes für sie übernommen haben.«

Sie dachten beide an Rumpelstein, allerdings konnte der Zwerg nicht gleichzeitig sie entführen und Julia und Joe gefangen nehmen. Aber die Königin hatte noch mehr Lakaien, die sie für diesen Zweck einsetzen konnte. Wenn Julia nicht selbst in ihrem Dienst stand.

»Zumindest hast du jetzt etwas zum Anziehen«, versuchte Philipp, sie aufzuheitern, als sie mit dem Koffer den Raum verließen und sich in ihr eigentlich gebuchtes Zimmer zurückzogen.


Erwacht

Mittwoch, 24. Oktober 2012,

10 Uhr

Bonn, Schlosskommende Ramersdorf, Verlies

Will glitt nicht langsam vom Schlaf in den sanften Zustand des Erwachens, wenn die Gedanken noch den Träumen nachhängen und man sich erst mit einem trägen Blinzeln bewusst darüber wird, dass die Nacht vorüber ist. Er wurde gnadenlos aus der einen Welt in die andere katapultiert und schlug hart auf dem Boden der Realität auf. Sämtliche Luft wurde aus seinen Lungen gepresst und ließ ihn mit rasendem Puls nach Atem schnappen.

Er riss die Augen auf und checkte panisch seine Umgebung. Dunkelheit umgab ihn, seine Kleidung fühlte sich klamm an und es roch modrig. Feste Steinwände schlossen ihn zu allen Seiten ein. Er keuchte und hatte das Gefühl, zu ersticken. Sein ganzer Körper bebte, als er sich eine Hand auf sein pochendes Herz presste.

Er war am Leben. Er war am Leben, obwohl Vlad Dracul sein Herz durchbohrt hatte. Wie war das möglich? Wessen Herz schlug nun in seiner Brust?

In all der Finsternis entdeckte er einen schmalen Lichtstreifen am Boden, auf den er zukroch. Er legte sein Gesicht direkt davor und spürte, wie ihm ein kühler Windhauch entgegenwehte. Die Kälte half ihm dabei, sich zu konzentrieren und gegen die Panik anzukämpfen. Für ein paar Sekunden blieb er einfach so liegen, ehe er sich wieder aufrichtete und die Wand vor sich als eine schwere Holztür identifizierte. Er musste sich in einer Art Verlies befinden, wahrscheinlich in der Gewalt der Königin.

Im Lebkuchenhaus hatte sie ihn gezwungen, erneut in den goldenen Apfel zu beißen, um Margery in ihre Träume zu folgen. Die Königin hatte sein Medaillon gestohlen und dadurch Macht über ihn erlangt. Alles, was er in den Träumen sah, würde auch sie sehen. Nichts würde ihr verborgen bleiben. Er war zu einem Feind für Margery und alle, die auf ihrer Seite standen, geworden. Unfähig, sich selbst aus seiner Lage zu befreien.

Das Letzte, was er in der Realität gesagt hatte, war an Maggy und Joe gerichtet gewesen. Sie sollten nach Jacob sehen. Er hatte nicht gewollt, dass einer von ihnen ihm folgte, aber natürlich hatten sich weder sein Bruder noch seine beste Freundin daran gehalten. Es war Maggy gewesen, der es gelungen war, zu ihm durchzudringen und die Scherben aus seinen Augen zu spülen.

Mags.

Ein plötzliches Rascheln ließ ihn in seinen Gedanken innehalten. Er drehte sich um und bemerkte, wie sich in den Schatten etwas regte. Aus der Dunkelheit löste sich die Silhouette eines Menschen.

»Wilhelm?«

Ihre ängstliche Stimme ging ihm durch Mark und Bein. Das war Margery. Mit einem Satz war er bei ihr und schloss seine Hände um ihr Gesicht.

»Ich bin hier«, flüsterte er beruhigend.

Augenblicklich schmiegte sie sich ihm entgegen und drückte ihre Stirn gegen seine. »Wir haben überlebt.«

Das hatten sie, auch wenn Will nicht wusste, wie. Er hatte Margery in den Dornen zurückgelassen und war selbst gestorben. Er konnte sich noch an den Schmerz erinnern und ebenso an dieses kalte Nichts, das ihn verschlungen hatte. Dennoch waren sie nun beide hier, aber längst nicht in Sicherheit.

»Ich glaube, wir befinden uns in der Gewalt der Königin«, raunte er, ohne sich von ihr zu lösen. Es tat gut, sie bei sich zu wissen und nicht allein zu sein.

»Sie kann mich nicht töten«, erwiderte Margery zuversichtlich. »Es sei denn, sie weiß, wer die Vergessenen Sieben sind.« Sie verstummte und löste sich von ihm, um wenige Zentimeter zwischen sie zu bringen. Er spürte ihren bohrenden Blick auf sich und wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen. »Weißt du, wer die Sieben sind? Könnte sie über dich etwas herausgefunden haben?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur von Maggy. Sie hat sich der Königin entgegengestellt, um uns die Flucht zu ermöglichen.«

Die Anspannung löste sich aus ihrem Körper, sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn in eine Umarmung. Sie brauchte seine Nähe ebenso sehr wie er ihre. Sie hielten sich gegenseitig aufrecht. Auch wenn alles andere ungewiss war, hatten sie zumindest noch einander. Es war eine unerwartete Gnade an solch einem finsteren Ort.

Ihr Atem strich über seinen Hals, als sie ihm das Gesicht zuwandte. Er konnte spüren, wie sie tief einatmete, bevor ihre Lippen seinen Hals berührten. Er erschauderte unter ihrer zärtlichen Berührung, obwohl er zugleich dachte, dass dies nicht der richtige Ort und auch nicht die richtige Zeit für Liebeleien war. Ehe er jedoch etwas einwenden konnte, stieß sie ihn auf einmal grob von sich. Er fiel erschrocken zurück und konnte seinen Sturz gerade noch mit den Händen abfangen.

»Tut mir leid«, rief sie bestürzt aus und presste sich die Finger auf den Mund.

»Was ist denn los?«, fragte er verständnislos.

»Ich …«, begann sie, aber sprach nicht weiter. »Ich …« Sie schaute überall hin, nur nicht auf ihn, während sie nach Worten rang. »Ich habe Hunger«, gestand sie schließlich voller Scham.

Sie war kurz davor gewesen, ihn zu beißen.

»Oh«, entfuhr es Will, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Bilder drängten sich vor sein inneres Auge. Er hatte sie zum ersten Mal in Schloss Drachenburg gesehen, kurz nachdem sie einen Mann getötet hatte. Blut war von ihrem Mund und ihren Händen auf ihr weißes Kleid getropft. Sie hatte es nicht einmal bemerkt, sondern war wie in Trance gewesen. In einem Traum hatte er beobachtet, wie sie als Kind einen gleichaltrigen Prinzen in ihrem Schlossgarten gebissen hatte.

Der Blutdurst gehörte zu ihr, auch wenn er diesen Teil von ihr gern verdrängte. Sie konnte ihn zügeln, aber niemals ganz stillen.

»Du hast mir nichts getan«, sagte er und erhob sich vom Boden, blieb aber auf Distanz zu ihr. Sie war stärker als ihr Trieb. »Wie lange ist es her, dass du zuletzt etwas getrunken hast?«

Ratlos zuckte sie mit den Schultern. »Ich weiß nicht … Wie viele Tage sind denn vergangen, seitdem wir in den goldenen Apfel gebissen haben?«

Er war ebenfalls ahnungslos. Auch seine Lippen fühlten sich trocken an und sein Magen knurrte, allerdings verhinderte der Fluch des Schlafenden Todes, dass er verdurstete oder verhungerte. Demnach hatte er nicht mehr Hunger oder Durst als zu dem Zeitpunkt, als er eingeschlafen war. Bei einem Vampir sah das anders aus. Sie mussten sich auch während des Schlafes nähren, aus diesem Grund hatte Margery den Mann getötet, der in ihr Schloss eingedrungen war.

»Deshalb hat sie uns zusammen eingeschlossen«, stieß sie plötzlich entsetzt aus. »Meine Mutter will mich brechen, indem sie mich dazu bringt, dich zu töten.«

Sie hatte recht. Das, was Will für unerwartete Gnade gehalten hatte, war in Wahrheit nichts als grausame Berechnung.

Margery stürmte zu der Tür und hämmerte aufgebracht mit ihren Fäusten dagegen. »AUFMACHEN«, brüllte sie außer sich.

Sie hörte nicht auf, zu klopfen, sodass sie gar nicht hören konnten, ob sich von draußen Schritte näherten.

»Ich brauche Blut«, schrie sie und trat gegen das Holz. »HEY!«

Ihre Wut führte zu nichts. Die Tür blieb verschlossen und niemand sprach zu ihnen. Sie hatte nun lediglich verraten, dass sie erwacht war.

Schwer schnaufend fuhr sie herum und ließ sich zu Boden sinken. Ihre Wangen glänzten feucht von ihren Tränen der Verzweiflung.

Will wollte zu ihr gehen, um sie zu trösten, doch sobald er auch nur einen Fuß in ihre Richtung setzte, hob sie bereits abweisend ihre Hand. »Bleib, wo du bist, und komm nicht näher!«

»Ich vertraue dir«, sagte Will eindringlich. »Du wirst mir nichts tun.«

»Du verstehst das nicht«, fauchte sie. »Das ist keine Frage des Willens. Wenn mein Blutdurst zu stark wird, würde ich jeden töten, nur um ihn zu stillen. Ich kann mich nur eine begrenzte Zeit dagegen wehren, und je länger es dauert, umso schwerer fällt es mir.«

War es wirklich der Wunsch der Königin, dass Will in diesem Verlies starb? Oder war es eher ein Test, um zu sehen, wie viel ihre Tochter aushalten konnte? Wollte sie diese vielleicht nur schwächen, um dann die Namen der Sieben von ihr zu erpressen, sobald Margery keine Kraft mehr hatte? Würde Margery die anderen verraten, um ihn zu retten?

Will wollte es nicht darauf ankommen lassen, das herauszufinden. Er streifte sich seinen Mantel von den Schultern und kniete sich in etwas Abstand ihr gegenüber auf den Boden. »Dann solltest du etwas trinken«, sagte er bestimmt.

Verwirrt hob sie den Kopf und funkelte ihn an. »Kannst du Schlösser aufbrechen?«

»Nein«, antwortete er ihr und zog sich seinen Kapuzenpullover über den Kopf, sodass er nun mit nacktem Oberkörper vor ihr saß. »Du kannst von mir …«

»Nein!« Sie ließ ihn seinen Vorschlag gar nicht aussprechen.

»Ich vertraue …«

»Nein! Niemals!«

»Aber du musst es JETZT tun«, blieb er hartnäckig. »Wenn du noch länger wartest, wirst du die Kontrolle verlieren. Das ist unsere einzige Möglichkeit.«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf.

»Nimm nur ein paar Schlucke und dann hör auf. Ich weiß, dass du das kannst, und davon werde ich nicht sterben. Es wird nicht mehr als ein Kratzer sein – eine kleine Blutspende. Ich wollte schon immer etwas Gutes …«

»Hör auf!«, unterbrach sie ihn mit erstickter Stimme und löste sich von der Tür. Auf ihren Knien kam sie zu ihm, griff nach seinem Pullover und drückte ihm diesen gegen die nackte Brust. »Ich weiß wirklich zu schätzen, dass du bereit bist, das für mich zu tun, aber ich werde mich darauf nicht einlassen.«

»Es ist nicht so, als würde ich das nur für dich tun, vielmehr für uns beide. Ich möchte nicht darauf warten müssen, dass du dich irgendwann wie eine Wilde auf mich stürzt.«

Sie legte ihre Hand an seine Wange und sah ihm tief in die Augen. »Das werde ich nicht tun, Wilhelm. Bevor es dazu kommt, musst du mich töten.«

Nun war er es, der entschieden den Kopf schüttelte. »Das mache ich nicht!« Er umschloss mit seinen Fingern ihre Hand und zog sie an seine Lippen, mit denen er einen Kuss auf ihre Haut drückte. »Ich habe versprochen, dir zu helfen. Bitte verwehre mir das nicht, nachdem ich endlich wieder Herr über meinen Willen bin.«

Sie legte ihre freie Hand über seine linke Brust und spürte das Pochen seines Herzens. »Mein Vater hat mir beigebracht, dass man niemals von einem Menschen trinken darf, den man liebt. Das Blut dieser Person würde umso süßer schmecken, sodass wir nicht genug davon bekommen könnten. Das ist die eine Regel, an die ich mich immer halten werde. Ich kann nicht von dir trinken, Wilhelm, weil ich dich liebe.«

Sie hatte es ihm schon einmal gesagt und er hatte es erwidert. Tief in seinem Inneren spürte Will, dass er sie immer lieben würde, aber sein Herz gehörte ihr nicht allein. Er konnte ihre Worte in diesem Augenblick nicht erwidern, doch das schien sie auch gar nicht zu erwarten. Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen und legte ihre Lippen auf seine. Sie waren kalt wie Schnee, aber zugleich so sanft wie das Kitzeln einer Feder.

Er schloss die Augen und gab sich ihrem Kuss hin, in der Hoffnung, dass er die Zweifel aus seiner Brust vertreiben würde. Dennoch kam ihm ein Duft in Erinnerung, welcher nicht der ihre war. Der Geruch eines Apfelshampoos, das ihn beinahe sein ganzes Leben lang begleitet hatte. Er kannte nur ein Mädchen, das sich damit die Haare wusch.

Mags.

War sie überhaupt noch am Leben? Würde er sie je wiedersehen? Was würde er fühlen, wenn sie vor ihm stand?

Die Süße des Kusses bekam einen bitteren Beigeschmack, denn er verachtete Typen, die das eine Mädchen küssten, aber mit dem Kopf bei einer anderen waren. Nun war er selbst zu solch einem geworden.

Er wünschte, dass er Margery die Wahrheit sagen könnte. Doch in einer Welt, in der alles unsicher war, wollte er ihr nicht die einzige Sicherheit nehmen, die sie glaubte, zu haben.

Er hatte sich in der Dornenhecke gegen sie entschieden und für diesen Fehler mit seinem Leben bezahlt. Wenn er bei ihr geblieben wäre, hätte er sie retten können und alles wäre vielleicht anders ausgegangen. Vielleicht wären sie jetzt frei.

Ein halbes Herz

Mittwoch, 24. Oktober 2012,

10 Uhr

Berlin, Charité-Krankenhaus, Intensivstation

Ein hoher, nicht enden wollender Signalton durchbohrte wie eine Stricknadel Maggys Schädel, als sie langsam zu sich kam. Ihre Augenlider fühlten sich tonnenschwer an, sodass selbst ein Blinzeln ihre ganze Willenskraft verlangte. Über sich erblickte sie für den Bruchteil einer Sekunde eine weiße Decke, ehe sie erneut Schwärze umhüllte.

Ist das mein Zimmer?, fragte sie sich benommen.

Mit dem nächsten Herzschlag donnerten die Erinnerungen wie Faustschläge auf sie nieder: Will, der wie tot neben Margery auf dem Schokoladenboden des Lebkuchenhauses lag, ihre Rückkehr nach Berlin, der Biss in den goldenen Apfel, Engelland und Baba Zima, deren grelles Kreischen, als sie in den Flammen ihres eigenen Ofens schmorte, das blutrote Fest, Margerys Herz zwischen ihren Fingern, ein schwarzes Einhorn, das knallende Geräusch, als der Frosch gegen die Dornenhecke geschleudert wurde, Hänsels letzter Atemzug und schließlich Will mit einem klaffenden Loch in seiner Brust.

Sind sie alle tot?

Ein Schrei entwich ihrer Kehle, als sie ruckartig hochfuhr. Ihre Sicht war verschwommen, während ihr Puls in die Höhe schnellte. Der EKG-Monitor neben ihrem Bett schlug Alarm.

Verwirrt blickte sie sich in dem Zimmer um, von dem sie nicht wusste, wie sie dort hingelangt war. Es sah aus wie in einem Krankenhaus.

Die Tür wurde geöffnet und eine Frau in weißer Kleidung musterte sie überrascht. »Du bist ja wach, Margaretha«, bemerkte sie staunend. »Hast du Schmerzen?«

Vorsichtig bewegte sie sich auf Maggy zu, der die Angst ins Gesicht geschrieben stand.

Nur langsam gelang es dem Mädchen, sich zusammenzureimen, was geschehen sein musste. Nachdem sie in den goldenen Apfel gebissen hatte, musste sie ins Krankenhaus gebracht worden sein. Hatte Joe sie dort eingeliefert? Wo war er jetzt?

»Ist …«, begann sie, doch ihre Stimme brach. Ihr Hals fühlte sich ganz rau an.

Die Krankenschwester berührte sie sachte am Arm. »Ganz ruhig«, meinte sie tröstend. »Du hast drei Tage lang geschlafen.«

Drei Tage sind bereits vergangen?, dachte Maggy entsetzt. In Engelland waren es etwa zwei Wochen gewesen. So viel war in dieser Zeit geschehen. Sicher nicht nur dort, sondern auch hier. Drei Tage konnten ein Leben vollkommen auf den Kopf stellen. Was hatte sie verpasst?

Aus einer Flasche schüttete die Frau ihr etwas Wasser in ein Glas, das sie ihr reichte. Maggys Hände zitterten, als sie danach griff und es sich an die Lippen führte. Es war ein angenehmes Gefühl, wie das kühle Nass ihren Mund befeuchtete. Sie musste sich zwingen, langsam zu trinken und nicht alles gierig hinunterzustürzen.

Sobald sie das Glas geleert hatte, setzte sie erneut zum Sprechen an. »Ist mein Bruder hier?«, wollte sie mit leiser Stimme von der Krankenschwester wissen.

Diese schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Ich werde sofort dem Arzt Bescheid geben, damit er dich untersuchen kann«, versprach sie ihr, ohne auf die Frage einzugehen, und tätschelte ihr beschwichtigend die Hand. »Tut dir etwas weh?«

Maggy horchte in sich hinein. Abgesehen von der quälenden Ungewissheit schien ihr nichts zu fehlen. Sie schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich habe wohl nur schlecht geträumt.«

»Wie gut, dass du jetzt aufgewacht bist«, erwiderte die Krankenschwester mit einem herzlichen Lächeln, ehe sie den Raum verließ.

Maggy wünschte sich, dass alles nur ein Albtraum gewesen wäre, der vorbei war, sobald sie aus diesem erwachte. Aber sie wusste, dass sie die Monster nicht hinter sich zurückgelassen, sondern mit in diese Welt geschleppt hatte. Das Unglück hatte gerade erst begonnen und sie wusste nach wie vor nicht, wie sie es aufhalten konnte.

Kaum dass die Pflegerin gegangen war, schaute Maggy sich erneut um und entdeckte zu ihrer Überraschung etwas auf dem Beistelltisch, womit sie niemals gerechnet hätte. Sie streckte ihre Hände nach dem alten, in Leder gebundenen Buch aus, das Baba Zima gehört hatte. Obendrauf lag eine silberne Kette mit einem kleinen Medaillon. Sie schloss ihre Finger um den Anhänger und presste ihn sich an die Lippen.

Die böse Königin hatte Will das Schmuckstück ursprünglich in einem Traum gestohlen und nun war es ihr irgendwie gelungen, dieses wieder mit in die Realität zu bringen.

Bedeutete das, dass es noch Hoffnung für Will gab? War er noch am Leben, obwohl sie ihn hatte sterben sehen?

Behutsam legte sie sich die Kette um den Hals und ließ das Medaillon unter dem dünnen Stoff des Krankenhausnachthemds verschwinden. Danach widmete sie sich dem Buch und blätterte durch die vergilbten Seiten. Zuerst stieß sie nur auf leere Blätter, wie es bei den ›Grimm-Chroniken‹ nach dem ersten Lesen der Fall gewesen war, doch dann erschienen wie aus dem Nichts plötzlich Buchstaben, die erst über die Seiten wirbelten, bis sie Wörter und Sätze bildeten. Sämtliche Zaubersprüche und Rituale erschienen vor ihren Augen – schwarz auf weiß.

Das Buch selbst musste mit einer Art Zauber belegt sein, der es nur jemandem mit magischen Kräften ermöglichte, es zu lesen. Für alle anderen war es nicht mehr als ein altes Buch mit leeren Seiten. Auf diese Weise blieben die enthaltenen Geheimnisse vor unwissenden Augen geschützt. Deshalb hatte sich wohl auch das Krankenhauspersonal nicht über diesen Gegenstand gewundert.

Maggy würde die Magie brauchen, wenn sie gegen die Königin eine Chance haben wollte, allerdings musste sie dafür erst einmal lernen, damit umzugehen. Viel Zeit blieb ihr damals wie heute nicht.

Wichtiger als alles andere war jedoch, dass sie jemanden fand, der ihr Antworten geben konnte. Kein Arzt, sondern jemand, der dabei gewesen war – Jacob.

Wenn sie erwacht war, bedeutete das dann auch, dass er dem Fluch des Schlafenden Todes entkommen war? Vorausgesetzt, er war noch am Leben, denn Vlad Dracul hatte nicht nur Will getötet, als er dessen Herz durchstochen hatte, sondern auch Jacob und die Königin. Es waren die Hälften ihrer beider Herzen gewesen, die in Will zu etwas Ganzem geworden waren. Das Schicksal hatte sie untrennbar aneinander gebunden.

Kurz entschlossen schlug Maggy die Decke zurück und schwang ihre Beine aus dem Bett. Sie fühlten sich noch etwas schwach an, als sie aufstand und gegen ein Schwindelgefühl ankämpfen musste, aber sie würde sich schon an die Bewegung gewöhnen.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog sie vorsichtig die Nadel aus ihrer Hand, die sie mit dem Tropf verband, und riss sich die Pflaster des EKG-Geräts von der Brust. Da sie nur ein dünnes Nachthemd trug, das auch noch hinten offen war, eilte sie schnell zu dem einzigen Schrank in dem Zimmer und stöhnte vor Erleichterung auf, als sie darin einen Morgenmantel sowie Frottee-Schlappen fand.

Was für ein Luxus, dachte sie belustigt. Das ist ja wie im Fünf-Sterne-Hotel.

Langsam näherte sie sich der Tür und lauschte auf ein verräterisches Geräusch. Von überallher waren das Piepen der Herzmonitore und das Fauchen der Beatmungsgeräte zu hören, aber keine Schritte oder Stimmen. Vorsichtig wagte sie, die Tür zu öffnen, und spähte auf den Gang vor sich. Nachdem niemand sie zu bemerken schien, schlüpfte sie auf den Flur und versuchte, sich auf die Schnelle zu orientieren.

Wenn sie sich nicht täuschte, befand sie sich auf der Intensivstation des Charité-Krankenhauses. Dort hatte sie Jacob besucht und er hatte ihr trotz seines komatösen Zustands das Gedicht über die Vergessenen Sieben anvertraut. Seitdem waren erst wenige Tage vergangen, aber es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Nie hätte sie damit gerechnet, dass es sich bei der Hexe in dem Gedicht um sie selbst handelte. Hatte Jacob es gewusst?

Sein Zimmer war das dritte auf der linken Seite gewesen. Sie spähte zum Ausgang und zählte die Türen. Fünf Zimmer trennten sie voneinander.

Maggy schaute sich noch einmal nach links und rechts um, ehe sie zielstrebig loslief. Ihr war bewusst, dass sie vermutlich direkt zu ihrem Zimmer zurückgeleitet würde, wenn jemand vom Personal sie bemerkte. Die Patienten einer Intensivstation machten für gewöhnlich keine Spaziergänge. Umso wichtiger war es, dass sie schnell war.

Scheiben gaben Einblick in jeden Raum mit ihren meist bewegungslosen Bewohnern. Als Maggy das dritte Zimmer erreichte, hielt sie inne. Die Tür war nur angelehnt, sodass sie Stimmen aus dem Inneren hören konnte. Achtsam trat sie näher und schaute durch den Schlitz in das Innere. Die anwesenden Ärzte und Krankenschwestern versperrten ihr jedoch die Sicht auf Jacob.

»… ergeben, dass Ihr Herz nur noch mit halber Kapazität arbeitet«, sagte eine männliche Stimme gerade und schwieg für einen Moment, ehe sie nachhakte: »Herr Zimmer, können Sie mir folgen?«

Er ist am Leben, jubelte Maggy innerlich. Aber was ist mit seinem Herz?

»Sie wollen mir sagen, dass ich mich schonen soll. Richtig, Doktor?«, erklang Jacobs Stimme, in der ein verächtlicher Ton mitschwang. »Das dürfte schwer werden, nachdem ich die letzten fünfzehn Jahre so ein ereignisreiches Leben hatte. Morgens aufzustehen, um jeden Tag die Raben vor meinem Fenster zu zählen, kann schon sehr nervenaufreibend sein.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739479323
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Phönix Hexen Grimm Drachen Fantasy Gestaltwandler Märchenadaption Vampire Schneewittchen Dracula Romance Urban Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. 2019 gewann Maya Shepherd mit den Grimm-Chroniken den Skoutz-Award in der Kategorie Fantasy.
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Titel: Der Sohn des Drachen