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Die Moor-Chroniken

Drei historische Romane in einem E-Book

von Mani Beckmann (Autor:in) Tom Finnek (Autor:in)
1200 Seiten

Zusammenfassung

MOORTEUFEL: Karwoche 1814. In Europa toben die Befreiungskriege gegen Napoleon, die Welt ist in Aufruhr. Auch das Leben des westfälischen Bauernsohns Jeremias Vogelsang, der sich mit anderen geduldeten Deserteuren in seiner Heimat aufhält, gerät aus den Fugen. Vorgeblich, weil Jeremias desertiert ist, in Wahrheit jedoch, um sich des unerwünschten Liebhabers seiner Tochter zu entledigen, ruft Amtmann Boomkamp zur Hatz auf den "Verräter"auf. Von Gendarmen gejagt, bleibt Jeremias nur die Flucht ins Moor, das auch allerlei lichtscheuem Gesindel Zuflucht bietet - eine schicksalhafte Entscheidung, wie sich bald zeigt. Denn hier kommt Jeremias einem Rätsel der Vergangenheit auf die Spur, einem Geheimnis, das sein eigenes Leben umgibt ... DIE KAPELLE IM MOOR: Das Münsterland nach dem Dreißigjährigen Krieg: Im Sommer des Jahres 1668 kehrt der Schausteller und Taschendieb Daniel Wagenknecht anlässlich einer Kirchweih in das Moordorf Ahlbeck zurück, in dem er als Säugling von drei Bauern lebendig begraben wurde. Daniel will die Geheimnisse von damals lüften - und sich an den Schuldigen rächen. Begleitet wird er von seinem Ziehvater Roloff. An der Stelle im Moor, wo dieser ihn einst gefunden hat, steht nun eine geheimnisvolle Kapelle, in der ein geistig verwirrter Pater auf die Rückkehr des Satans wartet. Während alle sich auf die bevorstehende Kirmes vorbereiten, kommt Daniel dem Geheimnis des Dorfes und einem grauenvollen Verbrechen auf die Spur ... TEUFELSMÜHLE: Im Jahre 1876 kehrt der Altertumsforscher Hermann Vortkamp in das Dorf Ahlbeck zurück, um steinzeitliche Hügelgräber auszugraben. Als er der hübschen Schulzentochter Lisbeth begegnet, verliebt er sich Hals über Kopf und schlägt die Warnungen seines eigenwilligen Großonkels, des Geistersehers Johann, in den Wind. Doch Lisbeth ist mit einem reichen holländischen Fabrikantensohn verlobt, und ihr Vater hegt einen alten Groll gegen die Vortkamps. Auch die Gräber am Kolk und eine Krypta unter der Kirche warten mit Überraschungen und unerwarteten Leichen auf, und manche Spur führt zurück in die Zeit der Glaubenskriege, kurz nach dem Ende der Wiedertäufer von Münster ... Wir schreiben das Jahr 1535, die Zeit der Wiedertäufer. Damals lebte Ambros Vortkamp, ein Vorfahr Hermanns, in Ahlbeck, wo sein Vater die Mühle am Kolk betrieben hatte. Doch es heißt, ein Fluch liege über der Mühle, der den Vortkamps zum Verhängnis wird ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Moor-Chroniken

Moorteufel

Die Kapelle im Moor

Teufelsmühle

Drei historische Romane in einem E-Book


Moorteufel

Vorbemerkung

Dieser historische Roman erschien erstmals 1999 als Bastei Lübbe Taschenbuch in der Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach.

Die vorliegende Ausgabe ist vollständig überarbeitet und entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.

Anmerkungen und Übersetzungen am Ende des Textes.


Prolog

»Immerzu heißt es, erzähl und erzähl, und man kann sich nicht losmachen! Na schön, dann will ich erzählen, nur, bei Gott, das ist zum allerletzten Mal.«

Nikolai Gogol, »Der verhexte Platz«

Warum sitze ich hier bei flackerndem Kerzenschein in meiner Kammer und schreibe meine Geschichte nieder? Warum krame ich ohne jede Not in schmerzlichen Erinnerungen und gehe in Gedanken zurück in eine längst vergangene und verdrängte Zeit? Weshalb lasse ich die Toten nicht ruhen?

Ich wage nicht zu behaupten, dass der literarischen Welt etwas entgeht, wenn sie meine Erzählung nicht zu Gesicht bekommt, und ich bezweifle, dass sich die Historiker für das interessieren könnten, was ich zu berichten habe, dennoch drängt es mich, von den eigentümlichen und obskuren Ereignissen des Jahres 1814 zu erzählen. Ich bin ein alter Mann, meine Tage auf dieser Seite der Welt sind gezählt, und vielleicht ist mein naher Tod der eigentliche Grund, warum ich plötzlich den Mut aufbringe, diese Zeilen zu schreiben.

Beinahe sechs Jahrzehnte sind seit damals vergangen, wir schreiben mittlerweile das Jahr 1873, und kaum jemand erinnert sich noch an die Geschehnisse von einst. Weder an die Kriege gegen Napoleon*, an die blutigen Feldzüge, die ganz Europa fast zwanzig Jahre lang in Atem hielten, noch an die wilden und mörderischen Räuberbanden, die sich auf den Landstraßen und Handelswegen herumtrieben und für zusätzliche Aufregung und Angst sorgten. All das ist längst Geschichte und kann in historischen Büchern nachgelesen werden, zahlreiche Romane sind darüber geschrieben und lange Heldenepen verfasst worden. Napoleon wurde als glorreicher Führer verherrlicht oder als gottloser Dämon verdammt, und die Räuber wurden zu Volkshelden erkoren oder als Mördergesindel verteufelt. Meine Erlebnisse jedoch, obgleich eng mit diesen verbunden und kaum weniger zweischneidig, wird man vergebens in den Annalen suchen. Kein Mensch hat je von den Vorfällen der Stillen Woche des Jahres 1814 gelesen, niemand weiß, was sich tatsächlich in den Tagen vor Ostern in unserem kleinen westfälischen Dorfe Ahlbeck abgespielt hat.

Die unmittelbaren Zeugen der Vorfälle sind entweder tot oder nur bruchstückhaft, wenn nicht gar falsch unterrichtet. Einige sind seitdem verschollen oder untergetaucht, andere ziehen es aus gutem Grunde vor, sich nicht erinnern zu wollen. Den Nachgeborenen gegenüber habe ich mit keinem Wort etwas von den wahren Begebenheiten erwähnt, und nicht einmal meine Frau – Gott habe sie selig! – hat bis zu ihrem Tode vor wenigen Jahren die ganze Wahrheit erfahren (oder erfahren wollen). Niemand scheint sich für die tatsächlichen Umstände von damals zu interessieren. Wer sich Tag für Tag hart auf den Feldern abmüht und dennoch nicht weiß, wie er die zahlreichen Mäuler seiner Familie stopfen soll, der hat Besseres zu tun, als in der Vergangenheit zu wühlen und sich über weit Zurückliegendes den Kopf zu zerbrechen.

Natürlich gab und gibt es Gerüchte und überlieferte Erzählungen. Moritatensänger berichten von frevlerischen und ungesühnten Bluttaten, die alten Leute erzählen sich Spukgeschichten von ruhelosen Geistern im Moor, und die jungen Kerle singen in den Wirtshäusern Spottlieder auf den Krieg zweier Dörfer und einen übereifrigen und arg gedemütigten Amtmann. Erst gestern kam mir ein solches Verslein zu Gehör:

»In den Krieg mit hundert Knappen

zog der Amtmann stolz voraus.

Still und leise, auf gerettet’ Rappen,

kehrt er geschlagen bald nach Haus!«

Jene Spötter, die sich heute an solchen Liedern ergötzen, haben nicht die mindeste Ahnung, was sich damals vor sechzig Jahren tatsächlich zugetragen hat und welche unselige Rolle ich bei dieser Angelegenheit spielte.

Mein Name ist Jeremias Vogelsang, aber alle im Dorfe nennen mich den »Magisterbauern«, da ich mich beinahe ein halbes Jahrhundert lang als kleiner Kötterbauer wintertags, wenn die nicht so reichliche Arbeit auf dem Hof es zuließ, damit abgemüht habe, den Kindern in der Dorfschule das Alphabet, den Katechismus und das Einmaleins beizubringen. Bereits mein Vater und mein Großvater waren Magisterbauern gewesen und hatten es sich zur Aufgabe gemacht, für ein wenig Bildung unter den Dorfkindern zu sorgen, und ich habe diese Familientradition bereitwillig und mit Freude fortgeführt. Die freiwilligen Spenden, die die Eltern ihren Kindern, je nach Vermögen, zum Unterricht mitgaben, halfen mir, die spärlichen Erträge des Kottens aufzubessern, und die Arbeit mit den Jungen und Mädchen bereitete mir seit jeher großes Vergnügen. Aus den naseweisen Lümmeln wurden mit den Jahren wackere und tüchtige Landleute, und sie lüpfen heute ihre Hüte, wenn sie mich sehen, und wünschen dem »Herrn Magister« einen guten Tag.

Seit einigen Jahren bereits, seit es einen hauptberuflichen Lehrer an der Ahlbecker Schule gibt, unterrichte ich nicht mehr, und den Hof führt mittlerweile mein ältester Sohn, aber für alle im Dorfe werde ich der Magisterbauer bleiben, solange ich lebe. Ich bin mir nicht sicher, ob sie ebenso respektvoll und sogar dankbar von mir oder über mich reden würden, wenn sie wüssten, was sich damals in der Stillen Woche wirklich abgespielt hat. Wenn sie zu lesen bekämen, was ich hier niederschreibe.

Zu meiner Zeit als Magister habe ich den Schülern gern und häufig Geschichten erzählt, seien es Sagen des klassischen Altertums, Legenden der Heiligen oder Gleichnisse aus der Bibel. Dabei musste ich die traurige Feststellung machen, dass die Aufmerksamkeit der Kinder in gleichem Maße stieg, wie die Blutrünstigkeit der Geschichten zunahm. Die Tragödie des Ödipus oder die Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain weckten weit mehr Interesse als die Hochzeit zu Kanaan oder das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der Kreuzweg zum Hügel Golgatha fand weitaus mehr Anklang als die tröstlichen Worte der Bergpredigt. Verbrechen und Bluttaten, so scheint es, erfreuen sich ebenso ungebrochener wie unfasslicher Beliebtheit. Und wer weiß, vielleicht wäre auch meine Geschichte nach diesem schauerlichen Geschmack, denn auch sie ist die eines Verbrechens.

Ich bin mir durchaus bewusst, dass es nicht ganz einfach sein wird, mein heutiges Wissen zurückzuhalten und in der Erzählung nicht auf Dinge vorzugreifen, die ich damals noch nicht ahnen konnte. Dennoch möchte ich auf den folgenden Seiten versuchen, mich nur an die Tatsachen zu halten und die Geschehnisse so wiederzugeben, wie sie sich mir in der jeweiligen Situation darstellten. Ich werde mich bemühen, jedwede Schlussfolgerung zu unterlassen, die ich zwar aus heutiger Sicht ziehen kann, die ich in der damaligen Situation aber nicht zu ziehen in der Lage war. Um wirklich zu verstehen, was vor sechzig Jahren passiert ist, genügt es nicht, allein das wiederzugeben, was ich heute weiß. Es ist ebenfalls nötig, das zu erzählen, worin ich einst irreging. Denn nur so kann ich hoffen, dass meine traurige Geschichte – so sie denn jemals anderen zu Ohren kommt – mehr sein wird als blanker Nervenkitzel.

Doch genug nun der Vorrede und der Ausflüchte. Was ich zu erzählen habe, das soll erzählt werden – der Reihe nach und wahrheitsgemäß.


Erster Teil

»Es war einmal eine Frau, die so gern ein winzig kleines Kind haben wollte, aber sie wusste gar nicht, woher sie es bekommen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte zu ihr: ›Ich möchte so herzlich gern ein kleines Kind haben. Kannst du mir nicht sagen, woher ich das bekommen kann?‹«

Hans Christian Andersen, »Däumelinchen«

1

Es war der Dienstag vor Ostern, ein ungemütlicher, feuchtkalter Frühlingstag im April. Seit den frühen Morgenstunden war ein feiner, aber steter Nieselregen niedergegangen und hatte die Wiesen morastig und die sandigen Wege glitschig werden lassen. Der Himmel war düster und wolkenverhangen, und kurz nach Mittag hatte dichter Nebel eingesetzt, der nun wie Rauchschwaden über dem Boden hing und die Sicht zusätzlich behinderte. Die Wacholderheide lag wie ausgestorben da, sämtliche Tiere hatten sich verkrochen, keine Biene summte, kein Falter flatterte, und selbst die Frösche am Weiher hatten ihr Quaken eingestellt. Kein Mensch war weit und breit zu sehen, keiner außer mir!

In gebückter Haltung und gestützt auf einen morschen Knüttel machte ich meine Runden um den kleinen Teich, der am Fuße einer hohen und lang gestreckten Düne lag und vom Pfad aus nicht zu sehen war. Meine Filzmütze war mittlerweile vom Regen durchnässt, und der ebenfalls klamme Umhang aus dichtem schwarzen Drillich hielt mich nicht länger davon ab, vor Kälte und Nässe zu zittern. Ich bückte mich und beschaute mein Spiegelbild auf der Oberfläche des Wassers. Mein Gesicht war käsebleich, allein die Nase und die leicht abstehenden Ohren waren vor Kälte rot angelaufen.

»Wo bleibt sie nur?«, murmelte ich und blickte zum grauen Himmel, als könnte ich die dichten Wolken durchdringen und am Stand der Sonne erkennen, welche Tageszeit es mittlerweile sei. Es war bereits eine gute Stunde über die verabredete Zeit, schätzte ich, und diese Unpünktlichkeit sah Lotte gar nicht ähnlich. Seit einigen Wochen trafen wir uns nun jeden Dienstag um die gleiche Zeit am »Seerosenteich«, unternahmen lange Spaziergänge über die Sandflure und durch die Weidendickichte rings um den Weiher, und noch nie war sie zu spät gekommen. Wenn ihr nur nichts zugestoßen war!

Unheil ahnend verließ ich meinen bereits tief ausgetretenen Rundweg um den Teich und stapfte durch den weißen, rutschigen Dünensand, hielt mich an Wacholderheiden und gelb blühenden Ginsterbüschen fest, um die Anhöhe der Düne zu erreichen, von der aus ich sowohl den Weg als auch den Teich im Auge zu behalten glaubte. Als ich jedoch den Hügel erklommen hatte, musste ich ernüchtert feststellen, dass von meinem neuen Standpunkt aus weder der Pfad noch das Gewässer zu erblicken war. Nichts als Dunst und Nebel und Dunkelheit.

»Lotte!«, rief ich zaghaft und ängstlich, doch als Antwort rief mich lediglich ein Käuzchen an, das auf einem Kiefernzweig saß und auf Beute lauerte. Unverzagt schaute ich in die zunehmende Dunkelheit und wusste, dass ich nicht länger warten konnte. Wenn ich zum Melken der Kühe nicht zurück auf dem Bauernhof war, würden meine Eltern kaum Verständnis dafür aufbringen können. Was ich in den Nachmittagsstunden nach getaner Stall- oder Feldarbeit tat und zu welchem Zweck und mit wem ich mich in der Gegend herumtrieb, schien sie nicht weiter zu interessieren. Sie tauschten allenfalls vielsagende Blicke aus, als hätten sie einen bestimmten Verdacht. Aber nie fragten sie nach, wenn ich wortlos meinen Wanderstab ergriff und den Filzhut aufsetzte. Sollte ich jedoch meine Pflichten auf dem Hof vernachlässigen, so würde dies unweigerlich Ärger heraufbeschwören.

»Sie kommt nicht mehr«, murmelte ich und wischte mir die Nässe aus dem Gesicht. Ich schlotterte mittlerweile am ganzen Körper, mir war elend zumute, und eine Art Fieber hatte mich ergriffen. Ich spürte den Regen nicht mehr, auch die Kälte nicht. Und immer wieder murmelte ich: »Sie kommt nicht.«

Schweren Herzens machte ich mich schließlich auf den Heimweg, stiefelte mühsam durch die Heide in Richtung Ahlbeck und erkannte kaum den Boden zu meinen Füßen. Der Weg war lediglich ein Trampelpfad von wenigen Ellen Breite, hier und da von Heidekraut überwuchert und von Baumwurzeln der umstehenden Kiefern durchzogen, über die ich immer wieder stolperte. Es war inzwischen stockfinster, und es fiel mir schwer, mich zu orientieren.

Ich dachte ich an die Zeit zurück, als Lotte und ich uns kennengelernt hatten. Zu Beginn des Jahres hatte ich meine Mutter mit dem Einspänner zu dem etwa eine Meile entfernten Nachbarort Oldendorf chauffiert. Sie hatte von der Frau des Amtmannes Boomkamp den Auftrag erhalten, für deren Tochter ein Abendkleid zu nähen. Vor ihrer Heirat und bevor es sie ins Münsterland verschlagen hatte, war meine Mutter eine talentierte Schneiderin aus dem Hannoverschen gewesen, und sie nahm auch heute von Zeit zu Zeit noch Aufträge an, um zusätzliches Geld in die Haushaltskasse zu bekommen. Während meine Mutter bei dem »Fräulein Lieselotte« – wie sie uns vorgestellt worden war – Maß nahm, starrte ich die Amtmannstochter wie ein Wesen aus einer fremden Welt an. Ihre Augen waren leuchtend blau, die Nase gerade und spitz, die Lippen voll, und ihre lockigen hellblonden Haare umrahmten ein etwas blasses, aber unbeschreiblich anmutiges Gesicht. Sie lächelte mir verschämt zu und bekam rote Wangen, während sie sich gleichzeitig mit meiner Mutter über die belanglosesten Dinge unterhielt. Die ganze Zeit sprach ich kein Wort und stierte sie nur an, sodass meine Mutter mich anschließend rügte und fragte, warum ich so unhöflich gewesen sei.

Als das Abendkleid, ein leuchtend rotes, mit Spitzen besetztes Kleid aus Seide und Samt, nach drei Wochen fertiggestellt war, brachte ich es nach Oldendorf und hatte die Gelegenheit, das hübscheste und vornehmste aller mir bis dahin begegneten Mädchen ein zweites Mal zu sehen. Diesmal empfing mich das Fräulein Lieselotte bereits mit dem verschämten Blick und den roten Wangen, und wir hatten die Gelegenheit, einige Worte miteinander zu wechseln. Sie bat mich, sie »Lotte« zu nennen, das sei viel hübscher und im Übrigen habe sie vor kurzem ein fürchterlich trauriges Buch gelesen, in dem die arme Heldin ebenfalls Lotte geheißen habe. Ich war so aufgeregt, und mein Herz schlug derart wild, dass ich lediglich zusammenhangslos daherstammelte und ungelenk in der Gegend herumstand. Doch als ich mich wenig später anschickte, das Haus zu verlassen, und ihr die Hand reichte, schob sie mir einen Brief zu und lächelte ein reizendes und zugleich verschrecktes Lächeln, als wäre ihr selbst nicht geheuer, was sie gerade tat. Den Inhalt des ebenso zauberhaften wie kurzen Schreibens werde ich nie vergessen:

»Kommst du morgen um drei zum Seerosenteich?«, las ich, kaum dass ich mich auf den Heimweg gemacht hatte, und mein Herz hüpfte vor Freude. »Ich erwarte dich am Fuße der großen Düne. L.«

Zwar wunderte ich mich, dass Lotte nicht einfach mit mir gesprochen hatte, schließlich waren wir zu dem Zeitpunkt allein im Zimmer gewesen und niemand hätte uns belauschen können. Aber, so erklärte sie mir später, Briefe seien viel romantischer.

Aus dem einmaligen Treffen waren mittlerweile wöchentliche Stelldicheins geworden. Jeden Dienstag Nachmittag trafen wir uns am Teich, gingen spazieren, redeten flüsternd miteinander und hielten uns an der Hand. Ort und Zeit waren mit Bedacht gewählt. Die Heide lag genau in der Mitte zwischen den beiden Dörfern Ahlbeck und Oldendorf, und Lottes Eltern wähnten ihre Tochter zu diesem Zeitpunkt in der nahegelegenen Stadt Altheim bei einer alten Dame zum Musikunterricht. Niemand außer uns beiden kannte unser süßes Geheimnis.

Ich fuhr aus meinen Gedanken auf, blickte mich um und stellte mit Schrecken fest, dass ich vom Pfad abgekommen war und mich mitten in der Heide befand. Ringsum nichts als Wacholdergebüsch, Heidegras und Sand. Ich hatte Zeitgefühl und Orientierung verloren und wusste nicht, wie lange ich gedankenversunken dahergeirrt war und in welche Himmelrichtung ich meine Schritte nun lenken sollte. Kein Stern war zu sehen, der Nebel war undurchdringlicher denn je. Ich wollte bereits einen gotteslästerlichen Fluch gen Himmel schicken, als ich in einiger Entfernung ein Licht in der Heide sah. Ich näherte mich und erkannte ein Lagerfeuer. Ein Schäfer hatte es sich dort unter einem steinernen Unterstand gemütlich gemacht und röstete eine Kartoffel über dem Feuer. Er hatte einen breitkrempigen Lederhut tief ins Gesicht gezogen und war so mit sich und seiner Tätigkeit beschäftigt, dass er mich nicht wahrnahm. Sein schwarzer Schäferhund lag zu seinen Füßen, und die Schafe standen ringsum aneinandergedrängt und reglos im Nieselregen.

Plötzlich hörte ich Pferdegetrappel dicht hinter mir. Der Nebel und der weiche Heideboden hatten die Geräusche des herannahenden pechschwarzen Pferdes dermaßen gedämpft, dass ich es erst hörte, als es beinahe schon über mich hinweggaloppierte. Im letzten Moment konnte ich mich zu Boden werfen und hinter einen Ginsterbusch, rollen. Der Reiter schien mich nicht gesehen zu haben, er ritt schnurstracks weiter und gab seinem Gaul die Sporen. Als er jedoch das Lagerfeuer erblickte, zog er heftig an den Zügeln und rief: »Hü!« Das Pferd schnaubte und blieb schliddernd auf dem glitschigen Untergrund stehen.

»He, du da!«, rief der Reiter dem Schäfer zu, wartete einen Moment, bis dieser aufschaute, und stieg dann, da der Angesprochene nicht reagierte, von seinem Tier ab. Auf dem Kopf trug er einen Dreispitz mit einer riesigen Fasanenfeder, und seine rosigen Wangen zierte ein buschiger Backenbart. »Heda, Schäfer!«, rief der Mann. »Wie komme ich von hier aus nach Ahlbeck? Ich scheine vom Weg abgekommen zu sein.«

Der Schäfer antwortete nicht auf die Frage, schaute nicht einmal auf und war gerade mit Fleiß dabei, eine geröstete Kartoffel zu pellen. Nur der Hund zu seinen Füßen sprang auf, gab jedoch – wie sein Herrchen – keinen Laut von sich.

»Bist du taub?«, rief der Mann mit der Fasanenfeder. »Mach den Mund auf! Wie komme ich am schnellsten zum Ahlbecker Venn? Zum Bauern Schulze Lanvermann?«

Der Schäfer hob seinen Kopf, und unter der Krempe seines Hutes kam ein langer schwarzer Bart und eine riesige und runzlige Knollennase zum Vorschein. Im Gesicht des Bärtigen war ein listiges Grinsen zu erkennen, als er sagte: »Setz dich hin. Willst du einen Erdapfel haben?«

»Was soll ich denn damit?«, entgegnete der Reiter.

»Essen!«, lautete die Antwort des Schäfers.

»Ich habe keinen Hunger, ich will zum Bauern Lanvermann! Zu eurem Dorfschulzen! Kannst du mir sagen, wie ich auf den Weg zurückfinde?«

»Was bist du denn gleich so kiebig?« Der Mann am Lagerfeuer war nicht aus der Ruhe zu bringen, tätschelte seinem Hund den Rücken und lächelte ein ebenso zahnloses wie lausbübisches Lachen. Trotz der fehlenden Zähne schätzte ich den Mann auf höchstens fünfzig Jahre, vielleicht sogar jünger. Zwar war sein Gesicht wettergegerbt und die Haut welk, aber sein Blick war hellwach, und die Augen blitzten wie die eines jungen Mannes.

»Ich bin nicht kiebig, ich habe es nur sehr eilig!«, rief der Mann mit dem Dreispitz, stieg wieder auf sein Pferd und hantierte ungeduldig mit den Zügeln, sodass das Tier nervös auf der Stelle trat und die Nüstern aufblähte.

»Du bist ein Oldendorfscher, was? Hurtig wie die Bienen und ebenso reizbar.« Abermals zeigte der Schäfer seine zahnlosen Kiefer und lachte herzhaft. »In Ahlbeck sind wir nicht so flink.« Er untermalte seine Worte, indem er die Silben dehnte und anschließend gähnte.

Dem Mann auf dem Pferd wurde es nun zu bunt. Er richtete sich in seinem Sattel auf und posaunte: »Ich bin der Amtmann Boomkamp. Würdest du mir also bitte den Weg zur holländischen Grenze weisen?«

Bei diesen Worten fuhr es mir durch Mark und Bein. Ich zuckte zusammen und musste mir auf die Lippe beißen, um keinen Mucks von mir zu geben. Lottes Vater! Auf dem Weg zum Bauern Schulze Lanvermann! Es lief mir heiß und kalt über den Rücken.

»Was ist nun?« Majestätisch thronte er auf seinem Pferd und harrte stoisch einer Antwort. »Willst du dem Amtmann nicht antworten?«

»Was du nicht sagst«, antwortete der Schäfer, der ebenfalls zusammengezuckt war. »Amtmann Boomkamp!« Das schelmische Grinsen war mit einem Mal aus seinem Gesicht verschwunden, und stattdessen glaubte ich so etwas wie Vorsicht, wenn nicht gar Furcht darin lesen zu können. »Wenn Ihr wirklich der Amtmann seid«, sagte er schließlich zögerlich, »dann solltet Ihr den Weg zum Bauern Lanvermann eigentlich kennen.«

»Natürlich kenne ich den Weg«, wetterte Boomkamp, »aber ich habe dir doch gerade erklärt, dass ich vom Pfad abgekommen bin und mich verirrt habe. Ist das denn so schwer zu begreifen?«

»Schreckliches Wetter, nicht wahr?«, erwiderte der Schäfer, als hätte er die Worte des Amtmannes tatsächlich nicht verstanden. »Da schickt man keinen Hund vor die Haustür. Und schon gar keinen Amtmann!«

»Das Wetter?!«, unterbrach ihn der andere, der nun gänzlich die Geduld verlor und unruhig auf dem Sattel hin und her rutschte. »Willst du mich auf den Arm nehmen, oder bist du so dumm, wie du tust?!«

»Warum denn gleich brüllen? In Ahlbeck sind wir eben nicht so helle«, antwortete der Schäfer, betrachtete sein Gegenüber misstrauisch aus den Augenwinkeln, senkte aber sofort wieder den Blick, als wäre es ihm unangenehm, dem Amtmann in die Augen zu schauen. Er widmete sich erneut voller Inbrunst seiner Kartoffel. Auch der Hund legte sich wieder hin und schien den Mann mit dem Pferd nicht länger zu beachten.

Boomkamp spuckte gar nicht amtmännisch auf den Boden, gab seinem Rappen einen Tritt in die Seite und galoppierte verärgert davon. »Verdammtes Bauernpack«, hörte ich ihn noch keifen, als der Nebel ihn längst hatte unsichtbar werden lassen. »Das Moor soll euch schlucken! Ihr Ahlbecker werdet euch noch umschauen, das verspreche ich euch!«

Ich lag regungslos hinter meinem Ginsterbusch und versuchte, meiner Aufregung Herr zu werden. Mein Herz pochte wie wild, und der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich bemühte mich, ruhig zu atmen und nachzudenken. Was hatte Boomkamp mit dem Ahlbecker Dorfschulzen zu schaffen? Warum galoppierte er deswegen bei Nacht und Nebel durch die Heide?! Und plötzlich wusste ich, warum Lotte nicht wie verabredet am Teich erschienen war. Man hatte sie ertappt! Das war die einzige Erklärung. Womöglich war der Amtmann durch Zufall der Musiklehrerin begegnet und hatte von ihr erfahren, dass seine Tochter seit Wochen nicht mehr zum Unterricht erschienen war, oder man hatte Lotte auf dem Weg zur Heide gesehen. Sie haben sie ertappt, schoss es mir durch den Kopf. Daran konnte für mich kein Zweifel bestehen. Und jetzt war ihr Vater auf dem Weg nach Ahlbeck.

»Und du brauchst dich auch nicht länger zu verstecken!«, rief der Schäfer plötzlich. »Kannst ruhig rauskommen!«

Wieder fuhr ich zusammen. Ich sah zu dem Mann am Lagerfeuer hinüber, der seine Haltung nicht geändert hatte. Doch obgleich er nicht zu mir herüber-, sondern unverwandt ins Feuer schaute, war offensichtlich, dass er mich mit seinen Worten gemeint hatte.

»Bist du bange?!«, fragte er und schaute auf. Sein Gesicht war nun wieder gänzlich ausdruckslos, weder grinste er noch blickte er finster drein.

Ich rappelte mich auf, klopfte den Dreck von meiner Kleidung und ging zögernd in Richtung des Schäfers, der mit seinem Stecken in der Glut herumstocherte.

»Setz dich hin!«, knurrte der Schäfer, wies auf einen Stein neben sich und hielt mir eine aufgespießte Röstkartoffel entgegen. »Willst du einen Erdapfel haben?«

»Danke«, sagte ich, nahm die Kartoffel, pellte sie und biss gierig hinein. Ich bibberte am ganzen Körper und war froh, mich am Feuer wärmen zu können. Der schwarze Hund nahm kurz Witterung auf, schnupperte an meinen Hosen und interessierte sich dann nicht weiter für mich.

»So gehört sich das«, sagte der Mann, lächelte nun wieder und fügte hinzu: »Wie heißt du?«

»Jeremias Vogelsang«, stellte ich mich vor.

»Vogelsang? Der Sohn vom Magisterbauern? Ich kenne deinen Vater«, erwiderte er und warf eine weitere Kartoffel in die Flammen. »Ich bin Kuckels Hermann.«

Wieder nickte ich und biss in meine Kartoffel. Sein Name war mir geläufig. Mein Vater hatte oft von dem »verrückten Kuckels Männsken« erzählt, der sich seit einigen Jahren mit seinen Schafen in der Gegend herumtrieb und dem allerhand merkwürdige und phantastische Geschichten angedichtet wurden. Es hieß, er lebe ein Einsiedlerleben in der Heide und im Moor, streiche einsam durch die Gegend und ziehe die Gesellschaft der Tiere denen der Menschen vor. Nie sei er länger als einen Tag am selben Ort und die Einsamkeit habe ihn zu einem seltsamen Kauz werden lassen. Im Winter verdinge er sich als Korbflechter oder ziehe von Hof zu Hof, um seine Dienste als Schlachter oder Abdecker anzubieten. Gesehen hatte ich dieses verschrobene Ahlbecker Original bislang jedoch noch nie und mitunter sogar angezweifelt, dass es ihn überhaupt gab.

Kuckels Hermann saß stoisch im Schneidersitz da, blickte ins Feuer, brummte zufrieden und kraulte abwechselnd seinen langen pechschwarzen Bart und das struppige Fell seines wohlig knurrenden Hundes. Er fragte nicht, warum ich mich vor dem Reiter hinter dem Gebüsch versteckt hatte. Er wollte nicht wissen, warum ich mich nächtens in der Heide herumtrieb. Es hatte beinahe den Anschein, als existierte ich für ihn gar nicht.

»Warum habt Ihr dem Amtmann den Weg nicht gewiesen?«, stellte ich schließlich die Frage, die mir die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte.

Anstatt zu antworten, sah er mich unverwandt an, zog plötzlich die Stirn kraus und fragte: »Du bist einer von den Deserteuren, stimmt’s? Bist vor der preußischen Landwehr getürmt!« Er kicherte und setzte kopfschüttelnd hinzu: »Ja, ich habe davon gehört.«

Ich starrte ihn überrascht an, senkte dann den Blick und schwieg.

»Willst nicht darüber reden?«, setzte er nach, kicherte und gab mir einen Klaps auf den Rücken. »Kann ich verstehen.«

Ich zuckte mit den Schultern und sagte: »Die Preußischen haben Lose gezogen, um ihre Freiwilligenverbände aufzufüllen. Und ich habe verloren. Als die Truppe letzten Monat ausrückte, da habe ich mich nicht blicken lassen und etliche andere aus dem Dorf auch nicht!« Ich schnaufte ärgerlich und setzte hinzu: »Was ist denn das auch für eine Freiwilligkeit, zu der man per Losentscheid gezwungen wird!«

»Hast keine Lust auf den Krieg, was?«

»Soll ich etwa meine Eltern und den Hof im Stich lassen, nur um mit den Preußen gegen die Franzosen zu ziehen?«, erwiderte ich aufgebracht und fügte murmelnd hinzu: »Wir haben wahrlich andere Probleme!«

»Hast ja recht, mein Junge«, erwiderte der Schäfer und lächelte nachsichtig. »Was schert uns der Krieg gegen Napoleon? Sollen die feinen Herrschaften doch selbst ihre Kriege führen. Man weiß ohnehin kaum, wer gerade das Zepter schwingt. Ein einziges Kommen und Gehen.« Er wiegte den Kopf und setzte hinzu: »Da soll noch einer durchblicken.«

Den Worten des Schäfers konnte ich nur zustimmen. Im Münsterland hatten sich in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die Herrscher die Klinke regelrecht in die Hand gegeben, die Revolutionen und Kriegswirren in Europa waren auch in unserem verschlafenen Bauernlande nicht ohne Folgen geblieben. Das einstige Fürstbistum Münster war im Jahre 1803 auf Drängen Napoleons säkularisiert worden und an weltliche Herrscher übergegangen. Das Sagen hatten fortan nicht mehr die Bischöfe gehabt, sondern die Fürsten zu Salm-Salm, diese waren zwar dem französischen Kaiser freundlich gesinnt gewesen, hatten allerdings nur wenige Jahre das fürstliche Zepter in der Hand halten dürfen. Im Jahre 1810 hatten die Franzosen dann kurzerhand das Münsterland annektiert und es sich in ihr großes und glorreiches Kaiserreich einverleibt. Sie hatten dem Landstrich ihre Verwaltung aufgepfropft und nach Gutdünken eigene Amtmänner eingesetzt. Ganze drei Jahre hatte dieses französische Zwischenspiel gedauert, bis Napoleon mit der Großen Armee den Feldzug gegen Russland gewagt, diesen schmählich verloren und sich schließlich auf die westliche Seite des Rheins zurückgezogen hatte. Den abziehenden Franzosen waren die siegreichen Preußen auf dem Fuße gefolgt. Abermals hatte sich die Herrschaft und der Name des Regenten geändert, und allmählich waren die münsterländischen Bauern dazu übergegangen, das Hin und Her der Fürsten, Könige und Kaiser wie das wechselhafte Wetter zu betrachten. Man nahm es als gottgegeben hin und versuchte, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen.

»Die Herrschaft wechselt nach Belieben«, sagte ich und wischte mir den Mund ab, nachdem ich den Rest der Kartoffel verschlungen hatte. »Aber für uns Kötterbauern ändert sich nicht das geringste. Was kümmert uns der Bischof Maximilian, Fürst Constantin, Kaiser Napoleon oder König Friedrich Wilhelm der soundsovielte? Der Grundherr und Landeigner bleibt doch immer der gleiche, und der heißt Schulze Lanvermann.«

»Schulze Lanvermann«, wiederholte der Schäfer und nickte mit dem Kopf. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und seine Mundwinkel zuckten nervös. »Habe ich es doch gewusst!«, stieß er hervor, und damit schien für ihn alles Wesentliche gesagt. Mit einem Mal jedoch fuhr er auf, sah mich an, als erinnerte er sich an etwas, und sagte: »Du bist also der Vogelsang-Filius? Hast du gar keine Angst?«

»Angst?«, antwortete ich und schaute ihn verständnislos an. »Wieso?«

»Ich an deiner Stelle hätte Angst«, erwiderte der Schäfer, nickte wissend und setzte mit merkwürdig traurigem Unterton hinzu: »Ich habe auch einen Sohn, ungefähr in deinem Alter.« Er lächelte plötzlich entrückt und fragte: »Wie alt bist du?«

»Beinahe neunzehn.«

»Siehst du, das habe ich mir gedacht.« Er rieb sich die Runkelnase und setzte hinzu: »Alwin wird im nächsten Monat zwanzig Jahre alt. Ich muss mir ein Geschenk für ihn überlegen, er freut sich immer so, wenn ich ihm etwas mitbringe. Auch wenn er gar nicht weiß, wer ich bin. Er kennt mich ja gar nicht, weil ich ihm nie unter die Augen trete. Das darf ich nicht.«

Ich stutzte und wartete auf Weiteres, aber er konzentrierte sich wieder auf die Kartoffel im Feuer und murmelte: »Zwanzig Jahre, eine lange Zeit.« Dann blickte er auf, betrachtete mich nachdenklich und meinte: »Schulze Lanvermann ist dein Grundherr. Als hätte ich es gewusst.« Er neigte bedächtig den Kopf und wiederholte flüsternd: »Habe ich es mir doch gedacht.«

Mein Vater hatte, wie ich mich jetzt erinnerte, einmal behauptet, Kuckels Hermann sei ein Spökenkieker, ein Geisterseher, und habe das zweite Gesicht. Mir allerdings erschien der Schäfer im Moment nur wie ein verwirrter und höchst eigentümlicher Sonderling, der unsinniges und dummes Zeug daherredete. Ich ließ mich durch seine wunderliche Art nicht beirren und wiederholte meine Frage von vorhin: »Warum habt Ihr dem Amtmann Boomkamp nicht geantwortet?«

»Von Franzmännern da halte ich nicht viel von«, antwortete er schließlich und spuckte ins Feuer, dass es zischte. »Und die oldendorfschen Franzmänner sind die schlimmsten von allen. Alles Verbrecher!«

»Seit wann ist Amtmann Boomkamp denn Franzose?«

»Der Welsche hat ihn doch erst zum Amtmann gemacht! Das ist gerade mal drei Jahre her. Und jetzt? Jetzt jagt er den Kaiserlichen hinterher, als hätte er nie was anderes getan. Verdammter preußischer Büttel!« Wieder spuckte er ins Feuer und setzte grummelnd hinzu: »Das ist ein Teufel, der Amtmann! Dem ist nicht zu trauen. Der ganzen Sippe nicht. Alles Teufel! Man muss sich überhaupt vor den Gendarmen in Acht nehmen!«

»Was kann der Amtmann so spät noch vom Bauern Lanvermann wollen?«, dachte ich laut. »Das ist doch seltsam, oder?«

»Er kommt euch holen!«, rief er und funkelte mich an. »Das ist sein schlechtes Gewissen, das sage ich dir. Wie ein Fähnchen im Wind und immer zum eigenen Vorteil, mal französisch, dann preußisch, und darum kommt er euch jetzt holen.« Er beugte sich zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: »Mit seinen Gendarmen.« Er nickte und schüttelte dann eifrig den Kopf. »Das tun sie immer! Dann jagen sie dich fort oder sperren dich ein!«

»Was meint Ihr damit?«

Statt einer Antwort zog er sich den Lederhut über die Augen, senkte den Kopf, stocherte wieder mit dem Stecken in der Glut des niedergebrannten Feuers und deutete mit einer Kopfbewegung nach links. »Der Weg nach Ahlbeck, der ist gleich da vorne.« Mit irrem Lächeln im Gesicht fügte er hinzu: »Nicht mal einen Steinwurf von hier entfernt! Kannst du gar nicht verfehlen.«

Ich stand schwerfällig auf, wusste nicht, was ich von all dem halten sollte, und sagte: »Danke für die Kartoffel. Ich muss jetzt nach Hause. Die Eltern machen sich gewiss schon Sorgen.«

»Aber pass gut auf!«, rief er mir nach. »Es treibt sich allerlei fremdes Gesindel in der Gegend herum. Sei auf der Hut!«

»Was denn für Gesindel?«, erwiderte ich und wandte mich um.

Er schüttelte nur langsam den Kopf, spuckte in die glühenden Holzscheite und schien mich im gleichen Augenblick bereits vergessen zu haben. Er holte eine völlig verkokelte Kartoffel aus der Glut und fluchte zischelnd: »Schiete! Das kommt davon!«

2

Unser Bauernhof bestand neben ein paar Morgen Weideland und einigen Äckern nur aus einem kleinen und altersschwachen Häuschen, dessen Spitzdach mit einfachen Holzschindeln gedeckt war und dessen Wände aus gehärtetem Lehm gefertigt waren. Im hinteren Teil des Hauses befand sich die Wohnstube, die zugleich als Küche, Waschkammer, Wohnraum und Schlafzimmer für die Eltern diente. Zwei kleinere und nicht beheizbare Kammern wurden von uns Kindern als Schlafräume genutzt. Da sich unter dem Dach der Getreidespeicher befand und hier viel Platz nötig war, um Heu und Stroh zu lagern, waren die darunter liegenden Kammern sehr niedrig. Der vordere Teil des Kottens wurde von der Tenne beherrscht, einer großen Diele aus gestampftem Lehmboden, auf dem im Sommer das Getreide gedroschen wurde. An der Längsseite der Tenne befanden sich die Stalltrakte, in dem wintertags die Rinder untergebracht waren. Auch das Pferd hatte hier seinen Holzverschlag. Allein die Schweine hatten einen eigenen Stall auf dem Hof, direkt neben einem kleinen Schuppen für die Werkzeuge und Arbeitsgeräte. Unser Kotten sah aus wie die meisten Höfe der Ahlbecker Pachtbauern, viel zu klein und gänzlich schmucklos, die Beengtheit – vor allem in der Wohnstube – führte zu einem heillosen Durcheinander. Die Wände der Stube waren rußgeschwärzt, und da es damals noch keine Schornsteine gab, musste auch bei bitterer Kälte das Fenster geöffnet werden, um den Rauch abziehen zu lassen.

Wie oft hatte ich die klamme Kälte, die durchdringende Feuchtigkeit und die betäubende Räucherluft in den Kammern verwünscht, wie oft hatte ich davon geträumt, in einem herrschaftlichen Haus oder doch wenigstens auf einem größeren Bauernhof zu leben! Doch so armselig und winzig der Kotten auch war, ich vermag kaum zu beschreiben, wie mein Herz vor Freude hüpfte, als ich an jenem Abend auf meinem Weg aus der Heide endlich am elterlichen Haus anlangte. Der windschiefe Lehmbau erschien mir in diesem Moment wie ein königlicher Palast. Ich wusste nicht genau, wie lange ich in der Dunkelheit herumgeirrt war und wie ich überhaupt zum Kotten zurückgefunden hatte. Mein Kopf dröhnte und schien platzen zu wollen.

Mein Vater wartete bereits vor der Tenne auf mich und versperrte mir den Weg. »Wo kommst du denn jetzt her?«, rief er und packte mich am Schlafittchen. »Verdammtes Blag, weißt du nicht, wie spät es ist?!«

Er war ein großer und stämmiger Mann von knapp sechzig Jahren mit krausem, nur an den Schläfen ergrautem Haar und buschigen Augenbrauen, unter denen seine dunkelbraunen Augen mich böse fixierten.

Ich stand mit gesenktem Kopf vor ihm auf dem Hof, und die Tränen liefen mir über die Wangen, ohne dass ich recht wusste, wieso.

»Hör auf zu flennen!«, schrie er nur noch lauter. »Das kann dir auch nicht helfen! Godverdori!«

Dass mein Vater gotteslästerlich fluchte, hätte mich warnen müssen, doch die Ohrfeige, die seinem Wutausbruch folgte, kam so unerwartet und war so heftig, dass sie mich von den Beinen riss und zu Boden schickte.

»Aber Heinrich«, hörte ich die Stimme meiner Mutter, die nun ebenfalls im Tor erschien. »Bist du denn verrückt? Schlägst ihn ja tot!«

»Rede keinen Unsinn, Frau!«, antwortete mein Vater, schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse. »Der Bursche soll sich nicht so anstellen. Nichtsnutziger Lausebengel!« Er packte mich am Kragen und hob mich in die Höhe, als wäre ich aus Papier. »Das Vieh kann verhungern und im eigenen Mist versinken«, sagte er und hielt sein Gesicht direkt vor meinem. »Hauptsache, der Herr Sohnemann hat seinen Spaß, was?!«

»Entschuldige, Vater«, sagte ich leise und flehentlich. »Ich habe mich … im Nebel verlaufen … ich war … ich bin …« Verwirrt hielt ich inne, wusste nicht mehr, was ich sagen wollte, und sah meine Eltern ratlos an. »Es tut mir leid.«

Meine Knie schlotterten, und auch das Zittern meines Unterkiefers hatte ich nicht mehr unter Kontrolle. Meine Nase lief und war eiskalt, und meine Augen brannten wie Feuer. Mir war hundeelend, vor Scham und vor Kälte.

»O Gott, Junge! Was ist mit dir?«, sagte meine Mutter, nahm mich in die Arme und führte mich über die Tenne. Der Stallgeruch und die dampfende Wärme der Tiere schlugen mir wohltuend entgegen, ich atmete tief ein, und im gleichen Moment lief mir ein Schauer über den Rücken.

»Du wirst mir doch hoffentlich nicht krank?!«, rief meine Mutter besorgt. »Hast ganz glasige Augen. Lass mal deine Stirn fühlen. Ist ja ganz heiß. Kein Wunder, bist ja klitschnass! Was machst du aber auch für Sachen? Rennst den ganzen Tag im Regen herum, als wärst du nicht ganz richtig im Kopf. Was ist bloß in dich gefahren, Jeremias?«

»Völlig verweichlicht, der Bursche«, lautete der Kommentar meines Vaters. Er knallte das Tennentor zu und schüttelte erneut den Kopf. »Rotzlöffel!« Erst jetzt bemerkte ich den beinahe erleichterten Unterton in seiner Stimme. Es schien, als wäre er nicht so sehr aus Ärger als vielmehr aus Sorge so böse mit mir. Noch nie war ich ohne Ankündigung so lange und bis weit nach Sonnenuntergang ausgeblieben, und dass ich meine Pflichten auf dem Hof vergaß, sah mir ebenfalls nicht ähnlich. Vermutlich hatten meine Eltern sich ernsthafte Sorgen gemacht, und dies war auch der Grund gewesen, warum mein Vater vor der Tennentür auf mich gewartet hatte.

»Du gehst sofort ins Bett«, befahl meine Mutter, mit strengem Seitenblick zu ihrem Mann, und schob mich in meine Kammer, die direkt neben der Wohnstube lag. »Ab unter die Decke! Ich komme gleich und bringe dir was Warmes. Dann geht es dir morgen schon wieder besser!«

Meine beiden kleinen Schwestern standen in der Tür zur Nachbarkammer und verfolgten die Szene mit einer Mischung aus Neugier und Schadenfreude. Als unsere Blicke sich trafen, kreischte Mechtild, die jüngere der beiden, laut auf und lief aufs Zimmer. Maria, die ältere, sah mich stirnrunzelnd und mitfühlend an, sie schien etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber und folgte dem Beispiel ihrer Schwester.

»Und dass mir das nicht noch mal vorkommt«, rief mein Vater mir nach, nun schon merklich ruhiger. »Dann setzt es eine Tracht Prügel!«

»Ja, Vater«, sagte ich und verschwand in meiner Kammer. Nebenan hörte ich die Mädchen kichern und flüstern und erneut kichern. Doch ich nahm kaum noch etwas wahr oder nur wie durch Watte. Ich entzündete die Nachtkerze und warf mich heulend aufs Bett.

Als meine Mutter wenig später mit Milchsuppe und Kräutertee ins Zimmer trat, hatte ich die nassen Sachen ausgezogen, mich bibbernd unter die Wolldecke gelegt und meine Tränen getrocknet. Sonst war ich keine solche Heulsuse, aber im Moment war mir schlicht nach Weinen zumute. Auch als Mutter sich auf die Bettkante setzte und mir die Tasse mit dem Tee reichte, hatte ich Mühe, meine Tränen zurückzuhalten.

»Es ist dieses Mädchen, nicht wahr?«, sagte sie.

Ich stierte sie sekundenlang an, wusste nicht was ich sagen sollte, und nickte schließlich mit dem Kopf. »Woher weißt du?«

»Ich bin auch nicht ganz auf den Kopf gefallen.« Sie tätschelte meine Wange, gab mir einen Kuss auf die Stirn, schaute mich sorgenvoll an und fragte: »Seit wann geht das schon mit euch?«

»Seit ein paar Wochen«, antwortete ich. »Aber wir haben nichts getan, dessen wir uns hätten schämen müssen!«

»Und warum habt ihr es dann heimlich getan? Du bist achtzehn Jahre alt. Glaubst du, wir würden es dir verbieten, dich mit Mädchen zu treffen? Du bist alt genug, um selbst zu wissen, was du tust. Viele Jungs in deinem Alter sind längst verheiratet und haben Kinder.«

»Lotte ist nicht wie die anderen Mädchen«, sagte ich und hielt die Hand meiner Mutter. »Nicht so ein albernes Kicherweib wie die Ahlbecker Trinen. Sie liest Romane und schreibt Gedichte. Wir sind am See spazieren gegangen und haben geredet und uns aus Büchern vorgelesen.«

»Und ihr arrangiert heimliche Treffen in der Wildnis, als wärt ihr selbst aus einem Buch entfleucht«, erwiderte sie, tätschelte meine Hand und ließ sie dann los. »Das wirkliche Leben ist nun mal nicht so romantisch, wie es in den Büchern zu lesen ist. Händchenhalten ist gewiss eine schöne Sache, aber sie macht nicht satt.«

Wieder konnte ich sie nur verwundert anstarren. Schließlich brachen die Tränen wieder hervor, und ich rief: »Es ist nun ohnehin alles vorbei!«

Meine Mutter presste die Lippen aufeinander und sagte: »Wer weiß, vielleicht ist es besser so.«

»Nur weil sie eine Oldendorfsche ist?«, ereiferte ich mich, fuhr im Bett hoch und verschüttete dabei den Tee.

Meine Mutter sprang auf, da ich ihr einen Teil der Flüssigkeit über den Kittel geschüttet hatte. »Ach was, Jeremias, deswegen doch nicht«, sagte sie kopfschüttelnd, während sie sich gleichzeitig die Flecken mit einem Tuch abwischte. »Sie ist eine Boomkamp«, sagte sie mit ernster Miene und ging zur Tür. »Vergiss das nicht! Sie ist die Tochter des Amtmannes, und du weißt genau, was das heißt!«

Ich nickte und legte mich wieder hin. Ich wusste es nur zu gut. Boomkamp war in seiner Eigenschaft als Amtmann zugleich Hauptmann einer Landsturmkompanie. Anders als die im Felde kämpfende Landwehr blieben die Landsturmmänner in der Heimat und dienten dort als Hilfsgendarmen. Eine ihrer Aufgaben bestand darin, die Fahnenflüchtigen dingfest zu machen. So kam es, dass der einst von den Franzosen eingesetzte Amtmann nun dafür zuständig war, die Deserteure ins Gefängnis oder in den Krieg gegen Napoleon zu schicken. Das alles war mir durchaus bekannt, aber ich wollte es nicht wahrhaben.

»Der Krieg wird bald vorbei sein«, beharrte ich deshalb, »und dann wird niemand mehr von der Fahnenflucht reden!«

Diese Worte entstammten nicht nur reinem Wunschdenken, sondern beruhten auf dem, was allerorts zu hören war. Die preußischen Truppen waren längst in Frankreich eingefallen und hatten, wie es hieß, vor wenigen Tagen die Stadt Paris zur Kapitulation gezwungen. Die Niederlage Napoleons war so gut wie besiegelt, und die Abdankung des Kaisers wurde sozusagen stündlich erwartet. Schon in Kürze würden die Landwehrtruppen nach Hause geschickt werden und der Krieg in Europa beendet sein.

»Wenn die Franzosen erst einmal geschlagen sind«, sagte ich mit Nachdruck, »dann wird kein Hahn mehr nach uns Deserteuren krähen.«

»Umso mehr Grund, nicht in der Gegend herumzustreunen, sondern dich versteckt zu halten, bis der Krieg beendet ist«, sagte meine Mutter und trat erneut ans Bett. »Oder hast du Lust im Gefängnis zu enden?«

Ich schüttelte den Kopf und sagte kleinlaut: »Natürlich nicht.«

»Hast du deiner Lotte erzählt, dass ihr Vater nach dir fahndet?«, setzte sie hinzu. »Weiß sie, dass du ein Deserteur bist?«

Ich senkte den Blick und schwieg betreten. Nein, das hatte ich nicht. Es hatte sich nicht ergeben, ich hatte mich nicht getraut. Außerdem hatten wir über Poesie geredet, nicht über Politik. Ich schüttelte den Kopf.

»Siehst du«, sagte meine Mutter, »und selbst wenn sie es wüsste und dich deswegen nicht gering schätzen würde, ihr Vater sähe das sicherlich ganz anders. Er wird niemals einwilligen und dich als Freier akzeptieren. Du bist ein einfacher Köttersohn, und sie eine Tochter aus gutem Hause. Das wird er niemals zulassen. Schlag dir das Mädchen lieber aus dem Kopf! Es ist besser so, glaube mir! Solche Leute sind nichts für unsereins. Da gehören wir nicht hin. Kannst du dir deine Lotte als gewöhnliche Bäuerin vorstellen? Und kann sie sich das vorstellen? Weiß sie, was es heißt, von morgens bis abends zu arbeiten, tagaus, tagein in dreckigen Kitteln und Holzpantinen an den Füßen herumzulaufen und nachts in klammen Betten zu schlafen?«

»Aber wir haben uns doch lieb«, versuchte ich einzuwenden.

»Das ist schön, mein Junge, das ist sogar sehr schön. Aber es ist leider nicht entscheidend!«

Ich starrte sie ungläubig an und sagte: »Aber du hast Vater doch auch aus Liebe geheiratet.«

»Ich war eine stellungslose Näherin ohne Heimat«, erwiderte sie und seufzte schwermütig. »Wenn ich deinen Vater nicht geheiratet hätte, wäre ich wahrscheinlich als niedere Gesindefrau auf einem großen Hof gelandet. Ich habe Heinrich mit Liebe geheiratet, aber nicht aus Liebe.« Sie lächelte müde und blickte versonnen zur Wand. »Ich bin deinem Vater zutiefst dankbar.«

Dankbar?, wunderte ich mich und stierte sie überrascht an. Mein Vater war ein ungehobelter westfälischer Bauer gewesen, zwar der Sohn des Magisters, aber eher ein sittenstrenger und gläubiger als ein gebildeter Mann und nicht eben das, was man gemeinhin einen hübschen Kerl nennt. Meine Mutter hingegen war als junge Frau eine wirkliche Schönheit gewesen, mit auffallend dunklem Teint und rehbraunen Augen. Zwar waren die ehemals glänzendschwarzen Haare inzwischen ergraut und ihre Wangen ein wenig eingefallen, aber auch jetzt noch war Mutter eine schöne Frau, und die Männer in Ahlbeck ließen es ihr gegenüber nicht an Bewunderung fehlen. Warum redete sie also von Dankbarkeit? Nur weil sie eine Zugereiste war? Und keine begüterte Bauerntochter?

Sie kniff erneut die Lippen zusammen, deutete auf die Suppe auf dem Nachttisch und sagte: »Iss jetzt!« Und dann ging sie hinaus.

»Was ist mit Jeremias?«, hörte ich auf der Tenne die Stimme meiner Schwester Maria. »Ist er krank?«

»Ja, Maria«, antwortete meine Mutter, »das auch.«

Ich lag auf dem Bett, löffelte zaghaft meine Suppe, starrte ins Nichts und hörte dem Trippeln der Mäuse zu, die sich auf dem Dachboden am Getreide gütlich taten. Ich schloss die Augen und sah Lottes Gesicht vor mir, ihre blonden Locken, ihren verschämten Blick, ihre roten Wangen, und ich hörte sie erzählen, von romantischen Geschichten, aufregenden Abenteuern und immerwährender Liebe. Allmählich glitt ich hinüber ins schwerelose Land der Träume …

Ein lautes Klopfen und aufgeregtes Schreien an der Tür ließ mich mit einem Mal aufschrecken und zusammenfahren. Bevor ich mich recht gefasst hatte und wusste, wo ich mich befand, wurde die Tür aufgerissen, und der Amtmann stürzte in die Kammer. Er schäumte vor Wut, fiel über mich her und packte mich an der Gurgel, dass ich nur mehr röcheln konnte.

»Verdammter Lump!«, schrie er mich an. »Was fällt dir ein, Schande über meine Tochter zu bringen?! Das wirst du mir büßen! Jetzt geht es dir an den Kragen!«

Ich versuchte, mich aus seiner Umklammerung zu befreien, aber es war zwecklos. Ich wollte schreien, aber kein Ton kam mir über die Lippen. Immer fester drückte er zu, ich rang nach Luft, wirbelte hilflos mit meinen Armen umher und konnte mich doch nicht aus dem Würgegriff winden. Das einzige, was ich mit den Händen zu fassen bekam, war die brennende Kerze auf dem Nachttisch. Sie fiel um und landete auf dem Boden. Es wurde dunkel.

Und dann wachte ich auf.

Mein Herz raste, ich saß senkrecht und nass geschwitzt im Bett und starrte zum Nachttisch, auf dem die Kerze immer noch brannte und auch die leere Suppenschüssel stand. Ich hatte allerhöchstens ein paar Minuten geschlafen. Angestrengt horchte ich nach draußen und wusste plötzlich, was der Grund für meinen Alptraum gewesen war. Ein Poltern war zu vernehmen. Es hörte sich an, als würde von außen an das Tennentor gehämmert. Ich stand auf und ging mit wackligen Knien zur Tür, und wahrhaftig – ein zweites Mal war das Klopfen laut und deutlich zu vernehmen. Ein Mann rief den Namen meines Vaters, und das Vieh auf der Tenne wurde unruhig. Ich hörte Schritte auf der Diele, sie entfernten sich, eine Tür knarrte, dann Stille. Und schließlich kamen die Schritte zurück, zwei Männerstimmen waren zu erkennen, ohne dass ich hören konnte, worüber sie sich unterhielten. Die eine Stimme redete ruhig und schnell, die andere antwortete brummig und missgestimmt. Ein Besucher zu so später Stunde? Träumte ich etwa immer noch? Begann der Alptraum wieder von vorne?

Die Tür zur Wohnstube öffnete und schloss sich, und die Stimmen verstummten. Es war mit einem Mal so still im Haus, als wäre ich die einzige lebende Seele darin. Verwundert hielt ich inne, lauschte noch einen Moment und versank dann in düstere Gedanken. Meine Zukunft erschien mir wie ein tiefer schwarzer Abgrund, und nichts konnte mich davor retten hineinzustürzen.

Ein Klopfen an der Zimmertür ließ mich zusammenfahren.

»Ja?«, rief ich verschreckt und schlüpfte zurück ins Bett.

Meine Mutter schaute zur Tür herein und sagte: »Ich habe Licht in der Kammer gesehen. Warum schläfst du noch nicht? Hat die Suppe nicht gutgetan? Willst du noch Tee?«

»Doch, nein, schon gut«, antwortete ich und beeilte mich hinzuzufügen: »Mir geht es schon viel besser.«

»Das ist brav, mein Junge. Und jetzt schlaf schön.« Sie lächelte und wollte sich zurückziehen.

»Mutter?«, rief ich ihr nach. »Haben wir Besuch?«

Sie verharrte auf der Schwelle, nickte und sagte: »Es ist Hubertus Wessendorf. Der Knecht vom Bauern Lanvermann.«

Ich erschrak und fragte alarmiert: »Was will er?«

»Ich weiß es nicht, er sitzt mit deinem Vater in der Stube.«

»Kommen sie mich holen?«, flüsterte ich atemlos. »Werde ich verhaftet?«

»Rede keinen Unsinn, Jeremias. Hier kommt niemand dich holen. Und Hubertus schon gar nicht. Leg dich schlafen, du brauchst deine Ruhe. Gute Nacht.« Sie lächelte nachsichtig und schloss die Tür.

Sie führen etwas im Schilde, dachte ich Unheil ahnend, löschte das Licht und wiegte mich in einen unruhigen und wenig tröstlichen Schlaf.

3

Ich erwachte zur üblichen Zeit, um halb sechs, und fühlte mich wie ausgewrungen. Draußen dämmerte es bereits, und die Vögel zwitscherten, als freuten sie sich auf den kommenden Tag. Es war der Krumme Mittwoch, und zum ersten Mal glaubte ich zu wissen, woher dieser Tag seinen seltsamen Namen hatte. Mühsam rappelte ich mich auf, rieb mir den Schlaf aus den Augen und schlurfte zur Kammer hinaus. Als ich die Stube betrat, wunderte ich mich, dass meine Mutter bereits bei der Arbeit war. Sie hatte die Schürze vorgebunden, trug ihre Haube auf dem Kopf, hatte den Küchenherd mit Stroh und Holz gefüllt und legte gerade einige Brocken schwarzen Torfs, den sogenannten Klün, auf das Feuer. Schwarze Rauchwolken hingen in der Stube und ließen mich husten.

»Morgen, Junge«, sagte Mutter, als sie mich erblickte. »Geht es wieder?«

Ich zuckte mit den Schultern, schaute in den Alkoven hinter dem Ofen, bemerkte die gemachten Betten und sah sie fragend an. »Seit wann seid ihr wach?«

»Gib mir mal das Eisen«, sagte sie statt einer Antwort und deutete in die Ecke des Raums, wo ein schwarz angelaufenes Kanteisen auf dem Boden lag.

»Hat das Kalb wieder Durchfall?«, fragte ich und reichte ihr das Gewünschte.

Sie nickte und steckte das Eisen in den Ofen. Dann nahm sie einen halb mit Wasser gefüllten Topf und stellte ihn auf die Herdplatte.

»Wo ist Vater?«, wollte ich wissen.

»Beim Melken.«

»Schon?«, erwiderte ich und stutzte. »Warum so früh? Weshalb habt ihr mich nicht geweckt?«

Bevor meine Mutter antworten konnte, trat mein Vater in die Stube, in der Hand einen kleinen Eimer voll Frischmilch, den er ihr nun gab. »Für das Kalb«, sagte er. »Der Rest ist schon draußen im Pütt. Kommst du heute noch zum Buttern?«

»Wenn der Rahm soweit ist«, antwortete meine Mutter, nahm den Eimer und schüttete einen Teil der Milch in den Wassertopf und verrührte das Ganze mit einem Holzlöffel, anschließend prüfte sie, ob das Eisen im Ofen bereits glühte.

»Guten Morgen, Jeremias«, sagte mein Vater schmunzelnd. »Na, du Poussierstengel, gut geschlafen? Schön geträumt?«

»Heinrich!«, sagte meine Mutter tadelnd. »Schandmaul!«

Mein Vater lächelte nur als Antwort und schwieg.

Ich beschloss, seine anzügliche Andeutung zu überhören, wunderte mich über das geschäftige Treiben und fragte: »Warum seid ihr heute so früh auf den Beinen? Was ist hier eigentlich los?«

»Dein Vater muss zum Lanvermann«, antwortete meine Mutter, holte das glühende Eisen aus dem Feuer und hielt es in die mit Wasser verdünnte Milch, bis diese angebrannt roch. Dann nahm sie den Topf vom Herd und ging mit ihm zur Tenne. »Ich kümmere mich um das Kalb«, sagte sie. »Wenn es die Milch getrunken hat, sollte sich das mit dem Durchfall erledigt haben.«

»Warum musst du zum Schulzen?«, fragte ich und sah meinen Vater irritiert an. »Was will er von dir?«

»Johann will die Kartoffeln stecken.«

»In der Karwoche?«, wunderte ich mich. »Ich dachte, er will erst nach Ostern damit anfangen. Zusammen mit den Runkeln. Warum die plötzliche Eile?«

»Ich weiß es auch nicht. Er scheint es sich anders überlegt zu haben.« Er setzte sich an den Tisch, schüttete einen Löffel Kaffee in eine Tasse und fragte: »Willst du auch? Ist echter Bohnenkaffee.«

Ich nickte, reichte ihm eine Tasse und fragte: »Soll ich mitkommen?«

»Davon hat Hubertus nichts gesagt, er hat nur mich aufs Feld bestellt. Bleib du nur hier, irgendjemand muss sich ja um den Kotten kümmern. Es ist ohnehin besser, wenn du dich nicht in der Öffentlichkeit zeigst.«

»Warum lässt du dir das gefallen?«, erwiderte ich und goss uns heißes Wasser aus dem Kessel in die Tassen.

»Was soll ich tun? Er ist der Grundherr und kann machen, was er für richtig hält.« Er schnaufte abfällig und fügte hinzu: »Wir Kötter müssen springen! Ob wir wollen oder nicht. Als Heuerlinge können wir uns nicht aussuchen, wann und wie wir für den Großbauern arbeiten wollen.«

»Als hätten wir vor Ostern nichts Besseres zu tun«, sagte meine Mutter, die in diesem Augenblick wieder die Küche betrat. »Karwoche ist Reinemachezeit, das war schon immer so. Das sollte selbst Johann Lanvermann wissen, aber er schert sich einen Dreck darum und führt ständig neue Sitten ein. Ganz wie es ihm in den Kram passt.« Auch sie setzte sich an den Tisch, goss sich Kaffee ein und schmierte ein paar Schmalzbrote, die sie uns reichte. »Lanvermann sollte sich was schämen!«, lautete ihr unmissverständlicher Kommentar. »Wir wären alle besser dran, wenn sein Bruder noch da wäre.«

»Lass das Lamentieren, Frau!«, sagte mein Vater. »Wir sollten froh sein, dass der Mörder über alle Berge ist.« Er bekreuzigte sich und steckte sich einige Schmalzbrote in die Tasche. »Die arme Frau! Gott habe sie selig.«

»Mag ja sein«, erwiderte Mutter und machte ebenfalls ein Kreuzzeichen auf ihrer Brust. »Ich habe nicht vergessen, was er der armen Irmgard angetan hat. Aber als Bernhard noch Grundherr war, ging es uns sehr viel besser. Er hat wenigstens gewusst, wie ein so großer Bauernhof geführt werden muss und wie man mit seinen Leuten umzuspringen hat. Ein grober Klotz, das mag schon sein, aber ein patenter Kerl! Er hat auch selbst mit angepackt und war sich nicht zu schade, die Forke in die Hand zu nehmen und bis zu den Knien im Mist zu stehen. Johann ist dafür viel zu vornehm und spielt lieber den feinen Pinkel. Der macht sich die Hände nicht schmutzig, gibt stattdessen Befehle und stolziert wie ein Pfau herum. Der alte Lanvermann würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er wüsste, was sich auf dem Hof abspielt.«

»Was nützt das Jammern«, erwiderte mein Vater. »Davon wird es nicht besser. Der Alte ist tot, der Bruder verschwunden, und der jetzige Schulze wird sich gewiss nicht mehr ändern.«

»Was Johann Lanvermann auf dem Bauernhof treibt, ist eine Schande«, beharrte meine Mutter. Sie schüttelte energisch den Kopf und wiederholte: »Er sollte sich was schämen! In den letzten Jahren ist der Hof vollends auf den Hund gekommen. Ein einziges Sodom und Gomorra!«

»Ich muss los«, sagte mein Vater achselzuckend, stand auf, nahm seinen Hut und wandte sich an mich: »Kümmerst du dich um das Vieh? Und bringst die Tenne auf Vordermann? Ich nehme das Pferd und versuche, zum Melken heute Abend wieder da zu sein.«

Ich nickte nur und starrte auf die Tasse in meiner Hand. Ich hatte das Gespräch meiner Eltern nur halbherzig verfolgt und hing meinen eigenen Gedanken nach. Ich versuchte, mir einen Reim auf die Ereignisse der letzten beiden Tage zu machen. Erst reitet der Amtmann bei Regen und Dunkelheit im Galopp zum Dorfschulzen, dachte ich, und wenig später taucht der Knecht des Schulzen bei uns auf und kommandiert meinen Vater für den folgenden Tag zu Heuerlingsdiensten auf den Schulzenhof. »Er kommt euch holen«, gingen mir die Worte des Schäfers durch den Kopf. »Das tun sie immer!«

Als meine Schwestern lärmend über die Dielen polterten und türenschlagend die Stube betraten, fuhr ich wie aus einem Traum auf und bemerkte, dass Vater das Haus bereits verlassen hatte.

»Morgen, Jeremias«, rief die kleine Mechtild erfreut und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. »Bist du wieder gesund?«

»Ich war gar nicht krank«, antwortete ich. »Nicht wirklich.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Mechtild.

»Dafür bist du noch zu klein«, erwiderte ihre Schwester. Maria nahm neben mir Platz, lächelte schüchtern und nickte stumm. Sie war nicht nur namentlich das genaue Abbild unserer Mutter. Ihr Haar war rabenschwarz und der Teint dunkel, und vermutlich würde aus ihr eine ebenso schöne Frau werden. Mechtild hingegen glich eher unserem Vater und hatte von ihm die buschigen Augenbrauen geerbt.

»Still jetzt, alle beide!«, befahl unsere Mutter, faltete die Hände und sprach das Tischgebet: »Aller Augen warten auf dich, o Herr; du gibst uns Speise zur rechten Zeit. Du öffnest deine milde Hand und erfüllest alles, was da lebt, mit Segen.«

»Amen«, antworteten wir.

Während die Mädchen sich über die Schwarzbrote, die warme Milch und den Zichorienkaffee hermachten und sich dabei unentwegt zankten und von Mutter zurechtgewiesen wurden, schlich ich mich aus der Stube, zog meine Holzschuhe über und gab den Tieren zu fressen. Außer den Kühen und Kälbern auf der Tenne warteten auch die Schweine im Stall und die Hühner auf dem Hof auf das Futter. Ich verrichtete die Arbeit wie im Dämmerzustand, als wäre ich immer noch nicht wach, als wäre das Fieber in meinem Kopf noch nicht ganz vorüber.

Draußen war von dem Regen und dem Nebel des gestrigen Tages nichts mehr übrig geblieben. Ein leichter Morgendunst hing noch über dem Boden, aber am Horizont ragte bereits die Spitze des Ahlbecker Kirchturms aus dem Nebel hervor. Und die ersten Sonnenstrahlen lugten im Osten über die Wipfel des Buchenwaldes. Auch die Vögel trällerten vor Freude. Aprilwetter!

Während ich den Kuhstall ausmistete, die Tiere mit frischem Heu versorgte und den Boden fegte, horchte ich immer wieder auf Geräusche und Stimmen von draußen und fuhr zusammen, wenn eines der Rinder sich muckte oder unruhig mit den Hufen scharrte. Vor dem Haus hörte ich Maria und Mechtild, die in den Beeten das Unkraut jäteten oder sonstige Gartenarbeiten verrichteten und sich gegenseitig triezten und über den Mund fuhren.

»Doofe Pute!«, rief die kleine Mechtild aufgebracht. »Das ist wohl der Blödian vom Pättenbauern! Wetten?!«

»›Blödian‹ sagt man nicht«, antwortete Maria ernst. »Er kann doch nichts dafür! Außerdem ist er ein Verwandter!«

»Blöd bleibt blöd«, beharrte Mechtild. »Der guckt immer so komisch. Und die Spucke läuft ihm aus dem Mund.«

Neugierig verließ ich die Tenne und schaute den Weg zum Dorf entlang. Ich sah einen Jungen, der auf unseren Kotten zulief und aufgeregt mit den Armen fuchtelte.

»Das ist Wenzel«, erklärte Maria, als sie mich sah, »der Pättensohn!«

»Der nicht ganz richtig im Kopf ist«, fügte Mechtild hinzu.

»Er scheint ganz außer sich zu sein«, bemerkte ich und ging dem Jungen entgegen. »Hallo, Wenzel, warum rennst du denn so?«

»Mias?«, rief der Junge. »Mias hier?« Er blieb keuchend vor mir stehen, rieb sich die Hände, grinste ein ziemlich verrücktes und zugleich freudiges Grinsen und schaute durch mich durch, als nähme er mich gar nicht wahr. »Mias hier?«, wiederholte er seine Frage.

»Ich bin Jeremias. Das weißt du doch, Wenzel! Was ist denn los?«

»Ja, du Mias! Ich weiß!« Wieder lachte er, als hätte er einen Schalk im Nacken. Er gluckste vor Freude und klatschte in die Hände.

»Blödian«, hörte ich Mechtild hinter mir leise wispern.

Wenzel war etwa zwölf Jahre alt, aber er hatte den Verstand eines Dreijährigen. Es hieß, bei seiner Geburt seien Schwierigkeiten aufgetreten, und deshalb sei er geistig so zurück. Vielleicht liege es eher daran, so wurde im Dorf gemunkelt, dass der Pättenbauer damals seine Base geheiratet habe, um die beiden Erbhöfe miteinander zu vereinen. Und das »bekloppte Blag« sei die Strafe Gottes für die Blutschande. Zur damaligen Zeit war eine Heirat innerhalb der Familie gar nicht unüblich, selbst Halbgeschwister sollen in Einzelfällen vor dem Altar gestanden haben. Ob dies nun der Grund war oder nicht, auf jeden Fall gab es etliche geistig zurückgebliebene oder körperlich missgestaltete Kinder in Ahlbeck. Die wenigsten von ihnen bekam man jedoch zu Gesicht. Wenn sie nicht schon als Säuglinge »gehimmelt« und durch Verwahrlosung ins Jenseits befördert wurden, saßen sie zumeist den ganzen Tag in der Stube oder auf der Tenne und wurden von den Eltern vor den Nachbarn und Durchreisenden versteckt. Einige der Dörfler glaubten immer noch, bei den Kindern handele es sich um Wechselbälger, die von dämonischen Unholden in der Krippe vertauscht wurden. Allein der Pättenbauer, ein Vetter meines Vaters, schien sich seines schwachsinnigen Sohnes nicht zu schämen und ließ ihn wie einen normalen Jungen mit den zahllosen anderen Bälgern draußen herumtollen.

»Mias muss weg! Mias weg!«, rief Wenzel nun und fuchtelte wieder mit den Armen. »Papa sagt: Mias muss weg! Schnell! Die anderen auch! Alle!«

»Warum soll ich weg?«, fragte ich und hielt seine Arme, um ihn zu beruhigen.

Er jedoch schüttelte sie ab und deutete zum Kirchturm. »Viele Pferde, viele Leute! Papa sagt: Sandmann holen. Alle weg! Mias auch!«

»Was denn für ein Sandmann?«, fragte Maria und schaute mich irritiert an.

Ich zuckte mit den Schultern und konnte mir zunächst keinen Reim auf Wenzels Gestammel machen.

»Sandmann!«, rief Wenzel freudig.

Plötzlich dämmerte mir, was er sagen wollte. »Amtmann?«, rief ich aufgeregt. »Meinst du den Amtmann?«

»Sandmann, ja! Viele Männer, viele Pferde. Kirche!« Abermals lachte er sein schalkhaftes Lachen und wieherte anschließend wie ein Pferd.

»Gibst du ihm etwas zu essen und zu trinken«, wandte ich mich an meine Mutter, die nun ebenfalls durchs Tor schaute. »Ich will mal sehen, was los ist!«

»Nein, nicht gehen. Mias weg!«, versuchte Wenzel mich von meinem Plan abzubringen, doch die Aussicht auf ein Glas Milch und ein Schmalzbrot schien ihn zu sehr zu verlocken. Er ließ sich zunächst unter Protest, dann bereitwillig von Mechtild ins Haus führen.

»Du solltest besser nicht hingehen«, wandte sich Maria an mich und legte ihre Hand auf meinen Unterarm. »Der Pättenbauer wird schon seine Gründe haben, warum er den Wenzel geschickt hat.« Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie sich wahrhaftig Sorgen machte. Mit ihren dunklen Augen schaute sie mich mitleidig an, wie sie es schon am Abend zuvor getan hatte. »Bleib lieber, wo du bist. Wer weiß, was der Amtmann im Sinn hat.«

Die Beziehung zwischen mir und meiner Schwester Maria war eine sehr innigliche und vertraute. Maria hatte von uns drei Kindern sicherlich die undankbarste Rolle in der Familie. Während ich als Ältester zugleich der Stammhalter und Erbsohn war und meine Eltern allein deshalb schon stolz auf mich waren und die kleine Mechtild als drolliges Nesthäkchen und vorlaute Possenreißerin stets für Freude im Haus sorgte, stand Maria mit ihrer Ernsthaftigkeit und Reserviertheit zumeist in unserem Schatten. Vielleicht war dies der Grund, dass ich sie so ins Herz geschlossen hatte. Während andere Leute sie verstockt oder sogar mürrisch und übellaunig fanden und hinter ihrem Rücken über sie tuschelten, wusste ich, dass man sich auf Maria stets verlassen und in ihr den besten Freund haben konnte. Sie strahlte für ihre sechzehn Jahre eine erstaunliche Melancholie aus, deren Ursache ich niemals ergründen konnte. Selten lachte sie, und sie redete nur das Nötigste, aber sie kümmerte sich und machte sich Gedanken. Und sie sorgte sich ebenso um mich, wie ich versuchte, auf sie aufzupassen.

»Keine Bange«, versuchte ich die Bedenken meiner Schwester zu zerstreuen. »Ich werde schon keine Dummheiten anstellen oder etwas Unvorsichtiges tun. Ich passe auf mich auf.«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie und drückte meine Hand. »Ich habe ein ungutes Gefühl.«

»Ach was«, rief ich lachend und versuchte zu überspielen, dass auch mir mulmig zumute war. »Was soll denn schon passieren?«

Wir sahen uns an und wussten beide im selben Augenblick, was der jeweils andere dachte. Ich zögerte noch einen Moment, riss mich dann los und marschierte los, um im Dorf nach dem Rechten zu sehen.

4

Die Gemeinde Ahlbeck bestand aus einem alten Dorfkern und zahlreichen Bauernschaften, die sich wie ein Ring großflächig um das winzige Zentrum legten. Das eigentliche Dorf bestand nur aus wenigen Häusern und kleineren Bauernhöfen, die entlang einer kopfsteingepflasterten und buchengesäumten Straße um die Kirche herum gruppiert waren. Die erst vor wenigen Jahrzehnten neu gebaute Kirche aus rötlichem Backstein mit ihrem niedrigen Turm und dem gedrungen und klotzig wirkenden Hauptschiff war der örtliche wie gesellschaftliche Mittelpunkt des Dorfes. Der alte Kirchturm auf der Westseite stammte noch aus dem fünfzehnten Jahrhundert und war mit seinem auffälligen Stufengiebel und den schießschartenähnlichen Fensteröffnungen zum Wahrzeichen und Wappenbild Ahlbecks geworden.

Auf der Südseite der Kirche, direkt vor dem mächtigen Hauptportal und im Schatten einer riesigen alten Linde, befand sich der kleine Marktplatz, welcher von ebenfalls backsteinernen Häusern gesäumt war. Das zweistöckige Pfarrhaus und die Dorfschenke mit dem passenden Namen »Zur alten Linde« befanden sich hier ebenso wie der einzige Schmied des Dorfes und der örtliche Leineweber. Da die Dorfbewohner zumeist Bauern und damit Selbstversorger waren, gab es in Ahlbeck weder Metzger noch Bäcker oder sonstige Lebensmittelgeschäfte. Auch einen Zimmerer oder Schneider suchte man vergeblich, die Bauern verrichteten derlei Handwerksarbeiten selbst und tauschten Güter und Leistungen, die sie nicht aus eigener Kraft herstellen oder erbringen konnten, untereinander aus. So wurde der Marktplatz seinem Namen eigentlich nicht gerecht und war kaum mehr als ein karges, gepflastertes Quadrat, auf dem sich sonntags nach dem Hochamt die Gläubigen zum nachbarschaftlichen Klatsch unter der Linde trafen, bevor sie ins Wirtshaus einkehrten und bei einem kühlen Humpen Bier den lieben Gott einen guten Mann sein ließen.

Ich näherte mich dem Dorf auf einem Feldweg von Westen her, und bereits von weitem war der Tumult auf dem Marktplatz zu erkennen. Dutzende Dorfbewohner strömten auf der Straße zusammen und liefen gemeinsam zur Kirche. Aufgeregte Stimmen allenthalben, Frauen fragten ihre Kinder, was denn um alles in der Welt geschehen sei. Männer ballten die Fäuste und drohten den Oldendorfschen Keile an. Ich schloss mich ihnen unauffällig an und sah schließlich vor dem Kirchportal den Amtmann Boomkamp, hoch zu Ross, den Dreispitz mit der Fasanenfeder auf dem Kopf und umgeben von einer ebenfalls berittenen Handvoll Gendarmen. Sämtliche Reiter trugen Uniform, und einige von ihnen hielten Musketen im Anschlag.

Vorsichtig und in geduckter Haltung entfernte ich mich von der Schar und schlich mich auf der Nordseite um die Kirche herum, um mich dem Geschehen aus östlicher Richtung zu nähern. Hinter der Kirche befand sich, auf einer kleinen Anhöhe gelegen, der von einer hohen Mauer umgebene Friedhof. Wenn ich mich an der Sakristei vorbeischlich und mich hinter einem Grabstein verbarg, konnte ich die Ereignisse mühelos verfolgen, ohne selbst gesehen zu werden.

»Ihr solltet Euch lieber um die Holländische Bande kümmern, Herr Amtmann«, hörte ich den Wirt Tenhagen rufen, »anstatt anständigen Bauersleuten hinterherzujagen!«

»Genau!«, pflichtete ihm ein anderer bei. »Die gottlosen Räuber laufen frei und unbehelligt herum, aber unsereins muss dran glauben!«

Die Tür zur Sakristei war verschlossen, aus dem Inneren waren keinerlei Geräusche oder Stimmen zu vernehmen. Erleichtert atmete ich auf, betrat den Friedhof und arbeitete mich von Grabstein zu Grabstein vor. Ich erreichte schließlich das steinerne Kreuz am westlichen Ende des Friedhofs, direkt neben dem Platz, auf dem die Versammlung stattfand. Von hier aus konnte ich mühelos über die Mauer lugen und hatte einen ausreichenden Überblick über das Geschehen. Immer mehr Ahlbecker Männer versammelten sich im Schatten der Linde vor der Kirche und umringten den Amtmann. Die Musketiere hatten alle Hände voll zu tun, die Menge in gehörigem Abstand zu halten. Der Amtmann selbst posierte direkt vor dem Portal und war gesäumt von den vier lebensgroßen sandsteinernen Figuren, die den Kircheneingang schmückten und welche die vier lateinischen Kirchenväter darstellten. Er stand direkt unterhalb der Statue des heiligen Hieronymus, der einen Löwen zwischen seinen Beinen und einen Totenschädel auf seinem Unterarm liegen hatte und äußerst finster und gebieterisch dreinschaute.

»Was redet ihr Kerle denn da?«, erwiderte der Amtmann barsch auf die Zurufe der Bauern und schaute ebenso düster wie der Heilige über ihm. »Was denn für Räuber? Welche holländische Bande meint ihr?«

»Die Holländische Bande!«, entgegnete der Wirt. »Die Brabanter Rotte!«

»Die Bande vom Hauptmann Picard!«, rief ein dritter. Der Stimme nach war es Wenzels Vater, der Pättenbauer.

»Redet keinen Unsinn!« Der Amtmann winkte unwirsch ab und wandte sich ungehalten an sein Gegenüber: »Der Jude Abraham Picard ist seit Jahren tot. Das wisst ihr sehr wohl! Und der Rest der Bande sitzt im Kerker oder ist in alle Himmelsrichtungen verstreut! Versucht also nicht, vom Thema abzulenken. Es geht hier nicht um die Holländer, sondern um euch Ahlbecker! Um die Deserteure!«

»Und wer hat dann in der vergangenen Woche den Schmied in Ostwick ausgeraubt und gemeuchelt?«, schimpfte ein kleiner Mann mit Ziegenbart und stampfte dabei mit den Holzpantinen auf den Boden. »Die Brabanter waren es, sage ich!«

»Und ich sage: Ruhe, verdammt noch mal! Und kein Wort mehr von den Räubern!« Der Amtmann holte ein Papier aus seiner Satteltasche und rief mit hochrotem Kopf und sich überschlagender Stimme: »In Absprache mit eurem Dorfschulzen, dem Landeigner Johann Lanvermann, bin ich hier erschienen, um folgende sich im Dorfe Ahlbeck verschanzenden kriegsscheuen Elemente auf der Stelle zu verhaften und der königlich preußischen Gerichtsbarkeit zu übergeben.«

Das war also der Grund für das plötzliche Kartoffelpflanzen beim Großbauern! Der Schulze hatte seine Heuerlinge zu sich bestellt, um dem Amtmann die Möglichkeit zu geben, sich ungestört an die Söhne heranzumachen. Allein fünf der Ahlbecker Fahnenflüchtigen waren Sprösslinge von Lanvermannschen Kötterbauern. Und vor allem: Ich war ein Sohn eines Heuerlings.

Der Amtmann räusperte sich und wollte die Namen der Deserteure vorlesen, wurde jedoch von dem Ziegenbärtigen mit den Holzpantinen unterbrochen. »Wo ist denn der Lanvermann?«, wollte dieser wissen und verschränkte die Arme vor dem Leib. »Muss der Dorfschulze nicht zur Stelle sein, wenn seine Nachbarn verhaftet werden sollen?«

»Richtig«, pflichtete ihm ein anderer bei. »Wo ist denn unser Schulze?«

»Ich bin der Amtmann, das genügt vollauf!«

»Haltet Ihr Euch für Bonaparte?«, fragte der Wirt Tenhagen und spuckte zu Boden. »Der Welsche hat hier auch gewütet wie ein Vandale!«

»Noch eine solche Bemerkung und ich lass dich arretieren!«, geiferte der Amtmann und wedelte mit seinen Armen. »Hast du verstanden?!«

Der Wirt schmunzelte ironisch und zog allzu devot den Hut.

Im gleichen Augenblick trat Pastor Söbbing, der Geistliche des Dorfes, in seinem schwarzen Ornat aus der Kirche vor das Portal und stellte sich hinter den Amtmann. Er war ein alter Mann mit silbergrauem Haar und eingefallenem, stets kränklich aussehendem Gesicht, der sowohl aufgrund seines hohen Alters wie auch seiner geistlichen Stellung von allen im Dorfe geachtet wurde. Er sagte kein Wort, aber sein Erscheinen genügte, die Menge verstummen zu lassen.

Der Amtmann nickte dem Pastor zu, räusperte sich ein zweites Mal, hielt das Papier vor sich und begann zu lesen: »Auszuliefern sind: Rudolf Homölle, Sohn des Gerrit, genannt: der Pättenbauer.«

Die umgebende Menge, unterdessen hatten sich auch Frauen und Kinder hinzugesellt, murrte leise und spendete höhnischen Beifall. Der Pättenbauer zog den Hut und neigte seinen Kopf, wie ein Schauspieler auf der Bühne, dem nach der Vorstellung applaudiert wurde.

»Matthias Huesmann«, rief der Amtmann. »Sohn des Heinrich.«

Es folgten erneute und sogar gesteigerte Beifallsbekundungen, die den Amtmann sichtlich erzürnten.

»Noch ein solcher Ausbruch«, rief er und gestikulierte erneut aufgeregt mit den Armen, »und ich lass euch alle arretieren! Alle miteinander!«

Die Musketiere schauten sich überrascht an und schienen sich zu fragen, wie dies zu bewerkstelligen sei. Immerhin waren inzwischen an die fünfzig Leute auf dem Dorfplatz versammelt. Die Anwesenden jedoch nahmen die Drohung des Amtmannes ernst, murrten verdrießlich und verstummten dann.

»Wir wollen den Herrn Amtmann ausreden lassen«, ließ sich Pastor Söbbing vernehmen, »bevor wir Kommentare zu dem Gesagten abgeben.« Er bedachte den Amtmann mit einem ehrerbietigen, aber nicht eben freundlichen Blick und sagte: »Fahrt fort, Herr Amtmann.«

Der Angesprochene richtete sich im Sattel auf, wartete, bis alles ruhig war, und rief: »Jeremias, genannt: Vogelsang, Vater unbekannt!«

Ich erstarrte und glaubte, mich verhört zu haben. Auch einige Ahlbecker schauten sich verdutzt an. Der Wirt Tenhagen rief: »Was redet Ihr denn da für einen Unsinn?! Was heißt denn hier ›Vater unbekannt‹?«

»Das wisst ihr sehr gut«, antwortete der Amtmann und grinste provozierend. »Der Vogelsang-Bengel ist ein elternloser Bastard! Ein verdammtes Findel! Tut bloß nicht so, als hättet ihr davon keine Ahnung!«

»Und wenn schon!«, rief der Pättenbauer.

Ich weiß nicht, wie der Stein in meine Hand geriet, doch in dem Moment, da der Amtmann meinen und meines Vaters Namen in den Dreck zog, warf ich. Es war nur ein Reflex und gar nicht überlegt, aber der Wurf war dennoch wohlgezielt. Der Stein traf den Amtmann seitlich am Kopf und ließ ihn vom Pferd fallen. Er fiel genau zu Füßen der Statue des heiligen Augustinus, der – sein Herz in der Hand – mitfühlend auf ihn niederschaute.

Der Pastor sah sofort zum Friedhof herüber, und für einen kurzen Augenblick begegneten sich unsere Blicke. Ich duckte mich und verfolgte atemlos und wie unter Schock, was weiter geschah.

Die Ahlbecker waren zunächst starr vor Schreck, niemand wagte, sich zu rühren oder einen Ton von sich zu geben. Alle sahen sich schweigend an und schüttelten die Köpfe. Doch dann und mit einem Mal brach ringsum schallendes Gelächter aus. Während der Amtmann sich verwirrt aufrappelte und vom Pastor und einigen Musketieren wieder aufs Pferd gehoben wurde, tobte die belustigte Menge und schüttelte sich vor Lachen.

»Gestern zu tief ins Glas geschaut?«, rief ein Bauer im Blaukittel.

»Oder war der Ritt von Oldendorf so anstrengend, dass Ihr erst mal ein kleines Nickerchen machen müsst?«, setzte der Pättenbauer hinzu.

»Das werdet ihr mir büßen!«, rief der Amtmann, fasste sich an den schmerzenden Schädel und schickte funkelnde Blicke in die Runde.

Ich verkroch mich hinter dem Steinkreuz und wagte nicht, mich zu rühren. Die Leute jedoch lachten nun noch lauter und wischten sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Wir büßen bereits, seht Ihr das nicht?!«, riefen sie. »Wir müssen schon weinen vor lauter Buße!« Eine weitere Lachsalve erschallte.

»Aufrührerisches Bauernpack! Euch werde ich es zeigen! Das werdet ihr noch bitter bereuen!«, schrie der Amtmann, schien einen Moment unschlüssig, riss dann jedoch die Zügel herum und ritt im Galopp in Richtung Oldendorf davon. »Das war nicht das letzte Wort!«, rief er außer sich vor Wut. »Das verspreche ich euch! Wir sehen uns wieder.«

Die Gendarmen sahen sich verdutzt an, wussten nicht, ob sie nach dem Übeltäter suchen oder ruhig Haltung bewahren sollten, folgten dann aber dem Beispiel ihres Herrn und gaben ihren Gäulen die Sporen.

Die ganze Zeit hatte ich darauf gewartet, dass Pastor Söbbing zu mir herüber deuten und rufen würde: »Dort ist der Kerl! Auf dem Friedhof! Fasst ihn!«

Doch nichts geschah, und als ich jetzt wieder zum Portal hinüberschaute, sah ich, dass der Pastor seinen Platz verlassen hatte und verschwunden war. Ich sackte hinter meinem Kreuz zusammen, stierte auf meine Hände und konnte nicht fassen, was gerade geschehen war. Und was gesagt worden war. Der Vogelsang-Bengel ist ein elternloser Bastard! Ein verdammtes Findel! Die Worte des Amtmannes hallten in meinen Ohren und wollten nicht mehr verstummen. Wieder sah ich das provozierende Grinsen in seinem Gesicht und hörte ihn sagen: »Vater unbekannt!«

Eine gemeine Lüge! Das war die einzige Erklärung. Ich wusste doch, wer meine Eltern waren. Das war über jeden Zweifel erhaben!

Ein Lüge! Es konnte gar nicht anders sein. Aber warum hatte der Pättenbauer »Und wenn schon!« gerufen?

Ich rappelte mich mühsam auf, schlich mich an der Kirchenmauer entlang und an der Sakristei vorbei und wollte gerade den Friedhof verlassen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Ich zuckte zusammen und fuhr herum.

Pastor Söbbing stand vor mir und schaute mich kopfschüttelnd an. Er war durch die Kirche gegangen, hatte den Hinterausgang der Sakristei benutzt und mich abgefangen, bevor ich mich davonstehlen konnte.

»Jeremias«, sagte er zugleich erstaunt und verärgert und setzte fragend hinzu: »Du?« Sogleich bekam sein ausgemergeltes Gesicht aber einen sanften, beinahe mitleidigen Ausdruck. Er ließ mich los, presste die Lippen aufeinander, neigte den Kopf und wiederholte dann leise: »Jeremias.«

Ich sagte kein Wort, riss mich von seinem Blick los und rannte davon.

Was hätte ich in diesem Moment darum gegeben, mich einfach in Luft auflösen zu können! Einfach nicht mehr da zu sein.

5

Es war bereits Mittag, als ich zum Kotten zurückkehrte. Auf dem Weg nach Hause hatte ich ängstlich darauf geachtet, von niemandem im Dorf gesehen oder gar angesprochen zu werden. Die Leute standen nach wie vor in kleinen Grüppchen auf den Straßen, machten sich über den Amtmann und seinen allzu plötzlichen Abgang lustig und fanden das Ganze eher komisch als bedenklich. Mir jedoch war keineswegs nach Lachen zumute, und schon gar nicht wollte ich Gegenstand der Witze und Frotzeleien sein oder mich als Steinewerfer zu erkennen geben, deshalb schlich ich mich hinter den Häusern an den Misthaufen vorbei, lief geduckt über die noch kahlen Felder und Wiesen und versteckte mich hinter Bäumen und in Entwässerungsgräben, sobald ich in Gefahr geriet, jemandem zu begegnen.

Auf dem Hof empfing mich Wenzel, der mittlerweile meinen Schwestern beim Jäten des Unkrauts half, mit den Worten: »Sandmann weg?«

»Ja«, antwortete ich, ohne ihn anzusehen. »Der Sandmann ist weg.«

Wenzel prustete vor Lachen und sagte: »Nicht Sandmann, sondern Amtmann!« Und er kicherte mit diebischem Vergnügen, da er mich so an der Nase herumgeführt hatte. »Mias dumm!«, rief er schadenfroh.

Das Lächeln, mit dem ich ihm antwortete, war nur gekünstelt, aber es fiel ihm nicht weiter auf. Ich ließ die drei in ihren Beeten und betrat eilends das Haus. Meine Mutter saß in der Stube und schälte Kartoffeln für den Eintopf. Sie schaute lächelnd zu mir auf, doch das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, als sie meinen Gesichtsausdruck sah.

»Was ist passiert?«, rief sie. »Warum schaust du so finster?«

Ich setzte mich ihr gegenüber an den Tisch und berichtete in teils aufgeregt gestammelten, teils atemlos geflüsterten Worten, was sich auf dem Kirchplatz zugetragen hatte. Schließlich blickte ich meine Mutter flehentlich an und fragte: »Warum erzählt der Amtmann solche Lügen?«

Meine Mutter lächelte bitter und schüttelte langsam den Kopf. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie war nicht in der Lage, ein Wort herauszubringen.

»Hast du nichts dazu zu sagen? Willst du es zulassen, dass der Amtmann unseren Namen besudelt? Das kann nicht dein Ernst sein. Boomkamp macht mich zum Gespött der Leute, und du sagst keinen Ton!«

Sie schluckte und schwieg. Ihre Mundwinkel zuckten. Ihre Hände zitterten, und das Schälmesser glitt ihr aus den Fingern.

»Dann ist es also wahr?!«, rief ich, sprang auf und schlug mit der Hand auf die Tischplatte. »Ich bin ein Bastard? Ein verdammter Halbling! Und alle wissen davon, das ganze Dorf weiß Bescheid, nur ich nicht?!«

»Du bist unser Sohn, und das wirst du immer bleiben«, erwiderte sie und schaute mich nun ihrerseits flehentlich an. »Ich weiß, wir hätten es dir sagen sollen, aber wir haben anfangs keinen Grund gesehen. Du warst immer ein so lieber Junge, und warum sollten wir dir unnötig Kummer bereiten? Wir haben es einfach nicht übers Herz gebracht. Immer wieder haben wir es vor uns hergeschoben, Jahr um Jahr, und je länger wir geschwiegen haben, desto schwieriger wurde es. Und irgendwann haben wir einfach nicht mehr den Mut aufgebracht, weil wir wussten, dass du unser Schweigen nicht verstanden hättest. Außerdem sahen wir die Notwendigkeit nicht. Niemand im Dorf nennt dich anders als bei deinem rechten Namen, du wirst von allen als unser Sohn akzeptiert, dein Name ist Vogelsang, so steht es auch in den Papieren. Und niemand kann das anzweifeln. Auch der Amtmann nicht.«

»Aber ich bin nicht euer leibliches Kind! Ich bin ein verfluchtes Findel!«

Sie nickte und senkte erneut den Blick.

Die Gedanken schossen wie wild durch meinen Kopf. Plötzlich stimmte nichts mehr, nichts passte zusammen, alles war konfus, und was eben noch wahr gewesen war, entpuppte sich mit einem Mal als Lüge. Ich hatte das Gefühl, als besäße ich plötzlich keine Vergangenheit mehr, als wachte ich aus einem schönen Traum auf und fände mich in einem leeren Raum wieder.

»Warum habt ihr in all den Jahren nie ein Sterbenswörtchen darüber verloren? Ihr hättet doch wissen müssen, dass es früher oder später herauskommen würde. Dass ich durch irgendeinen dummen Zufall davon erfahren würde!« Ich hatte die Hände so zu Fäusten geballt, dass die Knöchel weiß hervortraten. Plötzlich kamen mir Situationen in den Kopf, die mir einst unverständlich gewesen waren. Beiläufige Andeutungen von Nachbarn und Verwandten, die ich nicht hatte begreifen können. Seltsame und ungewollt herausgerutschte Bemerkungen, bei denen meine Mutter einen roten Kopf bekommen hatte. Wissende Blicke und Gesten, deren Sinn ich erst jetzt verstand.

»Wie konntet ihr mich nur so hintergehen?«, fragte ich kopfschüttelnd.

Ich hörte sie schlucken und flüstern: »Wir lieben dich wie unseren eigenen Sohn, Jeremias. Du bist unser Erstgeborener und Stammhalter. Wenn wir tot sind, wird dir der Kotten gehören, wie es einem ältesten Sohn zusteht.«

»Na, danke schön!«, rief ich erbost. »Auf eure Almosen kann ich verzichten, ich will nichts, was mir nicht gehört! Ihr hättet mich damals totschlagen sollen, und meine verfluchten Eltern gleich mit!«

»Jeremias!«, war alles, was sie entgegnen konnte.

»Ist doch wahr!«, ereiferte ich mich. »Vielleicht ist meine leibliche Mutter eine ehrlose Dirne und mein Vater ein liederlicher Schurke. Wer vermag das zu sagen?! Womöglich sind sie gemeine und niederträchtige Ganoven, und ich habe das Gaunerblut ebenfalls in meinen Adern.«

Als ich das heftige Schluchzen meiner Mutter hörte – es war mir auch jetzt nicht möglich, sie in Gedanken anders zu nennen –, taten mir meine bösen und in Rage gesprochenen Worte leid. Ich hätte sie gern in den Arm genommen, aber auch das war mir nicht möglich. Ich war hin- und hergerissen zwischen Wut und Selbstmitleid, zwischen hässlichen Gedanken und dem Versuch, irgendetwas von all dem zu verstehen. Ich wusste nicht, was ich denken und sagen sollte. Ich fühlte mich hintergangen und ungerecht behandelt, mein ganzes Leben war mit einem Mal auf den Kopf gestellt. Ich wünschte, man hätte auch mich als Säugling gehimmelt. Ich glaubte, niemals wieder »Mutter« und »Vater« zu meinen Eltern sagen zu können, und dennoch wusste ich im gleichen Moment, dass Heinrich und Maria Vogelsang immer meine Eltern bleiben würden.

Ich dachte an meine Schulzeit im Ahlbecker Bruch, als mein Vater, der Magisterbauer, mir zusammen mit den anderen Kindern des Dorfes das Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht hatte. Ich erinnerte mich an die halb abfälligen, halb neidischen Bemerkungen meiner Mitschüler, weil ich der Sohn des Magisters war, und an das hinter vorgehaltener Hand geträllerte »Tirili« und »Piep-piep-piep« meiner Mitschüler, das jeder Nennung meines Namens auf dem Fuße folgte. All diese kindlichen Schmährufe hatte ich geduldig ertragen und mit stoischem Langmut über mich ergehen lassen, nur um jetzt zu erfahren, dass mein wahrer Name gar nicht Vogelsang war. Welch bittere Ironie! Als Kind hatte ich mir oft einen anderen Namen gewünscht, und jetzt, da ich mich an ihn gewöhnt und mich mit ihm ausgesöhnt hatte, wurde er mir vergällt. Zugleich meldete sich jedoch eine Art dickköpfiger Stolz und störrischer Trotz in mir, eben weil man mich getriezt und wegen meines Namens verspottet hatte. Nein, den Namen Vogelsang hatte ich mir redlich verdient! Was bildete sich der Amtmann ein, ihn mir jetzt absprechen zu wollen und mich einen namenlosen Bastard zu nennen?

Ich wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln, setzte mich wieder an den Tisch und reichte meiner Mutter die Hand. Sie nahm sie und murmelte: »Es tut mir leid, mein Kind. Wir wollten dir nicht wehtun, das wollten wir gewiss nicht. Wenn wir das gewusst hätten!« Sie sah mich liebevoll an und fügte hinzu: »Du warst doch ein Geschenk des Himmels. Eine Gottesgabe.«

»Wie und wo habt ihr mich gefunden?«

Sie sah mich lange nachdenklich an, schien mit sich zu ringen, lächelte entrückt, wurde aber plötzlich sehr ernst und begann: »Es war eine stürmische Frühlingsnacht im Jahr 1795.« Anstatt mir in die Augen zu schauen, senkte sie den Blick und fuhr, während sie erzählte, mechanisch fort, die Kartoffeln zu schälen. Allein die fast zwanghafte Verrichtung der Arbeit schien sie davon abzuhalten, wieder zu weinen. »Dein Vater und ich saßen hier in der Stube, ich am Spinnrad und er am Ofen, als wir plötzlich ein heftiges Klopfen an der Hintertür des Kottens hörten. Da wir zu so später Stunde keinen Besuch erwarteten und dem ersten Klopfen kein weiteres folgte, glaubten wir, ein Ast der Linde hinter dem Haus habe im Sturmwind gegen die Pforte geschlagen. Doch plötzlich war ein leises Wimmern und Winseln zu hören.«

»Das war ich?«, fragte ich gebannt und merkte, dass meine Hände schweißnass waren. »Hinter dem Haus habt ihr mich gefunden?«

»Ich dachte zunächst, es wäre eine streunende Katze«, sagte meine Mutter, stand auf, ging zur Feuerstelle und warf die Kartoffeln in den Topf. »Darum habe ich Heinrich gesagt, er soll sie verscheuchen, damit wir unsere Ruhe haben. ›Das ist aber eine eigenartige Katze‹, hat er gemeint, als er von Türe zurückkam. Im Arm hielt er ein wollenes Bündel, aus dem heraus es immer noch winselte. Ein Neugeborenes, erst wenige Stunden alt, noch ganz verknautscht im Gesicht und blau angelaufen vor Kälte und Wimmern. ›Jesus, Maria und Josef!‹, habe ich gerufen und bin sogleich aufgesprungen, um ihm das Kind aus dem Arm zu nehmen. ›Ist der Herd noch warm?‹, habe ich gefragt und geschimpft, als er nicht sogleich antwortete und stattdessen wie zur Salzsäule erstarrt dastand. ›Los, leg Torf nach und schaff mir Milch und Wasser herbei! Wird’s bald?!‹ Er lächelte, nickte dann und sputete sich.« Meine Mutter erzählte all dies mit einem sonderbar unbeteiligt klingenden Tonfall, so als fiele es ihr schwer, sich in die Zeit zurückzuversetzen, als widerstrebte es ihr, sich zu erinnern. Sie kam zurück an den Tisch, in der Hand einen Bund Petersilie, den sie nun kleinschnippelte.

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, zog die Stirn kraus und überlegte. Meine Mutter war bereits weit in den Dreißigern gewesen, als ich geboren wurde. Sie hatte mir oft erzählt, dass ich das jahrelang herbeigesehnte Kind gewesen war. Dass allerdings nicht sie mich geboren hatte, war mir bislang verschwiegen worden. Obgleich meine Eltern seit langem verheiratet gewesen waren, war ihre Ehe kinderlos geblieben. Sie hatten sich nichts sehnlicher gewünscht, als Nachwuchs zu bekommen, doch mit den Jahren hatten sie alle Hoffnung aufgegeben. Die Mutter meines Vaters, die damals noch lebte, hatte bereits geunkt, das komme nun davon, dass Heinrich eine Zugereiste geheiratet habe. Da sei es ja nicht verwunderlich, wenn die Kinder ausblieben!

»Du kannst dir vorstellen, wie froh wir waren«, sagte meine Mutter, blickte dabei jedoch nicht mich an, sondern starrte auf das Messer in ihrer Hand. »Seit Jahren hatten wir versucht, ein Kind zu bekommen. Auf allen Nachbarhöfen kamen die Kinder in Scharen zur Welt, manche Bauern murrten gar, wenn mittlerweile das vierte oder fünfte Blag unterwegs war, aber bei Heinrich und mir wollte es einfach nicht klappen.« Sie seufzte, sah mich lange schweigend an und schien in meinem Gesicht lesen zu wollen, was sich in meinem Innern abspielte. Schließlich senkte sie wieder den Blick und fuhr fort: »Und dann lag eines Abends das innig Erflehte einfach so vor der Tür. Der Herrgott hat uns lange Zeit auf die Probe gestellt und endlich unsere flehentlichen Gebete erhört. Und wir haben dich freudigen Herzens als Mündel angenommen.« Abermals seufzte sie, und sie schien erleichtert, dass ihr die Worte über die Lippen gekommen waren. Aber immer noch vermochte sie nicht, mir offen in die Augen zu schauen.

»Warum habt ihr mich ausgerechnet Jeremias genannt?«

»Es war der …«, begann sie, unterbrach sich aber sofort, schüttelte leicht den Kopf und sagte: »Wir haben dich am ersten Tage im Mai gefunden, dem Namenstag des heiligen Propheten Jeremias.«

»Hat denn meine Mutter keine Nachricht hinzugefügt? Gab es keinen Hinweis, wessen Kind ich sein könnte?«

Sie zuckte zusammen, als sie mich die Worte »meine Mutter« aussprechen hörte und merkte, dass nicht sie damit gemeint war. Sie lächelte bitter und schüttelte den Kopf. »Nichts, kein Zettel, gar nichts.« Wieder bedachte sie mich mit diesem merkwürdig abtastenden und forschenden Blick, bevor sie hinzusetzte: »Nur ein kleines Medaillon an einer Kette hing um deinen Hals.«

Ich fuhr zusammen und rief: »Mit ihrem Bild?«

Meine Mutter schaute mich erschrocken an, nahm meine Hand und sagte: »Ein Bildnis der Jungfrau Maria. Warte, ich hole es dir.« Sie stand auf, ging zum Alkoven, holte eine kleine Schatulle hervor, in der sie ihre wenigen Schmuckstücke und Kleinode verwahrt hielt, kramte darin herum und kam mit einem kleinen Medaillon zurück an den Tisch. Sie reichte mir das Schmuckstück und streichelte dabei flüchtig meine Hand.

Das Medaillon war aus Silber und zeigte auf der Vorderseite unter einem aufklappbaren Glasdeckelchen ein Miniaturporträt der gramgebeugten Mutter Gottes. Die Mater dolorosa, die schmerzhafte Mutter!

»Sie hat dich nicht mit hartem Herzen weggegeben«, sagte meine Mutter. »Ich glaube, das ist es, was sie mit dem Medaillon sagen wollte. Es hat ihr wehgetan.« Abermals streichelte sie meine Hand, und uns beiden kamen die Tränen. »Wir wollten dir das Medaillon nicht vorenthalten, aber wie hätten wir es dir geben sollen, ohne dir die ganze Wahrheit zu erzählen.«

»Das war nicht recht von euch«, sagte ich schluchzend. »Ihr hättet die Wahrheit nicht verschweigen dürfen.«

»Ich weiß.«, Wieder zuckten ihre Mundwinkel. »Aber manchmal ist besser, mit der Lüge zu leben.«

Ich sah sie überrascht an und wartete auf eine Erklärung dieser seltsamen Worte, aber sie verstummte und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

Minutenlang saßen wir schweigend am Tisch. Ich starrte auf das silberne Schmuckstück in meiner Hand, betrachtete es von allen Seiten und fuhr dann zärtlich mit dem Zeigefinger über den Glasdeckel. Ich öffnete das Medaillon und probierte, ob das Bildchen zu lösen und vielleicht auf der Rückseite irgendetwas zu lesen sei, aber der Karton war fest verleimt. Bei dem Porträt handelte es sich um einen billigen und etwas unscharfen Druck, die verkleinerte Kopie einer italienischen Madonna. Sieben kleine Schwerter steckten ihr in der Brust.

Meine Mutter starrte die ganze Zeit gebannt auf den Tisch und zerkleinerte in Windeseile und mit einer Heftigkeit die Petersilie, als hinge ihr Leben davon ab. Von draußen drang die Stimme des kleinen Wenzel zu uns, der lauthals irgendwelchen Schabernack trieb.

Schließlich klappte ich das Medaillon zu und fragte: »Hat denn sonst niemand etwas zu berichten gewusst? Es muss doch im Dorf darüber geredet worden sein.«

»Die Neuigkeit hat sich natürlich bald im Dorfe herumgesprochen«, sagte meine Mutter, nun wieder in ihrem natürlichen Tonfall, und blickte zu mir auf. »Überall wurde spekuliert, wer wohl die Mutter des ausgesetzten Findlings sein könnte. Und wie der Vater des kleines Kindes heiße. Du weißt ja, wie die Leute im Dorf tratschen und sich auf alles stürzen, was es an Klatsch gibt.«

Das wusste ich allerdings. Das Kirchspiel Ahlbeck war damals (und ist es heute noch) ein beschaulich und abgeschieden gelegenes Bauerndorf in unmittelbarer Nähe der holländischen Grenze, rings umgeben von unwirtlichem Gelände. Gen Norden, Richtung Holland, das dampfende Moor. Gen Süden, Richtung Oldendorf, die karge Wacholderheide. Die leidlich befestigten Wege durch Bruchlandschaft und Venn waren unsicher und strapaziös und luden nicht zur Durchreise ein. Und auch der sogenannte Hessenweg, der Handelsweg von Münster zum holländischen Städtchen Deventer, war zur Zeit meiner Geburt noch nicht so befahren, wie er es heutzutage ist. Da nur selten Moritatenerzähler, Scherenschleifer und anderes fahrendes Volk durch den Ort kamen und auf diese Weise nur spärlich Neuigkeiten von außerhalb ins Dorf drangen, wurden die nicht eben zahlreichen Vorkommnisse, die es innerhalb der Gemeinde gab, mit Fleiß und Eifer besprochen und kolportiert.

»Eine schwangere Frau«, sagte meine Mutter, »die sich auf solche Weise ihres Kindes entledigt hätte, wäre den Dorfbewohnern gewiss nicht entgangen. Niemand im Ort kannte eine Frau, die ihren schwangeren Bauch verloren hatte, ohne das entsprechende Kind präsentieren zu können oder zumindest ein Grab, in dem das Notgetaufte verscharrt war. Und deshalb waren sich alle sicher, dass die Frau unmöglich aus Ahlbeck stammen konnte.«

»Eine Wildfremde?«

»Wahrscheinlich.«

Ich überlegte und schüttelte dann den Kopf. »Ist es nicht merkwürdig, dass ich ausgerechnet vor eurer Tür abgelegt worden bin? Das kann doch kein Zufall gewesen sein.«

»Wie meinst du das?«, fragte meine Mutter, stand erneut auf und trat an die Herdstelle, diesmal fügte sie die Petersilie dem Eintopf zu und rührte mit einem Holzlöffel um.

»Weil die Frau gewusst haben muss, dass ihr keine Kinder bekommen konntet, euch aber sehnlich Nachwuchs gewünscht habt. Vermutlich hat sie euch gekannt.«

Sie fuhr herum und sah mich mit Schrecken im Gesicht und beinahe alarmiert an, dann aber lächelte sie müde und sagte: »Mag sein, mein Junge. Wer will das sagen? Wir werden es nie erfahren.«

»Keine Hiesige«, lautete meine Schlussfolgerung, »aber eine Frau, die sich in Ahlbeck auskannte.«

»Sosehr sich die Ahlbecker die Köpfe zerbrachen«, fuhr meine Mutter fort, »das Geheimnis blieb unergründlich. Da sich keine weiteren Hinweise auf deine Herkunft fanden, verlor das Thema als Gesprächsstoff seinen Reiz und wurde nicht weiter erörtert. Du wurdest stillschweigend und ein für alle Mal als unser Sohn akzeptiert und das Rätselraten um deine leiblichen Eltern nicht länger betrieben. Es wimmelte von Kindern auf den Höfen, eines mehr oder weniger fiel gar nicht weiter auf. Warum sich also Gedanken machen?«

Das war nur zu wahr. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren war von den Leuten im Dorf in meiner Gegenwart irgendein direkter Hinweis auf meine zweifelhafte Herkunft gemacht worden, jedenfalls keiner, der mich in meiner unschuldigen und nichts ahnenden Unwissenheit irritiert hätte. Obgleich alle Erwachsenen von dem Fund des Kindes wissen mussten, schien es niemanden zu interessieren. Es gab Wichtigeres im Leben eines Kleinbauern als die Herkunft eines Nachbarbalges. Kinder wurden geboren und starben alsbald wieder, der Älteste übernahm den Hof, und der Rest musste sehen, wo er blieb. Was scherte die Dörfler ein Findelkind? Sie hatten mit der eigenen Brut wahrlich Sorgen genug. Und in dem Stillschweigen mir gegenüber zeigte sich wohl auch der Respekt der Ahlbecker für meine Eltern.

»Und ihr habt nie herausgefunden, wer mich vor eurer Tür abgelegt hat?«, wollte ich wissen. »Es gab keine sonstigen Spuren?«

Sie nickte und setzte sich neben mich an den Tisch. Sie hielt meine Hand, tätschelte sie, lächelte müde und schüttelte den Kopf. »Für uns warst du fortan und für immer unser Sohn und für alle anderen im Dorf ebenfalls. Vielleicht haben wir uns auch gar nicht recht angestrengt, Nachforschungen anzustellen, um das Geheimnis deiner Herkunft zu lösen. Wir wollten es gar nicht erfahren. Jahrelang hatten wir Angst, dein Vater könnte eines Tages vor unserer Tür stehen und dich zurückverlangen. Das ist nie passiert, und selbst wenn es jetzt selbstsüchtig und böswillig klingen mag: Wir sind Gott dankbar dafür.«

»Mein Vater?«, wunderte ich mich. »Was war denn mit meiner Mutter? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass sie nach mir forschen würde?«

»Ja, natürlich«, sagte sie leise und räusperte sich. »Auf jeden Fall waren wir froh, dass nie wieder jemand nach dir gefragt hat.« Sie strich mir über den Kopf, nahm meine Hand, führte sie an ihren Mund und küsste sie, während ihr gleichzeitig die Tränen über die Wangen liefen.

Noch vor wenigen Minuten hatte ich nichts als schmerzliche Erniedrigung und sogar Hass empfunden, ich hatte mich tatsächlich wie ein Bastard gefühlt und meine Eltern als Lügner und Betrüger betrachtet, denen ich niemals würde verzeihen können. Doch jetzt krampfte sich mein Herz zusammen, und es war mir nicht möglich, ihnen böse zu sein oder ihnen gar Vorhaltungen zu machen. Sie hatten mich nicht geboren, das war leider wahr, aber sie hatten mich aufgenommen und wie einen Sohn geliebt und erzogen. Sie hatten mir die Wahrheit verschwiegen, aber sie hatten nur mein Bestes dabei im Sinn gehabt. Vielleicht hatten sie egoistisch gehandelt, als sie mir die einzige Mitgift meiner Mutter, das Marienmedaillon, vorenthalten hatten, aber ebenso hatten sie im Grunde nur das Wohl ihrer Kinder im Auge gehabt.

Plötzlich hielt ich irritiert inne und schaute meine Mutter unverwandt an. »Was ist mit Maria und Mechtild?«, wollte ich wissen. »Habt ihr sie auch gefunden?« Ich dachte an Mechtilds buschige Augenbrauen und Marias schwarzes Haar und fügte hinzu: »Das kann doch nicht sein.«

»Die Wege des Herrn sind unerforschlich«, antwortete meine Mutter. »Kaum ein Jahr nachdem du als Findelkind auf den Hof gekommen warst, befand ich mich plötzlich in anderen Umständen und brachte wenige Monate später deine Schwester Maria zur Welt. Und zwei Jahre später kam die kleine Mechtild noch hinzu. Trotz meines bereits hohen Alters. Es war, als wäre plötzlich ein Fluch von uns abgefallen.«

»Ich scheine euch Glück gebracht zu haben«, sagte ich schmunzelnd.

»Du bist unser Talisman, Jeremias!«, rief sie und küsste mich.

»Hoffen wir nur, dass ich mich jetzt nicht zu einem bösen Omen verkehre«, antwortete ich und versuchte mich an einem Lächeln, das mir jedoch gründlich misslang. »Hätte ich nur niemals diesen vermaledeiten Stein geworfen.«

»Du musst dich verstecken, zumindest eine Zeit lang! Auf dem Kotten kannst du nicht bleiben, du bist hier nicht mehr sicher!« Meine Mutter stand auf und ging zum Fenster. »Das wird er nicht auf sich sitzen lassen. Nie und nimmer wird der Amtmann das auf sich beruhen lassen!« Sie schaute hinaus, als erwartete sie, die Gendarmen bereits vor der Tür stehen zu sehen.

»Aber außer Pastor Söbbing hat mich niemand gesehen«, wandte ich ein. »Und der wird bestimmt nichts sagen, schließlich ist er Priester. Und er ist ein Ahlbecker. Keine sonstige Menschenseele weiß, dass ich den Stein geworfen habe. Außer Wenzel hat niemand gesehen, dass ich überhaupt im Dorf war.«

»Mag sein, dass Söbbing nichts sagt, aber verlassen kannst du dich nicht darauf«, antwortete sie und wandte sich zu mir um. »Boomkamp wird sich rächen, und du solltest nicht hier sein, wenn das geschieht!«

»Wo soll ich denn hin?«

»Ich habe da schon eine Idee«, sagte sie geheimnisvoll und neigte den Kopf, als wäre ihr der Gedanke selbst unheimlich. »Du musst ins Moor! Heute noch.«

Ich stierte sie nur an.

»Keine Bange, Junge«, sagte sie, kam auf mich zu und streichelte meine Wange. »Ich kenne einen Ort, an dem du sicher bist und an dem dich niemand suchen wird.«

»Im Venn?«

Sie nickte und sagte: »Sobald es dunkel wird.«

6

Seitdem wir den Hof verlassen hatten, war kein Wort mehr über die Lippen meines Vaters gekommen, und auch ich wagte nicht zu sprechen. Wir gingen gedankenversunken und in niedergeschlagener Stimmung auf der Landstraße in Richtung holländischer Grenze und schauten uns von Zeit zu Zeit um, um sicherzugehen, dass niemand uns sah oder folgte. Der Hessenweg war damals kaum mehr als ein leidlich ausgetretener Sandweg, der sich durch Wiesen und Wälder schlängelte und gerade bei feuchter Witterung nur mit Mühe zu bewältigen war. Zwar hatte es an jenem Mittwoch nicht mehr geregnet, aber der Weg war noch vom Vortag glitschig, und an einigen Stellen versank man knöcheltief im Schlamm. Aus Vorsicht hatte mein Vater beschlossen, nicht mit dem Einspänner zu fahren, sondern zu Fuß ins Moor zu gehen. Aus dem gleichen Grund hatten wir darauf verzichtet, die Laternen anzuzünden. In der Dunkelheit war kaum etwas zu erkennen, nur der Vollmond schaute von Zeit zu Zeit hinter den Wolken hervor, warf die gespenstisch wirkenden Schatten der Buchen und Birken zu unseren Füßen und leuchtete uns mehr schlecht als recht den Weg. In den Pfützen spiegelte sich der Himmel, an dem sich die Wolken schwärzlich türmten.

Als mein Vater kurz nach Sonnenuntergang vom Schulzenhof zurückgekommen war, war ich gerade damit beschäftigt gewesen, die Milch vom abendlichen Melken abzuseihen. Er hatte nur genickt, den Hut in die Hand genommen und müde gelächelt. Er schien einen sehr anstrengenden Tag hinter sich zu haben. Er sagte nichts und wurde sogleich von meiner Mutter in Empfang genommen, die ihn in die Stube führte und von den Vorfällen des Tages unterrichtete. Ich hörte die beiden aufgeregt aufeinander einreden, ohne die einzelnen Worte verstehen zu können, aber es hatte den Anschein, als klinge die Stimme meines Vaters zunehmend gereizt. An einer Stelle wurde er sehr laut und schrie meine Mutter regelrecht an. »Was soll denn das bezwecken?«, glaubte ich zu hören. »Das macht doch alles nur noch schlimmer!«

»Schrei doch nicht so«, erwiderte meine Mutter ebenso heftig. »Der Junge kann uns hören.« Den Rest der Unterredung führten sie im Flüsterton, und kein Wort drang mehr durch die Lehmwellerwände.

Ich versuchte, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, aber es wollte mir nicht gelingen. Mich beschlich das unangenehme Gefühl, dass weitere fürchterliche Enthüllungen auf mich warteten. Mir schien es, als wäre eine Lawine losgetreten, die mich nun mitzureißen drohte. Und ich hatte keine andere Wahl, als stillzuhalten, die Augen zu schließen und auf Beistand von oben zu hoffen. Ja, ich betete und wusste doch nicht, wofür.

»Na, dann los!«, war alles, was mein Vater sagte, als er zurück auf die Tenne kam. »Lass uns gehen!« Kein Wort über die Szene auf dem Kirchplatz, keine Bemerkung zu den gehässigen Worten des Amtmannes und der Geschichte meines Findeldaseins, keine Erklärung des Streites mit meiner Mutter. Nur ein leichtes Zucken um die Mundwinkel, das seine Anspannung verriet.

»Sollen wir nicht erst zu Abend essen? Die Pfannkuchen sind so gut wie fertig«, wandte meine Mutter ein und fasste meinem Vater von hinten an die Schulter, als müsste sie ihn stützen. Eine ungewohnte Geste. Sie selbst hatte Tränen in den Augenwinkeln und schien nur mit Mühe einen Weinkrampf zurückhalten zu können.

»Wenn ich mich jetzt setze«, antwortete mein Vater barsch, »dann komme ich anschließend nicht mehr hoch. Entweder wir gehen jetzt auf der Stelle, oder wir warten bis morgen.«

»Lass uns gehen, Vater«, sagte ich.

Er sah mich erstaunt an, blickte nachdenklich zu seiner Frau und befahl ihr: »Pack die Pfannkuchen ein, außerdem ein paar Eier, ein Stück Schinken und einen Laib Schwarzbrot.«

Der schroffe Ton, mit dem mein Vater meine Mutter anging, tat mir im Herzen weh, aber ich wagte nicht, irgendetwas zu sagen oder sogar eine Erklärung zu verlangen. Ich ging lediglich in die Stube, holte meine leinene Joppe und den Drillichumhang und setzte meinen Filzhut auf.

»Musst du jetzt gehen?« Meine Schwester Mechtild saß am Tisch, und schaute mich verstört an. Sie schien nicht zu begreifen, was gerade geschah und warum ich gezwungen war, mich im Moor zu verstecken.

»Sag Maria einen Gruß von mir«, antwortete ich ausweichend und streichelte ihr über den Kopf.

Maria hatte nach dem Mittagessen den kleinen Wenzel zurück zum Pättenbauer gebracht, und sich angeboten, den Rest des Tages im Dorf zu bleiben, dort als eine Art Spion auf der Lauer zu liegen und uns sogleich Bescheid zu geben, falls der Amtmann erneut mit den Gendarmen anrücken sollte. Sie wolle sich nützlich machen, hatte sie gemeint. Dumm herumsitzen, das sei nichts für sie, und im übrigen könne sie sich dabei im Dorf umhören und den neuesten Tratsch über den Vorfall auf dem Kirchplatz aufschnappen. Maria hatte sich seitdem nicht gemeldet und würde von unserer Mutter zurückgeholt werden, sobald ich den elterlichen Hof verlassen hatte.

»Kommst du bald zurück, Jeremias?«, fragte Mechtild.

»Sicher«, antwortete ich, »wir wollen doch Ostern gemeinsam Eier suchen.«

Während ich nun neben meinem Vater ging, war ich mir nicht mehr sicher, ob es zu dem versprochenen gemeinsamen Osterfest kommen würde. Der Amtmann würde alles unternehmen, das zu verhindern.

Eine knappe Meile hatten wir mittlerweile auf unserem Weg durchs Moor zurückgelegt, und zur Rechten tauchten die Lichter des Schulzenhofes auf. Er lag auf einer Anhöhe inmitten eines kleinen Busches unweit des Weges und war der letzte Bauernhof auf deutscher Seite. Direkt vor uns war im Mondlicht die sogenannte Landwehr, der Grenzwall zwischen Westfalen und Holland, zu erkennen. Ein Schlagbaum versperrte den Hessenweg, und wer die Grenze passieren wollte, musste sich den Schlüssel beim Lanvermann, dem »Landwehrmann«, besorgen und dafür einen Wegezoll zahlen.

Linker Hand des Weges befand sich die Kolkmühle, eine jahrhundertealte Wassermühle, die sich im Besitz der salmschen Fürsten befand und durch den Ahlbach gespeist wurde, jenem Flüsschen, das unserem Dorf seinen Namen gegeben hat. Benannt war die Mühle nach einem morastigen Tümpel, dem »Kolk«, dessen Wasser schwarz und faulig war. Der Pächter der Mühle, ein gewisser Lösing, der aber von allen nur Kolkmüller genannt wurde, hatte in einem Nebengebäude des Anwesens ein Gasthaus mit dem beredten Namen »Zum schwarzen Kolk« eingerichtet, in dem die Bauern die mitunter sehr langen Wartezeiten bei einem Schluck Bier verbrachten. Die Kolkmühle und das Gasthaus waren in der Dunkelheit nicht auszumachen, aber das Plätschern des Wassers und das Knarren der Mühlräder waren bis zu unserem Standort zu hören.

»Weißt du, wo der Galgenbülten ist?«, flüsterte mir mein Vater ins Ohr.

Ich fuhr zusammen und konnte ihn nur nickend anstarren.

»Fürchtest du dich, daran entlangzugehen?«, fragte er. »Wenn ja, dann müssen wir einen Umweg um den Schulzenhof herum machen.«

»Und wenn nein?«, erwiderte ich.

»Dann können wir direkt am Wall entlanglaufen.«

»Ich habe keine Angst«, log ich und folgte meinem Vater, der sich auf einem kleinen Trampelpfad durch die Büsche schlug.

»Pass auf, wo du hintrittst«, rief mir mein Vater zu. »Hier wimmelt es von Kreuzottern. Die Biester sind schwarz wie die Nacht und kaum zu erkennen.«

Wir schlichen uns durch Bruchwald und über sumpfiges Gelände direkt an der Landwehr entlang, bis wir einen kleinen Platz inmitten des Waldes erreicht hatten. Ein Hügel, der nicht von Gestrüpp, Schwarzerlen und Birken, sondern von niedrigem Gras und saftigem Klee bewachsen war, tat sich vor unseren Augen auf. Wie ein biblischer Kalvarienberg ragte der Bülten aus dem Wald heraus, auf seiner höchsten Stelle stand der aus schwerem Eichenholz gefertigte Galgen und warf einen unheimlichen Schatten auf das Gras. Zum Glück war in der letzten Zeit niemand hingerichtet worden, kein Leichnam hing am Galgen. Es war zur damaligen Zeit Sitte und Befehl, die Hingerichteten so lange am Strick baumeln zu lassen, bis der natürliche Werdegang sie aus ihrer grausamen Lage befreite. Erst dann wurden die verfaulten Überreste zu Füßen des Galgenbültens verscharrt. Die Obrigkeit versprach sich abschreckende Wirkung von diesem Vorgehen, und dies war auch der Grund, warum sich die Hinrichtungsstätten gern auf Hügeln und stets in der Nähe der befahrenen Handelswege befanden.

»Lass uns weitergehen«, bat ich und schluckte. Ich dachte an die Hinrichtung eines herumstreunenden Räubers, deren Zeuge ich vor etlichen Jahren gewesen war. Ein unwürdiges und makaberes Schauspiel, bei dem die begeisterte Menge umso ausgelassener gejubelt und gekreischt hatte, je flehentlicher und hilfloser der Verurteilte um sein Leben gewinselt hatte. Und ich erinnerte mich an die Galgenprozession nach dem Tode der Irmgard Lanvermann, als – in Abwesenheit des Täters – der Streckbrief des Mörders am Galgen befestigt worden war.

»Lass uns bitte weitergehen!«, wiederholte ich.

»Ist gut, mein Junge«, antwortete Vater, zog sich den Hut in die Stirn und nahm meine Hand. »Wir sind auch gleich da. Aber gib gut Obacht. Hier beginnt das Moor.«

Einige Planken, auf Pfählen befestigt, führten als Steg vom Galgenbülten über tiefes und morastiges Gelände zu einem Fußweg, der unmittelbar an der Landwehr entlangführte. Ich nahm einen faustgroßen Stein, der am Rande des Bültens gelegen hatte, und warf ihn in die sumpfige Lache. Der Stein verschwand mit einem seltsam gurgelnden Geräusch im Morast. Mit einem abgestorbenen Ast einer Birke versuchte ich das Moorloch zu ergründen, doch der Stab verschwand, ohne dass er festen Boden berührt hätte.

»O Gott!«, entfuhr es mir. Mit wackeligen Knien kroch ich über die Planken, in der einen Hand die nicht brennende Laterne, in der anderen meinen Proviant. Der Geruch von Moder und Fäulnis stieg mir in die Nase, unter dem feuchten Laub raschelte es von Sumpfasseln und sonstigem Getier, und mit mulmigem Gefühl in der Magengegend erreichte ich den Weg am Wall. Auch hier stand das Wasser knöcheltief, aber der Grund darunter gab nicht nach. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Pfad direkt zum Anwesen des Moorbauern führte, oder zu dem, was davon noch übrig war. Wieder rief ich: »O Gott!«

Gespenstisch erstrahlte der ehemalige Bauernhof im Vollmondlicht, niedergebrannt bis auf die rußgeschwärzten Mauern, die verkohlten und mittlerweile verrotteten Reste des Dachstuhls lagen im Inneren des Hauses, und Unkraut wucherte ringsum. Wo einst Türen und Fenster gewesen waren, gähnten jetzt schwarze Löcher, und die Überreste eines Pflugs standen wie zum Spott an die niederbröckelnde Mauer gelehnt. Selbst die Hundehütte vor dem Haus war eine schwärzliche Ruine.

»Sieht schlimm aus«, sagte mein Vater auf seine treffend schlichte Art. »Kaum zu glauben, dass dies mal ein Ertrag bringender Hof war.«

»Allerdings«, pflichtete ich ihm bei und betrat den von Trümmern übersäten Platz vor dem Kotten. Nicht nur das Haupthaus, auch die Scheune und der Schweinestall waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Ein trauriger und unheimlicher, zugleich aber auch faszinierender Anblick, den ich zum ersten Mal aus der Nähe zu Gesicht bekam. Obgleich der Hof in unmittelbarer Nachbarschaft Ahlbecks lag, hatte ich ihn noch nie zuvor betreten. Meine Eltern hatten mir stets verboten, mich auch nur in die Nähe des Hofes zu begeben. Als ich noch ein Kind war, hieß es im Dorf, auf dem Kotten spuke es. Von Irrwischen und Moorteufeln war die Rede, und ein Junge wollte sogar einem Werwolf begegnet sein. Niemand traute sich, den Gespenstern unter die Augen zu treten, und obwohl meine Eltern sonst nicht viel von abergläubischem Hokuspokus und Spukgeschichten hielten, stimmten sie hinsichtlich des Moorbauernhofes mit der Meinung im Dorf überein und hielten uns Kinder von der Ruine fern.

Der Hof war vor etwa zwanzig Jahren, noch vor meiner Geburt, abgebrannt, und zahlreiche Gerüchte und abenteuerliche Erzählungen rankten sich seitdem um dieses schauerliche Ereignis. Eines der meistverbreiteten Gerüchte besagte, dass der damalige Besitzer Alois Lösing, der sogenannte Moorbauer oder Vennekötter, wie man ihn auf plattdeutsch nannte, ein Bruder des Pächters der benachbarten Kolkmühle, eines Nachts die Gebäude in Brand gesetzt und sich dann am Giebel seines Kottens erhängt habe. Die Knechte und Mägde seien glücklicherweise durch den Brandlärm aus dem Schlaf gerissen worden, hätten aber tatenlos mit ansehen müssen, wie der Hof den Flammen zum Opfer fiel. Und schließlich habe man die verkohlte Leiche des Bauern inmitten der Trümmer gefunden. Die Reste eines Stricks um den Hals geschlungen und den verbrannten Kadaver seines treuen Hundes zu seinen Füßen. Die Gemahlin des Bauern, eine angeblich äußerst schöne und im Vergleich zu ihrem Mann recht junge Frau, sei seit jener Schreckensnacht nicht mehr gesehen worden. Es wurde vermutet, sie sei ihm zuvor wegen eines anderen Mannes davongelaufen, und dies sei der Grund für den Selbstmord des Kötters gewesen. Die Ehe der Moorbauern war, ähnlich wie die meiner Eltern, über die Jahre kinderlos geblieben, und nach dem Verschwinden seiner Frau, so erzählte man sich, habe der Bauer wohl keinen Grund mehr zum Leben gewusst und sich im Alkoholrausch umgebracht. Andere, allerdings nicht so zahlreiche Stimmen behaupteten, die Bäuerin selbst habe das Feuer gelegt, nachdem sie die Leiche ihres Mannes auf dem Dachboden gefunden habe. Wieso sie das getan habe und weshalb sie plötzlich nach dem Brand verschwunden sei, das wussten diese Stimmen nicht zu sagen.

»Warum gehört das Land heute eigentlich dem Schulzen?«, fragte ich meinen Vater und deutete auf die Trümmer. »Weshalb ist der Hof nicht in den Besitz des Kolkmüllers übergegangen? Der war doch immerhin der Bruder vom Vennekötter.«

»Der Kolkmüller hat den abgebrannten Hof und das Land an den Schulzen verkauft«, antwortete mein Vater.« Was sollte er auch damit? Er konnte ja nicht Mühle, Gasthof und Kotten gleichzeitig betreiben. Und der alte Lanvermann scheint ihm einen guten Preis geboten zu haben. Er hat die Äcker und Feuchtwiesen übernommen und den Hof verfallen lassen.«

Ich schaute auf die verbrannten Bohlen und Kanthölzer im Innenraum des Kottens, und mir lief eine Gänsehaut bei dem Gedanken über den Rücken, an einem dieser Balken könnte der Moorbauer gehangen haben.

»Warum soll ich mich unbedingt hier vor den Gendarmen verstecken?«, rief ich meinem Vater zu, der gerade um die Ecke des Kottens lugte. »Hier ist es nicht eben gemütlich.«

»Komm«, sagte er als Antwort und deutete hinter das Haus. »Sieh selbst.«

Als ich bei ihm angelangt war, verstand ich, was er meinte und warum meine Mutter mir nahegelegt hatte, mich im Moor zu verbergen. In einiger Entfernung vom Kotten, direkt vor dem Wall der Landwehr und unmittelbar neben einem Kiefernwald, stand ein kleines, windschiefes und verwunschen aussehendes Häuschen. Das ehemalige Gesindehaus. Etwas verfallen und ebenfalls von Unkraut überwuchert, aber nicht verbrannt und sogar noch mit Schindeln auf dem Dach.

Ich schaute von dem Gesindehaus zum Kotten und wieder zurück, und erneut fühlte ich einen Schauder an mir emporkriechen. »War eigentlich damals kein Gesinde im Bauernhaus?«, wandte ich mich an meinen Vater. »Ist von denen niemand zu Schaden gekommen?«

»Natürlich waren Leute im Kotten«, erwiderte er zögernd, »aber man scheint sie rechtzeitig gewarnt zu haben.«

»Wer?«, entfuhr es mir. »Wer hat sie gewarnt?«

Er lächelte gequält und zuckte mit den Schultern.

Irritiert blickte ich zu den abgebrannten Nebengebäuden und stellte mir vor, wie der Moorbauer erst die Scheune, dann den Stall und zuletzt den Kotten angezündet hatte, um sich anschließend am Dachgiebel zu erhängen. Er musste flinke Beine gehabt haben, der Vennekötter! Oder war das Feuer von einem Haus aufs nächste übergesprungen? Warum aber hatte niemand den armen Hund davon abgehalten, seinem Herrchen in den Tod zu folgen?

Vater räusperte sich, deutete auf das Gesindehaus und fragte: »Was sagst du? Sieht doch annehmbar aus, oder?«

»Ein paar Tage werde ich es dort gewiss aushalten«, antwortete ich und folgte ihm zur Hütte. »Wenn es innen ähnlich einladend ausschaut.«

»Hinter dem Haus gibt es sogar einen Brunnen«, antwortete er und öffnete die Tür. »Aber mit dem Licht solltest du vorsichtig sein.«

Das Innere des Gesindehauses entsprach in etwa dem äußeren Eindruck. Verlassen und verlottert, aber keineswegs baufällig oder unbewohnbar. Spinnweben hingen überall, und der Staub lag in dicken Schichten auf Boden und Möbeln, aber die Türen und Fenster waren dicht und das Holz erstaunlicherweise nicht morsch. Das Häuschen bestand aus lediglich zwei Kammern, die eine war leer und hatte einst wohl einige Betten beherbergt, bei der anderen handelte es sich um die Stube, in der sich außer einem kleinen Ofen nur zwei wacklige Stühle und ein altersschwacher Tisch befanden. Eine kleine Leiter führte durch eine Luke auf den Dachboden. Ansonsten war sämtliches Mobiliar ausgeräumt oder entwendet worden, nur in dem Alkoven befand sich eine Bettstelle, auf der ein Strohsack und ein kleines Kopfkissen lagen.

Als wir die Stube betraten, raschelte es auf dem Dachboden.

»Ratten!«, sagte mein Vater. »Fürchtest du dich?«

Ich schaute mich um, schüttelte zufrieden den Kopf, nahm den Filzhut ab und sagte: »Kein bisschen.«

»Das ist gut, mein Sohn.« Mein Vater stand in der Tür, reichte mir die Wolldecke, die er in einem Sack auf dem Rücken getragen hatte, und schickte sich an, sich zu verabschieden. »Also dann …«

Überrascht drehte ich mich um und fragte: »Willst du schon gehen?«

»Du kommst auch allein zurecht«, erwiderte er, legte die Decke auf den Tisch und senkte den Kopf. »Und wahrscheinlich willst du noch über das eine oder andere nachdenken. Wir reden, wenn es Zeit zu reden ist.« Er lächelte bedächtig und fügte hinzu: »Der Proviant sollte bis morgen reichen. Maria kommt am Nachmittag und bringt dir Nachricht und weitere Verpflegung.«

Mein Vater war noch nie ein besonders gesprächiger Mann gewesen, und mit uns Kindern hatte er schon gar nicht viel geredet. Der tägliche Ablauf auf dem Hof war klar bestimmt, was gab es da zu besprechen? Hier ein kurzer Befehl, dort eine flüchtige Bemerkung. Und wenn er doch etwas zu sagen hatten, dann war dies zumeist unangenehmer Art. Er war ein schweigsamer Mann und wurde nur gesprächig, wenn es als Lehrer darum ging, die Kinder zu unterrichten. Die meisten Worte aus seinem Mund hatte ich nicht als sein Sohn, sondern als sein Schüler vernommen. Und es waren nicht seine Worte gewesen, sondern die der Bibel oder der Schulbücher. Er meinte diese Wortkargheit gar nicht böse, er hielt nur nicht viel vom Reden. Das war alles.

»Vater …«, wollte ich zu sprechen ansetzen, doch er schüttelte nur den Kopf.

»Jetzt nicht«, sagte er, »du wirst noch früh genug alles erfahren.«

»Sieh zu!«, rief ich ihm nach.

»Du auch, mein Sohn«, antwortete er, winkte kurz und ging.

Ich zuckte mit den Schultern und fühlte mich beinahe erleichtert. Ja, er hatte recht, es gab so viel, über das ich nachdenken und mit mir ins Reine kommen musste. Die Neuigkeiten des Tages, die überraschenden Enthüllungen, die aufwühlenden Ereignisse hatten mich kaum zur Ruhe und zum Sinnieren kommen lassen. Mir brummte immer noch der Schädel. Und so genoss ich es in gewisser Weise, endlich allein mit meinen Gedanken zu sein. »Das macht es alles nur noch schlimmer!«, schossen mir die in Rage gesprochenen Worte meines Vaters durch den Kopf. Als könnte es überhaupt noch schlimmer kommen!

Ich drehte mich um die eigene Achse und betrachtete das Häuschen, welches für die nächsten Tage mein Zuhause und meine Zuflucht sein würde. Mein Blick blieb auf der Bettstelle haften, auf dem Strohsack, auf dem Kopfkissen.

»Merkwürdig«, murmelte ich, trat näher, entzündete meine Laterne und untersuchte die Bettnische. Weder auf dem Strohsack, noch auf dem Kissen war auch nur die geringste Staubschicht zu erkennen. Im flackernden Schein des Lichts bemerkte ich zudem, dass in der hinteren Ecke des Raumes ein alter Mantel verstaut war, dem Anschein nach ein verschlissener französischer Armeemantel. Des Weiteren stand ein mit Rinderfell bezogener Tornister neben dem Bett, und zwei weiße Schultergurte, wie sie von Napoleons Soldaten getragen wurden, lagen auf dem Boden.

Ein leises Knarren schreckte mich auf. Ich fuhr herum und sah einen Schatten, der auf mich niedersauste. Ein Blitz entlud sich in meinem Kopf. Farben tanzten, Geräusche explodierten. Plötzliche Totenstille. Und dann wurde mir schwarz vor Augen.


Zweiter Teil

»Ich aber bin von Art ein Baur.

Mein Arbeit wird mir schwer und saur.

Ich muss ackern, säen und eggen,

schneiden, mähen, heuen dagegen,

holzen und einfahrn Heu und Getreid.

Geld und Steur macht mir viel Herzleid.

Trink Wasser und ess grobes Brot,

wie denn der Herr Adam gebot.«

Jost Amman, »Das Ständebuch«

1

Der Schmerz pochte an der Schläfe und hämmerte am Hinterkopf. Ich versuchte, mir an den Schädel zu fassen, musste aber feststellen, dass meine Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Ich lag seitlich auf dem Boden, und als ich die Augen aufschlug, sah ich in das bösartig grinsende Gesicht eines etwa fünfzigjährigen Mannes, der sich über mich beugte, meine Kleidung durchsuchte und mir dabei eine Pistole an die Brust setzte. Da ihn die auf dem Boden stehende Laterne von unten beleuchtete, sah er noch verwegener aus, als er es ohnehin schon war. Im wettergegerbten Gesicht präsentierte er einen graumelierten, buschigen Vollbart, und mit zusammengekniffenen, wachsamen Augen funkelte er mich an, wie ein Raubvogel eine Maus beäugt, bevor er sie verspeist. Der Mann war ein regelrechter Hüne mit breiten Schultern, Stiernacken, stattlichem Brustumfang und muskelbepackten Armen, mit denen er mich wie eine Laus hätte zerquetschen können. Er trug den dunkelblauen und an mehreren Stellen eingerissenen Rock der französischen Linien-Infanteristen und präsentierte auf seinem riesigen, kahlköpfigen und mit Narben übersäten Schädel eine Mütze mit blau-weiß-roter Kokarde.

»Non tirer«, stammelte ich in fehlerhaftem Französisch. »Ne tuer je pas!«

Der Soldat schaute mich überrascht an, hob die Augenbrauen und sagte: »Sieh mal einer an, der verlauste Bauernlump spricht französisch.« Er lachte höhnisch und fügte hinzu: »Aber mit der Grammatik hapert es noch ein wenig.«

Irgendetwas an der Sprache des Mannes kam mir bekannt vor, entweder war es seine nasale Stimme, das rollende R oder die gemächliche Betonung der Worte. Er stammte offenkundig aus dem Niederdeutschen, vermutlich sogar aus dem Münsterland. Erneut schaute ich ihm ins Gesicht, aber da sein wild wuchernder Bart die Hälfte davon verdeckte, war es mir unmöglich zu erkennen, ob mir dieser Mann zuvor schon einmal begegnet war. Ich fragte: »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr von mir.«

Statt zu antworten, bediente er sich an meinem Proviant und verschlang die Pfannkuchen, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu beißen zwischen den Zähnen gehabt. Er biss ein Stück von dem Schinken ab, spülte mit einem Schluck Milch nach und rülpste.

»Was soll die Maskerade?«, hakte ich nach. »Warum verkleidet Ihr Euch als französischer Infanterist?«

Er lachte laut, klopfte mir mit der Pistole auf die Brust und sagte: »Du bist komisch, mein Kleiner, wahrlich, du bist ein lustiger Vogel. Mach weiter deine Späße, dann lass ich dich vielleicht noch ein Weilchen leben.« Wieder kramte er in dem Beutel mit dem Proviant und fragte schließlich: »Hast du kein Bier dabei? Oder etwas Wein?«

Ich ließ nicht locker: »Warum kostümiert Ihr Euch mit der welschen Uniform?«

Das Lachen erstarb auf seinen Lippen, wieder starrte er mich an wie der Vogel Greif, fuchtelte mit der Pistole vor meiner Nase herum und sagte: »Hör mal zu, du kleiner Klugredner, in dieser verdammten Uniform sind mehr Deutsche gestorben, als du dir in deiner beschränkten bäuerlichen Phantasie überhaupt vorstellen kannst. Jeder zweite Soldat der Großen Armee hat kein Wort Französisch gesprochen! Komm mir also nicht mit deinem großspurigen preußischen Drecksgerede!« Er musterte mich lange, kniff eines seiner Raubvogelaugen zusammen und fragte: »Was treibt du eigentlich hier? Und wer war der Kerl, der vorhin bei dir war?«

»Das geht Euch gar nichts an!«

»Das ist wohl wahr«, erwiderte er, grinste und hielt mir die Mündung seiner Pistole direkt vor die Nase. »Und wenn ich gleich schieße, werde ich es auch niemals erfahren. Zu schade!«

Ich schielte auf die Mündung und wagte kaum zu atmen. Wie betäubt starrte ich auf die Pistole, eine alte und reich verzierte Steinschlosswaffe mit extravagantem doppeltem Lauf. Als der Mann den Hahn spannte, sprudelten die Worte nur so aus meinem Mund: »Ich muss mich verstecken, weil ich aus der Landwehr desertiert bin und die Gendarmen und der Amtmann mich suchen. Der Mann vorhin war mein Vater. Wir sind arme Leute und haben kein Geld, nichts zu holen für Euch. Bitte tut mir nichts, ich bitte Euch, lasst mich leben.«

Er lachte und schüttelte den Kopf: »Was glaubst du eigentlich, was ich bin? Ein Räuber? Warum sollte ich euch wohl überfallen wollen?«

Ich stierte auf den Doppellauf und brachte kein Wort heraus.

»Ein Deserteur also«, murmelte der Soldat und ließ den Hahn an seiner Waffe sachte zurückgleiten. »Nicht zu glauben … ausgerechnet«, murmelte er nachdenklich. »Kommst du hier aus dem Dorf?«

Ich nickte und sagte: »Mein Name ist …« Ich zögerte, sah den Mann unschlüssig an und ergänzte schließlich: »Vogelsang.«

»Sind die Gendarmen auf deiner Spur? Steht zu befürchten, dass sie hier auftauchen?« Er löschte das Licht, stand auf und trat ans Fenster.

»Nein, hier sucht mich niemand«, erwiderte ich und berichtete ihm von dem Vorfall auf dem Kirchplatz. Von den Ahlbecker Deserteuren, von meinem Steinwurf und von der Ankündigung des Amtmannes, in Kürze wiederzukommen. Von Lotte und dem persönlichen Groll des Amtmannes gegen mich erzählte ich nichts.

»Du bist ja ein echter Revolutionär, mein Kleiner! Nicht gerade ein Patriot, das nun nicht, aber ein wahrer Freigeist, das muss man dir lassen! Bist einfach vor den preußischen Sandhasen geflitzt.« Abermals schüttelte er sich vor Lachen. »Vogelsang war dein Name?«

»Jeremias Vogelsang«, antwortete ich.

Da er immer noch vor dem Fenster stand und mir nur seine Silhouette zeigte, konnte ich ihm nicht ins Gesicht sehen, aber er schien überrascht zu mir herüberzuschauen. »Jeremias?« Er kratzte sich den Bart und fragte: »Der Sohn vom Magisterbauern?«

»Ihr kennt meinen Vater?«

»Ein gescheiter und tüchtiger Mann«, antwortete er und kam zu mir herüber. »Sein Vater, also dein Opa, hat mir das Einmaleins beigebracht.« Er lachte und fügte hinzu: »Nun ja, ein gebildeter Mann ist nicht gerade aus mir geworden.« Er bückte sich und zückte ein Messer, das er in seinem Hosenbund getragen hatte. Da ich glaubte, mein letztes Stündlein habe geschlagen, schloss ich die Augen, dachte an das Silbermedaillon, das an der Kette um meinen Hals hing, und betete zur Mutter Gottes. Doch der seltsame Fremde durchtrennte lediglich meine Fesseln und schlug mir kameradschaftlich auf die Schultern. »Schau mich an«, sagte er. »Erkennst du mich nicht?«

Ich öffnete die Augen, betrachtete ihn eingehend und schüttelte den Kopf.

Er nickte zufrieden, öffnete seinen rindsledernen Tornister und holte ein Stück Papier heraus. Er zündete die Laterne wieder an, reichte mir das Blatt und sagte: »Mein Name ist Bernhard …«

»Lanvermann!«, vervollständigte ich den Satz.

Fassungslos starrte ich auf das Papier, es war datiert vom 1. Dezember 1811 und handelte sich um einen Steckbrief der damaligen französischen Besatzungsregierung, Das Bildnis des einstigen Dorfschulzen prangte auf dem Papier und darunter die Worte: »Gesucht wegen Mordes«.

»Kennst du den Wisch?«

»Wisch?«, fragte ich. »Was heißt das?«

Er stutzte, lächelte dann nachsichtig und sagte:«Ich meine den Steckbrief! Schon mal gesehen?«

»Und ob!«, antwortete ich. Der gleiche Steckbrief war vor gut zwei Jahren nach feierlicher Galgenprozession in Abwesenheit des Verurteilten, aber in Anwesenheit sämtlicher Dorfbewohner am Ahlbecker Blutgerüst befestigt worden. Ich verglich das gezeichnete Bildnis mit dem Mann, der neben mir kniete, und wunderte mich. Von dem wüsten Bart war auf der Zeichnung nichts zu sehen, und statt des kahl rasierten Schädels trug er auf dem Steckbrief eine zum Zopf gebundene Lockenpracht auf seinem Kopf. Auch von den Narben war noch nichts zu erkennen.

»Sieht mir nicht besonders ähnlich, was?« Er nahm mir das Papier aus der Hand und verstaute es wieder im Tornister. »Ich habe nicht immer so finster wie heute ausgesehen. Eine Schönheit war ich gewiss nie, aber so hässlich auch wieder nicht!« Er fuhr sich nachdenklich über das entstellte Gesicht und schmunzelte.

Ich hatte ihn zu seiner Zeit als Dorfschulze nur wenige Male und stets aus der Ferne zu Gesicht bekommen, weder war ich damals schon als Heuerling auf seinem Hof gewesen, noch war ich ihm aus sonstigen Gründen unter die Augen getreten. Lediglich im sonntäglichen Hochamt war ich ihm dann und wann begegnet. Ich vermochte mich nicht daran zu erinnern, jemals ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Man zog respektvoll den Hut, kam sich aber nicht zu nahe und ging seines Weges.

»Warum sei Ihr … ?«, stammelte ich und rieb mir die Unterarme. Die Fesseln hatten mir das Blut abgeschnürt. Anschließend fuhr ich mir über den Hinterkopf, betastete die riesige Beule, die sich dort gebildet hatte, und schrie vor Schmerz auf.

»Tut mir leid, dass ich dich niederschlagen musste«, sagte er schelmisch grinsend. »Ich wusste ja nicht, mit wem ich es zu tun habe.«

»Halb so schlimm«, log ich, schluckte den Schmerz hinunter und wiederholte meine Frage: »Was wollt Ihr hier? Wieso seid Ihr …«

»Warum ich zurückgekehrt bin?« Erneut lachte er, diesmal jedoch verächtlich und mit unverkennbarem Abscheu. »Weil noch eine Rechnung offen ist! Weil ich noch etwas zu erledigen habe!«

Mich fröstelte bei seinen Worten. Ich dachte an seine Gemahlin und an die Art und Weise, wie er sie »erledigt« hatte.

Er schien meine Gedanken lesen zu können, denn er fragte: »Was schaust du so, als wäre ich der leibhaftige Teufel? Was weißt du denn schon über mich?« Er steckte die Pistole in den Hosenbund und stand auf. »Sprich! Was weißt du?«

»Nur das, was man sich im Dorf erzählt hat«, erwiderte ich zaghaft und setzte mich auf die Bettstelle. »Was Euer Bruder der Gendarmerie berichtet hat und was die Zeugen zu Protokoll gegeben haben.«

Wieder lachte er sein verächtliches Lachen. »Lass mich raten: Der arme Kerl hat die blutüberströmte Leiche meiner Frau eines Nachts im Ehebett gefunden. Ich lag sturzbetrunken neben ihr, das triefende Messer noch in der Hand, meine Kleidung ebenfalls blutverschmiert. Als ich hochfuhr und ihn sah, floh ich Hals über Kopf und ward nie wieder gesehen. Ende der Geschichte.«

»So in etwa«, bestätigte ich. »Euer Bruder hat noch einen heftigen Streit erwähnt, den Ihr kurz zuvor mit Eurer Frau ausgefochten haben sollt.«

»Dieses Schwein!«, entfuhr es ihm. »Dieser verfluchte Gauner!«

»Entspricht die Geschichte nicht der Wahrheit?«

»Ganz wie man es nimmt.« Er kam nahe an mich heran und schaute mich mit seinen Habichtaugen an. »Als ich in jener Nacht aufwachte, hatte ich wahrhaftig das blutige Messer in der Hand, lag neben meiner toten Frau, und mein Bruder stand vor dem Bett. Soweit entspricht die Geschichte der Wahrheit.« Er lachte verächtlich und setzte hinzu: »Hat sich eigentlich nie irgendjemand gefragt, was der gute Johann mitten in der Nacht im Schlafzimmer seiner Schwägerin zu suchen hatte?«

»Wollt Ihr mir erzählen, dass Ihr Euch an die Tat nicht erinnern könnt?«

»Ich war so betrunken, dass ich mich an gar nichts erinnern kann. Ich habe keine Ahnung, wie das Messer in meine Hand gekommen ist und wieso meine Kleidung blutverschmiert war. Von dem Mord an meiner Frau weiß ich genauso viel wie du! Aber von meinem Bruder weiß ich einiges zu berichten.« Er setzte an, weitere Einzelheiten zu erzählen, hielt jedoch plötzlich inne und schüttelte verärgert den Kopf. »Ach, was soll das alles?«, rief er und wandte sich ab. »Vorbei ist vorbei!«

»Was meint Ihr damit?«

»Johann ist fünf Jahre jünger als ich«, sagte er mit einem Mal und stellte sich wieder ans Fenster. Das Mondlicht schien durch die Scheibe und warf seinen Schatten zu meinen Füßen. Er brummte etwas in seinen Bart, was ich jedoch nicht verstand, dann wandte er sich um und sagte laut und vernehmlich: »Das hat er mir nie verziehen.«

»Weil Ihr der Hoferbe wart?«

»Er war der Hübschere, der Klügere, der Beliebtere, aber ich war der Ältere.«

»Wollt Ihr behaupten, dass Euer Bruder der Mörder ist?«, fragte ich und gesellte mich zu ihm ans Fenster. »Und dass er Euch die Tat in die Schuhe geschoben hat? Warum sollte er das tun?«

»Um den Hof zu übernehmen und fortan Dorfschulze zu sein!«

Ich dachte an die beiden Kinder des Bernhard Lanvermann, die beide nicht mehr lebten. Der Erstgeborene war bereits als Säugling am Scharlach gestorben und der Zweitgeborene nur wenige Monate vor dem Tod der Mutter bei einem tragischen Reitunfall ums Leben gekommen. Da es keine direkten Erben gegeben hatte, waren der Hof und das Amt des Schulzen nach den schrecklichen Ereignissen an den jüngeren Bruder gegangen.

Lanvermann sah mich an, und sein mondbeschienenes Gesicht war aschfahl. Seine Mundwinkel zuckten, die Augen bohrten sich regelrecht in mein Gesicht. »Der Streit, den ich am Abend vor ihrem Tod mit meiner Frau hatte«, sagte er schließlich. »Hat Johann auch ausgesagt, was der Grund für diesen Streit war?«

»Davon weiß ich nichts«, erwiderte ich. »Was war der Grund?«

»Irmgard und mein Bruder waren … die beiden hatten ein … ich habe sie zusammen …« Er schluckte und konnte nicht weiterreden, eine Träne lief über seine schmutzigen Wangen und blieb in seinem Bart hängen.

»Eure Frau hat Euch mit Eurem Bruder hintergangen?«

»Johann war schon immer ein elendiger Hurenbock!«, sagte Bernhard Lanvermann und bat mich, ihm den Tornister zu reichen. Er kramte eine Pfeife aus der Tasche, füllte sie sich mit Tabak und fuhr fort: »Es gab kein Weibsbild in ganz Ahlbeck, dem er nicht schon unter den Rock gegangen war. Er war ja ein hübscher Bursche, und das Scharwenzeln beherrschte er wie kein anderer. Die Weiberröcke scharten sich nur so um sein Bett, und er hat sie alle der Reihe nach bestiegen, egal ob naive Jungfern oder frustrierte Eheweiber.«

»Aber die eigene Schwägerin?«, erwiderte ich ungläubig.

»Meine Frau scheint ihn ganz besonders gereizt zu haben, gerade weil sie seine Schwägerin war«, antwortete er und paffte den Rauch gegen die Scheibe. Das Rauchen schien ihn zu beruhigen, sein Gesicht sah plötzlich beinahe friedlich aus, als erzählte er etwas, an dem er gar nicht beteiligt gewesen war. »Johann hat es nie verwinden können, dass Irmgard sich für mich entschieden hat und nicht das Buhlen des Scharmeurs erhört hat. Schließlich war ich der künftige Schulze und damit die bessere Partie.«

Die Worte meiner Mutter kamen mir in den Sinn. Es sei eine Schande, was Johann Lanvermann auf dem Hof treibe, hatte sie am Morgen gesagt. Ein einziges Sodom und Gomorra! Der Schulzenbauer solle sich was schämen! Und wir alle wären besser dran, wenn sein Bruder noch da wäre.

»Weshalb seid Ihr dann geflohen? Weshalb habt Ihr dadurch Eure Schuld geradezu gestanden?« Mir wollte das Verhalten des Bernhard Lanvermann nicht einleuchten, und ich setzte hinzu: »Warum habt Ihr es nicht auf einen Prozess ankommen lassen?«

»Weil es gar nicht erst zum Prozess gekommen wäre«, antwortete er und legte seine Hand auf meine Schulter. »Als ich aufwachte, blickte ich in die Mündung einer Muskete. Mein Bruder stand vor mir und drohte, mich auf der Stelle zu erschießen, wenn ich auch nur einen Mucks von mir gäbe. Er hat mich gezwungen, die Beine in die Hände zu nehmen und niemals zurückzukehren. Wenn ich mich geweigert hätte, hätte man meine Leiche neben der meiner Frau gefunden und kein Mensch hätte ernsthaft bezweifelt, dass der Mörder seiner gerechten Strafe zugeführt worden wäre.« Er lächelte eigentümlich und nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. »Johann hat natürlich acht darauf gegeben, dass die Gesindeleute mich in blutverschmierter Kleidung fliehen sahen und dies anschließend vor dem Untersuchungsrichter bezeugen konnten. Eine klare Angelegenheit und ein Fall für den Galgen!«

»Weshalb seid Ihr nicht später zurückgekehrt, um die Intrige aufzudecken?«, hakte ich nach. »Wenn Ihr unschuldig wart, warum habt Ihr Euch dann nicht gegen die Vorwürfe gewehrt?«

»Ha! Wie denn?!«, entfuhr es ihm. »Ich hatte keine Beweise. Mein Wort hätte gegen das meines Bruders gestanden, und die Indizien sprachen eindeutig gegen mich. Niemand hätte mir geglaubt!« Er sah mich spöttisch an und setzte hinzu: »Genauso wenig, wie du mir jetzt glaubst. Ich sehe es deinem Gesicht an, und ich kann es dir nicht einmal verdenken.«

»Das ist eine ziemlich abenteuerliche Geschichte, die Ihr da erzählt«, erwiderte ich, »warum sollte ich sie wohl glauben?«

»Niemand zwingt dich, mir Glauben zu schenken, mein Junge«, antwortete er lächelnd und klopfte mir auf die Schulter. »Ich lege keinen Wert mehr auf die Meinung anderer Leute. Glaub mir, wenn du es für richtig hältst, oder lass es bleiben. Es kümmert mich nicht, was du denkst. Das macht ohnehin alles keinen Unterschied mehr.«

Als er mir die Pistole vor die Nase gehalten hatte, war ich mir sicher gewesen, einen hinterhältigen und feigen Mörder vor mir zu haben. Jetzt aber, da er seine Hand auf meiner Schulter liegen hatte und mir ebenso eindringlich wie offen in die Augen schaute, war mir das nicht mehr möglich. Mitleid war alles, was ich für ihn empfinden konnte, er wirkte wie eine gehetzte und gejagte Kreatur, und das Unruhige und Beunruhigende in seinem Wesen war dem Anschein nach mehr auf erlittenes Leid als auf eigene Böswilligkeit zurückzuführen. Zugleich aber war etwas an ihm, in seinem geschundenen Gesicht, in seinem entschlossenen Blick, das einen seltsamen Einfluss auf mich ausübte und wogegen ich mich kaum zu wehren wusste. Gewiss, er war ein verwegener, ungehobelter und – wie ich am eigenen Leib erfahren hatte – brutaler Kerl, und dennoch zwang er mich geradezu, ihm mit Achtung und sogar Vertrauen gegenüberzutreten. Und je weniger ihm an meiner guten Meinung zu liegen schien, desto mehr war ich geneigt, ihm zu glauben. Zwar wunderte ich mich, dass er mir, einem völlig Fremden, seine Geschichte so freimütig erzählte und sich damit der Gefahr aussetzte, von mir verraten zu werden, anderseits hatte er für diesen Fall immer noch die Pistole in seinem Besitz, und er würde sicherlich nicht zögern, von ihr Gebrauch zu machen.

»Wie seid Ihr zu der französischen Uniform gelangt?«, fragte ich.

»Ungefähr zu der Zeit, als ich mich im Moor versteckt hielt und von Gendarmen und Spürhunden gehetzt wurde, las ich einen Aufruf der Franzosen, in dem von der Aushebung einer riesigen Armee die Rede war. Napoleon war anscheinend mit dem Zaren aneinandergeraten, und nun brauchte er Truppen für seinen Russlandfeldzug.«

»Ihr wart tatsächlich in der Großen Armee?« Ich erinnerte mich noch gut an die endlosen Kolonnen, die vor gut zwei Jahren über die Straßen gezogen waren. Abertausende Soldaten auf ihrem Marsch nach Osten, die sich unterwegs nahmen, was ihnen vor die Flinte oder Lanze fiel. Während die französischen Truppen von überallher zusammenströmten und die Straßen unsicher machten, traute sich keine Ahlbecker Frau vor die Tür. Die Vorräte wurden größtenteils versteckt, nur ein kleiner Rest zur sofortigen Herausgabe bereitgehalten, damit die Soldaten nicht aus Ärger den ganzen Hof in Brand setzten. Mit einer Mischung aus kindischer Neugier und ehrlich empfundenem Respekt betrachtete ich den Mann, der es geschafft hatte, den zunächst so erfolgreichen und dann fürchterlich selbstmörderischen Krieg zu überleben. »Ihr wart also wirklich in Russland?«, fragte ich.

»Das war ich allerdings«, antwortete er mit einem Anflug von Ekel in der Stimme. »Vom ruhmreichen Anfang bis zum bitteren Ende. Ich war bei der Schlacht von Borodinó dabei, wo wir uns den Weg nach Moskau blutig freigekämpft haben, und ich habe dieses verfluchte Moskau brennen sehen, mein Junge. Kannst mir glauben, das war ein schofeler Anblick. Wir hatten einen menschenleeren Haufen Schutt und Asche erobert und durften uns auf dem Rückzug mit wild entschlossenen Partisanen und bis an die Halskrause bewaffneten Bauern herumprügeln.« Er lachte verächtlich und winkte mit der rechten Hand ab. »Den Hintern haben wir uns in diesem elenden Russland abgefroren, und der Matsch beim anschließenden Tauwetter machte alles nur noch schlimmer. Wer nicht in den Scharmützeln starb, den hat die Ruhr dahingerafft. Wie die Fliegen sind sie abgekratzt. Siehst du diese Wunden?« Er deutete auf zwei hässlich vernarbte Schmisse, die parallel von seiner Nase bis zum rechten Ohr gingen. »Diese Andenken habe ich von meinen eigenen Kameraden empfangen, als wir uns an der Beresina gegenseitig die Köpfe einschlugen, um auf dem Rückzug als erster durch die Furt und über den Fluss zu kommen. Ich habe Massel gehabt und lebend das andere Ufer erreicht. Wer weiß, wenn es nötig gewesen wäre, hätte auch ich meinem besten Freund den Schädel eingeschlagen, um die eigene Haut zu retten.« Er wurde plötzlich ganz nachdenklich und schaute durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht im Raum, als redete er mit jemandem, den ich nicht sehen konnte. »Wenn ich keinen so guten Grund gehabt hätte, am leben zu bleiben, wäre ich vermutlich auch vor Hunger oder Erschöpfung krepiert oder hätte mich in Leipzig in einen der Degen der Verbündeten gestürzt.«

»In Leipzig habt Ihr auch gekämpft?«

»Mit dem schäbigen Rest der glorreichen Armee, jawohl!«, rief er plötzlich mit Begeisterung aus. »Wir haben uns vermöbeln lassen für Kaiser Napoleon! Die Große Armee einer Großen Nation hat von allen Seiten ordentlich Dresche bezogen.« Er lachte spöttisch, zog an seiner Pfeife und fuhr dann in seinem merkwürdig distanzierten Tonfall fort: »Nach der Katastrophe von Leipzig gab es keine französische Armee mehr, nur ein zerlumptes Häuflein Elend, das sich über den Rhein rettete.«

Ich starrte ihn an wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt, und ich dachte an die hunderte von Meilen, die er quer durch Europa zu Fuß gezogen war, an die Städte, die er gesehen hatte, und die Menschen, denen er begegnet war. Ich selbst war noch nie weiter als eine Tagesreise von Ahlbeck entfernt gewesen, an den hohen Feiertagen zog ich mit den anderen Männern des Dorfes zu den Prozessionen am bischöflichen Schloss in Altheim, und vor etlichen Jahren war ich auf dem Markt im zwei Meilen entfernten holländischen Enschede gewesen. Was ich von der großen weiten Welt kannte, hatte ich in Büchern gelesen und in Atlanten nachgeschlagen. Immerzu hatte ich davon geträumt, einmal in meinem Leben den Dom in Münster zu sehen oder wenigstens die Messe in Deventer. Und dieser Mann war in Sachsen und in Russland gewesen, er hatte Leipzig und Moskau mit eigenen Augen gesehen!

»Wird in Frankreich nicht mehr gekämpft?«, wunderte ich mich. »Ich dachte, der Kampf wird jetzt auf französischem Boden weitergeführt.«

»Das schon«, antwortete er und lachte lausbübisch, »aber die Scharmützel müssen fortan wohl ohne mich stattfinden. Der Krieg ist ohnehin entschieden, Napoleon ist besiegt, und warum soll ich mich in den letzten Tagen noch niedermetzeln lassen? Alle fremdländischen Soldaten haben längst das Weite gesucht, die meisten sind bereits im Winter verschwunden. Ich war einer der letzten, die davongelaufen sind.« Er lachte abfällig und fügte hinzu: »Wo hätte ich auch hingehen sollen?«

»Seit wann seid Ihr wieder in Ahlbeck?«

»Seit heute Nachmittag. Ich habe mich vor wenigen Wochen von der Truppe abgesetzt, um hierher zurückzukehren und das zu vollenden, was ich vor Jahren nicht zustande brachte.« Er sah mich mit mildem Lächeln an und meinte: »Und wen treffe ich hier? Einen kleinen Deserteur, der sich weigert, gegen die Franzosen zu kämpfen. Wir sind beide Fahnenflüchtige. Wenn das keine Fügung des Schicksals ist! In gewisser Weise sind wir Verbündete, nicht wahr?«

»Ich schere mich nicht um Politik«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Das ist ein Fehler, mein Kleiner«, erwiderte er schwermütig. »Denn die Politik schert sich um dich, ob du es willst oder nicht! Und wenn es soweit ist, solltest du wissen, auf welcher Seite du stehst. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo du wissen solltest, für wen du kämpfst und ob sich das Kämpfen lohnt. Wenn du das nicht weißt, dann bist du eine erbärmliche Kreatur. Nicht besser als das Rindvieh auf der Tenne.«

»Ich bin lieber ein lebender Feigling als ein toter Held!«, erklärte ich mich. »Und ich habe gewiss keine Lust, für eine Sache zu sterben, die nicht die meine ist! Deshalb halte ich mich lieber aus allem heraus.«

Er schnaufte abfällig, zuckte mit den Schultern und nahm die Mütze ab. »Schau mich an!«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. »Nicht immer hat man die Wahl, ob man feige oder heldenhaft sein will. Niemand fragt dich nach deinem Willen. Und ehe du dich versiehst, tust du Dinge, für die du dich normalerweise hassen würdest!« Wieder schaute er durch mich durch und redete gegen die Wand: »Ich habe für einen Kaiser geblutet, der nicht der meine war. Ich habe Tausende von braven Männern sterben sehen, die nicht die blasseste Ahnung hatten, für wen oder für was sie ihr Leben ließen! Und die meisten von diesen Burschen hatten sich auch aus allem heraushalten wollen, bis man sie schließlich zwang, die Waffe in die Hand zu nehmen und sich einzumischen.«

»Aber das ist einfach nicht gerecht!«

»Das hat auch niemand behauptet«, antwortete er und lächelte abwesend. »Das Leben hat nun wahrlich nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Wenn du das glaubst, kannst du dich auch gleich erschießen oder dir eine Narrenkappe aufsetzen und auf dem Jahrmarkt auftreten. Wenn Gott mit den Gerechten wäre, wie es so schön heißt, dann stände er allein auf weiter Flur da, das kannst du mir glauben. Vergiss das dumme Gerede der Pfaffen! Liebe deinen Nächsten! Ha, dass ich nicht lache!« Das Lächeln war längst aus seinem Gesicht verschwunden, und er fragte mit finsterer Miene: »Hast du ein Mädchen?«

Die unvermittelte Frage überraschte mich. Ich wusste nicht, ob und was ich antworten sollte, und sagte schließlich: »Ja … das heißt … nein!«

»Nicht einmal das weißt du?« Er lachte und klopfte mir aufmunternd auf den Rücken. »Du bist ein komischer Kerl, kleiner Vogelsang!«

»Bis gestern hatte ich ein Mädchen. Aber nun nicht mehr!«

»Sie ist dir davongelaufen, was?«

»Nicht wirklich. Sie wurde mir – in gewisser Weise – weggenommen.«

»Dann solltest du sie dir – in gewisser Weise – zurückholen«, antwortete er und klopfte mir erneut auf den Rücken. »Wenn du sie denn willst.«

»Ihr habt selbst gesagt«, erwiderte ich, »dass niemand einen nach seinem Willen fragt. Ich bin da keine Ausnahme von der Regel.«

Er nickte ernst, reichte mir die Hand und sagte: »Du darfst ruhig ›du‹ zu mir sagen, mein Kleiner. Ich heiße Bernhard.«

»Jeremias«, sagte ich, zögerte einen Moment und nahm dann seine Hand. »Du brauchst mich also nicht ›mein Kleiner‹ zu nennen.«

Er lachte schallend und sagte: »Die Freude ist ganz meinerseits.«

2

Noch keine Stunde befand ich mich in der Hütte, und schon wünschte ich mir, sie niemals betreten zu haben. Die altersschwachen Dielen knarrten, der Wind strich flüsternd um das Haus, die Bäume des benachbarten Kiefernwaldes ächzten und rauschten, und bei jedem noch so harmlosen Geraschel oder Vogelschrei fuhr ich auf und bekam Beklemmungen. Ich hatte versucht, einige wenige Bissen des übrig gebliebenen Proviants herunterzuwürgen, aber der Schinken blieb mir im Hals stecken, und das Schwarzbrot stieß mir säuerlich auf. Mein Magen rebellierte gegen das Essen. Ich legte mich auf den Lehmboden, wickelte mich in die Wolldecke und starrte durch das Fenster zum vollen Mond, der sich gerade hinter einer schwarzen Wolke verbarg. Ich fühlte mich einsam und verlassen in unwirtlicher Einöde. Vorhin noch hatte ich mich danach gesehnt, allein zu sein, doch nun hätte ich alles darum gegeben, jemanden neben mir zu wissen.

Bernhard Lanvermann war vor etwa einer halben Stunde verschwunden. Er war mit einem Mal und ohne irgendeine Ankündigung aufgesprungen, hatte sich den Militärmantel übergeworfen und war zur Tür geeilt, als hätte er etwas vergessen und müsste sich beeilen, es nachzuholen. Er habe noch etwas zu erledigen, hatte er lediglich gebrummt und sich die Mütze aufgesetzt.

»Was habt Ihr vor?«, hatte ich erschrocken gefragt.

»Wollten wir uns nicht duzen?«

»Wohin gehst du?«

»Das hat dich nicht zu kümmern«, hatte er mit finsterem Gesichtsausdruck erwidert. »Wenn es das wäre, wovor du offensichtlich Bammel hast, dann läge es gewiss nicht in deiner Macht, mich davon abzuhalten.«

»Ist es das, was ich befürchte?«

»Ich bin bald zurück«, hatte seine ausweichende Antwort gelautet. Und mit diesen Worten war er verschwunden und hatte mich mit meinen wirren und quälenden Gedanken allein gelassen. Plötzlich jedoch war er wieder im Türrahmen erschienen, hatte auf die Laterne gedeutet, sie an sich genommen und gefragt: »Du bist doch koscher, oder? Andernfalls würdest du es nämlich bitter bereuen.«

»Falls ich nicht koscher bin, wirst du es früh genug merken. Wenn du mir nicht traust, dann musst du mich eben fesseln.«

Er hatte lauthals gelacht, sich an die Stirn getippt und war hinaus in die Nacht getreten.

Ein merkwürdiger Tag!, dachte ich nun, während ich mich ruhelos auf dem Boden wälzte und doch keinen Schlaf finden konnte. Die Beule an meinem Hinterkopf hatte mittlerweile die Größe eines Taubeneis und ließ mich immer wieder zusammenzucken, wenn ich meinen Schädel zu heftig bewegte oder mit ihr den Boden berührte. Ein Tag voller Überraschungen! Kein koscherer Tag, wie Bernhard sagen würde. Eine seltsame Sprache hatte er sich bei den Franzosen angewöhnt. »Schofel«, hatte er vorhin gesagt und »Wisch« und »Bammel«. Wie ein Zigeuner oder Vagabund.

Meine Gedanken wanderten nach Oldendorf, zu meiner lieben Lotte, die nun nicht länger meine Lotte war. Es wahrscheinlich nie wirklich gewesen war. Insgeheim hatte ich gehofft, im Laufe des heutigen Tages irgendeine Nachricht von ihr zu erhalten, einen Brief, mit dem sie jemanden nach Ahlbeck schicken würde. Irgendetwas, um die Ungewissheit zu beenden. Aber ich hatte vergebens auf ein Zeichen aus Oldendorf gewartet. Vermutlich hatte sie ihrem Vater alles gebeichtet und ihm meinen Namen genannt, und er hatte ihr von meiner Fahnenflucht und meiner ungewissen Herkunft erzählt. Erst jetzt wurde mir vollends bewusst, wie ausweglos meine Situation war. Ich war nicht nur ein elternloser Bastard und landarmer Bauernlümmel, ich wurde zudem gejagt wie ein Vogelfreier und hatte jedweden Anspruch verwirkt, mich als ehrbarer und geachteter Bürger zu fühlen. Mit welchem Recht maßte ich mir an, um die Tochter des Amtmannes zu freien? Jenes Mannes, dessen Aufgabe es war, mich hinter Schloss und Riegel zu bringen! Ich befand mich in einer verfahrenen Lage, alles war schiefgelaufen, nichts passte mehr zusammen. Und was noch schlimmer war: Ich hatte keinerlei Möglichkeit, es wieder zurechtzurücken. Ich befand mich in einer Sackgasse, und der Weg zurück war mir versperrt. Ich saß in der Falle!

Ich starrte gebannt zur Decke und betrachtete mit stupider Ausdauer die Holzbalken und die kleine Luke in der Ecke des Raumes, die auf den Dachboden führte. Dort oben hatte sich Bernhard Lanvermann vorhin versteckt, als ich mit meinem Vater die Hütte betreten hatte. Zwischen den Balken sah ich einige Halme und Gräser hervorlugen, was darauf schließen ließ, dass auf dem Speicher noch Heu und Stroh gelagert war, das ich benutzen könnte, um mir eine etwas bequemere Bettstatt herzurichten und nicht länger auf dem harten Lehmboden liegen zu müssen. Mühsam rappelte ich mich auf, legte die Wolldecke beiseite und stieg auf der morschen Holzleiter durch die Luke. Abgesehen von ein wenig Stroh und Heu, das in kleinen Haufen auf dem Boden verteilt war, war auch der Dachboden leer. Die Tür im Giebel stand sperrangelweit auf, und ich hatte einen direkten Blick auf den Grenzwall und die Ruinen des Bauernhofes und glaubte sogar, in einiger Entfernung den Galgenbülten ausmachen zu können. Zwei Gestalten gingen auf der Landwehr auf das Gesindehaus zu. Die eine Gestalt war groß und stattlich und trug eine Laterne in der Hand, die andere war beinahe kugelrund und klein und ging dicht hinter der ersten. Sie schienen sich angeregt zu unterhalten, waren aber noch zu weit entfernt, als dass ich ihre Unterredung hätte verstehen können. Just in diesem Moment trat der Vollmond hinter einer Wolke hervor und beleuchtete silbrig die Szenerie und die beiden Figuren auf dem Wall. Bei dem Großen handelte es sich offensichtlich um Bernhard Lanvermann, sein dunkler Mantel und die Mütze auf dem Kopf waren unverkennbar. Der Kleine jedoch war mir unbekannt, am Leibe trug er eine im Mondlicht aufleuchtende weiße Uniform, wie sie von den ehemals holländischen Grenadieren der französischen Kaisergarde getragen wurden. Seine Beine steckten in schwarzen und kniehohen Stiefeln, und auf dem Kopf präsentierte er eine mit blau-weiß-roter Kokarde versehene Pelzmütze. Was hatte ein kaiserlicher Gardeoffizier mit einem Linien-Infanteristen zu schaffen?, wunderte ich mich. Stammte der kleine Dicke etwa auch aus der Gegend und hatte sich zusammen mit Bernhard von der napoleonischen Truppe abgesetzt?

Die beiden Männer hatten nun beinahe die Hütte erreicht, blieben aber weiterhin auf dem Wall stehen. Ich versteckte mich hinter einem Stützpfosten, schaute vorsichtig zur Tür hinaus und sah, wie sich Bernhard salutierend von dem Gardisten verabschiedete, dabei lauthals lachte und sich dennoch ehrerbietig verbeugte, als grüßte er einen Vorgesetzten. Der Kleine, dem Anschein nach ein bereits älterer Mann, der eine Brille mit winzigen Gläsern auf der Nase sitzen hatte, stimmte in das Lachen ein, wurde dann aber ernst und rief dem anderen hinterher: »Flessener?«

Bernhard, der bereits vom Wall heruntergesprungen war, wandte sich um.

»Keine Eigenmächtigkeiten, hast du verstanden?«, rief der Gardist, und es klang, als würde er lispeln oder zischeln. »Die Befehle kommen von mir, und hier geschieht nichts gegen meinen Willen.« Er legte, wie zur Untermalung seiner Worte, die rechte Hand auf den Säbel, der mittels einer blau-weiß-roten Schärpe an seiner Seite befestigt war und beinahe länger war als seine Beine. »Unternimm nichts auf eigene Faust und gib Bescheid, sobald du etwas Interessantes erfahren hast. Du weißt ja, wo du mich findest. Aber geh auf keinen Fall ein Risiko ein, Jackel wird schon auf seine Weise herausbringen, was wir wissen wollen. Er ist ein tüchtiger Bursche.«

Bernhard verbeugte sich erneut und antwortete dem Mann auf der Landwehr. Da er leiser als der Gardeoffizier sprach und dem Haus den Rücken zugewandt hatte, konnte ich seine Worte leider nicht verstehen.

»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, erwiderte der Gardist schließlich in unverminderter Lautstärke. »Ich hab nicht die geringste Lust, wegen einem Kaffer an der Feldglocke zu landen!«

Bernhard nickte. »Kannst dich auf mich verlassen, Simon!«

»Vermassele es nicht! Das würde dir teuer zu stehen kommen.« Der Kleine winkte kurz und energisch und sprang mit erstaunlicher Eleganz auf holländischer Seite von der Landwehr.

»Oui, mon capitaine«, erwiderte der ehemalige Ahlbecker Dorfschulze, tippte sich schmunzelnd mit dem Zeigefinger an die Mütze und trat beschwingten Schrittes auf das Haus zu. »Zu Befehl, Herr Hauptmann!«

Um nicht in Verdacht zu geraten, den beiden Männern zugehört zu haben, versuchte ich, so geschwind wie möglich wieder nach unten zu gelangen. Doch in der Eile und weil es auf dem Dachboden trotz der offen stehenden Giebeltür so finster war, stieß ich gegen einen Gegen-stand, der unter dem Heu versteckt war. Ich stolperte und schlug der Länge nach auf den Boden, dass der Staub ringsum aufwirbelte.

»Jeremias?«, hörte ich Bernhards Stimme von unten. »Was treibst du da?«

»Ich besorge mir etwas Heu zum Schlafen«, erwiderte ich, hustete und rieb mir das Schienbein. Auf den Dielen sitzend und in eine Wolke aus Heustaub gehüllt, sah ich nun auch, gegen welchen Gegenstand ich gestoßen war. Ein lederner, mit Holzleisten verstärkter Koffer lag vor mir auf den Balken.

Bernhard streckte seinen Kopf und die Laterne durch die Luke, sah mich vor der offenen Giebeltür auf dem Boden sitzen, schaute durch die Tür auf die vom Mondlicht beschienene Szenerie und sagte: »Du bist ein neugieriger Bursche! Hast du herumspioniert?«

»Ich wollte nur …«, begann ich bereits, eine Entschuldigung daherzustammeln, doch er winkte ab und wiederholte, wie für sich: »Wahrlich! Ein neugieriger Bengel!« Es schwang überhaupt kein Vorwurf in seinen Worten mit, er lächelte sogar und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Koffer. »Was hast du denn da gefunden?«

»Keine Ahnung. Der war hier unter dem Heu versteckt.«

»Reich mal herüber«, sagte er und zog den Koffer zur Luke. »Wollen doch mal sehen, was das ist.« Er versuchte, den Deckel zu öffnen, doch der war verschlossen und ohne Schlüssel oder Werkzeuge nicht zu öffnen. Bernhard pfiff durch die Zähne und sagte: »Dieses Ding fängt an, mich zu interessieren.« Er bugsierte den Koffer durch die Luke und verschwand nach unten.

Ich klopfte mir den Staub und das Heu von der Kleidung und stieg ebenfalls die Leiter hinab. Als ich in der Stube ankam, lag der Koffer bereits auf dem Tisch, und Bernhard machte sich im Schein der Laterne mit einem Messer an den Schlössern zu schaffen.

»Wäre doch gelacht«, sagte er und hieß mich an seine Seite treten.

Tatsächlich hatte er wenige Augenblicke später die Verriegelung geknackt, und der Deckel klappte nach oben.

»Voilà!«, rief Bernhard und pfiff erneut. »Was haben wir denn hier?«

In dem Lederkoffer befanden sich diverse Gegenstände, die offenbar einer Frau gehört hatten, darunter auch etliche kleinere silberne Schmuckstücke. Bernhard untersuchte sie, schüttelte den Kopf und meinte: »Billiger Tand!« Trotzdem steckte er die Broschen und Kettchen in die Innentasche seines Militärrocks und wandte sich dem Rest des Kofferinhalts zu. Er fand jedoch nur einigen wertlosen Nippes und persönliche Dinge wie Taschentücher, Fächer und einen bestickten und mit Glasperlen besetzten Pompadour mit den üblichen Stricksachen darin sowie etliche bunte Halsbänder und Armreife.

»Eine der Mägde des Moorbauern scheint den Koffer vergessen zu haben«, mutmaßte ich. »Vermutlich hat sie ihn in der Eile liegengelassen.«

Er schüttelte ungläubig den Kopf, starrte mit finsterem Blick auf die Sachen und sagte: »Unsinn!«

»Du hast recht«, murmelte ich. »Eine Magd mit einem Fächer und einem Pompadour habe ich auf einem Bauernhof noch nicht gesehen. Aber wem kann der Koffer denn sonst gehört haben?«

Bernhard kramte plötzlich ein kleines mit Tusche gezeichnetes und anschließend mit Wasserfarben koloriertes Porträt aus dem Koffer, hielt inne, deutete auf das Bild und rief erschrocken: »Die Vennekötterin!«

Das Porträt war gerahmt und zeigte eine junge und auffallend schöne Frau, die dem Betrachter zugleich verschämt und anmutig zulächelte. Das Bild war an sich von keiner hohen künstlerischen Qualität, aber es schien mit Liebe hergestellt, und auch der Blick der Frau schien mehr als nur schwesterliche Zuneigung für den Maler des Bildes auszudrücken.

»Ist sie das?«, wollte ich wissen. »Ist das die Frau des Moorbauern?«

Bernhard Lanvermann starrte immer noch wie versteinert auf das Porträt und nickte schließlich. »Das ist Elisabeth«, sagte er nachdenklich. »Das war sie.«

»Ein hübsche Frau.«

Er grunzte abfällig und meinte: »Das kannst du laut sagen!«

»Warum hat sie ihre Sachen auf dem Dachboden des Gesindehauses versteckt?«, dachte ich laut und schaute mein Gegenüber fragend an. »Wie kommt der Koffer unter das Heu? So verstaubt, wie er ist, lag er dort vermutlich bereits seit Jahren.«

Bernhard schüttelte nur leicht den Kopf und betrachtete nach wie vor gebannt das Bild. »Elisabeth«, murmelte er in Gedanken versunken. »So was!« Und er hielt das Porträt ins Licht, um es besser in Augenschein nehmen zu können.

»Hast du sie gut gekannt?«

»Sie war unsere Nachbarin«, antwortete er. »Mein Gott, das muss mittlerweile zwanzig Jahre her sein! Eine schreckliche Geschichte war das.« Und gänzlich abwesend flüsterte er: »Wo sie jetzt wohl stecken mag!«

»Stimmt es, dass sie dem Moorbauern Hörner aufgesetzt hat und mit einem anderen durchgebrannt ist?«, wollte ich wissen. »Im Dorf sagt man, das sei der Grund für die Katastrophe gewesen.«

Bernhard schreckte wie aus einem Traum auf, blitzte mich wieder mit seinen Raubvogelaugen an und fauchte: »Die Leute sollen nicht von Dingen reden, von denen sie nicht das Geringste verstehen!« Er hielt krampfhaft das Porträt in der rechten Hand und schlug mit der anderen auf den Tisch. »Verdammte Ahlbecker Tratschmäuler!« Sofort mäßigte er sich jedoch wieder, lächelte zaghaft und sagte: »Entschuldige! Ich wollte dich nicht anblaffen. Ich mag es nur nicht, wenn schlecht über Elisabeth gesprochen wird. Sie war ein braves Mädchen, ein liebes und harmloses Ding.« Seine Züge entspannten sich und wurden beinahe weich. »Sie war noch ein halbes Kind, und beim Alois hatte sie wahrlich nicht viel zu lachen. Seinen räudigen Hund hat der Vennekötter besser behandelt als das eigene Eheweib.«

»Und wieso?«

»Weil sie ihm nicht den Erben geboren hat, den er von ihr verlangt hat!«, antwortete Bernhard energisch. »Die Frau war dem alten Trunkenbold doch völlig egal, aber dass die beiden keine Kinder bekommen konnten, war natürlich alleine ihre Schuld!« Er lachte hämisch und schüttelte den Kopf. »Für Elisabeth war es gewiss nicht leicht, mit dem griesgrämigen Tyrannen auszukommen, ständig hat er sie geprügelt, grün und blau hat er sie mit dem Dreschflegel geschlagen, und eifersüchtig war er wie ein Wahnsinniger, aber nicht aus Liebe, sondern weil er sie für seinen Besitz erachtete, genauso wie sein Land, sein Vieh und seinen dummen Köter.« Er schaute sich in der Hütte um, schien in Gedanken in der Zeit zurückzugehen und schnaufte schließlich missfällig. »Oft hat sie weinend in unserer Stube gesessen und sich die Striemen und Blessuren von unseren Mägden versorgen lassen, während Johann und ich den Alten zur Räson zu bringen versuchten. Sturzbetrunken war er und geschrien hat er, er werde sein elendes Weib totschlagen, damit sei allen gedient. Das habe man nun davon, wenn man sich Bettler und Gesindel ins Haus hole! Ein ekelhafter Kerl, der Vennekötter. Nimm’s mir nicht übel, Jeremias, aber als ich von seinem Tod gehört habe, kamen mir nicht unbedingt die Tränen.«

»Warum hat sie ihn dann geheiratet?«

»Warum wohl?« Er zuckte nur mit den Schultern, legte das Bildnis auf den Tisch, stand auf, ging zur Tür und starrte in die Nacht hinaus. »Weil ihre Eltern es so wollten«, sagte er, während er mir den Rücken zuwandte. »Weil sie arm wie die Kirchenmäuse waren. Ihre Familie stammte aus Holland, der Vater hatte sein ganzes Hab und Gut beim Spiel verloren oder in der Beiß versoffen, ich weiß es nicht so genau, er zog jedenfalls als fliegender Händler und Hausierer durch die Gegend. Der Vennekötter war von außen betrachtet eine sehr gute Partie und brauchte dringend eine Gemahlin. Keine halbwegs gebildete oder wohlhabende Frau hätte sich mit dem mürrischen Despoten eingelassen! Also hat er sich beim fahrenden Volk bedient, regelrecht abgekauft hat er sie ihren Eltern, wie ein Stück Vieh. Und so hat er sie auch behandelt.« Er seufzte und setzte hinzu: »Elisabeth hätte seine Tochter sein können, bei ihrer Hochzeit war sie noch nicht einmal sechzehn Jahre alt.«

»Wie alt war sie, als das … als sie … als der Hof brannte?«, stotterte ich und nahm das Bildnis zur Hand. »Auf dem Bild sieht sie sehr jung aus.«

»Anfang zwanzig«, antwortete Bernhard und wandte sich zu mir um. »Wieso fragst du?« Abermals lachte er höhnisch und setzte hinzu: »Haben die Ahlbecker Klatschmäuler sonst noch irgendwelche hässlichen Lügen über sie erzählt?«

Ich schüttelte schweigend den Kopf und hing meinen eigenen, im Moment noch sehr konfusen und wenig zusammenhängenden Gedanken nach. Alles ging durcheinander und drehte sich im Kreise, und vergeblich versuchte ich, Ordnung in meine Überlegungen zu bringen. Ich beugte mich über den Tisch und betrachtete eingehender die gerahmte Zeichnung. Bei dem lieblichen Blick der jungen Moorbäuerin wurde mir ganz warm ums Herz, und beinahe hatte ich den Eindruck, als wäre mir dieses Gesicht irgendwie vertraut. Ich hatte diese Frau noch nie zuvor gesehen, da war ich mir absolut sicher, aber dennoch war sie mir keine Unbekannte, so seltsam das auch klingen mochte.

»Was starrst du so auf das Bild?«, fragte Bernhard und kam zurück an den Tisch. »Du guckst, als sähest du Gespenster!« Er nahm mir das Bild aus der Hand und betrachtete es nun seinerseits wieder mit dem merkwürdig apathischen Ausdruck von vorhin. Plötzlich fuhr er jedoch zusammen, hielt mir die Zeichnung hin und murmelte: »Da steht etwas. Da unten in der Ecke.«

Tatsächlich! In der rechten unteren Ecke des Porträts, teilweise durch den Rahmen verdeckt und deshalb nicht genau zu entziffern, war ein winziges Gekritzel zu erkennen. Bernhard fackelte nicht lange, brach den hölzernen Rahmen entzwei, nahm das Bild heraus, und zum Vorschein kamen die halb verwischten, aber dennoch lesbaren Worte: »Für meine Lisbeth. Von J. L.«

»Wer zum Henker ist J. L.?«, entfuhr es Bernhard. Er sah mich nachdenklich an, stutzte dann, fuhr sich durch den Bart und wollte etwas sagen.

Ich kam ihm jedoch zuvor und rief: »Johann Lanvermann!«

Er stand mit geöffnetem Mund vor mir und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »da bist du auf dem Holzweg.«

»Von wegen!«, beharrte ich. »Siehst du denn nicht, dass das alles zusammenpasst? Es stimmt es also doch! Die Moorbäuerin hatte ein Techtelmechtel mit Johann. Das würde auch mit dem zusammenpassen, was du mir vorhin über deinen Bruder erzählt hast. Und der Moorbauer ist ihnen auf die Schliche gekommen!«

Bernhard schüttelte immer noch unwirsch den Kopf. »Davon hätte ich doch etwas mitbekommen«, sagte er. »Seine sonstigen Liebschaften hat er doch auch vor niemandem geheim gehalten. Geradezu geprahlt hat er mit seinen Eroberungen, damit auch jeder sieht, was für ein toller Bursche er ist. Nein, du irrst dich, das kann nicht sein.«

»Sie war schließlich die Gattin eures Nachbarn. Da konnte er wohl kaum mit der Affäre im Dorf hausieren gehen, vor allem wenn er wusste, was für ein unberechenbarer Wüterich der Moorbauer war. Und vielleicht war Elisabeth auch nicht wie seine sonstigen Liebschaften.«

Er zog die Stirn kraus und bedachte mich mit einem missfälligen Blick. »Ich glaube es einfach nicht«, sagte er schließlich und machte ein Gesicht, das seinen Worten vehement widersprach. »Das hätte ich doch wissen müssen! Das hätte ich doch bemerkt!« Plötzlich verfiel er in nachdenkliches Schweigen, und ein seltsames Lächelns stahl sich auf seine Lippen. »Vielleicht hast du recht«, sagte er schließlich und nickte mir zu. »Ja, natürlich!«

»Woher vermochte Johann so gut zu malen?« Ich wies auf das Bild und fügte hinzu: »Wenn die Zeichnung der Bäuerin tatsächlich ähnelt und ihre Schönheit gut getroffen ist, dann hat dein Bruder wirkliches Talent.«

»Talent!«, zischte Bernhard. »Er hat sich so ziemlich in allem versucht, was er für künstlerisch hielt. Ein bisschen Malen, ein wenig Poesie, sogar am Holzschnitzen hat er sich versucht. Alles hat ihn interessiert, wenn es nur nichts mit körperlicher Arbeit zu tun hatte. Mit gepuderten Perücken ist er auf dem Hof herumstolziert, hat dabei in Büchern geblättert oder einen Zeichenblock in den Händen gehalten. Und alles nur, um den Weibsbildern zu imponieren!«

»Offensichtlich mit Erfolg«, sagte ich und stand auf. Diesmal war ich es, der zur Tür ging und ins Dunkel hinausstarrte. Der Himmel hatte sich zugezogen, der Mond war hinter einer Wolkenwand verschwunden, und der Wind hatte sich gelegt. Es roch nach Regen, aber noch war kein Tropfen gefallen. Ähnliche Kapriolen wie das wechselhafte Wetter machten auch die Gedanken in meinem Kopf. Ich dachte an den schrecklichen Freitod des Moorbauern. An seine hübsche Frau Elisabeth und den Scharmeur Johann. »Vor zwanzig Jahren«, hatte Bernhard gesagt. Im kommenden Jahr würde ich zwanzig Jahre alt werden. Und mit einem Mal fuhr mir ein Gedanke durchs Hirn, der dort schon seit einiger Zeit geschlummert hatte. War es nicht denkbar, dass der Griesgram Alois seine Gattin nicht auf frischer Tat, sondern auf ganz andere Weise des Ehebruchs überführt hatte? Angenommen den Fall, seine Elisabeth wäre plötzlich in anderen Umständen gewesen, hätte das den Moorbauer nicht stutzig gemacht? Wäre die Schwangerschaft nach all den Jahren der Kinderlosigkeit nicht der Beweis des Ehebruchs gewesen und ein guter Grund, seine Frau vom Hof zu jagen?

»Wann hat der Moorhof gebrannt?«, fragte ich. »In welchem Jahr?«

Er schreckte aus seinen Gedanken auf und schaute mich verdutzt an.

»Wann?«, wiederholte ich und trat zu ihm an den Tisch.

»Lass mich überlegen«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Es war das Jahr, in dem ich Irmgard geheiratet habe. 1794! Damals hat unser Vater noch gelebt und den Schulzenhof geführt.«

Ein Jahr vor meiner Geburt! Ich konnte meine Aufregung kaum verbergen und fragte mit zitternder Stimme: »In welchem Monat?«

Er schaute mich an, als glaubte er, ich hätte meinen Verstand verloren. »Warum bist du so käsig im Gesicht?«, fragte er beunruhigt.

Ich winkte ungeduldig ab, trat ganz nahe an ihn heran und wiederholte meine Frage: »In welchem Monat hat der Hof gebrannt?«

Er wich vor mir zurück, als traute er mir zu, ich könnte ihn jeden Moment anfallen. Dann sagte er zögernd: »Es war im Frühjahr. Im Weidemonat.«

»Mai!«, rief ich erstaunt aus und verstummte.

»Ja, im Mai«, sagte Bernhard. »Das Vieh weidete bereits im Freien. Es war eine laue Frühlingsnacht, als wir die Rauchsäule sahen.«

Zwölf Monate vor meiner Geburt! Mindestens drei Monate zu früh! dachte ich. Viel zu früh! Ich fragte: »Bist du sicher?«

Er runzelte die Stirn und fragte: »Warum ist das so wichtig für dich?«

Anstatt zu antworten, hakte ich nach: »Und nach dem Brand wurde Elisabeth nie wieder in Ahlbeck oder Umgebung gesehen?«

»Nicht dass ich wüsste. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Kein Mensch ist ihr je wieder über den Weg gelaufen. Vermutlich ist sie zu ihrer Sippe nach Holland zurückgekehrt oder hat sich irgendwelchen anderen Vagabunden angeschlossen.« Mit düsterem Blick fügte er hinzu: »Der einzige, der über ihren Verbleib etwas erzählen könnte, hat sich an seinem Giebel erhängt und liegt auf dem Ahlbecker Schindanger begraben.«

»Das stimmt nicht ganz«, widersprach ich und deutete auf die Tuschezeichnung und die Initialen in der Ecke. »Es gibt noch jemanden, der uns vielleicht sagen könnte, was aus der Moorbäuerin geworden ist.«

Bernhard sah mich mit einer Mischung aus Überraschung und Unverständnis an und fragte: »Was geht dich das eigentlich alles an? Du interessierst dich ja für die Angelegenheit, als hättest du persönlich etwas damit zu tun. Was kümmert dich Elisabeth? Du warst doch damals noch nicht einmal geboren!« Er spuckte auf den Boden und drückte sein Missfallen auch dadurch aus, dass er das Bild und die anderen Gegenstände zurück in den Koffer legte und den Deckel schloss. »Du bist ein neugieriger Bengel!«, wiederholte er seine Worte von vorhin, und diesmal war es durchaus als Vorwurf gemeint.

»Entschuldige«, stammelte ich. »Ich hatte nur gedacht …«

»Überlass das Denken denen, die davon etwas verstehen!«, giftete er mich an. »Spiel dich hier nicht als Gendarm auf und kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten. Verdammter Naseweis!«

Obgleich mich die Worte des Bernhard Lanvermann trafen und ihre Schärfe mir etwas überzogen vorkam, musste ich ihm gleichwohl recht geben! Mich ging die ganze Sache wahrhaftig nichts an, auch wenn ich für einen kurzen Moment gedacht und mir vielleicht sogar gewünscht hatte, dass dem so sei. Was sich vor zwanzig Jahren auf dem Moorhof abgespielt hatte, brauchte mich nicht zu interessieren. Der Moorbauer war tot, die Bäuerin verschollen, der Hof verbrannt, das Land verkauft, das Gesinde in alle Himmelsrichtungen verstreut. Was nutzte es jetzt noch, in der Vergangenheit zu wühlen?

Trotzdem – und sei es nur, um das letzte Wort zu haben – sagte ich: »Wenn es stimmt, was wir vermuten, und du mich vorhin nicht angelogen hast, dann hat dein Bruder Johann mehr als nur ein Leben auf dem Gewissen.«

»Und wenn schon«, lautete seine lapidare Antwort. »Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.« Plötzlich jedoch stutzte er, sah mich nachdenklich an und meinte: »Wenn du dich so für die Vennekötterin interessierst, dann solltest du lieber deine Mutter nach ihr befragen.«

»Meine Mutter?«

»Wenn ich mich recht entsinne, war sie damals mit Elisabeth gut befreundet. Kein Wunder eigentlich, sie waren ja beide Zugereiste. Schwestern im Geiste, wie man so schön sagt.« Er lachte dreckig, nahm die Mütze ab, kratzte sich den Schädel und sagte: »Verdammte Läuse! Wofür habe ich mir denn den Kopf rasiert? Morgen kommt der Bart ab.«

»Meine Mutter war eine Freundin der Moorbäuerin?«, wisperte ich ungläubig. »Davon hat sie mir nie etwas erzählt.«

»Sie wird schon ihre Gründe dafür haben!« Bernhard zuckte mit den Schultern, stellte den Koffer neben die Bettnische, zog sich die Stiefel aus und legte sich in den Alkoven. »Wenn du dir die Läuse nicht auch noch einfangen willst, dann solltest du dich von mir lieber fernhalten.«

»Was hast du mit Johann vor?«, fragte ich und ließ mich weder durch sein demonstratives Zubettgehen noch durch den abrupten Wechsel des Gesprächsthemas irritieren. »Wie willst du eure offene Rechnung begleichen? Willst du ihn …?«

»Das wirst du früh genug erleben«, unterbrach er mich und deckte sich mit seinem Mantel zu. »Du sollst mir nämlich dabei helfen.«

»Ich?«, entfuhr es mir. »Was habe denn ich damit zu tun?«

»Ha!«, rief Bernhard lachend. Er fuhr sich mit den Fingern durch den Bart, hatte offensichtlich eine Laus erwischt und zerquetschte sie zwischen den Fingernägeln, dass es »Knack!« machte. Dann fuhr er fort: »Gerade noch konnte er seine Nase gar nicht tief genug in fremder Leute Affären stecken. Und jetzt mit einem Mal hat er Bammel und will nichts mehr davon wissen.« Er grunzte genüsslich und schnippte die Laus auf den Boden. »Mach das Licht aus und schlaf! Wir haben morgen viel vor.«

»Warum sollte ich mit dir gemeinsame Sache machen?«, antwortete ich und löschte wie gewünscht das Licht. »Ich habe meine eigenen Sorgen.«

»Keiner redet von gemeinsamer Sache«, murmelte er, schon halb im Schlaf. »Ich bitte dich nur um einen harmlosen Gefallen und verspreche dir, dass du keinerlei Grund zur Sorge zu haben brauchst. Ich beabsichtige nicht, dich zu etwas Unrechtem zu verleiten oder dich in Gefahr zu bringen.« Mit diesen Worten drehte er sich auf die andere Seite und wandte mir den Rücken zu.

»Was ist eigentlich ein Kaffer?«, fragte ich.

»Ein Bauer«, antwortete er grunzend. »Wieso?«

»Und was versteht man unter einer Feldglocke?«

»Gib endlich Ruhe!«, fauchte er. »Leg dich schlafen und sei nicht so naseweis!« Er räusperte sich, zupfte an seinem Mantel und war binnen weniger Sekunden eingeschlafen. Sein Schnarchen und das Trommeln des Regens, der unterdessen eingesetzt hatte, begleiteten mich noch die halbe Nacht, und als auch ich endlich einschlief, begann es draußen bereits zu dämmern.

3

Der Schulzenhof war – wie der des Moorbauern – ein Mehrgebäudehof mit eingeschossigem, typisch westfälischem Hallenhaus und zusätzlichen Nebenhäusern für das Gesinde, sowie Kuh- und Schweineställen und kleineren Scheunen, die allesamt um einen weitläufigen Platz gruppiert waren. In der Mitte des Platzes standen drei knorrige alte Eichen, und umgeben war der gesamte Hof von einem kleinen Buchenwald, der ihn vor Wind und Wetter schützen sollte. Die einzelnen Bauten und Häuser waren um einiges größer und geräumiger als die auf dem Moorhof. Das eigentliche Bauernhaus war im Fachwerkstil errichtet und besaß ein reetgedecktes Dach, das beinahe bis auf den Boden reichte. Das Tor im Vordergiebel war fuderhoch und ebenso breit, sodass ein ganzer Wagen samt Ladung spielend hindurchpasste. Da das Tor offen stand, konnte ich von unserem Versteck aus einen Blick auf die riesige Tenne werfen, die wie das Mittelschiff in einer Kirche zu beiden Seiten von weiteren Stallungen für die Rinder und Pferde gesäumt war.

»Versuch es hiermit«, sagte Bernhard und reichte mir ein Fernrohr, das er aus seinem Tornister gekramt hatte. »Dann siehst du besser.«

Wir hatten uns im Dickicht des Buchenwaldes versteckt und lugten vorsichtig durch die Sträucher und Zweige zum Haus. Der Boden war noch feucht vom Regen, der die ganze Nacht auf die Erde niedergeprasselt war. Zwar schüttete es mittlerweile nicht mehr, aber stattdessen war ein böiger Wind aufgekommen, der heulend durch die Zweige und über unsere Köpfe fuhr und uns frösteln ließ.

Durch das Fernrohr vermochte ich in den hinteren Teil des Dielenraumes zu schauen, dort befand sich die Lucht, eine zur Tenne und zu den Stallungen hin offene Wohnnische mit gemauerter Herdstelle, hölzernen Bänken und Stühlen und einigen Schrankbetten, in denen das Hausgesinde zu nächtigen hatte. Da die Lucht nicht beheizbar war, rückten Mensch und Tier in den langen Winternächten eng aneinander und wärmten sich gegenseitig. Direkt hinter der Lucht begann der sogenannte Flett, der durch Steinmauern abgetrennte Wohn- und Schlafbereich der Herrschaft. Niedrige, kaum mannshohe Türen führten zur Stube und zu den ofengeheizten Kammern, welche ausschließlich für die Bauersleute gedacht waren.

»Neben der Lucht führt eine kleine Treppe zur Galerie über dem Flett«, flüsterte Bernhard mir ins Ohr und deutete auf eine kleine, grobe Zeichnung, die er vorhin im Gesindehaus angefertigt hatte. »Dort oben gibt es einen Raum, der früher unsere Schlafkammer war. Was sich heute darin befindet, kann ich nicht sagen, aber es wäre höchst interessant, das herauszufinden.«

»Ist das die Kammer, in der deine Frau …?«

»Das ist sie«, erwiderte er und senkte den Kopf. »Dort ist Irmgard gestorben.«

Mich schauderte bei dem Gedanken, und mit Unbehagen und zittriger Stimme fragte ich: »Was soll ich denn in der Kammer? Warum willst du unbedingt wissen, zu welchem Zweck der Raum heute benutzt wird?«

»Als Irmgard noch lebte, besaß sie eine große Eichentruhe. Du weißt schon, so eine schwere Truhe, in der die Bräute ihre Mitgift verwahren.«

»Eine Aussteuertruhe?«, fragte ich und nickte gleichzeitig. Jedes junge Mädchen besaß solch eine hölzerne und je nach Stand mit Schnitzereien verzierte Kiste, in der es seine häuslichen Habseligkeiten wie Besteck, Küchengeräte und Kleidungsstücke verstaute. Am Hochzeitstag wurde die Truhe der Braut von einem Nachbarn auf einem feierlich geschmückten Wagen zum Hof des Bräutigams gefahren. Handelte es sich um eine große Bauernhochzeit, so säumten Schaulustige den Weg, jubelten der Braut zu und wünschten ihr alles Gute.

»Eine Aussteuertruhe«, bestätigte Bernhard, »genau, mein Junge. Sie war so schwer und massiv, dass sie sie vermutlich in der Kammer gelassen haben. Und wenn sie meine Sachen und Papiere nicht verbrannt haben, dann lagern sie vermutlich in dieser Kiste.«

»Wie stellst du dir das vor?«, erwiderte ich, legte das Fernrohr beiseite und schaute ihm zweifelnd in die Augen. »Soll ich ins Haus gehen, die Galerie besteigen, in die Kammer eindringen, in der Truhe herumsuchen und voll bepackt mit Kleidern und Schuhen von dannen gehen?« Ich schüttelte den Kopf und deutete zum Hof, auf dem es vor Mägden und Knechten und herumtobenden Kindern nur so wimmelte. »Wie soll ich überhaupt über den Platz und die Tenne kommen, ohne bemerkt zu werden? Und was soll ich sagen, wenn mich jemand sieht und anspricht? Dass ich nur ein paar Habseligkeiten für den als Mörder gesuchten ehemaligen Schulzen hole?«

»Es ist jetzt kurz vor neun Uhr«, entgegnete er und sah mich flehentlich an. »Demnächst steht das zweite Frühstück an, und dann verschwindet das Gesinde in der guten Stube und macht sich mit Eifer über Weißbrot und Speck her. Niemand wird auf der Tenne sein, und falls dich doch jemand sieht, dann behauptest du einfach, dass du deinen Vater suchst. Du hast doch gesagt, dass er zum Kartoffelpflanzen angeheuert worden ist. Warum sollte irgendjemand Verdacht schöpfen? Du bist schließlich der Sohn eines Kötters.«

»Ich weiß nicht recht«, antwortete ich unentschlossen.

»Oder du spielst den Scharmeur und tust so, als hättest du ein Techtelmechtel mit einer der Mägde und kämst wegen eines heimlichen Stelldicheins. Schlimmstenfalls werden sie dich foppen und auslachen. Oder erzähl sonst was. Dir wird schon irgendeine Geschichte einfallen.« Er deutete auf seine Uniform, sein geschundenes Gesicht, den kahl rasierten Schädel und den wild wuchernden Bart und setzte hinzu: »Wenn ich in dieser Aufmachung auf dem Hof ertappt werde, dann gnade mir Gott! Falls man mich nicht erkennt, werden sie mich als vermeintlichen Marodeur wie einen räudigen Hund mit Knüppeln vertreiben, und falls sie meine wahre Identität herausfinden, dann ist es ohnehin um mich geschehen. Dann blüht mir die Feldglocke.«

Ich zuckte bei dem Wort zusammen, und plötzlich verstand ich seinen Sinn. Die Feldglocke war nichts anderes als der Galgen! Und die Gehängten waren die Schlegel in der todbringenden Glocke. Ich schluckte mühsam und spürte zunehmendes Unbehagen bei dem Gedanken, mich auf eine zwielichtige Sache einzulassen, bei der ich nicht wusste, wie sie enden würde und ob ich sie ruhigen Herzens unterstützen konnte. Vor allem aber sah ich nicht die unbedingte Notwendigkeit unserer waghalsigen Unternehmung, deshalb hob ich die Achseln und fragte zögerlich: »Warum kann ich nicht einfach meinen Vater um einige alte Kleidungsstücke bitten? Er wird gewiss nichts dagegen haben, wenn ich ihm erzähle, für welchen Zweck ich sie brauche.«

»Verstehst du denn nicht?«, rief er aufgebracht und fasste krampfhaft meinen Arm. Sofort senkte er seine Stimme wieder und schaute zum Hof, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn gehört hatte. »Verstehst du das denn nicht?«, flüsterte er und ließ mich los. »Niemand darf wissen, dass ich wieder in Ahlbeck bin. Dies ist kein harmloses Spiel, mein Junge, es geht immerhin um meinen Kopf.«

»Aber ich kann doch nicht wie ein gemeiner Dieb in fremder Leute Truhen schnüffeln!«

»Dann schau wenigstens nach, ob die Tür zur Kammer abgesperrt ist und, falls dem so ist, ob das Schloss leicht zu knacken ist. Wenn das der Fall ist, kann ich mir in der Nacht selbst beschaffen, was ich brauche und was mir gehört. Falls sie Irmgards Sachen nicht vernichtet haben, dann befindet sich in der Truhe vielleicht irgendetwas, das mir hilft, meine Unschuld zu beweisen. Womöglich gibt es Briefe, oder Johann hat Irmgards Tagebücher aufbewahrt.« Wieder sah er mich mit dem bittenden Blick an. »Ich verlange doch nichts Schlimmes von dir«, sagte er und fasste erneut meinen Unterarm. »Ich bitte dich nur um einen kleinen Gefallen. Was riskierst du schon? Du könntest dich ein wenig umsehen und umhören. Sprich meinetwegen ein wenig mit den Knechten und horch, was die Mägde so an Tratsch zu berichten haben.« Er nahm das Fernrohr, schob es zusammen und steckte es in den Tornister zurück. »Kannst du nicht verstehen, dass ich gern wissen möchte, was sich auf dem Bauernhof abspielt und was sich in den letzten Jahren zugetragen hat, während ich dazu verdammt war, diese Uniform zu tragen?«

Oh doch! Ich verstand ihn nur zu gut. Ich vermochte sehr wohl nachzuempfinden, was Bernhard fühlte und dachte. Seit Jahren befand er sich auf der Flucht, war in der Weltgeschichte herumgeirrt und hatte vermutlich an nichts anderes als an sein Zuhause und an das Unrecht gedacht, das ihm dort widerfahren war. Nun war er zwar wieder in Ahlbeck, aber gleichwohl weit davon entfernt, sein Elternhaus als Heimat betrachten oder auf Gerechtigkeit hoffen zu dürfen. Alle hielten ihn für einen feigen Mörder, und er war nicht in der Lage, das Gegenteil zu beweisen. Ich konnte durchaus nachfühlen, wie es in Bernhards Innerem aussehen und wüten musste. Und eben darum – und weil ich selbst neugierig auf den Schulzenhof und seine Bewohner war – ließ ich mich nun von ihm überreden und willigte ein, den Spion für ihn zu spielen.

»Ich werde sehen, was sich tun lässt«, sagte ich und hielt ihm die Hand hin. »Aber versprechen kann ich nichts.«

»Bist ein braver Junge«, erwiderte Bernhard und drückte meine Hand, dass sie wehtat. »Ich werde es dir vergelten, darauf hast du mein Wort. Ich vergesse nie etwas. Weder Böses noch Gutes.« Er tippte sich an die Mütze, schulterte den Tornister und schickte sich an zu verschwinden.

»Willst du gehen?«, fragte ich erstaunt. »Warum wartest du nicht und siehst, was ich auf dem Hof zustande bringe?«

»Du bist ein tapferer Bursche, Jeremias«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Du hast viel mehr Courage, als du denkst. Du brauchst mich dazu nicht, du kommst auch alleine klar.«

»Wo willst du denn jetzt hin?«

»Ich treffe mich mit einem Freund.«

»Der Grenadier der Kaisergarde?«

Bernhard schaute mich überrascht und, wie mir schien, auch ein wenig tadelnd an und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ein sehr guter Freund«, wiederholte er, jedes einzelne Wort betonend, und nickte bedächtig. »Wenn es Simon nicht gegeben hätte, dann wäre ich jetzt nicht hier. Dann wäre ich längst tot und verscharrt, und kein Hahn würde mehr nach mir krähen.«

»Er hat dir das Leben gerettet?«, flüsterte ich erstaunt und schaute verlegen zu Boden. »Wann war das? War er mit dir im Krieg?«

Bernhard zuckte mit den Schultern und sagte: »Jeder von uns führt seinen eigenen Krieg. Dafür muss man kein Soldat sein.«

Ich schaute ihn verständnislos an und dachte an sein gestriges mysteriöses Treffen mit dem Mann in der weißen Uniform und den halb scherzhaften und doch ehrerbietigen Militärgruß, mit dem sich er sich von dem Gardisten verabschiedet hatte. Und ich erinnerte mich an dessen mahnende Worte, die ich gestern noch nicht verstanden hatte: »Ich habe keine Lust, wegen einem Kaffer an der Feldglocke zu landen.«

Der Kaffer war ich, das hatte ich inzwischen herausgefunden, aber was oder wer war Bernhard, welche Rolle spielte er? Und warum bestand für diesen Simon die Gefahr, am Galgen zu enden? Was hatte er auf dem Kerbholz?

»Flessener!«, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. So hatte der Gardist den Lanvermann am Vortag gerufen. Ich wollte Bernhard nach dem Sinn dieses Wortes fragen, doch als ich zu ihm aufblickte, war er bereits im Dickicht verschwunden und hatte mich allein am Waldrand zurückgelassen. Ich verscheuchte meine konfusen und düsteren Gedanken und wandte mich wieder dem Geschehen auf dem Hof zu.

Der Knecht Hubertus, ein hünenhafter Kerl mit leuchtend rotem Haar, den ich von seinen Besuchen auf unserem Hof her kannte, trat gerade mit einer riesigen Holzleiter aus einer Scheune auf den Platz und trug sie hinüber zum Haus. Ein kleiner, ebenfalls rothaariger Junge von vielleicht fünf Jahren lief ihm munter pfeifend hinterher und machte allerlei Faxen. Dem Knecht wurde es zu bunt, er blieb stehen und versuchte, dem Jungen einen Fußtritt zu versetzen. Da der Große den Kleinen offensichtlich nicht ernsthaft hatte treffen wollen und allein zum Schein zugetreten hatte, lachte der Junge nun lausbübisch, tänzelte weiterhin um den Knecht herum und versuchte, ihm ein Bein zu stellen.

»Pass auf, Papa!«, rief der Junge. »Gleich fällst du hin!« Er kicherte und bemühte sich, seinen Vater dadurch zu ärgern und aus dem Gleichtritt zu bringen, indem er hinter dessen Rücken an der Leiter wippte.

»Das wollen wir doch mal sehen!«, antwortete Hubertus und drehte sich, die Leiter nach wie vor auf seiner Schulter balancierend, einmal um die eigene Achse, sodass die Leiter im Kreis herumsauste und den kleinen Jungen gewiss getroffen hätte, wenn dieser sich nicht geistesgegenwärtig zu Boden hätte fallen lassen.

Der Knecht stellte die Leiter gegen den Vordergiebel, direkt vor das Tennentor, und widmete sich seinem Sohn, dessen Gesicht und Bauch pechschwarz war, da er sich mitten in eine Schlammpfütze geworfen hatte. Allein die roten Haare leuchteten wie eh und je. Der Junge stand wie angewurzelt vor seinem Vater und schien nicht zu wissen, ob er weinen oder lachen sollte. Auch Hubertus war sich nicht ganz sicher, wie er reagieren sollte. Es hatte den Anschein, als wolle er zu einer Strafpredigt ansetzen, doch plötzlich schüttelte er sich vor Lachen und hielt sich die Seite. »Siehst du, Fritz«, sagte er, »so was kommt von so was!«

Ich nutzte die Gelegenheit und schlich mich, während der Knecht das Kind abklopfte und ihm den Dreck aus dem Gesicht wischte, zu den drei Eichen auf dem Platz. Zwischen den Bäumen wucherte das Gestrüpp, und so hatte ich von dort aus eine ausreichende Deckung, um weiterhin das Geschehen auf dem Hof zu verfolgen.

Aus dem Tor trat in diesem Moment eine dunkelhaarige Frau, deren Rolle auf dem Bauernhof ihrem äußeren Erscheinungsbild nach nur schwer einzuschätzen war. Sie trug die Tracht einer Magd und hatte eine graue Schürze vorgebunden, gleichzeitig jedoch war ihre Haube aus feinerem Stoff und mit Spitzen besetzt, ferner hatte sie ihre Tracht mit hübschen bunten Bändern verziert, und auch ihre schwarzen Lederschuhe, die unter der Schürze hervorschauten, wollten nicht recht zur Kleidung einer Bauernmagd passen. Die Frau war noch sehr jung, nicht viel älter als ich, und durchaus hübsch zu nennen. Sie war voll bepackt, im rechten Arm hielt sie einen mit dreckiger Wäsche gefüllten Korb, im rechten ein kleines, höchstens einjähriges Kind, welches jämmerlich schrie. Und dem enormen Bauchumfang nach zu urteilen, war ein weiterer Schreihals unterwegs. Während die Frau ins Freie trat, bemühte sie sich, den Säugling zu beruhigen, und sprach beschwichtigend auf das Kleine ein. Derart mit ihrem Kind beschäftigt, sah sie die Leiter nicht, die immer noch direkt vor dem Tennentor an den Giebel gelehnt stand. Sie stieß mit dem Kopf gegen eine Sprosse, schrie – mehr aus Überraschung als aus Schmerz – laut auf und ließ den Wäschekorb fallen. Um ein Haar wäre der Säugling ebenfalls zu Boden gegangen, doch im letzten Moment konnte die Frau das Kind an den Windeln fassen.

»Welcher Trottel hat denn die Leiter hier hingestellt?!«, schrie sie mit einer krächzenden Stimme, die so gar nicht zu dem angenehmen Äußeren der Frau passen wollte. »Warst du das, Blödmann?!«

Mit diesen Worten wandte sie sich an Hubertus, der die Szene mit einer Mischung aus Schrecken und nur unzureichend kaschiertem Vergnügen verfolgt hatte. Er sprang der Frau eifrig zur Seite, immer noch ein süffisantes Grinsen auf den Lippen, und packte die Wäsche zurück in den Korb. »Na, Hedwig, keine Augen im Kopf?«, sagte er schmunzelnd und reichte ihr den Wäschekorb. »Oder hast du mal wieder zu lange geschlafen und bist noch nicht ganz wach?«

»Was fällt dir ein, so mit mir zu reden, du Trampel?!« Sie schnappte sich den Korb und bedachte den Knecht mit einem giftigen Blick. »Vergiss nicht, mit wem du sprichst! Und nenn mich gefälligst Frau Hedwig!«

»Zu Befehl«, antwortete der Knecht, beugte untertänig den Kopf, schmunzelte jedoch und meinte: »Aber wäre Fräulein Hedwig nicht eher zutreffend?« Dabei streichelte er in betonter Harmlosigkeit dem Säugling auf ihrem Arm über den Kopf.

»Scher dich weg, du Taugenichts, sonst sage ich es deinem Herrn!« Sie stampfte mit einem Fuß auf den Boden und fügte wutschnaubend hinzu: »Und stell endlich die Leiter weg! Man kann sich ja alle Gräten brechen.«

»Bist du ein Fisch?«, mischte sich nun auch der kleine Fritz in die Unterhaltung ein, nachdem er den ersten Schrecken überwunden und sich das Gesicht notdürftig gesäubert hatte. »Oder warum hast du Gräten?« Er kicherte albern über seinen Witz und griente von Ohr zu Ohr.

»Halt deine Backe, du ungeratenes Ding!«, fuhr ihn Hedwig an und ging einen Schritt auf ihn zu, dass Fritz sich eiligst hinter seinem Papa versteckte.

»Gemach, gemach!«, ließ sich in diesem Augenblick eine sanfte und merkwürdig weiche Männerstimme aus dem Hintergrund vernehmen. »Warum kabbelt ihr euch schon wieder?«

Die Stimme gehörte dem Schulzen, der nun hinter den Streitenden auf den Platz trat und dessen Aussehen und Auftreten mich mehr als irritierte. Er trug einen blauen Frack mit Messingknöpfen und darunter eine gelbe Weste, seine Beine steckten in ockerfarbenen Lederhosen und die Füße in hohen Stulpenstiefeln, und auf dem Kopf präsentierte er einen runden, grauen Filzhut. Ich hatte diese seltsame und für einen Bauern unpassend erscheinende Kleidung bereits einmal in der Kirche an ihm gesehen, aber dass er sie auch bei der Arbeit auf dem Hof trug, überraschte mich und wollte mir nicht einleuchten. Als ich im vergangenen Spätsommer erstmals zur großen Getreideernte als Heuerling mit auf die Felder des Grundherren musste, war mir der Schulze nicht unter die Augen gekommen, er hatte beim Einholen der Garben nicht geholfen und es stattdessen vorgezogen, auf dem Hof zu bleiben und das Kommando dem Knecht Hubertus zu übergeben. Da ich den Schulzen nun in vollem Ornat herumstolzieren sah, konnte ich mir denken, was der Grund für sein Fehlen auf dem Feld gewesen war. Körperliche Arbeit war in solcher Kleidung schlechterdings unmöglich.

»Könnt ihr nicht einmal friedlich sein?«, wandte er sich an die Gesindeleute, hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und trat nun wiegenden Schrittes auf sie zu. »Immer dieses Gezanke!«

»Ach, Johann!«, rief Hedwig und stellte sich neben den Herrn, als suchte sie Schutz bei ihm. »Ständig triezen sie mich und behandeln mich schlecht. Und Hubertus ist der Schlimmste von allen! »

»Entschuldigt vielmals, Herr!« Der Knecht machte einen Bückling und fügte kleinlaut hinzu: »Die Frau Hedwig hat sich den Kopf gestoßen, und da ist sie böse geworden, weil ich Dummkopf die Leiter an der falschen Stelle abgestellt hatte.« Von seinem süffisanten Grinsen war nicht die geringste Spur übrig geblieben, er neigte devot den Kopf und setzte hinzu: »Nichts für ungut, Herr, es kommt gewiss nicht wieder vor.«

Johann Lanvermann nickte und nahm den Hut ab, um sich mit einem Taschentuch über die Stirn zu wischen, als wäre sie schweißnass. Der Schulze sah seinem Bruder Bernhard nicht im Geringsten ähnlich. Während die Züge des älteren Lanvermann hart und kantig waren, wirkten die des jüngeren eher rundlich und fein, ja, beinahe weiblich. Dies wurde noch dadurch bestärkt, dass er keinerlei Behaarung im Gesicht hatte. Weder trug er Koteletten oder Kinnbart, noch präsentierte er einen Schnauz auf der Oberlippe. Und nicht einmal der Ansatz eines Bartschattens war zu erkennen. Seine Haare waren gewellt und schulterlang und am Hinterkopf zu einem Zopf gebunden. Johann Lanvermann musste etwa fünfundvierzig Jahre alt sein, aber seinem Äußeren nach zu urteilen, hätte man ihn für einen Mittdreißiger halten können. Ein schöner Mann, daran konnte kein Zweifel bestehen, aber sein Gesicht wirkte wie eine Maske, eine schön anzuschauende, aber leblose Maske.

Er steckte lächelnd das Tuch wieder ein, nahm Hedwig für einen kurzen Moment tröstend in den Arm, ergriff dann ihre rechte Hand und bat auch Hubertus um die seine. »So«, sagte er und lächelte verträumt. »Jetzt gebt euch die Hände und vertragt euch wieder. Es ist doch eigentlich gar nichts passiert.« Abermals fiel mir der melodische Singsang seiner Stimme auf, als er feierlich hinzusetzte: »Warum immer gleich streiten? Wir sind doch erwachsene Menschen, nicht wahr?«

»Jawohl, das sind wir«, sagte der kleine Fritz, ebenfalls mit feierlicher Stimme, und bekam prompt eine Ohrfeige von seinem Vater, die er überrascht, aber mit stoischer Miene quittierte.

»Lass uns hineingehen, meine liebe Hedwig«, sagte Johann Lanvermann und nahm die Magd erneut in den Arm. »Das Frühstück ist fertig. Wir wollen erst einmal eine Pause machen.« Er nahm ihr den Wäschekorb aus dem Arm, bedachte den Säugling mit einem liebevollen Stups auf die Nase und ging ins Haus. Bevor er auf der Tenne verschwand, drehte er sich zu Hubertus um, deutete auf die Leiter und sagte: »Stell gefälligst das Ding beiseite, und dann ab mit euch zum Frühstück! Nachher muss der Stall ausgemistet und den Rindern Heu gegeben werden. Und die Pferde sind auch nicht vernünftig gestriegelt worden! Weiß der Teufel, wo ihr immerzu mit euren Gedanken seid.« Ohne eine Antwort des Knechts abzuwarten, schritt er ins Haus und geleitete die Magd zur Stube.

Hubertus blieb allein mit seinem vorlauten, sich die Wange haltenden Sohn auf dem Platz stehen und schüttelte missfällig den Kopf.

»Verdammtes Weibsstück«, zischte er und griff sich die Leiter. »Die wird sich noch umgucken, wenn die neue Herrin erst mal auf dem Hof ist. Dann ist es Essig mit dem feinen Getue!« Er rückte die Leiter ein wenig nach rechts, sodass sie das Tor nicht länger versperrte, und stellte sie vor einer kleinen Luke im Giebel ab, durch die man auf den Heuboden gelangte. »Los, Fritz!«, wandte er sich dann an den Kleinen. »Mama wartet mit dem Frühstück.« Er nahm seinen Sohn bei der Hand und führte ihn über den Platz in Richtung eines der Nebengebäude, das anscheinend als Gesindehaus diente.

»Die wird sich noch wundern«, wiederholte der Junge die Worte des Knechts und lächelte wieder lausbübisch, als hätte er nie eine Maulschelle bekommen. Er tänzelte munter um den Vater herum und verschwand mit ihm auf der Rückseite des Gesindehauses.

Es erstaunte mich, dass der Knecht nicht ebenfalls ins Bauernhaus gegangen war, um dort mit seinem Herrn zu frühstücken. Normalerweise wurden sämtliche Mahlzeiten gemeinsam an einem großen Tisch in der Stube abgehalten. Der Bauer sprach das Tischgebet, aß gemeinsam mit dem Gesinde und gab anschließend die Anweisungen und Befehle für den Rest des Tages. So kannte ich es jedenfalls von den übrigen Bauern in Ahlbeck, noch nie hatte ich es erlebt, dass Herrschaft und Hofpersonal getrennt frühstückten. Während des Essens waren alle Standesunterschiede aufgehoben. So hart die Arbeit auf dem Hof auch sein mochte und so ungerecht sie zwischen dem Bauern einerseits und den Knechten oder Mägden andererseits aufgeteilt war, bei den Mahlzeiten waren alle gleich und aßen aus demselben Topf und mit demselben Besteck. Auf dem Schulzenhof jedoch schien diese ungeschriebene Regel nicht zu gelten, es wurde streng zwischen Haus- und Stallgesinde unterschieden. Oder es gab eine andere, mir nicht erklärliche Unterteilung des Personals. Einige Dienstleute jedenfalls, wie die Magd Hedwig, schienen sich der besonderen Gunst des Herrn zu erfreuen.

Weitere Gesindeleute traten nach und nach aus den Ställen und Scheunen oder kamen aus dem Garten hinter dem Haus, um sich zum zweiten Frühstück einzufinden. Nur wenige von ihnen betraten das Herrenhaus, die meisten trotteten zu dem Gebäude, in dem vor wenigen Minuten auch Hubertus verschwunden war. Nachdem die herumtollenden Kinder zum Frühstück gerufen worden waren und sämtliches Personal die entsprechenden Häuser betreten hatte, herrschte plötzlich völlige Stille auf dem Hof. Das muntere Treiben legte eine Pause ein.

4

Der Platz lag gänzlich verlassen da, keine Menschenseele trieb sich mehr draußen herum. Allein der böige Wind fegte unentwegt über die Dächer und Bäume und pfiff durch die Ritzen, dass es wie gespenstische Geigenmusik summte. Ich starrte auf die Holzleiter, die nach wie vor an der Dachluke angelehnt stand, und bevor ich recht wusste, was ich tat, rannte ich in gebückter Haltung über den Hof und kletterte hastig und pochenden Herzens die Stiege empor. Das zweite Frühstück war nur eine kleine Zwischenmahlzeit, zu der man sich nicht lange niederließ, und so hatte ich keine Zeit zu verlieren, wenn ich ungesehen das Haus betreten und wieder verlassen wollte.

Die Luke war nicht verschlossen, und ich hatte keine Mühe, auf den Dachboden des Hauses zu gelangen. Da es bereits Frühling war und das Vieh seit einigen Monaten im Stall stand, war der Speicher nur mehr spärlich mit losem Heu und gebundenen Strohgarben gefüllt. Bereits vom Vordergiebel aus konnte man die Galerie im hinteren Teil des Hauses erblicken, ein Geländer führte an der Empore entlang und zu einer Treppe, die den bewohnten Flett vom Speicherraum trennte. Die Tür zu der Speicherkammer, von der Bernhard gesprochen hatte, sah ich ebenfalls, vermochte aber aus der Entfernung nicht zu erkennen, ob sie verschlossen war. Langsam schlich ich mich nach hinten, achtete dabei darauf, keinerlei Geräusche zu verursachen, und schaute mich immer wieder ängstlich um. Als ich vorhin auf die Leiter zugelaufen war, hatte ich einem plötzlichen und unbedachten Impuls nachgegeben, nun aber, beim mühsamen Klettern über Garben und Heuhaufen verfluchte ich mich, weil meine Neugier größer als mein gesunder Menschenverstand gewesen war. Was trieb ich hier eigentlich? Wie hatte ich mich nur dazu herablassen können, wie ein gemeiner Spion in fremden Häusern herumzuschnüffeln? Und warum interessierte sich Bernhard plötzlich so für seine alten Kleider und Papiere?

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich um ein Haar das Loch im Boden übergesehen hätte. Ich befand mich nun direkt über der Lucht, und der Auslass in der Decke diente als Rauchabzug für die offene Herdstelle auf der Tenne. Vorsichtig lugte ich nach unten und stellte erleichtert fest, dass sich niemand in der Wohnnische aufhielt. Das Gesinde saß immer noch beim Frühstück in der Stube. Ich kroch weiter durchs Heu, bis ich das Treppengeländer erreicht hatte. Wieder schaute ich ängstlich nach unten, doch auf der Tenne rührte sich nichts. Die Rinder standen gelangweilt in Reih und Glied und wedelten mit den Schwänzen, um die Fliegen und Bremsen zu verscheuchen. Eine Katze hockte auf einem Balken, hielt prüfend eine Maus in den Pfoten und schien sich nicht weiter für ihr Opfer zu interessieren, als sie merkte, dass das Tierchen tot war. Ich atmete tief durch, schaute zur Tür auf der Galerie und staunte. Zwei breite eiserne Beschläge waren zur Befestigung an der eichenen Holztür angebracht, und ein ebenfalls eiserner Riegel versperrte die Tür und war mit einem mächtigen Vorhängeschloss gesichert. Sosehr mich der übertrieben scheinende Verschluss erstaunte, sosehr war ich erleichtert, die Tür derart verschlossen zu sehen, denn somit hatte es sich für mich erübrigt, weiterzuforschen oder gar in die Kammer eindringen zu wollen. Was auch immer hinter dieser Tür gelagert war, der Schulzenbauer hatte seine Vorkehrungen getroffen, um allzu Neugierige aus der Kammer fernzuhalten. Und ich konnte mich zurückziehen und Bernhard von den dürftigen Ergebnissen meiner Nachforschung berichten.

Ich wollte mich gerade die Treppe hinunterschleichen, um mich auf dem schnellsten Weg über die Tenne davonzustehlen, als ich unter mir eine Tür krachend schlagen und eine Frauenstimme aufgeregt debattieren hörte. Wie zur Salzsäule erstarrt, blieb ich zunächst mitten auf der Treppe stehen und wagte mich nicht zu rühren. Erst als sich die Stimme näherte und sich nun auch eine zweite, die eines Mannes, hinzugesellte, wachte ich aus meiner Teilnahmslosigkeit auf, huschte geschwind auf den Stufen nach oben und verbarg mich im Heu.

»Merkst du nicht, dass sie das mit Absicht machen?«, rief die Frau schluchzend. Dem Krächzen der Stimme nach konnte es sich nur um die Magd Hedwig handeln. »Sie machen das nur, um mich zu beschämen. Und du gehst auch noch darauf ein und erzählst alles brühwarm.« Sie ging an der Treppe vorbei und setzte sich auf eine Bank in der Lucht. »Wie schäbig von dir!«

Da ich mich direkt über dem Auslass in der Decke versteckt hatte, konnte ich Hedwig auf der Bank sitzen und die rechte Hand vors Gesicht schlagen sehen. Der Säugling ruhte mit geschlossenen Augen in ihrem linken Arm und nuckelte an ihrer entblößten Brust. Dies zu sehen, war mir unangenehm und machte mir bewusst, wie unwürdig und niedrig ich mich im Moment betrug. Beinahe glaubte ich, sie hätte mich gemeint, als sie »Wie schäbig von dir!« gesagt hatte.

Ich hatte mich gerade dazu entschlossen, mich unversehens auf dem Weg, den ich gekommen war, davonzuschleichen, als der Mann unter mir zu sprechen begann und seine Worte mich wie gebannt an Ort und Stelle hielten.

»Warum sollte ich nicht über meine Braut reden dürfen?«, sagte der Mann mit weicher, beinahe singender Stimme. »Ich habe nichts zu verbergen und sehe nicht ein, warum dich das beschämen sollte!« Johann Lanvermann trat ebenfalls in die Lucht, näherte sich der Magd und legte mit einer etwas unbeholfenen Geste seine Hand auf ihre Schulter.

»Warum mich das beschämt?«, rief Hedwig, wehrte seine Hand ab und schaute ihn mit böse funkelnden Augen an. »Weil ich deine Braut bin! Deshalb! Weißt du nicht mehr, was du mir alles versprochen hast? Auf Händen tragen wolltest du mich, mir jeden Wunsch von den Augen ablesen, und jetzt lässt du mich wie einen wurmstichigen Apfel fallen und heiratest eine andere! Du gemeiner Schuft!« Abermals führte sie ihre Hand vor die Augen und weinte jämmerlich.

Johann ließ sich neben ihr auf der Bank nieder und nahm sie in den Arm. Sie wehrte sich zunächst ein wenig, nahm dann jedoch die Hand von den Augen und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.

»Du wirst allzeit meine Liebste bleiben, Hedwig«, flüsterte der Schulze liebevoll und strich ihr übers Haar. »Daran wird sich gar nichts ändern. Ich werde dich genauso lieb haben wie jetzt, das verspreche ich dir.«

»Aber du wirst ihr Gatte sein!«, schluchzte sie zur Antwort. »Nichts wird mehr sein wie jetzt, wenn sie erst mal Herrin auf dem Hof ist. Sie wird die Schulzenbäuerin sein und mich herumkommandieren. Und mich aus dem Haus vertreiben! Ich werde ihr die Augen auskratzen, das schwöre ich dir!«

Der Schulze lachte laut, tätschelte ihre Wange und rief: »Aber sie ist ja noch ein Kind! Du wirst doch wegen eines kleinen Mädchens nicht eifersüchtig werden. Niemand kann dir das Wasser reichen, das weißt du doch, Hedwig. Du bist mein Prachtstück!« Er nahm ihr Kinn in die Hand und schaute ihr eindringlich in die Augen. »Und außerdem weißt du genau, warum ich heirate.«

Bei diesen Worten fuhr Hedwig plötzlich in die Höhe und baute sich vor dem vollends verdutzten Bauern auf. Ihr Kind erwachte aus dem Dämmerzustand und schrie im gleichen Moment los. »Du brauchst einen Erbsohn, nicht wahr?!«, rief Hedwig und schüttelte den Säugling, dass man Angst um ihn haben musste. »Mein kleiner Max ist dir nicht gut genug! Und dass ich ein weiteres Balg von dir in meinem Bauch herumschleppe, interessiert dich ebenso wenig! Ich bin ja nur eine gewöhnliche Magd, die man nehmen kann, wie es einem beliebt, und wegwerfen, wenn es einem passt. Und die Kinder, die dabei herausspringen, sind nichts als vaterlose Bastarde, die als Erben nicht in Betracht kommen und am besten vor aller Welt verheimlicht werden.« Sie hatte sich derart in Rage geredet, dass sie nun innehalten und tief Luft holen musste. Sie presste ihr weinendes Kind an die Brust und setzte atemlos hinzu: »Fürs Bett bin ich dir gut genug, da bin ich dein Prachtstück, wie eine dahergelaufene Dirne. Aber zum Heiraten tauge ich nicht, da muss es schon ein dummes Ding aus Oldendorf sein, das nicht weiß, was du für ein verkommener Lüstling bist. Und wenn sie dann noch die Tochter des Amtmannes ist, in hübschen Kleider daherschreitet und eine anständige Mitgift mitbringt, dann steht der Hochzeit nichts mehr im Wege! Und unsereins kann sich zum Teufel scheren!«

Die Worte durchfuhren mich wie ein Blitzschlag, ich zuckte zusammen, verlor die Balance und beinahe auch den Halt. Im letzten Moment klammerte ich mich an einer Bohle fest und konnte den Sturz auf die Tenne nur um Haaresbreite verhindern.

Hedwig stutzte, schien etwas gehört zu haben und schaute zur Decke, von der einige Halme herunterrieselten. Da es dunkel auf dem Dachboden war, konnte sie mich nicht sehen, zuckte schließlich mit den Achseln und widmete sich wieder ihrem Gegenüber. »Du wirst dich noch wundern, mein Lieber!«, rief sie, warf den Kopf in den Nacken und bedachte den Schulzen mit einem abfälligen und hasserfüllten Blick. »So einfach wirst du mich nicht los, Johann! Und dein kleiner Schatz soll sich bloß nicht zu früh freuen.« Mit diesen Worten schritt sie würdevoll von dannen und ließ den Schulzen verdutzt zurück.

Lanvermann saß kopfschüttelnd auf seiner Bank, kratzte sich den Hinterkopf und schien nicht recht zu wissen, wie ihm geschehen war. Plötzlich jedoch stand er auf, lachte ungläubig und murmelte: »Verdammte Weibsleute!« Erneut lachte er, schüttelte den Kopf und verließ dann abfällig schnaufend die Tenne.

Ich hockte derweil auf dem Dachboden, starrte mit offen stehendem Mund nach unten, war wie gelähmt und konnte nicht glauben, was ich soeben gehört hatte. Vermutlich wollte ich es nicht glauben.

Das war also der Grund, warum Hubertus vorhin von einer »neuen Herrin« gesprochen hatte. Und schlagartig wurde mir klar, warum der Amtmann vor zwei Tagen bei Nacht und Nebel zum Ahlbecker Schulzen geritten war. Dass es bei dem nächtlichen Treffen mit dem Bauern Lanvermann um mehr als nur die Unterstützung des Dorfvorstehers im Kampf gegen die Deserteure gegangen sein könnte, war mir nicht im Entferntesten eingefallen. Ausgerechnet der Lüstling Johann sollte der auserwählte Bräutigam meiner Lotte sein! Mir wollte das auch jetzt noch nicht in den Kopf, aber es ließ sich nicht leugnen, ich hatte es mit eigenen Ohren gehört! Vermutlich wusste Boomkamp von den alles andere als gesitteten Verhältnissen auf dem Schulzenhof, aber wenn er zwischen einem reich begüterten Würdenträger und einem besitzlosen Bastard wählen musste, so entschied er sich zwangsläufig für Ersteren.

»Verdammter Lump!«, zischte ich und verspürte nicht geringe Lust, Johann Lanvermann hinterherzurennen und ihn auf der Stelle zu verprügeln. Doch im gleichen Moment, da mir derlei kindische Gedanken kamen, verflogen sie auch schon wieder und machten einer anderen, weitaus logischeren Überlegung Platz. Noch waren die beiden schließlich nicht verheiratet, und solange das Jawort nicht gesprochen war, war es auch noch abzuwenden! Wenn es mir gelang, dem Amtmann die Augen zu öffnen und ihm darzulegen, welch einen Schuft er sich als Schwiegersohn ausgesucht hatte, dann würde es vermutlich niemals zu dieser vermaledeiten Ehe kommen. Ich dachte dabei weniger an den unkeuschen Lebenswandel des Schulzen als an das, was mir Bernhard am Vortag berichtet hatte. Wenn es stimmte, dass nicht er, sondern sein Bruder Johann der Mörder der Schulzenbäuerin war, dann war der Kampf noch nicht verloren. Man müsse wissen, auf welcher Seite man stehe und wofür man streite, hatte Bernhard gesagt, auch wenn es nicht immer gelänge, sich erfolgreich durchzusetzen. Er hatte recht! Wer kein Ziel hatte, auf das er zustrebte, der war tatsächlich nicht besser als das Vieh auf der Tenne. Und endlich hatte ich eine konkrete Vorstellung davon, was ich wollte, und zugleich eine vage Ahnung, wie dies zu erreichen war.

»Bist du ein Spion?«, meldete sich plötzlich eine piepsige Stimme hinter mir.

Die Frage riss mich schlagartig aus den Gedanken und ließ mich beinahe laut aufschreien. Ich fuhr erschrocken herum und starrte in das lausbübisch grinsende Sommersprossengesicht des kleinen Fritz, der mit in die Seiten gestemmten Armen über mir stand und mich mit dem Fuß anstupste.

»Psst! Nicht so laut!«, wisperte ich nach einer Schrecksekunde, legte den Finger über die Lippen und bedeutete ihm mit ernstem Gesichtsausdruck, sich neben mich zu legen und den Mund zu halten. »Mucks dich nicht!«

Sofort wich die belustigte Miene aus seinem Gesicht, und mit einem bedeutungsschwangeren Nicken ließ er sich neben mir nieder und wiederholte flüsternd: »Bist du ein Spion? Oder warum versteckst du dich?«

»Was denkst du denn!«, antwortete ich nickend und fügte beschwörend hinzu: »Aber das darfst du niemandem sagen!«

»Keine Bange«, erwiderte er und rieb sich unternehmungslustig die Hände. »Bin doch selber ein Spion. Früher war ich mal Pirat, aber Papa hat mir verboten, mit dem Boot auf dem Kolk zu fahren, wegen der Schleuse. Das ist zu gefährlich, sagt er. Darum bin ich jetzt Spion, das ist auch viel lustiger.« Er dachte einen Moment nach, kraulte sich die roten Haare auf dem Kopf und fragte: »Für wen spionierst du denn?«

»Das ist doch geheim«, antwortete ich und duckte mich plötzlich, als hätte ich ein Geräusch gehört oder einen verdächtigen Schatten gesehen.

»Ach so«, sagte Fritz und duckte sich ebenfalls. »Ich verstehe. Und was willst du hier auf dem Hof herausbekommen?«

Ich überlegte einen Augenblick, deutete dann auf die verriegelte Speichertür auf der Galerie und fragte: »Was befindet sich hinter dieser Tür?«

»Ach, die«, antwortete der Kleine ein wenig enttäuscht und senkte den Kopf. »Die ist doch verschlossen.«

»Eben drum. Wenn sie das nicht wäre, gäbe es ja nichts zu spionieren.«

Das leuchtete ihm ein, er blickte mich mit freudigem Funkeln in den Augen an und sagte: »Natürlich! Ich Dummkopf!« Er kam ganz nahe an mich heran, legte beide Hände wie einen Trichter um mein Ohr und flüsterte: »In der Kammer lagern die Vorräte, glaube ich. Aber so genau weiß ich das ja nicht, weil die Tür immer verriegelt ist. Nur der Herr hat einen Schlüssel, aber ich habe noch nie gesehen, wie er hineingegangen ist. Wahrscheinlich ist der Raum leer.« Er legte den Kopf auf die Seite und presste die Lippen aufeinander. »Oder was glaubst du?«

»Kann sein«, erwiderte ich schulterzuckend und war zugleich vom Gegenteil überzeugt. In dieser Kammer befand sich irgendein Geheimnis, irgendein Gegenstand, den der Schulze sorgfältig verstecken musste und den er zugleich hütete wie den heiligen Gral. Vielleicht sogar etwas, das ihm gefährlich werden könnte? Womöglich hatte Bernhard recht mit den Briefen oder Tagebüchern, die in der geheimnisvollen Truhe lagerten. Wenn aber der Inhalt der Kammer den Schulzen in Schwierigkeiten bringen konnte, warum hortete er ihn dann und schaffte ihn nicht einfach aus der Welt? Das ergab keinen Sinn. Und wenn ich mir das alles nur einbildete? Schließlich war die Kammer ein Vorratsraum, und die waren im allgemeinen verschlossen. Was war daran verdächtig? Nichts! Vermutlich ging einfach nur meine Phantasie mit mir durch.

»Es gibt auf der Rückseite vom Haus ein Fenster«, sagte Fritz plötzlich, stieß mich an und sprang auf. »Wenn wir die Leiter nehmen, dann können wir vielleicht durch die Scheiben kiebitzen!« Er kicherte voller Tatendrang und wollte schon zur Treppe laufen, blieb aber plötzlich wie angewurzelt stehen.

»Fritz?!« Zugleich mit der Stimme erschien der Knecht Hubertus auf der Treppe und versuchte im Dunkel des Dachbodens etwas zu erkennen. »Fritz, ich habe deine Stimme gehört. Komm sofort heraus!«

Gesenkten Hauptes trat der kleine Junge an die Treppe, und auch ich folgte ihm und zeigte mich. Da mittlerweile das Frühstück vorüber war und die Männer wieder bei der Arbeit waren, wäre es mir ohnehin nicht mehr möglich gewesen, mich vom Dachboden zu stehlen, ohne gesehen zu werden.

»Wer ist denn das?«, fragte Hubertus.

»Das ist ein Spion«, antwortete sein Sohn. »Aber das dürfen wir niemandem sagen, weil das nämlich geheim ist. Er will wissen, was …«

»Ich bin Jeremias«, beeilte ich mich zu sagen und nahm den Hut vom Kopf. »Der Sohn vom Bauern Vogelsang. Ich wollte eigentlich nur meinen Vater sprechen, da bin ich auf den Kleinen hier gestoßen, und der wollte mir unbedingt etwas auf dem Heuboden zeigen.« Ich räusperte mich, trat hinter Fritz und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nicht wahr, Fritz?«

Er schaute mich überrascht an, verstand dann aber, zwinkerte mir zu und sagte glucksend: »Ja, genau! Wir sind gar keine Spione!«

»Deinen Vater?« Hubertus sah mich verständnislos an. »Warum kommst du hierher, wenn du deinen Vater suchst?« Er nahm den Kleinen an der Hand und führte ihn die Holzstiege hinunter.

»Ist er nicht beim Kartoffelstecken?«, fragte ich und folgte den beiden auf die Tenne. »Ich dachte, der Schulze wollte den Acker bestellen.«

»Gestern, ja«, erwiderte der Knecht. »Aber heute nicht.«

»Habt ihr alles an einem Tag geschafft?«, wunderte ich mich.

»Ach Gott, wo denkst du hin?« Hubertus lachte und schüttelte belustigt den Kopf. »Dafür brauchen wir gewiss noch eine halbe Woche.«

Ich sah ihn erstaunt an.

»Lanvermann hat die Heuerlinge nur für den einen Tag bestellt«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Der Rest wird nach Ostern gemacht.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn!«

»Wem sagst du das?!« Er zog ein großes Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich. »Aber so ist es nun mal. Weiß der Teufel, was der Bauer sich dabei gedacht hat.«

Ich konnte mir ziemlich genau denken, was er im Schilde geführt hatte. Das gestrige Kartoffelpflanzen war lediglich ein Ablenkungsmanöver gewesen, um die Deserteure besser und ungestörter einfangen zu können. Und die Tatsache, dass die Pachtbauern heute nicht zur Heuer gerufen worden waren, bedeutete zugleich, dass im Laufe dieses Tages vermutlich nicht mit weiteren Aktionen des Amtmannes zu rechnen war.

»Wenn dein Vater gesagt hat, dass er heute auf dem Schulzenhof ist, dann wird er schon seine Gründe dafür haben.« Hubertus grinste anzüglich und machte eine Kippbewegung mit der rechten Hand. »Vielleicht solltest du lieber im Wirtshaus am Kolk nachschauen.«

Ich nickte unsicher, bedankte mich und wollte die Tenne verlassen, doch Hubertus hielt mich zurück.

»Tust du mir einen Gefallen und bringst den Rotzlöffel zu seiner Mutter?«, fragte er und deutete auf seinen Sohn. »Der Lümmel ist vorhin beim Ohrenputzen ausgebüxt. Und sein Brot hat er auch nicht aufgegessen. Ein echter Taugenichts!«

»Aber er ist ein guter Spion«, sagte ich, klopfte dem Kleinen auf die Schulter und erntete ein stolzes Lächeln in seinem Gesicht.

5

In der Gesindestube herrschte reges Treiben. Die Männer waren zwar längst wieder bei der Arbeit auf dem Feld oder im Stall, aber die Mägde bereiteten bereits das Mittagessen vor oder beschäftigten sich auf andere Art in der Stube. Eine hagere und müde dreinschauende Frau von etwa fünfunddreißig Jahren versorgte den Ofen mit Holz und Torf und stocherte mit einem Schürhaken in der Glut. Als ich mit dem kleinen Fritz den Raum betrat, wandte sie sich an den Jungen und brummte: »Du Lümmel! Wo hast du denn jetzt schon wieder gesteckt? Immerzu muss man nach dir suchen!« Dann erkannte sie mich und rief: »Sieh an, der Magistersohn! Na, wie geht’s, Jeremias?«

»Gut, Frau Wessendorf«, antwortete ich und blieb etwas verlegen auf der Schwelle stehen. »Euer Mann sagt, ich soll Fritz herbringen.«

»Kannst mich ruhig Anna nennen, wir kennen uns doch aus dem Dorf«, sagte sie und schüttelte belustigt den Kopf. »Oder sehe ich aus wie die Herrin?«

Ich kannte sie tatsächlich und hatte sie einige Male im Dorf gesehen. Ihr ältester Sohn, Heinrich, war etwa so alt wie ich und war mit mir zur Schule gegangen. Heinrich war einer der wenigen Freiwilligen, die sich mit Begeisterung zur preußischen Landwehr gemeldet hatten. Wir waren zu Beginn des Jahres zusammen nach Altheim marschiert, um uns in die Listen einzutragen, und ich erinnerte mich, dass er mir von seinem zukünftigen Leben vorgeschwärmt und sich die tollsten Abenteuer in der Armee ausgemalt hatte. »Als Stallknecht macht man nicht viel her«, hatte er gemeint, »aber sollst mal sehen, Jeremias, als Soldat werden mir die Frauenzimmer die Türen einrennen. Du glaubst ja gar nicht, was für eine Wirkung so eine Uniform auf die Weibsbilder hat.«

»Gibt es schon Neuigkeiten von Heinrich?«, fragte ich nun seine Mutter und schaute verlegen zu Boden, da ich mich als Fahnenflüchtiger etwas unwohl in der Haut fühlte.

»Wir haben einen Brief von ihm bekommen«, erwiderte Anna Wessendorf lächelnd. »Er ist in Mainz stationiert, und in wenigen Wochen ziehen sie weiter zur Festung Landau. Es scheint ihm gut bei den Soldaten zu gefallen, und nach Frankreich wird er wohl auch nicht mehr müssen. Napoleon ist schon so gut wie besiegt, schreibt er.« Sie nickte mir aufmunternd zu und fragte: »Warum kommst du nicht herein? Wie geht es der Mutter?«

»Danke, gut«, antwortete ich, lächelte verschämt, betrat zögerlich den Raum und grüßte die restlichen Anwesenden mit einem Kopfnicken und einem leisen »Gott zum Gruß.«

Außer Fritzens Mutter befanden sich noch drei weitere, mir allerdings unbekannte Frauen in der kleinen und verrauchten Stube. Eine alte, weißhaarige und hohlwangige Frau mit einer riesigen Knollennase saß auf einer Bank neben dem Ofen und strickte an einer Socke. Ihre Augen waren weit geöffnet, starrten aber ins Nichts, die Pupillen waren grau und tot. Sie lächelte ein zahnloses Lächeln, als sie meine Stimme hörte, unterbrach ihre Arbeit und sagte: »Setz dich doch, mein Junge. Was treibt dich her?«

»Danke«, erwiderte ich und nahm am Rand des Tisches Platz. »Ich dachte, ich treffe hier meinen Vater, aber das war wohl ein Missverständnis.«

Fritz ließ ein ebenso vergnügtes wie verschwörerisches Glucksen vernehmen und schrie dann gequält auf, als seine Mutter sich mit einem nassen Tuch an seinen Ohren zu schaffen machte. Währenddessen wurde ich von den beiden Mädchen, die ebenfalls am Tisch saßen und mit dem Schälen der Kartoffeln beschäftigt waren, interessiert unter die Lupe genommen. Sie schienen keine gebürtigen Ahlbecker zu sein, ich hatte sie jedenfalls bislang noch nie im Dorf gesehen. Dem Aussehen nach waren sie Schwestern, worauf vor allem die gleiche sommersprossige Stupsnase und die grünen Augen schließen ließen. Die ältere der beiden Mägde war etwa in meinem Alter, sie war auffallend blass im Gesicht, ganz in schwarz gekleidet und hatte die brünetten Haare hinter dem Kopf zu einem Dutt zusammengebunden, was ihr eine merkwürdige Strenge verlieh. Sie hielt ein kleines Kind auf dem Schoß, das selig schlummerte und schmatzende Geräusche von sich gab. Die zweite Magd mochte vielleicht zwei Jahre jünger als ihre Schwester sein, sie war nicht gar so trauernd gekleidet und präsentierte eine gesunde Farbe in ihrem Gesicht. Ihre Wangen und Lippen leuchteten rot, und eine Strähne ihres Haares schaute unter der Haube hervor und hing ihr keck in die Stirn. Sie kicherte, stieß ihre Schwester an und flüsterte: »Ein schüchterner Bursche, der Magisterjunge. Was meinst du, Eva? Aber hübsche blaue Augen hat er.« Und zu mir gewandt fügte sie hinzu: »Kannst ruhig richtig auf der Bank Platz nehmen und ein Stück zu uns herüberrutschen, wir beißen nicht.«

»Willst du einen Kaffee?«, fragte Anna Wessendorf und deutete auf eine Kanne, die vor ihr auf dem Ofen stand. »Ein wenig müsste noch übrig sein.«

»Danke, gerne«, antwortete ich und bekam von der jüngeren Magd, die mir von Fritzens Mutter als Johanna vorgestellt wurde, den Kaffee eingeschenkt.

»Was hast du denn mit deinem Schädel gemacht?« Sie deutete auf die Beule an meinem Kopf und kicherte. »Hast du dich gerauft?«

»Nein, ich bin von einem französischen Soldaten niedergeschlagen worden«, antwortete ich wahrheitsgemäß und wusste, dass das die beste Methode war, die Wahrheit unglaubwürdig klingen zu lassen.

»Oho!«, ließ es sich Johanna nicht nehmen festzustellen. »Was für eine Dicktuerei.« Sie stellte die Kanne zurück auf den Ofen und sagte: »Wahrscheinlich hat dir deine Mutter ein paar hinter die Ohren gegeben.«

Ich räusperte mich und zuckte mit den Schultern.

»Was gibt es Neues im Dorf?«, wollte Eva nun wissen, und ihre Stimme verriet eine Zaghaftigkeit, die nicht zu ihrem strengem Äußeren passen wollte. Sie senkte den Kopf, als hätte sie etwas Ungehöriges gesagt, und widmete sich wieder mit Inbrunst den Kartoffeln, während sie gleichzeitig das Kind auf den Knien wiegte.

Ich nippte an dem Kaffee, der ein wenig bitter schmeckte, und erzählte von dem gestrigen Vorfall auf dem Kirchplatz und dem merkwürdigen Schauspiel, das der Amtmann und die Gendarmen abgeliefert hatten.

»Tja«, sagte Johanna, »Amtmann Boomkamp ist immer für eine Überraschung gut. Hier auf dem Hof hat er ja auch für Wirbel gesorgt.« Abermals kicherte sie und fügte dann hinzu: »Es wird bald eine große Bauernhochzeit geben. Hast du es schon gehört?«

Da es mir nicht möglich war, ein Wort über die Lippen zu bekommen, nickte ich nur und versuchte mich an einem Lächeln, das allzu gezwungen ausfiel.

»Wurde aber auch Zeit«, meldete sich die Alte von der Ofenbank. »Ein Hof ohne eine Herrin ist kein richtiger Hof!«

»Das soll eine Herrin sein, Gevatterin?«, widersprach Johanna und ließ eine geschälte Kartoffel mit einem lauten Plumps in einen mit Wasser gefüllten Topf fallen. »Ein halbes Kind ist sie noch. Und als Bäuerin möchte ich die höhere Tochter erst mal erleben! Pah!«

»Das sagt ja die Richtige!«, mischte sich Anna Wessendorf ein. »Noch grün hinter den Ohren, aber kluge Sprüche zum Besten geben.« Sie stellte einen großen Topf auf den Herd und setzte hinzu: »Es kann uns allen nur recht sein, wenn es endlich wieder gesittet auf dem Hof zugeht.«

»Ob Hedwig das auch so sieht?«, rief Johanna lachend und hob vielsagend die Augenbrauen. »Die wird sich jedenfalls in Zukunft nicht mehr so wichtig nehmen können!« Sie rümpfte die Nase, warf sich in die Brust und imitierte die Gestik und Mimik der Hausmagd. »Mal sehen, ob sie sich demnächst auch noch für was Besseres hält!«

Die ganze Zeit über war Eva auffallend schweigsam gewesen, sie hielt den Blick gesenkt und schien gänzlich in Gedanken versunken. Bei Johannas Worten jedoch fuhr sie plötzlich auf, funkelte ihre Schwester an und sagte: »Wer gibt dir das Recht, so über Hedwig zu urteilen?!«

Johanna sah sie überrascht an und fragte: »Seit wann nimmst du denn die blöde Kuh in Schutz? Das sind ja ganz neue Töne.«

»Wer sagt denn, dass sie freiwillig so ist?«, erwiderte Eva beinahe im Flüsterton und setzte, nun wieder den Blick gesenkt, hinzu: »Sie ist auch nur eine gewöhnliche Magd wie du und ich.«

»Das scheint sie aber in der letzten Zeit des Öfteren vergessen zu haben«, antwortete die Schwester kopfschüttelnd und mit offenkundigen Unverständnis. »Und es hat sie ja schließlich niemand gezwungen, sich wie ein Biest zu verhalten.«

»Hast du eine Ahnung!«, entgegnete Eva mit auffallendem Ernst. Ihre Mundwinkel zuckten merklich, und beinahe schien es, als liefe ihr eine Träne über die Wange. »Niemand macht so etwas freiwillig«, fügte sie hinzu, stand plötzlich auf, nahm das schlafende Kind auf den Arm und legte es in eine Wiege neben dem Ofen.

Anna Wessendorf schaute ihr mit bedrückter Miene ins Gesicht, strich ihr mitleidig über den Arm und flüsterte: »Ich weiß, meine Kleine.«

Eva schluckte und nickte ihr traurig lächelnd zu. Sie setzte ihre Haube auf, an der etliche schwarze Trauerbänder befestigt waren, und verließ die Stube.

»Was ist denn in die gefahren?«, wunderte sich Johanna.

»Lass sie doch einfach mal in Ruhe«, sagte Anna, setzte sich auf den Platz, auf dem gerade noch Eva gesessen hatte, und fuhr statt ihrer fort, die Kartoffeln zu schälen. »Warum musst du sie immer triezen?«

»Was habe ich denn gesagt?«, spielte Johanna die Unschuldige. »Die soll sich bloß nicht so haben. Man wird ja wohl noch die Wahrheit sagen dürfen!«

»Schwestern!«, lautete der belustigte Kommentar der alten Frau in der Ecke. »Ständig kratzen sie sich die Augen aus, als wäre es die reinste Freude.«

Ich hatte die ganze Szene mit Unbehagen verfolgt, und es drängte mich, das Thema zu wechseln. »Warum trägt Eva Trauer?«, wandte ich mich an Anna. »Ist jemand gestorben?«

»Ihr Mann«, antwortete sie. »Der Vater der kleinen Magda. Vor einem halben Jahr hat ihn die Schwindsucht dahingerafft.« Sie sah mich an und atmete tief durch. »Der arme Kerl war immer schon schwach auf der Brust.« Sie machte ein Kreuzzeichen auf ihrem Busen und seufzte leise. »Arme Eva, so jung und schon Witwe.«

Auch die alte Blinde und Johanna bekreuzigten sich, senkten die Köpfe und wandten sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Einige Sekunden lang herrschte bedrücktes Schweigen; ich schaute betreten zu Boden, fühlte mich unwohl in meiner Haut und überlegte, ob es besser wäre, die Stube zu verlassen und mich auf den Weg zum Moorhof zu machen. Als ich mich schließlich anschickte, aufzustehen und mich für den Kaffee zu bedanken, erklang die Stimme der Alten und ließ mich erschaudern.

»Hat man die Räuber schon gefasst?«, fragte sie und schaute mit ihren toten Augen in meine Richtung. »Oder laufen die immer noch frei herum?«

»Welche Räuber?«, erwiderte ich.

»Die dem Ostwicker Schmied den Schädel eingeschlagen haben«, sprang nun Johanna ein, und in ihrer Stimme schwang eine grausige Erregung mit. »Sie sollen ihn fürchterlich zugerichtet haben. Und was sie mit seiner Frau angestellt haben, möchte ich lieber gar nicht wissen.«

»Johanna!«, wurde sie von Anna Wessendorf zurechtgewiesen. »Schäm dich! Wie kannst du so ungehörig reden?!«

Ich erinnerte mich an die aufgebrachten Debatten der Ahlbecker auf dem Kirchplatz. Sie hatten von einer Brabanter Rotte gesprochen und dem Amtmann zugesetzt, er solle sich lieber um die holländischen Räuber und Meuchelmörder kümmern, statt harmlosen Bauern hinterherzustellen.

»Meint ihr die Brabanter Bande?«, fragte ich und tat so, als wüsste ich, was sich hinter dieser Bezeichnung verbarg.

»Brabanter!«, rief die Alte verächtlich. »Die nennen sich doch ständig anders. Wenn sie in Holland ihr Unwesen treiben, heißen sie Brabanter, kommen sie über die Grenze, schimpfen sie sich plötzlich Krefelder oder Neuwieder. Und bei uns nennen sie sich dann Flessener Bande! Dabei steckt doch immer das gleiche jüdische Rotgesindel dahinter!«

»Flessener?«, rief ich entsetzt und stieß vor Schreck die Kaffeetasse um.

Anna schaute überrascht auf und wich zur Seite, damit ihr die Flüssigkeit nicht auf die Schürze tropfte. Sie reichte mir ein nasses Tuch, das neben dem Topf auf dem Tisch lag, und fragte: »Was ist mit dir? Warum schaust du so merkwürdig?«

Ich wiederholte meine Frage: »Was meinst du mit ›Flessener Bande‹?«

»Verdammte Juden!«, geiferte die Alte weiter, ohne auf meine Frage einzugehen. »Keinen Deut besser als die Zigeuner, alles ein einziges Räuberpack! Und den Schmied haben sie auch auf dem Gewissen.« Wieder bekreuzigte sie sich und setzte hinzu: »Gott schütze uns vor den jüdischen Gaunern und Mordbrennern!«

»Woher willst du das denn wissen, Gevatterin?«, mischte sich Johanna ein. »Es ist doch gar nicht gesagt, dass es die Juden waren. Nur weil es Holländer sind, können es doch trotzdem Christenmenschen sein.«

»Alle Räuber sind Juden«, ereiferte sich die alte Frau und hob drohend die rechte Hand mit der Stricknadel. »Und alle Juden sind Räuber! Das weiß doch jedes Kind. Gottloses Gesindel!«

»Der Schinderhannes war kein Jude«, widersprach Johanna. »Und ein Zigeuner war er auch nicht. Dass du’s nur weißt, Oma Gertrud!«

»Von einem Schinderhannes ist mir nichts bekannt«, gab die Alte trotzig zurück, und ihre Mundwinkel gingen nach unten. »Aber es scheint mir so, als würdest du dich ziemlich für diese Räuber interessieren.«

Johanna bekam einen roten Kopf und verstummte augenblicklich.

Ich nutzte die Gelegenheit und stellte zum dritten Mal meine Frage.

»Das ist Rotwelsch, eine Art Gaunersprache«, erklärte die Alte und widmete sich wieder ihrer Strickerei. »Ein Flessener ist ein Westfale.«

»Die haben ihre eigenen Geheimworte«, bestätigte Johanna mit Eifer. »Manchmal versteht man gar nicht, wovon sie überhaupt reden.«

Anna Wessendorf stutzte, schaute forschend ins Gesicht der Magd und fragte: »Wo hast du das denn her?«

Johanna zuckte zusammen und beeilte sich hinzuzufügen: »Das habe ich mal in einem Buch gelesen.«

»Seit wann kannst du denn lesen?«, meldete sich die Stimme der alten Gertrud aus dem Hintergrund. »Das wäre ja das Allerneueste!«

»Gaunersprache«, murmelte ich in Gedanken versunken, starrte auf die Tischplatte und spürte eine Gänsehaut an meinem Rücken hochkriechen.

»Wo steckt eigentlich Fritzchen schon wieder?«, rief plötzlich Anna neben mir und schaute suchend umher. »Schon wieder ausgebüxt, der kleine Teufel! Nichts als Unsinn im Kopf!«

»Soll ich nach ihm schauen?«, fragte ich eilfertig und schmunzelte, da ich mir bereits denken konnte, wo sich der kleine Spion gerade aufhielt.

»Das wäre nett, Jeremias«, sagte Anna nickend. »Wenn es dir nichts ausmacht.«

Ich schüttelte den Kopf, stand auf, wandte mich zur Tür und wäre um ein Haar im Rahmen mit Eva zusammengestoßen, die in diesem Moment die Stube betrat. Sie fuhr zusammen, senkte prompt den Blick, und abermals zuckten ihre Mundwinkel, als hätte sie ihre Nerven nicht unter Kontrolle.

»Entschuldige«, sagte ich und trat beiseite. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Sie sah mich einen kurzen Moment an, lächelte unsicher, schaute aber sofort wieder zu Boden und sagte: »Der Scherenschleifer ist da.«

Als hätte sie damit eine geheime Losung ausgegeben, sprangen alle Frauen im Raum auf und wollten zur Tür hinausstürmen. Anna Wessendorf jedoch wandte sich an Johanna und meinte gebieterisch: »Pass du auf die Suppe auf!«

»Immer ich!«, erwiderte die Magd und zog ein beleidigte Schnute.

»Ich bleibe bei dir und leiste dir Gesellschaft«, sagte die Blinde und lächelte freundlich. »Wir werden es noch früh genug gewahr werden.«

Johanna jedoch rümpfte die Nase, zog die Stirn kraus und dankte ihr mit einer hässlichen Grimasse, die die Alte zum Glück nicht sehen konnte. Eva und Anna kramten derweil in Windeseile Messer und Scheren aus den Schubladen und verließen die Stube.

Ich nickte den Zurückbleibenden zu, setzte meinen Hut auf und folgte den anderen nach draußen.

6

Auf dem Hof hatte sich bereits einen kleine Menschentraube unter den Eichen gebildet und der Scherenschleifer seine Feilen, Messer und Schleifsteine ausgepackt. Die Hofbewohner bedrängten den Hausierer, einen greisen bärtigen Mann mit krummem Rücken und schäbigen Kleidern, als handelte es sich bei ihm um eine hochgestellte oder aus sonstigen Gründen bewundernswerte Person. Und erst jetzt wurde mir klar, warum dies so war. Das Schleifen der Sensen und Sicheln war nur ein Teil der Leistung, für die der Mann bezahlt wurde, ebenso wichtig war seine Eigenschaft als Nachrichtenübermittler. Als Hausierer zog er von Hof zu Hof und von Ort zu Ort. Wenn es Neuigkeiten zu berichten gab, so war das fahrende Volk die erste und sicherste Quelle, um an diese zu gelangen. Deshalb hatte die alte Gertrud vorhin von »gewahr werden« gesprochen. Die Ankunft des Scherenschleifers versprach neuen Gesprächsstoff, Gerüchte aus den Nachbardörfern wurden kolportiert und Nachrichten aus aller Herren Länder überbracht. Als Menschen wurden die Hausierer nicht geachtet, man beschimpfte sie als Vagabunden und diebisches Lumpengesindel, aber wenn es darum ging, Tratsch und Klatsch zu erfahren, so wurden sie fast wie Könige umschmeichelt.

Der Greis schien sich seiner Rolle und Wichtigkeit durchaus bewusst zu sein, er grinste listig unter seinem grauen Bart und ließ sich in aller Seelenruhe hinter seinem Schleifstein nieder. Während die Knechte die Sensen und Klingen bei ihm ablieferten, bestürmten ihn die Mägde und baten um Neuigkeiten aus den Nachbardörfern. Er wehrte das Drängen mit einer belustigten Handbewegung ab und sagte: »Sachte, liebe Leute! Lasst einen alten Mann erst mal ein wenig verschnaufen. Und schnattert doch nicht alle auf einmal, man versteht ja kein einziges Wort.«

Auch ich wollte mich zu der Gruppe gesellen und den Worten des Hausierers lauschen, als mich plötzlich jemand von hinten an der Joppe zupfte. Ich wandte mich um und schaute in das sommersprossige Lausbubengesicht des kleinen Fritz.

»Willst du immer noch wissen, was in der Kammer ist?«, fragte er, grinste triumphierend und verschränkte bedeutsam die Ärmchen vor der Brust. »Ich kann es dir erzählen, wenn du willst.«

»Hast du durch das Fenster geschaut?«, fragte ich und ging mit ihm einige Schritte zur Seite.

Fritz nickte und bedeutete mir, mich zu ihm hinunterzubücken, damit er mir ins Ohr flüstern konnte, und dann wisperte er: »Ich habe dem dummen Alwin gesagt, dass die Scheiben geputzt werden müssen und dass er die Leiter vor das Fenster stellen soll.«

»Wer ist denn Alwin?« Mir war beinahe so, als hätte ich diesen nicht sehr geläufigen Namen erst vor kurzem gehört.

»Einer der Stallburschen«, antwortete er und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Papa sagt, er ist nicht ganz richtig im Kopf, aber er hat Muskeln wie ein Bulle, und beim Armdrücken nimmt es keiner mit ihm auf! Er ist der Enkel von Oma Kuckel.«

»Kuckel?«, wunderte ich mich. »Ist das die blinde Frau?«

»Ja, genau«, sagte er und schüttelte andächtig den Kopf. »Mama sagt immer: ›Auf den Kuckels liegt ein Fluch. Die Oma ist blind, Alwin ein Dummkopf, und Hermann hat auch nicht alle Sinne beisammen.‹«

»Hermann Kuckel?«, fragte ich und wusste plötzlich, wer vor wenigen Tagen den Namen Alwin hatte fallen lassen. »Ist das der Schäfer?«

Fritz zuckte mit den Schultern, sah beleidigt zu mir herauf und schnaufte: »Willst du nun wissen, was ich gesehen habe?«

»Was? Doch … natürlich«, fuhr ich aus meinen Gedanken auf. Ich schaute hinüber zum Vordergiebel des Hauses und sah, dass die lange Leiter verschwunden war. »Alle Achtung!«, sagte ich. »Du bist tatsächlich ein Meisterspion.« Ich klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und fügte hinzu: »Was hast du durch das Fenster gesehen?«

»Nichts«, sagte er, »jedenfalls nichts Besonderes. Nur ein paar Schinken und Würste, die an der Decke hängen. Jede Menge Flaschen und Krüge, ein paar Säcke und solche Sachen. Auch einige Fässer Bier, ich glaube jedenfalls, dass es Bier ist, das kann man ja von außen nicht sehen. So was halt.« Er hob die Augenbrauen, blähte die Backen auf und fügte dann beiläufig hinzu: »Vorräte eben.«

»Sonst nichts?« Fragend schaute ich ihn an und hielt ihn an den Schultern. »Keine Truhe?«

»Ach die«, antwortete er, hob gleichgültig die Achseln und lächelte entschuldigend. »Stimmt ja! Eine dicke Truhe steht neben der Tür. Genau so eine, wie sie Mama in ihrer Kammer stehen hat. Nur die in der Vorratskammer ist noch hübscher. Mit geschnitzten Bildern drauf und so.«

»Für die Aussteuer?«, fragte ich.

Er schob die Unterlippe vor, neigte nachdenklich den Kopf und schrie plötzlich laut auf, als eine Hand sein linkes Ohr ergriff und ihn daran in die Höhe zog.

»Du Lausejunge!«, rief Anna Wessendorf, ließ den Kleinen aber sofort wieder los. »Habe ich dir nicht oft genug gesagt, du sollst Alwin nicht immer auf den Arm nehmen. Was denkst du dir eigentlich dabei?!«

»Ich hab’ doch gar nichts gemacht!«, winselte Fritz und hielt sich das Ohr.

»So?«, erwiderte seine Mutter und drohte ihm weitere Schläge an. »Und warum steht der arme Kerl hinter dem Haus auf der Leiter und putzt das Fenster der Vorratskammer?« Sie stampfte mit dem Fuß auf und wartete auf eine Antwort. Da Fritz stumm blieb, gab sie die Antwort selbst: »Alwin hat gesagt, du hättest ihm aufgetragen, die Scheiben zu wischen.«

»Das hat er sich ausgedacht!«, beharrte Fritz.

»Ausgedacht?«, rief Anna und zog nun an dem anderen Ohr. »Warum sollte er sich so einen Unsinn wohl ausdenken? Alwin ist viel zu harmlos und gutmütig, um solche Lügenmärchen zu erfinden.«

»Aua!«, krächzte Fritz und wurde von seiner Mutter zum Gesindehaus getrieben. Um nicht abermals an den Ohren gezogen zu werden, hielt er sie mit beiden Händen bedeckt und bekam stattdessen ein Klaps auf den Hintern.

»Rotzlöffel!«, hörte ich die Mutter schimpfen. »Dir sollte man den Übermut mit dem Rohrstock austreiben! Nichts als Scherereien hat man mit dem Bengel! Du setzt dich augenblicklich zu Oma Kuckel auf die Ofenbank und rührst dich nicht mehr von der Stelle!« Mit diesen Worten und drohend gehobener Hand trieb sie den Kleinen vor sich her.

»Aber ich hab’ doch gar nichts gemacht«, rief der Junge erneut, und sofort erklang wieder ein lang gezogenes »Aua!«.

Die Aussteuertruhe! dachte ich und wandte mich wieder der Menschentraube und dem Scherenschleifer auf dem Hofe zu. Irmgards Truhe, genauso wie es Bernhard vermutet hatte. Der Schulze hatte sie aufbewahrt. Was hätte ich in diesem Moment darum gegeben, einen Blick in diese Truhe werfen zu dürfen!

»Sie kommen von Osten und sind auf dem Weg nach Holland«, rissen mich die Worte des Hausierers aus meinen Gedanken. »Sie scheinen den Hessenweg entlang zu gehen. Vor zwei Wochen haben sie ihr Unwesen in der Gegend um Münster getrieben, danach haben sie einen reichen Bauern in Börsteloe überfallen. Und von dem Schmied in Ostwick habt ihr ja bereits gehört.«

»Aber dann sind sie ja auf dem direkten Weg nach Ahlbeck!«, entfuhr es Eva, die gebannt den Worten des Scherenschleifers lauschte.

»Ich an eurer Stelle würde mein Hab und Gut in Sicherheit bringen«, antwortete der alte Mann und ließ sich von Hubertus eine Sichel reichen. »Sicher ist sicher, man weiß nie, was noch passiert.«

Die Bemerkung des Scherenschleifers hatte die Zuhörer sichtlich schockiert, erregt redeten sie wild durcheinander.

»Die sollen bloß kommen«, ließ sich Hubertus vernehmen. »Die werden meine Faust schon zu spüren bekommen.«

»Genau!«, pflichtete ihm ein weiterer Knecht bei. »Denen werden wir die Hammelbeine lang ziehen!«

»Wenn ihr meint!«, rief der Scherenschleifer und grinste erneut listig in seinen Bart. »Aber ich glaube nicht, dass eure Fäuste etwas gegen die Musketen der Räuber ausrichten können! Wenn die Halunken wahrhaftig herkommen, solltet ihr froh sein, wenn ihr mit dem Leben davonkommt. Ich jedenfalls würde niemandem raten, den Helden zu spielen.«

Just in diesem Moment trat der Schulze auf den Hof, überquerte schlendernd und mit auf dem Rücken verschränkten Armen den Platz und gesellte sich zu der Versammlung unter den Eichen. Prompt verstummte das Gesinde, und der Hausierer widmete sich mit Inbrunst seinen Schleifsteinen.

»Willkommen, guter Mann«, wandte sich Johann Lanvermann an den Scherenschleifer. »Was gibt es zu berichten? Irgendwelche Nouveautés?«

»Wie bitte?«, erwiderte der Alte. »Ich fürchte, ich verstehe Euch nicht.«

»Neuigkeiten, mein Lieber«, erklärte Lanvermann. »Hast du interessante Nachrichten zu verkünden?« Er stellte sich direkt hinter Eva in Positur und präsentierte ein nachsichtiges Lächeln in seinem rosigen Gesicht.

»Ich hab’ von den Räubern erzählt, die sich in der Gegend herumtreiben, verehrter Herr«, antwortete der Scherenschleifer. »Und dass Ihr Euch vorsehen und auf der Hut sein solltet.«

»Räuber!«, rief der Schulze und lachte schallend. Ganz beiläufig und während er gleichzeitig mit der linken Hand abwinkte, griff er mit der rechten an Evas Hüfte, streichelte sie und rief: »Ammenmärchen!«

Eva zuckte wie unter Schmerzen zusammen und machte einen Schritt nach vorne, stieß aber mit einer weiteren Magd zusammen, die sich überrascht umdrehte und fauchte: »Pass doch auf! Was trittst du mir denn in die Hacken?! Hast du keine Augen im Kopf?«

Lanvermann war ebenfalls einen Schritt nach vorne getreten, Eva saß nun in der Falle und vermochte sich nicht mehr zu rühren. Die Finger des Schulzen fuhren an ihrem Arm hinauf und verharrten auf der Schulter, während die Magd ihre Hände krampfhaft vor dem Bauch zu Fäusten ballte und am ganzen Körper zitterte. Hilfe suchend schaute sie sich um, ihr flehentlicher Blick traf den meinen, und ich spürte, wie es mir die Kehle zuschnürte.

»Wie man berichtet, sollen es an die dreißig Mann sein«, sagte der Scherenschleifer und rümpfte die Nase, als wollte er damit seine Worte unterstreichen. »Ein wildes Pack und zu allem entschlossen, die fackeln nicht lange und nehmen sich, was nicht niet- und nagelfest ist.«

»Dummes Zeug!«, wehrte der Schulze ab, der gerade Evas Nacken befingerte und ihr dann leise und lächelnd etwas ins Ohr flüsterte.

Eva wand sich vor Abscheu und beugte sich, so weit es ging, nach vorne, konnte aber den Fingern und Lippen des Schulzen nicht entkommen.

»Ganz wie Ihr meint«, sagte der Hausierer achselzuckend. »Ihr wisst gewiss am besten, was gut für Euch ist.« Er schüttelte den Kopf und lächelte, als wüsste er es besser.

In diesem Moment tauchte plötzlich Hedwig hinter Lanvermann auf, das unvermeidliche Kind an ihrer Brust, und schleuderte ihm funkelnde Blitze mit ihren Augen entgegen. »Da steckst du ja!«, rief sie mit ihrer krächzenden Stimme. »Machst wieder langer Finger, was?!«

Der Schulze fuhr zusammen und zog die Hand zurück, als hätte die Magd mit einer Rute danach geschlagen. Er wandte sich um und lächelte unsicher. Es war ihm anzusehen, dass er sich ertappt fühlte.

»Verdammter Hurenbock!«, zischte Hedwig, spuckte auf den Boden und blickte in die Runde. »Kaum dreht man ihm den Rücken zu, schon rennt er der nächstbesten Schürze hinterher!«

»Aber Hedwig …«, wisperte Lanvermann.

»Von wegen ›Aber Hedwig‹!«, rief die Angesprochene. »Mit ›Aber Hedwig‹ ist es ein für allemal aus, das merke dir ruhig!« Wieder spuckte sie zu Boden und machte auf dem Fuße kehrt. Im Eiltempo lief sie zum Bauernhaus zurück, betrat die Tenne und knallte das Tor zu.

Sämtliche Anwesenden hatten die Szene mit einer Mischung aus Schrecken und Neugier verfolgt, alle starrten gebannt und schweigend zum Bauern, der sich verlegen räusperte und ein dümmliches Grinsen in seinem hübschen Gesicht präsentierte. »Weibsbilder!«, sagte er mit aufgesetztem Lächeln. »Weiß der Henker, was die immer haben.«

Eva hatte die Gelegenheit genutzt, um sich aus der Nähe des Schulzen zu befreien und seinen aufdringlichen Annäherungsversuchen zu entkommen. Mit gesenktem Blick und geraffter Schürze lief sich in Richtung des Gesindehauses. Als sie am mir vorbeikam, blieb sie plötzlich stehen und sah mich erneut mit diesem flehentlichen Blick an. Sie wusste, dass ich alles gesehen und alles verstanden hatte. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie biss sich unentwegt auf die Unterlippe.

Ich fühlte mich hilflos und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich fühlte ihre Scham, ihren Ekel und ihre ohnmächtige Wut, aber ich konnte nichts, als sie mitleidig anschauen. »Niemand macht so etwas freiwillig«, hatte sie vorhin in der Küche gesagt und dabei so merkwürdig geschaut. Und erst jetzt begriff ich, was sie damit gemeint hatte. Die Worte des Flesseners kamen mir wieder in den Sinn. »Kein Mensch fragt dich nach deinem Willen«, hatte er gesagt, »und ehe du dich versiehst, tust du Dinge, für die du dich normalerweise hassen würdest.« Nein, mit Gerechtigkeit hatte das wahrhaftig nichts zu tun. Die einen nahmen sich, was sie wollten, ohne vorher zu fragen; und die anderen gaben, ohne die Möglichkeit zu haben, sich zu weigern.

Ich nahm Evas Hand und wollte etwas sagen, doch sie unterbrach mich, bevor auch nur ein Wort über meine Lippen gekommen war.

»Nicht!«, sagte sie, entzog mir die schweißnasse Hand und schüttelte den Kopf. »Sag bitte nichts!« Sie wandte sich ab und rannte zum Haus.

Ich schaute ihr nach und verspürte erneut den Drang, mich auf den Bauern zu stürzen und ihn meine Faust spüren zu lassen.

»Frauenzimmer!«, erklang die Stimme des Schulzen hinter mir, und als ich herumfuhr, bemerkte ich, dass er mich direkt ansah. »Aus jeder Kleinigkeit machen sie gleich ein Mordstrara!« Er grunzte abfällig und musterte mich aufmerksam und skeptisch mit seinen strahlend blauen Augen. Er schien zu überlegen, ob und woher er mich kannte, kam aber zu keinem Ergebnis, schüttelte schließlich den Kopf und ging in seinem typischen Schlendergang zurück zum Bauernhaus.

»Ein Mordstrara«, wiederholte ich flüsternd seine Worte.

»Na, hier ist ja was los!«, bemerkte der Scherenschleifer nun wieder bemerkbar. Er schmunzelte und machte sich erneut an die Arbeit. »Und ich dachte, hier herrscht eitel Sonnenschein wegen der anstehenden Hochzeit.«

»Eitel Sonnenschein?«, lachte Hubertus und zündete sich eine Pfeife an. »Tosenden Sturm würde ich das nennen«, setzte er hinzu und deutete zum Himmel, an dem die dunklen Wolken dahinjagten. »Und es würde mich nicht wundern, wenn es bald ein Gewitter gibt.«

Wie um seine Worte zu unterstreichen, fuhr just in diesem Moment eine Windbö über den Platz, wirbelte den Sand auf und ließ die Frauen aufschreien und ihre Rockschöße festhalten.

Der Windstoß verscheuchte auch die wüsten Gedanken, die sich in meinem Hirn einzunisten begannen. Die ganze Zeit hatte ich eine Art Alpdrücken verspürt, wie in einem bösen Traum, aus dem man nicht erwachen kann. Man weiß, es ist nur ein Traum, aber es gelingt einem nicht, dem Alp zu entkommen. Wie in einem Strudel kommen die gleichen hässlichen Gedanken wieder und wieder und brennen sich wie ein Brandzeichen ein. Man ist erschrocken, dass man überhaupt etwas Derartiges denken kann. Und dass es einem Befriedigung verschafft.

Als wäre ich tatsächlich dazu fähig, jemandem ein Leid anzutun!

Die Bö riss mir die Mütze vom Kopf und brachte mich wieder zu mir. Ich fuhr zusammen und schaute mich unsicher um, als wäre ich überzeugt davon, dass alle wussten, was sich in meinem Kopf abgespielt hatte. Als trüge ich das Kainsmal bereits auf der Stirn. Doch niemand beachtete mich.

»Weiß man schon, wer die Räuber sind?«, wandte sich eine der Mägde an den Scherenschleifer. »Sind es wirklich die Holländer?«

»So genau vermag das keiner zu sagen«, erwiderte der alte Mann. »Angeblich soll Simon Bosbeck der Anführer der Bande sein, er ist der Schwiegersohn vom alten Jakob Moses und ein Vetter des toten Picard. Aber was sind schon Namen? Die jüdischen Räuber legen nicht viel Wert auf verräterischen Ruhm, und sie wissen auch, wieso. Nur wer am Galgen landet, dessen Name wird in die Geschichtsbücher aufgenommen. Wer jedoch überleben will, bleibt lieber anonym.«

»Habe ich es nicht gesagt?«, erklang eine keifende Stimme aus dem Hintergrund. »Es sind die Juden!« Oma Kuckel stand, von Johanna gestützt, hinter mir, wedelte aufgeregt mit den Armen und rief: »Verfluchte Mordbrenner!«

Als ich ihr ins Gesicht sah, fiel mir wieder die riesige und runzlige Knollennase auf, und ich erinnerte mich, dass der Schäfer Hermann ein ähnliche Runkelnase im Gesicht gehabt hatte.

»Gottloses Gesindel!«, fuhr Kuckels Gertrud in ihrer Tirade fort. »Man sollte sie alle totschlagen!« Sie drängte sich durch die Reihen, bis sie direkt vor dem Scherenschleifer stand, und fügte hinzu: »Jesusmörder!«

Der Hass der alten Gertrud auf die Juden war ebenso glühend, wie er mir unverständlich war. Was hatte Oma Kuckel mit den Juden zu schaffen und warum fuhr sie jedes Mal derart aus der Haut, wenn von ihnen die Rede war? In ganz Ahlbeck lebte nicht ein einziger Jude, und die wenigen fahrenden Leute und jüdischen Hausierer, die sich hierher verirrten, konnten doch wohl kaum für den unbändigen und maßlosen Widerwillen der Alten verantwortlich sein.

Auch der Scherenschleifer schaute überrascht auf, kraulte sich den Bart und fragte: »Warum regst du dich so auf? Was sollen die armen gottlosen Teufel denn machen? Erst jagt ihr sie übers Land und verwehrt ihnen, was ihr nicht einmal einem räudigen Köter verweigern würdet, und dann schimpft ihr auf sie und wollt sie totschlagen, weil sie sich nehmen, was man ihnen freiwillig nicht gibt.«

An den Worten des Hausierers war viel Wahres dran. Die Juden hatten von Alters her und gerade in der damaligen Zeit ein hartes Los zu erdulden, die Bürgerrechte vermochten sie nicht zu erlangen, Handwerks- und Zunftberufe waren ihnen verwehrt, als Gewerbeleute durften sie sich nicht ansiedeln, in vielen Gemeinden wurde ihnen sogar das bloße Aufenthaltsrecht verweigert. Lediglich das wenig angesehene Privileg des Rechts auf Zinswucher, das den Christen untersagt blieb, war ihnen vergönnt, und so schlugen sie sich zumeist als Pfandleiher, Trödler und fliegende Händler durchs Leben und wurden deswegen erst recht mit Verachtung gestraft und bekamen nicht selten den Hass der Schuldner zu spüren. Immer wieder war von Missetaten gegen die Juden zu hören, man verprügelte sie, jagte sie aus den Dörfern und Städten und wog sie zur Volksbelustigung gegen Schweine auf. Kein Wunder also, dass einige von ihnen das unehrliche Räuberleben dem gesetzlich gestatteten, aber ehrlosen Dasein des Wucherers und Hehlers vorzogen.

»Was sollen sie denn machen?«, wiederholte der Scherenschleifer seine Frage. »Der getretene Hund beißt irgendwann, das ist nun einmal so.«

»Bist du auch so ein Judas Ischariot?«, fauchte Gertrud.

»Ich bin ein rechter Christenmensch«, antwortete der Hausierer ernsthaft, und seine Augen funkelten entschlossen. »Aber ich weiß, was es heißt, kein Zuhause zu haben und von allen wie eine Pestbeule behandelt zu werden. Da kann man schon mal auf böse Gedanken kommen, das kannst du mir glauben. Und die Schmuhls sind auch nur ganz gewöhnliche Menschen!«

»Rede mir nicht von dem Pack!«, ereiferte sich die Alte. »Ich kenne die Juden. Sie haben mir das Haus über dem Kopf abgefackelt und meinen Herrn ermordet. Mein verrückter Sohn streunt seitdem wie ein Landstreicher durch die Gegend, und mein Enkelkind ist auch nicht bei Trost.« Abermals fuchtelte sie mit den Armen und fügte, sozusagen als Schlusswort, hinzu: »Und alles wegen der Jidden!«

»Jetzt geht das wieder los«, hörte ich Hubertus neben mir einem Stallburschen zuraunen. »Immer die gleiche Leier. Wenn Gertrud so weitermacht, dann redet sie sich noch mal um ihr letztes bisschen Verstand.«

»Das ist doch wieder eine von ihren fixen Ideen«, erwiderte der Stallbursche kichernd. »Die spinnt doch!«

»Ich weiß nicht, was dir die Juden getan haben und warum du so auf sie schimpfst«, sagte der Scherenschleifer und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Aber mit den Räubern dürfte es ohnehin bald vorbei sein.«

»Wieso?«, fragte die Magd Johanna, und in ihrer Stimme schwang etwas mit, das nicht allein nach Neugier klang. »Woher willst du das wissen?« Wie vorhin in der Gesindestube schien ihr das Thema sehr nahezugehen.

»Nach dem, was ich heute morgen in Oldendorf gesehen habe«, antwortete der Alte, »dürfte sich der Räuberspuk in Kürze erledigt haben.«

»Oldendorf?«, entfuhr es mir. »Wieso Oldendorf?«

»Dort herrscht ein munteres Treiben«, sagte der Scherenschleifer. »Überall wimmelt es von Landsturmleuten und Gendarmen, an die hundert Bewaffnete und Uniformierte. Das Dorf wirkt wie eine einzige Garnison. Es hat beinahe den Anschein, als wollte der Amtmann mit seinen Mannen in einen Krieg gegen die Räuber ziehen.«

»Hundert Mann?«, fragte ich. »Übertreibst du nicht ein wenig?«

»Keineswegs, mein Junge«, antwortete er. »Lauter Landsturmleute in hübschen blauen Uniformen und bis an die Zähne bewaffnet.«

»Hundert Mann!«, sagte auch Johanna nachdenklich, blickte zu Boden, fuhr jedoch plötzlich hoch und fragte: »Wer sagt denn, dass sich die Soldaten wegen der Räuber zusammenfinden?«

»Weshalb sonst?«, erwiderte der Scherenschleifer. »Um hinter den paar Viehdieben oder harmlosen Trunkenbolden hinterherzujagen, die sonst für Unruhe im Dorf sorgen, braucht man schließlich nicht eine ganze Armee.«

»Vielleicht ziehen sie gegen die Franzosen?«, beharrte Johanna.

»Dummes Zeug!«, antwortete der Alte unwirsch. »Seit wann zieht denn der Landsturm in den Krieg?« Er lachte abfällig und schüttelte den Kopf. »Die bleiben schön zu Hause und spielen Räuber und Gendarm.«

»Da werden die Banditen aber wenig zu lachen haben!«, rief Hubertus erfreut und zog genüsslich an der Pfeife. »Und wir können bald wieder beruhigt schlafen.«

Gertrud klatschte in die Hände, gluckste vor Vergnügen, als befände sich die Bande bereits hinter Schloss und Riegel, und rief: »Und die Räuber hängen im Handumdrehen am Galgen!«

Von wegen!, dachte ich und ahnte Böses. Was auch immer der Zweck des Landsturmaufmarsches war, mit den Räubern hatte es gewiss nichts zu tun. Der Amtmann ließ seinen drohenden Worten vom Mittwoch nun Taten folgen, und wenn er das nächste Mal in Ahlbeck aufkreuzen würde, dann nicht mit einer Handvoll Gendarmen, sondern mit einer ganzen Landsturmkompanie! Die Räuber interessierten ihn wenig, aber uns Deserteuren würde es bald an den Kragen gehen. Und ich, Jeremias Vogelsang, war der eigentliche Grund dafür.


Dritter Teil

»Stehlen, morden, huren, balgen

Heißt bei uns nur die Zeit zerstreun.

Morgen hangen wir am Galgen,

Drum lasst uns heute lustig sein.«

Friedrich Schiller, »Die Räuber«

1

Ich hätte ihn um ein Haar nicht wiedererkannt. Den wilden Bart hatte er sich abrasiert, und anstelle der französischen Uniform trug er ein schlichtes weißes Hemd und ebenfalls weiße und aus derbem Sackleinen gefertigte Hosen, die er um den Bauch mit einem dünnen Seil verknotet hatte. In der Hand hielt er statt des Soldatenmantels einen Umhang aus festem braunen Loden. Wären nicht die Mütze mit der Trikolore auf seinem massigen Kahlkopf und die doppelläufige Pistole in seinem Gürtel gewesen, man hätte Bernhard Lanvermann für einen gewöhnlichen Müllerburschen halten können. Verwundert starrte ich ihn an, setzte mich zu ihm an den Tisch, der mit diversen Speisen und Getränken gedeckt war, und sah mich in der Stube um. Sowohl die Infanteristenuniform, der Militärtornister wie auch die weißen Schultergürtel waren verschwunden, nichts deutete darauf hin, dass sich je ein Soldat in dieser Hütte aufgehalten hatte. Und als ich nach dem Koffer der Moorbäuerin Ausschau hielt, bemerkte ich, dass auch dieser nicht mehr an Ort und Stelle war.

»Wo hast du so lange gesteckt?«, lauteten seine harschen Begrüßungsworte. »Was, zum Teufel, hast du die ganze Zeit getrieben? Hast du nur herumgetrödelt, oder hat man dich etwa entdeckt?« Begierig hing er mit den Blicken an meinen Lippen und wartete gespannt auf eine Antwort. »Nun sprich schon, Bursche, was hast du herausgefunden?!«

»Allerhand Interessantes«, erwiderte ich ausweichend. Der rüde Befehlston, mit dem er mich angegangen war, weckte meinen Unwillen, und so stellte ich, statt zu antworten, meinerseits einige Fragen: »Wo sind deine Sachen? Und woher hast du die neue Kleidung?«

»Der Kram ist auf dem Balken«, sagte er missfällig und deutete mit einer Kopfbewegung nach oben. »Die Uniform war einfach zu auffällig, darum habe ich mir etwas Zivileres besorgt.« Er fuhr sich mit der Hand über das glatte Kinn und fügte hinzu: »Ich fühle mich beinahe wieder wie ein Mensch.«

»Und die Läuse sind auch verschwunden«, bemerkte ich.

Er musterte mich skeptisch und stopfte sich Tabak in die Pfeife. Er zündete sie an, deutete auf den Tisch und fragte: »Hast du Hunger?«

Ich betrachtete die beinahe festlich gedeckte Tafel. Blut- und Leberwurst sah ich, eine Schüssel voll Haferbrei, einen frischen Laib Brot und eine Karaffe voll Milch. Ich schüttelte den Kopf und fragte: »Woher stammt das Essen?«

»Rotkäppchen war mit ihrem Korb hier«, antwortete er lächelnd. »Eine hübsche Deern mit langen dunklen Haaren und braunen Rehaugen.«

»Maria«, sagte ich, »meine Schwester.«

»Deine Eltern kümmern sich wahrhaftig rührend um dich. Sogar an einen Krug Bier haben sie gedacht.« Er lachte lausbübisch und fügte hinzu: »Davon ist leider nichts mehr übrig.«

»Hast du mit Maria gesprochen?«

»Bist du verrückt?«, entfuhr es ihm. »Ich habe mich auf dem Dachboden versteckt und abgewartet, bis sie wieder verschwunden war.«

»Hat sie irgendeine Nachricht hinterlassen?«

»Was denn für eine Nachricht?«

Insgeheim hatte ich auf einen Brief von Lotte gehofft. Auf ein Lebenszeichen, irgendetwas, das mir Hoffnung machen könnte. Aber das konnte und wollte ich Bernhard nicht sagen. Ich zuckte lediglich mit den Schultern und sagte: »Irgendeine halt.«

Er schnaufte abfällig, schüttelte den Kopf, reichte mir die Pfeife und fragte: »Rauchst du?«

»Bislang nicht«, antwortete ich, nahm die Pfeife und einen tiefen Zug daraus und verschluckte mich prompt an dem Rauch. »Donnerwetter!«, rief ich. »Schmeckt ja wie Kuhdung!«

»Man gewöhnt sich daran«, sagte er schmunzelnd, nahm mir die Pfeife wieder ab und stieß dann hervor: »Jetzt spiel hier nicht den Geheimniskrämer, Junge! Rück endlich damit heraus, was du gesehen hast. Oder soll ich erst vor dir zu Kreuze kriechen?«

Ich winkte grinsend ab und ließ mich erweichen. »Die Tür über dem Flett ist mit Eisen beschlagen, und man hat sie mit einem Extraschloss versehen, sodass an ein Betreten der Kammer nicht zu denken war. Aber ich weiß trotzdem, was sich hinter der Tür befindet.« Ich erntete einen erstaunten Gesichtsausdruck und erzählte von dem Fenster auf der Rückseite des Hauses und dem Tatendrang des kleinen Fritz, der mir als wertvoller Spitzel gedient hatte. »Die Kammer wird als Vorratsraum benutzt. Außer Würsten und Speck hat Johann auf dem Speicher nur Bier und Wein gelagert.« Ich sah ihm in die blassblauen Augen, grinste dann und sagte: »Und eine reich verzierte Brauttruhe.«

»Habe ich es mir doch gedacht«, antwortete er, paffte nachdenklich und sah zum Fenster hinaus. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Johann ist eben doch ein sentimentaler Dackel. Er kann sich nicht von den Sachen trennen.« Er seufzte tief, schüttelte dann den Kopf, als wollte er unliebe Gedanken verscheuchen, und schluckte mehrmals. Plötzlich sah er mich an und fragte: »Verschlossen, sagtest du?«

»Die Tür?«, erwiderte ich. »Ja, verriegelt wie eine Schatzkammer.«

»Das war nicht anders zu erwarten«, sagte er und schaute erneut nach draußen. Der Wind hatte unterdessen beinahe Sturmstärke angenommen und fuhr heulend ums Haus. Einige Schindeln auf dem Dach klapperten unentwegt, und durch das Fenster sah man die Wipfel der Bäume sich bedenklich neigen.

»Glaubst du wirklich, dass sich irgendwelche Beweise in der Truhe befinden?«, wollte ich wissen. »Dann wäre Johann dümmer, als ich dachte. Kann es nicht sein, dass lediglich weitere Vorräte in der Kiste lagern?«

»Genau das gilt es herauszufinden«, antwortete Bernhard und nickte mir zu, um mir zu zeigen, dass er mit mir zufrieden war. »Das rechne ich dir hoch an, Jeremias. Du hast etwas gut bei mir.«

Ich überlegte, ob ich ihm von den weiteren Vorkommnissen auf dem Hof berichten sollte, von der schwangeren Magd Hedwig, von der bevorstehenden Hochzeit des Schulzen, von meiner Lotte, die bald die Lanvermännin sein würde, und von der armen Eva, deren flehentlicher Blick mich seitdem nicht mehr losließ und mir auch jetzt wieder die Kehle zuschnürte.

»Was schaust du so?«, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. »Hast du sonst noch etwas mitbekommen. Ist irgendetwas passiert?«

»Nein, nichts!«, stieß ich hervor und merkte im gleichen Augenblick, dass mein Blick in krassem Widerspruch zu meinen Worten stand. »Das heißt … eigentlich doch«, verbesserte ich mich deshalb und sagte, um meine wahren Gedanken nicht zu offenbaren: »Der Amtmann hat den gesamten Landsturm mobilisiert. An die hundert Uniformierte sollen in Oldendorf versammelt und zum Abmarsch bereit sein.«

Bernhard fiel beinahe die Pfeife aus der Hand, er stierte mich mit weit aufgerissenen Augen an und fragte atemlos: »Wieso das?«

»Auf dem Hof gehen alle davon aus, dass der Amtmann mit den Männern den holländischen Räubern nachsetzen will. Es hieß, ein gewisser Simon Bosbeck treibe mit einer Horde Banditen sein Unwesen in der Gegend, und der Landsturm solle dem Spuk nun ein blutiges Ende bereiten.« Ich hatte den Vornamen des Räuberhauptmanns mit sorgfältiger Betonung ausgesprochen, Bernhard dabei prüfend angeschaut und auf irgendeine Reaktion gewartet.

Ein achtloses Achselzucken war alles, was ich erkennen konnte. »Mag sein«, sagte er schließlich und hob die Augenbrauen. Weder zitterte seine Stimme, noch hatte sein Gesicht einen anderen als nichtssagenden Ausdruck. »Das wäre durchaus denkbar.«

»Gehörst du auch zu dieser Bande?«, entfuhr es mir. Die ganze Zeit hatte mir die Frage auf den Lippen gelegen, mir geradezu auf der Seele gebrannt, und nun vermochte ich sie nicht länger zurückzuhalten. Ich fixierte ihn mit meinen Augen und setzte hinzu: »Bist du ein Räuber?«

»Ich war Soldat, mein Junge«, sagte er und lachte. »Und im Krieg sind alle Soldaten Räuber.« Abermals lachte er laut und setzte hinzu: »Aber wenn du denkst, ich sei einer von diesen Bosbeck-Banditen, dann bist du auf dem Holzweg, kleiner Freund. Bis gestern war ich noch ein braver französischer Infanterist, und alle Verbrechen, die ich begangen habe, sind im Namen des Kaisers geschehen. Von mir aus kann der Amtmann mit seinem Landsturm die Räuber mit Sack und Pack verhaften und an den Galgen bringen. Ich werde ihnen keine Träne nachweinen.« Er sah mir offen in die Augen, winkelte die Arme an und zeigte mir die Innenflächen seiner Hände, als wollte er sagen: Ich habe nichts zu verbergen.

Ich zögerte, nickte dann aber und sagte: »Der Amtmann interessiert sich einen feuchten Kehricht für die Räuber.«

»Glaubst du nicht, dass er hinter den Halunken her ist?«

Ich schüttelte energisch den Kopf und sagte mit Nachdruck: »Gewiss nicht! Er kommt wegen der Ahlbecker Deserteure, das ist so gewiss wie das Amen in der Kirche.«

Bernhard betrachtete mich skeptisch und schien meinen Worten keinen Glauben zu schenken. »Wegen ein paar Fahnenflüchtigen wird er nicht solch einen Aufstand machen. Was hätte er für einen Grund?«

»Einen persönlichen!«, entfuhr es mir.

»Raus damit!«, sagte er knapp. »Was hat das zu bedeuten?«

»Erinnerst du dich an das Mädchen, von dem ich nicht weiß, ob es meines ist?«, fragte ich, sah ihn nicken und setzte dann hinzu: »Dieses Mädchen ist die Tochter des Amtmannes.«

Bernhard pfiff durch die Zähne, paffte dann nachdenklich an seiner Pfeife und sagte: »Jetzt verstehe ich.«

»Ich glaube, der Amtmann will nicht nur die Deserteure gefangen nehmen, sondern dabei auch mich aus dem Wege schaffen und von seiner Tochter fernhalten. Und diesmal wird er mit aller Macht durchgreifen und sich nicht durch einen Steinwurf davonjagen lassen. Fragt sich nur, wann er im Dorf auftauchen wird.«

»Heute noch?«, mutmaßte Bernhard, plötzlich mit sichtbarem Interesse. Er kratzte sich das Kinn und schien erst dann zu merken, dass er keinen Bart mehr hatte. Irritiert hielt er inne und wandte sich an mich: »Was meinst du?«

Ich überlegte und erinnerte mich daran, dass die Heuerlinge heute nicht zur Feldarbeit bestellt worden waren, obgleich dies nahegelegen hätte. Das war zwar kein zwingender Beweis, aber es deutete zumindest darauf hin, dass heute nicht mehr mit einem Angriff zu rechnen war.

»Das halte ich für unwahrscheinlich«, antwortete ich.

»Das denke ich auch«, sagte er und nickte bedächtig. Plötzlich jedoch riss er die Augen auf, sprang auf die Füße, lachte schallend und rief: »Sie kommen morgen! Natürlich! Sie kommen morgen gegen die Mittagszeit! Darauf gehe ich jede Wette ein.«

Ich vermochte ihn nur anzustarren, schüttelte ungläubig den Kopf und meinte: »Am Stillen Freitag? Das wird er nicht wagen. Nicht am Todestag des Herrn!«

»Und ob!«, erwiderte er und grinste wissend. »Gerade deshalb. Das ist ja der Witz!« Er beugte sich zu mir herab, kam ganz nah an mich heran und flüsterte mir ins Ohr: »Verstehst du denn nicht? Einen besseren Zeitpunkt kann er gar nicht finden. Morgen früh werden die meisten Männer aus dem Dorf zur großen Kreuzwegprozession nach Altheim marschieren, und erst gegen Abend werden sie wieder zurück sein. Nur die Frauen und Kinder und vielleicht einige wenige Bauern, die Dringendes auf den Feldern zu tun haben, werden in Ahlbeck bleiben.«

»Und die Deserteure natürlich!«

»Genau!«, sagte Bernhard und nickte lächelnd. »Die werden sich hüten, das Dorf zu verlassen.« Abermals prustete er vor Lachen, als hätte ihm jemand einen guten Witz erzählt. »Boomkamp kann es gar nicht besser treffen. Wenn er morgen gegen die Mittagszeit mit seinen Soldaten ins Dorf einmarschiert, wird er leichtes Spiel haben. Wer sollte ihm schon in die Quere kommen? Es ist ja kein Mannsbild da, das sich ihm in den Weg stellen könnte. Die Frauenzimmer werden nicht viel Gegenwehr leisten können, und mit seinem Landsturm wird er die Fahnenflüchtigen in Windeseile verhaftet haben. Wie ich die Sandhasen kenne, werden sie es sich bei der Gelegenheit nicht nehmen lassen, ihr Mütchen an den Ahlbeckern zu kühlen.«

»Amtmann Boomkamp ist Katholik«, warf ich ein letztes Argument in die Waagschale. »Eine solche Tat wäre gotteslästerlich.«

»Das wird den guten Mann herzlich wenig interessieren«, erwiderte Bernhard verschmitzt. »Wenn er mit einer einzigen Sünde gleich ein Dutzend Sünder festsetzen kann, dann werden die Pfaffen ganz gewiss ein Auge zudrücken! Auch das ist so gewiss wie das Amen in der Kirche.« Er wandte sich um, trat ans Fenster und klopfte die ausgebrannte Pfeife am Rahmen aus. Dann nahm er die Mütze ab und fuhr sich mit der Hand über die Glatze. »Du solltest deine Leute warnen«, sagte er und schaute hinaus auf die Ruinen des Bauernhofes, hinter denen sich dunkle Wolken am Horizont auftürmten. »Geh ins Dorf und mache den Männern klar, dass sie morgen nicht zur Prozession gehen dürfen, sondern sich auf ein Scharmützel mit den Soldaten gefasst zu machen haben.«

»Das wird nicht einfach sein«, erwiderte ich, stand ebenfalls auf und gesellte mich zu ihm ans Fenster. »Es sind alles gottesfürchtige Leute, und sie werden mir sicherlich nicht ohne Weiteres glauben.«

»Dann würde ich an deiner Stelle die Beine in die Hände nehmen und schleunigst das Dorf verlassen. Wenn der Amtmann tatsächlich den gesamten Landsturm aufbietet, wirst du vermutlich nicht einmal hier in der Hütte sicher sein. Boomkamp wird erst ruhen, wenn er dich in Gewahrsam weiß. Den Steinwurf hat er gewiss noch nicht vergessen.«

»Ich soll wie ein Feigling türmen?«, empörte ich mich. »Und mich wie ein Jämmerling davonschleichen?«

Er sah mich erstaunt an und schüttelte verächtlich den Kopf. »Gestern warst du noch stolz darauf, ein Feigling zu sein«, sagte er und legte seine Hand auf meine Schulter, wie er es auch am Tag zuvor getan hatte. »Warst du es nicht, der etwas gegen Helden hatte, vor allem gegen tote? Warum spielst du dich plötzlich so auf? Sich allein gegen eine ganze Kompanie zu stellen, hat nichts mit Heldentum zu tun, es ist schlicht und einfach dumm! Entweder schaffst du es, das Dorf zu mobilisieren, oder du kämpfst auf verlorenem Posten. Glaube einem erfahrenen Soldaten, mein Junge! Der große Napoleon Bonaparte ist in Russland nur deshalb so vernichtend geschlagen worden, weil er nicht einsehen wollte, dass der Krieg längst verloren war.«

Natürlich wusste ich, dass er recht hatte, und ich musste zerknirscht zugeben, dass er mich mit meinen eigenen Worten eines Besseren belehrt hatte. Gleichwohl fühlte ich plötzlich einen Tatendrang in mir aufsteigen, als hätte der Amtmann das Dorf bereits überfallen und als gelte es, auf der Stelle zu handeln. Ich wollte, ich musste etwas tun. Vielleicht hatten sich in den letzten Tagen zu viele Dinge in mir angestaut, es war derart viel geschehen, und ich hatte jeweils nur passiv zu reagieren vermocht. Vielleicht musste sich meine Wut erst Platz verschaffen, bevor sie verrauchen und ich in Ruhe nachdenken konnte.

»Du hast recht«, sagte ich schließlich, »vielleicht lassen sich die Männer im Dorf ja überzeugen. Dann wird der Amtmann mit seinen Leuten ein hübsche Überraschung erleben.« Ich schaute zum Fenster hinaus und sah die verkohlten Ruinen des Hofes. Mich fröstelte bei dem Anblick, und ich glaubte das Heulen des Windes in den leeren Fensterhöhlen und Mauerresten zu hören. Ein Schauer fuhr mir über den Rücken, und ich sagte: »Sieht unheimlich aus, nicht wahr? Gespenstisch!«

»Sag bloß, du glaubst an Gespenster?!«

»Als Kind habe ich gedacht, auf dem Hof hausten die Waldkobolde. Alle Kinder glaubten das. Es hieß, der Geist des toten Moorbauern spuke in dem Gemäuer herum.«

»Du bist nicht der Einzige, der hier Gespenster gesehen hat«, sagte Bernhard, klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und schaute ebenfalls nach draußen. »Und, glaube mir, das waren nicht nur Kinder. Der Brand hat damals einigen Leuten arg zugesetzt.«

Unwillkürlich musste ich an die alte Gertrud denken. Hatte sie nicht vorhin in ihrer Hasstirade auf die Juden von einem ermordeten Herrn und einem abgebrannten Hof erzählt? Ich schaute Bernhard an und fragte: »War Oma Kuckel früher Magd auf dem Moorbauernhof?«

Er sah mich schweigend und beinahe feindselig an. Dann öffnete er die Türe, legte sein Cape um und trat hinaus vor die Hütte.

2

Obgleich es erst früher Nachmittag sein konnte, war es draußen so düster, als hätte die Abenddämmerung bereits eingesetzt. Die Wolken hatten sich zusammengezogen, bedeckten den gesamten Himmel und hatten die Farbe von Pech angenommen. Ein Gewitter ballte sich zusammen, aber noch fegte der Wind in unverminderter Stärke über das Land, auch wenn die Luft seltsam warm und schweißtreibend war. Erst wenn sich der Sturm legte, würde das Unwetter losbrechen, so vermutete ich.

Bernhard stand vor dem Häuschen und starrte hinüber zum Kiefernwald, dessen Baumwipfel sich ächzend neigten. Eine Windbö schlug ihm ins Gesicht und drohte seine Mütze vom Kopf zu reißen. Er hielt sie mit der rechten Hand fest, wandte sich zu mir um und rief mir zu: »Warum willst du das wissen?« Seine Augen funkelten mich an, zum wiederholten Mal erinnerten sie mich an die Augen eines Raubvogels, und zugleich schimmerte etwas wie Angst in ihnen durch. Oder gar Panik.

Ich hielt seinem Blick stand, warf mir den Drillichumhang über und ging ebenfalls hinaus ins Freie. »War die alte Gertrud in der Nacht des Brandes auf dem Hof?«, wiederholte ich meine Frage.

»Das war sie allerdings«, antwortete er schließlich nickend, und seine Augen starrten dabei ins Nichts. »Und wenn irgendjemand von Geistern verfolgt wird, dann ist es die verrückte Gertrud.« Er fuhr sich langsam mit der Zunge über die Lippen und setzte hinzu: »Ich kann es der alten Vettel nicht einmal verdenken.«

»Was meinst du damit? Von welchen Geistern sprichst du?«

»Hast du Kuckels Gertrud nicht auf unserem Hof gesehen? Hat sie nicht wie üblich ihre wilden Gespenstergeschichten erzählt?« Er hob spöttisch die Augenbrauen, machte eine wegwerfende Handbewegung und stapfte in Richtung der Ruine. »Deswegen hast du doch eben nach ihr gefragt, oder?«

Ich lief ihm hinterher, drückte meinen Filzhut tief in die Stirn und sagte, als ich bei ihm angekommen war: »Sie hat wirres Zeug von sich gegeben und von einem Mord an ihrem Herrn und einem Brandanschlag geredet. Und auf die Juden hat sie geschimpft.«

»Die Juden?«, wunderte sich Bernhard.

»Sie nennt sie Mordbrenner und behauptet, die Juden seien schuld an dem Tod des Moorbauern.«

Bernhard lachte laut auf und betrat im gleichen Augenblick das Innere des abgebrannten Kottens. Er stieg über morsche Balken und verkohltes Gemäuer und blieb mitten auf der inzwischen von Brennnesseln und Disteln überwucherten Tenne stehen. Er wirkte in seiner weißen Leinenkleidung inmitten der schwärzlichen Trümmer selbst wie ein Gespenst. Der Himmel über ihm war kohlenrabenschwarz, und auch sein Gesicht verdüsterte sich, als er wie ein Prediger die Arme ausbreitete, auf die Ruinen deutete und fragte: »Weißt du eigentlich, was sich hier vor zwanzig Jahren zugetragen hat?«

»Nur was die Leute im Dorf erzählen«, antwortete ich und beeilte mich hinzuzufügen: »Aber deren Getratsche über die Moorbäuerin und den Grund für das Feuer scheint dir ja nicht zu belieben.«

»Das meine ich nicht«, unterbrach er mich unwirsch und fuhr sich erneut über das geschorene Kinn. »Ich rede von der alten Gertrud. Hat sie dir erzählt, was mit ihr passiert ist?«

Ich konnte ihn nur anstarren und langsam den Kopf schütteln.

Bernhard setzte sich auf einen Mauerrest und blickte träumerisch zum Himmel. »Gertrud war vor zwanzig Jahren als Magd auf dem Moorhof«, begann er und stopfte sich gedankenversunken die Pfeife. »Sie war schon damals blind und ihr Verstand ein wenig in Mitleidenschaft gezogen. Aber ihr Sohn Hermann und dessen Frau Hermine arbeiteten ebenfalls für den Vennekötter und sorgten, so gut es ging, für die alte Frau.« Bernhard nahm die Pfeife in den Mund, entzündete sie und paffte nachdenklich. »Als der Hof in Flammen aufging, war Hermine gerade in anderen Umständen. Sie war noch sehr jung, nicht halb so alt wie Hermann, selbst noch ein Kind und zudem etwas kränklich. Es sollte ihre erste Geburt sein. Die Niederkunft war zwar erst für den kommenden Monat errechnet, aber die fürchterlichen Ereignisse, die Aufregungen um den Brand und den Tod des Bauern haben dem armen Mädchen wohl derart zugesetzt, dass es zu Schwierigkeiten kam.«

»Was denn für Schwierigkeiten?«, fragte ich und setzte mich zu Bernhards Füßen auf den lehmigen Boden.

»So genau darfst du mich das nicht fragen«, erwiderte er leicht pikiert. »Von solchen Frauensachen verstehe ich nicht sehr viel. Jedenfalls gab es irgendwelche Probleme bei der Geburt, und es musste alles mit einem Mal sehr geschwind gehen. Die Hebamme konnte nicht rechtzeitig zur Stelle sein, und als das Kind schließlich auf die Welt kam, hatte es die Nabelschnur wie einen Strick um den Hals gewickelt, war dunkelblau angelaufen und atmete nicht mehr. Man hat den Kleinen zwar wiederbeleben können, aber sein Hirn hatte bereits Schaden genommen.«

»Alwin!«, rief ich aus. »Das Kind war Alwin, nicht wahr?«

»Du kennst ihn?«, fragte er erstaunt. Und da ich nickte, setzte er hinzu: »Ein lieber und herzensguter Kerl, aber so harmlos und stupide wie ein Säugling. Stark wie ein Bär, doch sein Kopf ist völlig leer, und wenn man ihn alleine ließe, würde er elend zugrunde gehen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er damals seiner Mutter in den Himmel gefolgt wäre.«

Ich starrte ihn an und brachte kein Wort über die Lippen.

»Hermine war schon vor der Niederkunft sehr geschwächt gewesen und hatte leichtes Fieber gehabt«, sagte er und senkte den Kopf. »Nach der Geburt wurde es noch schlimmer, sie musste wochenlang im Bett liegen, das Fieber stieg von Tag zu Tag, und sie schüttelte sich nur noch. Sie wurde immer schwächer und magerte ab, sie fröstelte und hatte zugleich immer heftigere Fieberschübe, ihr Bauch war ganz aufgequollen, als wäre sie immer noch schwanger, und am Ende lag sie beinahe im Delirium. Der Arzt konnte ihr nicht mehr helfen, er nannte es gastrisches Nervenfieber und vermutete, sie könnte sich schon Wochen vor der Geburt durch verdorbenes Essen oder bei einem anderen Kranken angesteckt haben, aber festlegen wollte er sich nicht. Normalerweise wäre die Krankheit nicht so schlimm gewesen, aber die Schwangerschaft hat dazu geführt, dass sie keine Abwehrkräfte hatte. Es ist ein Wunder, dass der Säugling überlebt hat. Hermine jedenfalls ist keinen Monat nach dem Brand des Hofes gestorben. Sie ist noch nicht einmal siebzehn Jahre alt geworden.«

»O Gott, wie fürchterlich!« So alt wie Maria, dachte ich. Tränen standen mir in den Augen, und nur mit Mühe konnte ich sie zurückhalten.

»Hermann war natürlich untröstlich und hat tagelang nur geheult und gezetert. Der arme Kerl hat Tag und Nacht am Krankenbett seiner Frau gesessen und sie gepflegt, bis er schließlich selbst ein Fall für den Arzt war. Und Gertrud hat herumgetobt, unsinnige Verschwörungstheorien aufgestellt und sich die Haare ausgerissen, als hätte sie auch das letzte bisschen Verstand verloren. Es war fürchterlich und kaum mit anzusehen. Sie hatten alles verloren und alles binnen weniger Tage. Vor dem Brand waren sie eine ganz normale, vielleicht sogar glückliche Familie gewesen, aber jetzt gab es keine Familie mehr. Die Ehefrau rang mit dem Tode, sie hatten kein Dach über dem Kopf, und Arbeit besaßen sie auch keine mehr. Zu allem Überfluss hatten sie sich fortan auch noch um ein schwachsinniges Kind zu kümmern.« Bernhard hielt inne, schaute mich nachdenklich an und seufzte. »Das war auch der Grund, warum ich meinen Vater überredet habe, sie auf unseren Hof zu nehmen.«

»Du hast Gertrud als Magd angestellt?«, fragte ich und schaute dankbar zu ihm auf, als hätte er mir persönlich einen Gefallen getan. »Das war sehr edel und christlich von dir.«

»Unsinn!«, war alles, was er darauf antwortete. »Komm mir doch nicht mit so einem Schmu! Sie waren schließlich unsere Nachbarn.«

»Trotzdem! Das hätte nicht jeder getan.«

»Und wenn schon!« Er kaute auf seiner Pfeife, schüttelte ärgerlich den Kopf und fuhr schließlich fort: »Vater war natürlich nicht sehr erpicht von meinem Vorschlag. Was konnte man schon auf einem Bauernhof mit einer irren Blinden und einer sabbernden Missgeburt anfangen? Für die Arbeit waren die beiden ja kaum zu gebrauchen.«

»Was war denn mit Hermann? Der muss doch damals in seinen besten Jahren gewesen sein.«

»Das war ja das Seltsame«, erklärte Bernhard. »Der war plötzlich verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Kurz nach Hermines Tod hat er sich in Nacht und Nebel davongestohlen, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben. Nicht einmal seine Mutter wusste, wohin es ihn verschlagen hatte. Wir dachten zuerst, er sei ins Moor gegangen, um sich aus lauter Trauer das Leben zu nehmen. Aber dann haben wir festgestellt, dass eine ziemlich große Menge Geld aus einer Schatulle in Vaters Kammer fehlte. Wir wollten die Sache nicht an die große Glocke hängen, aber Anzeige mussten wir dennoch erstatten, schließlich handelte es sich nicht gerade um einen geringen Betrag.«

»Hermann hat euch bestohlen und sich dann klammheimlich davongemacht und seine eigene Familie im Stich gelassen?«, wunderte ich mich. »Und das alles kurz nachdem seine Frau gestorben war?«

»Hermines Tod hat ihn wohl arg mitgenommen, er muss sie fürchterlich geliebt haben. Es sah ihm gar nicht ähnlich, und ich glaube, er wusste überhaupt nicht, was er tat. Jedenfalls war er plötzlich verschwunden und ward nicht mehr gesehen. Gertrud ließ Messen für ihn lesen und hat sich von jeder Zigeunerin wahrsagen lassen, die des Weges kam. Aber weder Gott noch die Scharlatane vermochten ihr zu helfen. Jahrelang blieb Hermann verschollen, kein Mensch hat ihn gesehen, niemand auch nur ein Wort von ihm gehört.« Bernhard stockte, und ein leichtes Zucken umspielte seine Augen. »Hm«, sagte er schließlich und spuckte auf den Boden. »Und dann plötzlich, vor einigen Jahren, tauchte er mit einem Mal wieder auf, mittlerweile als Schäfer durch die Heide ziehend und stets darauf bedacht, keinem Ort und keinem Menschen zu nahe zu kommen. Kein Wunder, schließlich musste er damit rechnen, dass die Gendarmen noch nach ihm Ausschau hielten. Wie ein Geist zog er durch die Lande und hielt sich von allem fern. Nie hat er ein Wort darüber verloren, was er in der Zwischenzeit getrieben hat und was der Grund für sein Verschwinden und den Diebstahl des Geldes gewesen war. Und nicht ein einziges Mal ist er auf unseren Hof gekommen, um seine Mutter und sein Kind zu besuchen. Aber jedes Jahr im Mai liegt ein kleines Geburtstagsgeschenk für Alwin vor dem Gesindehaus. Und sonntags besucht er Hermines Grab, legt frische Blumen darauf oder kleine Präsente, die er aus Holz geschnitzt hat.« Bernhard stieß eine Rauchwolke aus und setzte hinzu: »Ich fürchte, auch Hermanns Verstand hat unter den schrecklichen Vorkommnissen arg gelitten. Er ist ein komischer Kauz geworden, er ist zwar nicht tot, aber mit dem Leben scheint er abgeschlossen zu haben, und wir werden wohl nie erfahren, was damals in ihn gefahren ist. Was den Diebstahl angeht, ist natürlich längst Gras über die Sache gewachsen. Als Hermann zurückkehrte, war unser Vater längst gestorben. Kein Mensch hat sich mehr für das Geld interessiert. Warum sollte auch irgendjemand einen armen und schwachsinnigen Schäfer nach all den Jahren noch zur Rechenschaft ziehen? Niemand belästigt ihn, solange er niemandem zur Last fällt. Und so ist es noch heute.«

Ich musste an meine Begegnung mit dem Schäfer in der Heide denken. Hätte ich vor wenigen Tagen seine traurige und mysteriöse Geschichte gekannt, ich hätte ihn wohl mit ungleich mehr Wohlwollen oder zumindest Mitgefühl betrachtet. Beinahe schämte ich mich nun der abfälligen Gedanken, die mir bei meinem Gespräch mit ihm durch den Kopf gegangen waren. Ich dachte daran, wie liebevoll und wehmütig er von seinem Sohn Alwin gesprochen hatte, den er seit zwanzig Jahren nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte und der seinen Vater gar nicht kannte. Und mit einem Mal war ich mir gewiss, dass Kuckels Hermann nicht halb so irre war, wie er die Leute mit seinem seltsamen Verhalten und unverständlichen Gerede glauben machen wollte. Er musste einen guten Grund haben, sich wie ein Sonderling zu benehmen und von allem und jedem fernzuhalten. Auch für den Diebstahl des Geldes gab es vermutlich eine nachvollziehbare Erklärung. Niemand wurde schließlich aus Trauer zum Verbrecher! Das klang einfach zu unwahrscheinlich.

Bernhard wollte sich von seinem Stein erheben, doch ich hatte noch eine Frage zu stellen und hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

»Was ich immer noch nicht verstehe«, sagte ich und ließ mir von Bernhard die Pfeife reichen. »Was hat das alles mit den Juden zu tun? Kannst du dir erklären, warum Gertrud einen solchen Hass auf sie hat?« Ich nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife, hustete diesmal nicht und wartete gespannt auf seine Antwort.

Bernhard überlegte einen Moment, fuhr sich mit der Hand über den Nacken und sagte dann: »Die Gerüchte im Dorf und das dumme Gerede über Elisabeth und diesen vermeintlichen Liebhaber stammten größtenteils von Gertrud. Nach Hermines Tod hat sie überall herumerzählt, die Vennekötterin und ihr mysteriöser Geliebter hätten ihre Schwiegertochter auf dem Gewissen. Genauso wie sie den Alois getötet hätten. Woher sie diesen Unsinn hatte, vermag ich nicht zu sagen, aber die Ahlbecker haben das verrückte Geschwätz nur zu gerne ernst genommen. Und dass Elisabeth seit der Brandnacht verschwunden war, machte die Angelegenheit noch interessanter und geheimnisvoller. Es gab keinen vernünftigen Grund, den Anschuldigungen der alten Gertrud zu glauben, aber es war auch niemand da, der sie nachhaltig widerlegen konnte. Eine wahre Fundgrube für Tratschmäuler.«

»Ja, und?«, fragte ich. »Was hat das denn mit den …«

»Kommst du immer noch nicht drauf?«, unterbrach mich Bernhard und lachte ein hässliches Lachen. »Hast du es immer noch nicht begriffen? Elisabeth war ein Judenmädchen. Jedenfalls war sie es, bevor sie getauft wurde, um den Vennekötter heiraten zu können. Um aus ihrer Holländersippe herauszukommen, wäre sie vermutlich auch zu den Muselmanen übergetreten, wenn es ihr geholfen hätte.«

Ich vermochte kaum zu sagen, warum ich so überrascht, ja, geradezu entsetzt war. Was machte das schon für einen Unterschied, ob die Moorbäuerin Jüdin oder Katholikin war? Aber als ich Bernhard dies erzählen hörte, fiel mir die Kinnlade herunter, und ich vermochte ihn nur mit dümmlichem Gesichtsausdruck anzustarren.

»Wie auch immer«, sagte er, klopfte sich auf die Oberschenkel und stand im gleichen Moment auf. »Wen schert das alles jetzt noch? Es ist vorbei und vergessen!« Er nahm mir die Pfeife aus der Hand und sagte: »Los, Junge, wir haben noch etwas zu tun.« Er reichte mir die Hand und zog mich hoch. »Und du hast heute auch noch einiges zu erledigen. Denk an den Landsturm!« Er legte mir freundschaftlich die Hand auf die Schulter und setzte hinzu: »Frag deine Mutter, wenn du dich so sehr für die Vergangenheit interessierst. Aber sei auf der Hut. Nicht immer ist das, was man wissen will, auch das, was man hören möchte.«

Ich schaute ihn fragend an, doch er schüttelte stumm den Kopf.

»Was wirst du jetzt tun?«, wollte ich von ihm wissen.

Er hob zur Antwort die Achseln, und wieder zuckte es um seine Augen. Schließlich lächelte er traurig und sagte: »Vermutlich gar nichts. Ich schätze, ich gehöre nicht mehr hierher. Wenn mich meine Rückkehr nach Ahlbeck irgendetwas gelehrt hat, dann das: Man kann die Zeit nicht zurückschrauben und so tun, als wäre nichts gewesen. Ich habe hier nichts mehr verloren und sollte zusehen, dass ich irgendwo anders ganz neu beginne.« Er lachte und setzte hinzu: »So alt bin ich ja noch nicht.«

»Du willst dich nicht an deinem Bruder rächen?«

Abermals lachte er, und erneut klopfte er mir auf die Schulter. »Wie soll denn diese Rache aussehen? Soll ich ihn etwa meucheln? Dann wäre ich ja genau der Mörder, für den mich alle halten. Nein, mein kleiner Jeremias, als ich dir vorhin von Napoleon in Moskau erzählt habe, wurde mir plötzlich klar, dass das auch für mich gilt. Vielleicht ist an der Zeit, dass auch ich mich in meine Niederlage füge, so bitter es auch sein mag.«

»Und wenn du es doch auf einen Prozess ankommen lässt?«

Er schüttelte nur den Kopf und reichte mir die Hand. »Lass gut sein, Junge. Es war schön, dich kennengelernt zu haben, aber jetzt sollten wir Abschied nehmen. Wir werden uns so bald nicht wiedersehen.«

Ich wollte etwas erwidern, aber er winkte ab und schritt eilends am Gesindehaus vorbei und verschwand im angrenzenden Nadelwald.

»Sieh zu«, sagte ich leise, als er längst nicht mehr zu sehen war.

Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Die Infanteristenuniform! Und der Koffer der Bäuerin! Ich erinnerte mich an die Worte, die Bernhard vorhin gesagt hatte, und stürzte zur Hütte. Ich riss die Tür auf, lief in die Stube und kletterte die wacklige Leiter zum Heuboden hinauf. Es war so dunkel unter dem Dach, dass ich zunächst gar nichts zu erkennen vermochte. Nachdem ich die Giebeltür geöffnet hatte, schaute ich mich um und suchte den Boden ab. Ich wühlte im Heu und durchstöberte den gesamten Dachboden. Nichts! Kein französischer Soldatenmantel, kein Militärtornister. Kein lederner Koffer und kein Bild der Moorbäuerin. Wo auch immer er die Sachen hingebracht hatte, auf dem Dachboden des Gesindehauses waren sie nicht. Bernhard hatte mich angelogen.

Ich sank vor der Tür zu Boden und starrte hinaus zum Grenzwall. Auf holländischer Seite war nichts als dichter und finsterer Wald zu erkennen, hohe Kiefern und dunkle Fichten soweit das Auge reichte.

Warum?, fragte ich mich. Weshalb hatte er die Unwahrheit gesagt?

Der Wind heulte, vom Galgenbülten her erschallte das Krächzen einer Dohle, und ich fühlte mich, als wäre ich der einzige Mensch auf Erden.

3

Um auf die Landstraße nach Ahlbeck zu gelangen, ging ich nicht wie am gestrigen Tage am Landwehrwall entlang und quer über den Galgenbülten, sondern entschied mich für den Umweg über den Lanverhof. Einst hatte hier ein befestigter und mit Bäumen bestandener Weg entlanggeführt, aber der Schulze hatte die Bäume vor Jahren roden und den Boden pflügen lassen, sodass ich nun über die frisch bestellten Äcker und das verwaiste Weideland laufen musste. Es war weniger die Angst vor der unheimlichen Hinrichtungsstätte, die mich diesen Weg einschlagen ließ, eher schon empfand ich eine merkwürdige Spannung, die mich – wie von einem Magneten angezogen – zum Schulzenhof trieb. Je näher ich dem Bauernhof kam, desto schneller ging mein Atem, und ich spürte eine seltsame Beklemmung in der Brust, als stünde mir etwas bevor, vor dem ich mich fürchten musste.

Ich glaube nicht, dass ich mir dessen zu dem damaligen Zeitpunkt bewusst war, aber heute weiß ich, dass ich allein deshalb zum Lanverhof ging, um Eva noch einmal zu sehen und womöglich einige Worte mit ihr zu wechseln. Es war der traurige und zugleich hilfesuchende Blick des Mädchens, der mich nicht mehr losließ und in meinen Gedanken herumspukte. Ich hatte mir nicht im mindesten überlegt, wie und unter welchem Vorwand ich zu ihr gelangen und was ich mit ihr reden könnte, und deshalb war ich so verdutzt und sprachlos, als ich plötzlich und gänzlich unvermittelt vor ihr stand. Ich war mühsam durch den dichten Buchenwald gestapft, hatte mich dem Gesindehaus von der Rückseite her genähert und war gerade aus dem Gebüsch ins Freie getreten, als ich mit einem Mal die schwarze Frauengestalt neben dem Misthaufen wahrnahm. Sie hielt ein flatterndes Huhn in der linken Hand, schaute überrascht zu mir herüber, nickte dann flüchtig und ging direkt auf mich zu.

»Hallo Eva«, stammelte ich und starrte verlegen zu Boden. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich nicht einfach wieder im Gestrüpp verschwinden sollte, doch dann wurde mir bewusst, wie töricht dieser Gedanke war, und ich blieb wie angewurzelt stehen.

»Wenn das nicht der Magistersohn ist«, sagte sie, als sie mich erkannte. »Hallo Jeremias! Du scheinst dich mit Liebe in der Gegend herumzutreiben.« Sie lächelte und setzte hinzu: »Bist ein gefragter Mann.«

»Wieso?«

»Deine Schwester Maria war vorhin auf dem Hof. Sie hat nach dir gesucht und scheint sich Sorgen zu machen.«

Da ich nicht antwortete, zuckte sie mit den Schultern und wies auf einen etwa zwei Ellen hohen Holzblock, der direkt vor mir auf dem Boden stand. »Kannst mir gleich helfen«, sagte sie, immer noch lächelnd, »falls du nicht zu beschäftigt bist und einen Moment Zeit hast.«

Erst jetzt verstand ich, was Eva hinter dem Misthaufen mit dem Huhn vorhatte. Der Holzblock zu meinen Füßen war dunkelbraun von angetrocknetem Blut, und eine Axt steckte im Holz.

»Für die Suppe«, erklärte Eva und hielt das Huhn an den Füßen wie eine Trophäe in die Höhe. »Gibst du mir mal die Axt?«

»Das ist aber ein altes Tier«, erwiderte ich und reichte ihr das Gewünschte.

»Wenn man sie lange genug kocht, wird es schon gehen«, sagte sie und hielt mir das Huhn vor die Nase. »Legst du sie bitte auf den Block und hältst fest?«

»Soll ich nicht lieber zuschlagen?«, sagte ich und deutete auf die Axt.

»Nur weil ich eine Frau bin, bedeutet das nicht, dass ich nicht mit einer Axt umgehen kann. Oder sehe ich so unschuldig und harmlos aus?« Es schwang überhaupt keine Koketterie in ihren Worten mit. Sie schüttelte belustigt den Kopf und fuhr mit dem Finger über die Klinge, um zu prüfen, ob sie scharf sei. Ganz beiläufig und mich dabei nicht ansehend fügte sie hinzu: »Warum schleichst du eigentlich den ganzen Tag wie ein Dieb um den Hof herum? Hast du keine Arbeit zu verrichten?«

»Ich bin kein Dieb«, empörte ich mich, und beinahe wäre mir vor Ärger das Huhn aus der Hand gerutscht. »Und ich schleiche auch nicht herum.«

»Das kann man sehen, wie man will«, erwiderte sie und lächelte traurig. »Ich weiß, dass du kein Dieb bist, aber ganz ehrlich bist du auch nicht.« Sie holte mit der Axt aus und setzte schmunzelnd hinzu: »Und ich kann mir auch schon denken, warum du dich hier herumdrückst.«

Ich sah sie erstaunt an und fragte: »Warum?«

»Willst du das Huhn nicht auf den Block legen? Wie soll ich dem Vieh denn so den Kopf abhacken? Halt die Henne an den Flügeln, damit sie nicht flattern kann.«

Ich tat nichts dergleichen, richtete mich stattdessen auf und wiederholte: »Warum?«

»Johanna ist seit einigen Tagen wie aus dem Häuschen«, sagte Eva und blickte mich mit ihren grünen Augen prüfend an. »Sie putzt sich heraus, kämmt sich ständig die Haare und träumt bei helllichtem Tag. Wenn man sie anspricht, antwortet sie nicht und starrt Löcher in die Luft. Und immer wieder verschwindet sie für Stunden und will anschließend nicht sagen, wo sie sich herumgetrieben hat.« Ein verschmitztes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Vielleicht sollte ich dich das lieber fragen.«

»Was willst du damit … was heißt denn hier … was glaubst du eigentlich?«, stammelte ich und schüttelte energisch den Kopf. »Denkst du vielleicht, dass ich mit deiner Schwester herumpoussiere?«

»Sie hat heute morgen selbst gesagt, dass du ein hübscher Kerl bist«, entgegnete Eva und hieß mich mit einer Geste das Huhn auf den Block legen. »Würde mich nicht wundern, wenn du ein schlimmer Bursche und Schürzenjäger wärst. Auch wenn du noch so unschuldig dreinschaust.«

»Das wüsste ich aber! Da kennst du mich aber schlecht! Und für Johanna interessiere ich mich schon gar nicht!«

»So?«, erwiderte sie überrascht. »Meine Schwester ist doch eine hübsche Person. Oder findest du das nicht?«

»Ich mag keine albernen Hühner«, sagte ich mit Bestimmtheit. »Ich kann es nicht leiden, wenn Mädchen ständig kichern und sich über alles lustig machen, als wäre es nur ein Witz.«

»Mir ist es lieber, sie lacht zu viel, als dass sie einen Grund zum Traurigsein hat.« Sie funkelte mich mit ihren grünen Augen an und holte abermals mit der Axt aus.

»So wie du?«, fragte ich.

Eva schrie wütend auf, und die Axt in ihrer Hand sauste nieder.

Im gleichen Moment riss ich meine Hand weg und ließ das Huhn los.

Der Kopf der Henne blieb auf dem Holzblock liegen, doch der Rest des Tieres flatterte kopflos durch die Luft und verspritzte das Blut, das aus seinem Hals schoss.

»Verdammte Sauerei!«, rief Eva und rannte dem Huhn hinterher. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst sie festhalten?!«

»Entschuldige«, stammelte ich und half ihr, das Federvieh einzufangen, das nun direkt auf mich zuflatterte. Ich warf mich auf das Huhn, bekam es an den Füßen zu fassen und wurde dabei über und über mit Blut beschmiert. Ich saß triefend auf dem Boden, das Vieh in den Händen, und versuchte, das zuckende Tier unter Kontrolle zu bringen. Ich hielt es mit ausgestreckten Armen von mir fern, um es ausbluten zu lassen.

Eva stand kopfschüttelnd über mir, betrachtete das Malheur und lachte mit einem Mal schallend los. »Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sogleich«, rief sie und hielt sich den Bauch vor Lachen.

»Was gibt es denn da zu kichern?«, antwortete ich, blutbesudelt und verärgert. »Ich dachte, du hackst mir die Hand ab!«

»Du solltest eben nicht über Dinge reden, die du nicht verstehst!«, erwiderte sie plötzlich wieder ernst. »Wir reden ohnehin zu viel überflüssiges Zeug.«

»Ich habe doch Augen im Kopf, und dämlich bin ich auch nicht. Und manchmal hilft es, über die Sachen zu sprechen.«

»Unsinn!«, schnitt sie mir barsch das Wort ab. »Erst wenn man darüber redet, wird es wirklich. Solange man schweigt, kann man so tun, als wäre nichts geschehen. Vor allem, wenn man ohnehin nichts daran ändern kann.« Sie nahm mir das Huhn aus der Hand, ging hinüber zum Richtblock und fing im selben Moment an zu weinen.

Immer noch saß ich auf dem Hosenboden inmitten der Blutlache, starrte zu ihr hinüber und wusste nicht, was ich sagen sollte. Warum war ich nur immer so ungeschickt mit den Worten, warum gelang es mir nicht, meine Gefühle auszudrücken, ohne die Gefühle der anderen zu verletzen?

»Es tut mir leid«, sagte ich schließlich, stand auf und ging zu ihr hinüber. »Ich wollte dir nicht wehtun.«

»Ich weiß, aber es tut trotzdem weh.« Sie nahm das tote Huhn, ging hinüber zum Misthaufen und begann in Windeseile das Tier zu rupfen. Die Federn flogen nur so in hohem Bogen und wurden vom Sturmwind umhergewirbelt. Immer wieder fuhr sich Eva mit der Hand über die laufende Nase, ihr Blick war starr auf das Huhn gerichtet.

»Kannst du den Schulzenhof nicht verlassen?«, wagte ich nachzuhaken. »Du willst doch nicht beim Lanvermann bleiben? Das kannst du nicht wollen. Es muss noch eine andere Möglichkeit geben. Ich könnte …«

»Wo soll ich denn hin?«, unterbrach sie mich, sah zu mir auf und seufzte tief und schwermütig. »Glaubst du, ich kann mir meine Stellung nach Belieben aussuchen? Ich habe ein Kind zu ernähren, vergiss das nicht! Wenn ich ohne Not den Schulzenhof verlasse, wird das ganze Dorf wissen, was passiert ist. Alle werden mit dem Finger auf mich zeigen und die Nase rümpfen. Nein, so einfach ist das nicht.«

»Aber den Kopf in den Sand zu stecken, ist auch keine Lösung.« Ich stutzte und wusste nicht recht, was ich eigentlich sagen wollte. Die Worte lagen mir auf der Zunge, aber sie kamen mir nicht über die Lippen. »Und wenn ich … ich meine, wenn …« Ich ließ den Satz unbeendet.

»Lass gut sein, Jeremias«, sagte Eva und schüttelte den Kopf. »Mir ist bereits gedient, wenn du deinen Mund hältst und einfach vergisst, was du gesehen und gehört hast.«

»Ich werde kein Wort sagen«, antwortete ich, »aber vergessen werde ich es gewiss nicht.« Ich zögerte einen Moment, überwand mich dann und fragte: »Darf ich wiederkommen? Werden wir uns wiedersehen?«

»Natürlich darfst du das«, erwiderte sie, ohne dabei aufzublicken. »Ich wüsste nicht, was dagegen spräche.« Für einen kurzen Augenblick hatte ich den Eindruck, als liefe ihr blasses Gesicht rötlich an. »Aber jetzt solltest du lieber gehen, bevor uns jemand sieht und falsche Schlüsse daraus zieht. Das würde mir gerade noch fehlen.«

Ich wollte ihr die Hand geben und mich verabschieden, doch sie tat so, als sähe sie meine Hand nicht, und fuhr unentwegt und mit hektischen Bewegungen fort, dem Huhn die letzten Federn auszurupfen.

Ich wandte mich ab und ging in Richtung des Buchenwaldes.

»Jeremias?«, rief sie mir nach.

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihr um.

»Bis bald, du Schürzenjäger«, hörte ich sie sagen und leise lachen.

4

Waren auf dem Weg zum Lanverhof meine Beklemmungen schon groß gewesen, so hatten sie nun noch zugenommen. Mir war, als bekäme ich keine Luft mehr, als müsste ich ersticken, aber zugleich war mir merkwürdig warm ums Herz. Einem Mädchen wie Eva war ich in meinem Leben noch nicht begegnet. Ich war vollends verwirrt und wusste nicht recht, wie ich ihre Worte und ihr Benehmen deuten sollte. Einerseits schien sie so sanft und verletzlich und zugleich so erstaunlich stark und mit ungeheurem Willen. Und auch mir gegenüber verhielt sie sich mal abweisend und kühl, dann wieder freundlich und wohlgesonnen. Sie war genauso alt wie ich, aber wie viel mehr hatte sie erlebt und durchgemacht. Wie viel Leid hatte sie erdulden müssen. Ich gefiel mir darin, große Pläne zu schmieden und von fernen Ländern und Abenteuern zu träumen, aber im wirklichen Leben hatte ich noch nichts vollbracht oder am eigenen Körper erfahren. Ich spielte mich als Vogelfreier auf, nur weil ich vor der Gendarmerie auf der Flucht war, und musste mir zugleich eingestehen, dass ich mich niemals vor der Landwehr gedrückt hätte, wenn ich gewusst hätte, was an Scherereien auf mich zukommen würde. Ich kam mir plötzlich so albern und lächerlich vor.

Eva hingegen hatte keine Wahl gehabt, ihr war es nicht möglich gewesen, vor den unangenehmen Dingen davonzulaufen. Sie hatte als junges Mädchen geheiratet, ein Kind bekommen, kurz darauf ihren Mann verloren und musste sich nun des abscheulichen Schulzen erwehren, nur weil sie abhängig von ihm war. Sie war wie eine dieser traurigen Heldinnen in Lottes Büchern, nur dass es eben nichts mit holder Romantik und edlen Taten zu tun hatte, sondern um das nackte Leben und Überleben ging.

Lotte! Ein Schauer fuhr mir über den Rücken, als sie mir in den Sinn kam und als ich merkte, dass ich an sie wie an ein Wesen aus einem früheren Leben dachte. Wie lange war es her, dass wir Spaziergänge rund um den Seerosenteich unternommen hatten? Eine Woche nur, aber wie viel war in diesen wenigen Tagen geschehen! Und je mehr ich erfuhr und erlebte, desto ferner und fremder wurde sie mir und desto mehr erschien sie mir wie eine Feengestalt aus einem schönen, aber unwahren Traum.

»Lotte!«, entfuhr es mir, und als ich ihren Namen aussprach, erinnerte ich mich an die Worte meiner Mutter. »Kannst du dir sie als Bäuerin vorstellen?«, hatte sie gefragt. Wie es aussah, würde Lotte bald eine Bäuerin sein. Die Schulzenbäuerin!

Ich hatte unterdessen den Hessenweg erreicht und lief unverdrossen in Richtung Ahlbeck. Die Gedanken schossen mir ungeordnet durch den Kopf, mal war ich in Oldendorf bei Lotte, dann in Ahlbeck bei den Deserteuren und immer wieder kehrte ich auf den Schulzenhof zurück. Hier liefen alle Fäden zusammen, hier würde sich alles weitere entscheiden!

Plötzlich hielt ich inne und schaute an mir hinab. Meine Hände und meine Kleidung waren nach wie vor blutverschmiert und verdreckt. Wenn ich in dieser Aufmachung auf dem elterlichen Kotten erschien, würde meine Mutter vor Schreck einen Herzanfall bekommen. Ich musste mich zuvor säubern und schlug mich deshalb nach rechts in die Büsche. Nur wenige Schritte vom Hessenweg entfernt plätscherte der Ahlbach auf seinem Weg nach Holland und bot mir Gelegenheit, das Hühnerblut abzuwaschen.

Das Wasser war kalt und klar und brachte mich wieder zu mir. Ich wusch mir die Hände und hielt sekundenlang den Kopf unter Wasser, als gelte es, die Hirngespinste herauszuspülen. Ich überlegte gerade, ob ich sämtliche Kleider ablegen und einen Sprung ins Wasser wagen sollte, als ich nur wenige Schritte entfernt ein Rascheln und aufgeregte Stimmen vernahm. Der Fluss machte dort eine scharfe Linksbiegung und schlängelte sich an einer kleinen, mit Brombeerbüschen bewachsenen Anhöhe entlang, bevor er sich kurz vor der Schleuse an der Wassermühle zum schwarzen Kolk verbreiterte. Die Geräusche, die vom Wind herübergetragen wurden, schienen von der anderen Seite des Hügels zu kommen, auf die mir die Sicht durch das Gestrüpp versperrt war. Ich wollte mich bereits trollen und vermeiden, dass mich jemand sah, als ich eine Mädchenstimme hörte: »Jackel, da bist du ja. Wo warst du denn so lange? Ich warte schon seit einer halben Stunde hier.«

Ich fuhr zusammen und erstarrte. Die Worte des Gardisten auf der Landwehr kamen mir wieder in den Sinn. Er hatte von einem gewissen Jackel gesprochen, der ein geschickter Bursche sei und schon herausbringe, was man wissen wolle.

»Ich habe dir ein paar Blumen gepflückt«, antwortete eine junge Männerstimme. »Ich wollte meiner Liebsten doch nicht ohne Geschenk unter die Augen treten.« Der Mann sprach in einem merkwürdigen Singsang, er dehnte die Selbstlaute und stieß die Mitlaute mit starker Betonung hervor. Sein R klang krächzend, und seine S-Laute zischten. Der Sprecher war kein Deutscher, aber sein Akzent war mir bislang noch nicht untergekommen. Ein Südländer, mutmaßte ich. Vielleicht ein Ungar oder Italiener.

»O Jackel«, antwortete das Mädchen, »die sind aber schön. Feldblumen sind mir von allen die liebsten.« Dem Klang der Stimme nach zu urteilen, konnte es sich bei dem Mädchen nur um Johanna handeln. Mit Zittern in der Stimme setzte sie hinzu: »Als hättest du es gewusst.«

Und plötzlich ergab alles einen Sinn, mit einem Mal fügten sich die Teile des Puzzles zu einem Bild zusammen. Ich wusste jetzt, was hier gespielt wurde. Und es war ein unwürdiges Spiel. Ich hätte bereits viel früher die Zusammenhänge erkennen müssen, genug Hinweise hatte es ja gegeben. Der Hauptmann Simon in seiner weißen Uniform, der nicht an der Feldglocke landen wollte. Der wegen Mordes gesuchte Bernhard, den man den »Flessener« nannte und der einen dummen und gutgläubigen Kaffer zu seinem willigen Spion gemacht hatte. Der Schürzenjäger Jackel, der etwas herausbringen sollte. Und die arme Johanna, die sich für ihren Galan herausputzte und am helllichten Tage träumte.

Die Brabanter Bande!

Und dennoch! Als Bernhard mir vor wenigen Stunden beteuert hatte, er werde den Räubern keine Träne nachweinen, wenn man sie an den Galgen bringe, da hatte ich ihm geglaubt. Auch jetzt wollten mir seine Worte nicht wie ein Lüge erscheinen. Er hatte gemeint, was er gesagt hatte.

Kurz entschlossen legte ich meine Kleider ab und wollte ins Wasser steigen. Doch dann hielt ich plötzlich das Medaillon in der Hand, das die ganze Zeit an der Kette um meinen Hals gehangen hatte, und ich stutzte. Ich betrachtete das Bildnis der Madonna, das vom Hühnerblut besudelt war. Es sah nun beinahe so aus, als blutete das von sieben Schwertern durchbohrte Herz der Mutter Gottes tatsächlich. Ich reinigte das Medaillon, riss mich von dem Anblick der trauernden Maria los, legte das Medaillon zu den anderen Sachen und stieg ins Wasser. Vorsichtig kroch ich am Ufer entlang, bis ich um die Biegung des Flusses herumlugen und sehen konnte, was sich auf der anderen Seite des Hügels abspielte. Das Wasser ging mir fast bis zur Hüfte, und ich hatte Mühe, mich an der Böschung festzuhalten, aber ich gelangte zu einer Stelle, von der aus ich die beiden Poussierer bei ihrem Stelldichein beobachten und belauschen konnte. Eine Esche am steilen Ufer war samt Wurzelwerk einige Ellen abgesackt und stand nun beinahe waagerecht über dem Wasser. Der Stamm bot mir Halt, die Zweige verhinderten, dass ich vom Ufer aus gesehen werden konnte, und der böige Wind stand so, dass ich ihre Worte verstehen, sie mich aber nicht hören konnten. Ein kleines Ruderboot war mit einem Lederriemen an einem Busch befestigt und tänzelte lustig auf dem Wasser, auf dessen Oberfläche sich die dunklen Wolken am Himmel spiegelten. Die beiden jungen Leute standen sich in einer Senke am flachen Ufer gegenüber, er hatte seinen Arm um ihre Hüfte gelegt und drückte ihr einen Kuss auf den entblößten Hals.

»Jackel, du bist so lieb zu mir«, sagte Johanna in diesem Moment, schaute versonnen auf die Blumen in ihrer Hand und bekam einen hochroten Kopf. »Ich habe dich so furchtbar gern.«

Der Angesprochene lächelte zufrieden, strich sich über den gezwirbelten Schnurrbart und fuhr der Magd dann über die Haare, die diesmal nicht von einer Haube bedeckt waren, sondern in hübschen Zöpfen über die Schultern fielen. Auch hatte sie kein Tuch um den Hals und keine Schürze umgebunden. Sie hatte sich fein gemacht und zeigte ihre Reize.

»Ich weiß doch, was sich ziemt«, sagte Jackel und tätschelte anschließend ihre Wange. »Und was ich einer hübschen Maid schulde. Ein Kober-Jackel weiß genau, was die Frauenzimmer sich wünschen.« Er lachte selbstgefällig und nahm das Kinn des Mädchens in die Hand, als hätte er ein Kind vor sich.

Der junge Mann war, so wenig er mir auch in Worten und Gesten gefiel, eine auffallende Erscheinung. Auf dem schwarz gelockten Kopf saß ihm ein lederner Hut, dessen breite und federgeschmückte Krempe an einer Seite keck in die Höhe stand. Am Leib trug er ein weit geschnittenes gelbes Hemd aus feiner Seide, das an den Ärmeln und am Revers mit altmodischen Rüschen besetzt war. Den Gehrock aus grünem Jägerloden hatte er trotz kühler Temperatur ausgezogen und sich über die Schulter geworfen. Ein breiter Ledergürtel mit prächtiger Silberschnalle war um seine Taille geschnürt, seine Beine steckten in knielangen und gestreiften Pluderhosen und die Füße in schwarzen Stulpenstiefeln. Eine lange Pistole steckte ihm im Gürtel, und eine kleiner Dolch hing ihm an der Seite. Eine imposante Aufmachung, und ohne jeden Zweifel die Kleidung eines eitlen Stutzers. Sie erinnerte mich an Bilder von Landsknechten aus dem Großen Deutschen Krieg.

Johanna riss sich plötzlich von dem Anblick der Feldblumen los, schaute ihrem Geliebten ernst in die schwarzbraunen Augen und sagte: »Du musst auf der Hut sein, Liebster. Mir sind schlechte Neuigkeiten aus Oldendorf zu Ohren gekommen. Der Amtmann ist euch auf der Spur.«

»Der Amtmann?«, antwortete Jackel skeptisch. »Woher weißt du das?«

Johanna berichtete ihm von dem alten Scherenschleifer und dessen Kunde über die Aufstellung des Landsturms. »Sie kommen euch holen«, sagte die Magd und ergriff den Arm des Mannes. »Du musst dich verstecken, sonst werden sie dich verhaften. Ich finde schon einen Platz, wo sie dich nicht finden.«

»Dummes Zeug!«, erwiderte er unwirsch und schüttelte die Hand des Mädchens ab. »Ein Kober-Jackel versteckt sich nicht vor den Sandlatschern und schon gar nicht unter der Schürze eines Frauenzimmers.«

Bei diesen Worten musste ich schmunzeln. Er schien seinen Namen sehr zu lieben und ihn ebenso gern und oft in den Mund zu nehmen. Die Tatsache allerdings, dass er von sich wie von einer dritten Person sprach, ließ mich vermuten, dass Kober-Jackel keineswegs sein wahrer Name war. Bei einigen Räubern hatte es sich offenbar eingebürgert, wohlklingende Künstlernamen anzunehmen. Während die einen auf Anonymität achteten und ihre Namen mit Bedacht wechselten wie andere Leute die Hüte, war es den eitleren Räubern ein Bedürfnis, in die Geschichtsbücher einzugehen und von Moritatensängern und Dichtern besungen zu werden. Sie nannten sich Schinderhannes, Sonnenwirt oder Bayerischer Hiesl, führten ihren Namen wie einen Schild oder eine Waffe mit sich und prahlten damit in aller Öffentlichkeit. Ihre Bekanntheit erleichterte ihnen die Beutezüge und verschaffte ihnen zugleich zahlreiche amouröse Abenteuer. Während jedoch die Namenlosen nicht selten das Greisenalter erreichten, landeten die Berühmtheiten ausnahmslos in jungen Jahren am Galgen. Auch dem selbstverliebten Kober-Jackel würde es vermutlich nicht anders ergehen. Ich meinerseits wünschte es ihm von ganzem Herzen.

»Wie kannst so reden?«, rief der Räuberbursche mit gespielter Empörung aus. »Soll ich wie eine Memme davonlaufen, als wäre mir das Herz in die Hose gerutscht? Das sähe einem Kober-Jackel gar nicht ähnlich.«

»Aber der Amtmann hat den gesamten Landsturm aufgeboten«, beharrte Johanna und rang ihre Hände. »An die hundert Mann sind in Oldendorf versammelt, hat der alte Mann gesagt, und alle sind sie bis an die Halskrause bewaffnet. Vermutlich sind sie schon auf dem Weg nach Ahlbeck und können jeden Moment hier sein.«

»Bist du sicher?«, fragte er und fixierte sie eindringlich.

Johanna nickte, und die Tränen traten ihr in den Augen.

»Dann muss ich zur Beiß und dem Hauptmann Meldung machen«, sagte er schroff und wandte sich ab. »Ich habe keine Zeit zu verlieren.«

»Kannst du nicht einfach bei mir bleiben?«, flehte Johanna und hielt sich erneut an seinem Arm fest. »Ich werde schon einen Ausweg finden.«

Er baute sich vor ihr auf, funkelte sie böse an und rief: »Ich bin ein Baldower, vergiss das nicht. Meine Leute verlassen sich auf mich, und ich werde den Teufel tun und sie wegen eines Frauenzimmers enttäuschen.« Er griff sich pathetisch ans Herz und setzte hinzu: »Glaubst du, ich habe keine Ehre? Was wäre denn das für ein Kundschafter, der seine Kumpanen wegen einer Mesuse im Stich lässt? Ein Kober-Jackel ist kein Mosser!«

»Kein was?« Johanna schaute ihn verwirrt an und ließ ihren Tränen freien Lauf. »Ich verstehe kein Wort. Warum redest du nicht so, dass ich dich verstehen kann?«

»Ich bin kein Verräter, merk dir das gefälligst!« Er riss den Lederriemen los, mit dem das Ruderboot befestigt war, und wollte einsteigen.

»Kommst du wieder?«, fragte sie schluchzend. »Holst du mich nachher ab?«

»Dich abholen? Wie meinst du das?« Er warf die Joppe ins Boot, schwang sich hinein und machte sich daran, den Kahn mit dem Ruder vom Ufer abzustoßen. Doch Johanna hielt das Ruder fest und wollte ihren Geliebten nicht gehen lassen.

»Ich komme doch mit dir!«, rief sie verzweifelt und lachte dabei, dass es einem im Herzen wehtat. »Du hast es doch gestern versprochen! Erinnerst du dich nicht? Du hast gesagt, ich wäre eine hübsche Räuberbraut.«

»Das würde dir wohl in den Kram passen«, erwiderte er und stieß der armen Johanna das Ruder vor die Brust, dass sie zusammensackte und wimmernd auf dem Boden lag. »Ein verdammtes Weibsbild würde mir gerade noch fehlen! Scher dich weg!«

»Aber du kannst mich doch nicht hier zurücklassen!« Johanna lag bäuchlings auf dem schlammigen Boden und kroch auf allen Vieren in Richtung des Bootes. »Nach allem, was gestern zwischen uns war!«

Kober-Jackel lachte dreckig und rief: »Was war denn gestern? Wir hatten ein wenig Spaß miteinander, weiter nichts. Wenn du glaubst, ich würde mir eine Mamsell aufhalsen, dann bist du noch dümmer, als ich dachte.« Er stieß ein verächtliches »Ha!« aus und setzte hinzu: »Geh zurück zu deinen Kaffern, such dir einen dummen Bauernjungen und schlag dir die Flausen aus dem Kopf, Kindchen! Ein Kober-Jackel ist nichts für dich!«

Johanna verstummte und verharrte. Immer noch lag sie unverändert am Boden, doch in ihrem Gesicht vollzog sich plötzlich eine merkwürdige Wandlung. Die verzweifelte Liebe, die soeben noch darin zu erkennen war, schlug mit einem Mal in grenzenlosen Hass um. Das marmorne und wie eingemeißelt wirkende Lächeln verschwand aus ihren Zügen, ihre Lippen bebten, und sie schaute Jackel mit steinerner Miene und funkelnden Augen an. In ihrem Blick lag mehr als nur eine ohnmächtige Drohung, es war ein heiliger Schwur, ein grausiges Versprechen, das man darin lesen konnte.

Plötzlich ergriff sie die Blumen, die ihr aus den Händen gefallen waren, und schleuderte sie dem Jackel ins Boot. »Krepiere!«, war alles, was sie hervorstieß, bevor sie erneut zusammensackte und verstummte.

Johanna war kein Mädchen, das so einfach vergessen würde. Anders als ihre Schwester würde sie sich nicht in ihrem Gram vergraben. Sie würde nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Und vergeben würde sie erst recht nichts. So überschwänglich sie in ihrer Freude und Zuneigung war, so unerbittlich schien sie auch in ihrem Groll und ihrer Verbitterung. Und ich hatte die plötzliche Ahnung, dass »ein Kober-Jackel« sein schändliches Betragen noch einmal bitter bereuen würde.

Das Ruderboot verschwand hinter der nächsten Flussbiegung, und Johanna verharrte leichenstarr und ebenso bleich in ihrer Haltung. Sie lag auf dem Boden, die Hände im Schlamm verkrallt, starrte mit aufgerissenen Augen dem Boot hinterher und rührte sich nicht.

Einen kurzen Moment lang überlegte ich, ob ich ihr zu Hilfe kommen sollte, doch dann entschied ich mich dagegen. Nein, so schwer es mir auch fiel, ich konnte dem Mädchen nicht helfen. Ich schwamm zurück zu der Stelle, wo ich meine Kleider abgelegt hatte, schlüpfte lautlos hinein und kroch in Windeseile hinauf zur Landstraße. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass weit und breit keine Menschenseele zu sehen war, schlich ich mich durch den schmalen Entwässerungsgraben, der am Hessenweg entlangführte, in nördlicher Richtung zur holländischen Grenze. Ich hatte mich entschlossen, dem ekelhaften Kober-Jackel zu folgen. Er hatte von einer »Beiß« gesprochen, und mir fiel ein, dass auch Bernhard dieses Wort benutzt hatte, als er von der Moorbäuerin erzählt hatte und dass deren Vater sämtliches Geld in einer Beiß versoffen habe. Eine Beiß war also eine Art Wirtshaus. Ich dachte an die Müllerkleidung des Flesseners und glaubte zu wissen, wo ich ihn und seine Räuberbande finden würde.

5

Kurz bevor der Hessenweg auf die Landwehr stieß und durch einen mächtigen und verriegelten Schlagbaum versperrt war, ging ein breiter Sandweg linker Hand von der Landstraße ab. Dies war der Weg zur Kolkmühle. Er war breit genug, um den kornbeladenen Fuhrwerken die Anfahrt zu ermöglichen, schlängelte sich aber durch einen dichten Eichen- und Buchenwald und war durchzogen von mächtigen Baumwurzeln, welche den Rädern und Achsen der Wagen einiges abverlangten.

Als ich durch den finsteren Wald stapfte und das Gekrächze der Elstern und Raben über meinem Kopfe hörte, wurde mir mit einem Mal bange, und ein flaues Gefühl machte sich im Magen breit. Ich fragte mich, was ich eigentlich mit meinem Tun bezweckte. War es nicht sinnlos und sogar lebensgefährlich, sich auf die Lauer zu legen und die Räuber in ihrem Versteck zu belauschen? Warum ging ich nicht einfach zum Dorfschulzen und berichtete ihm, was ich gehört und erfahren hatte? Schließlich gehörte es zu dessen Aufgaben, sich um Recht und Ordnung im Dorf zu kümmern. Doch genau das war das Problem! Ich konnte dem Schulzen nichts mitteilen, denn dies hätte bedeutet, dass ich seinen Bruder an den Galgen brachte. Bernhard Lanvermann mochte ein gerissener Lügner sein, vermutlich sogar ein gemeiner Räuber oder Marodeur, aber nach allem, was er mir über den gewaltsamen Tod seiner Frau erzählt hatte, war es mir unmöglich, ihn ausgerechnet dem Mann auszuliefern, der für seine unverschuldete Notlage verantwortlich war.

Ich hielt einen Moment inne und überlegte. Was wäre, wenn der Flessener auch in diesem Punkt die Unwahrheit gesagt hatte? Was wusste ich schon von den Vorgängen auf dem Schulzenhof? Was wusste ich von der toten Schulzenbäuerin? Nichts! War es nicht widersinnig, sich auf das Wort eines Mannes zu verlassen, der sich gerade erst als Lügner entpuppt hatte? Doch dann schüttelte ich diese beunruhigenden Gedanken ab, immerhin hatte ich Johann Lanvermann gesehen und erlebt, seine stutzerhafte Erscheinung, sein elendes und verbrecherisches Betragen den Gesindefrauen gegenüber. Ich wusste, was er Eva angetan hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto gewisser wurde ich mir, dass an Bernhards Worten etwas Wahres dran sein musste. Es würde dem Schulzen ähnlich sehen, sich an der Schwägerin zu vergehen, und vermutlich würde er sich diebisch freuen, seinen Bruder auf ewig zum Schweigen bringen zu können. Und ich würde zu seinem Handlanger, zum Schergen und Mittäter eines Mörders werden. Nein, niemals! Ich versuchte, meine Zweifel zu zerstreuen, und lief unbeirrt weiter. Erst musste ich herausbekommen, was die Räuber vorhatten und welche Rolle der Flessener bei all dem spielte.

Der Sandweg führte vom Waldrand aus direkt zum steinernen Mühlenwehr. Der Weg dorthin war durch einen Schlagbaum versperrt, und als ich näherkam, erkannte ich, dass man ein Holzschild an der Schranke angebracht hatte, auf dem mit Kohlestift geschrieben stand: »Über die Ostertage geschlossen.« An sich war dieses Schild nichts Außergewöhnliches, tatsächlich war es Sitte und Vorschrift, alle öffentlichen Gebäude von Karfreitag bis Ostersonntag geschlossen zu halten. Allerdings war heute erst Gründonnerstag, und sowohl die Mühle wie auch das Wirtshaus hätten eigentlich geöffnet oder in Betrieb sein müssen. Vermutlich hatten im Laufe des Tages einige Bauern vor dem Schlagbaum gestanden und um Einlass gebeten und waren unverrichteter Dinge wieder von dannen gezogen.

Ich stieg über die Schranke und betrat eine kleine Holzbrücke, unter der sich der Umfluter befand. Im Falle eines Hochwassers war dieser dazu da, die Wassermassen umzulenken und damit zu verhindern, dass die gemauerte Stauanlage dem Druck nachgab und womöglich sogar das Mühlengebäude unter Wasser gesetzt würde. Es hatte in den vergangenen Wochen oft und ausgiebig geregnet, und der Pegel des Flusses war beständig gestiegen, dennoch war die Umflutschleuse geschlossen. Noch bestand keine Hochwassergefahr.

Von der Brücke aus konnte ich das gesamte Mühlengelände überschauen, das allerdings in düsterem Dämmerlicht dalag und einen keineswegs heimeligen Anblick bot. Zur Linken lag der Mühlenkolk, schwarz und leblos und bedrohlich wie der Schlund eines Raubtieres. Geradeaus befand sich die Hauptschleuse, über die der Weg zur Mühle führte. Schon oft hatte ich das alte Gebäude gesehen, wie alle Ahlbecker ließ auch mein Vater sein Korn vom Kolkmüller mahlen, und zumeist hatte ich ihn begleitet, um auf das Getreide aufzupassen, während er die Wartezeit nutzte, um mit den anderen Bauern ein Bier zu trinken und eine Runde Skat zu spielen. Der Anblick der Mühle war mir also vertraut, aber dennoch erschien sie mir im Moment fremd und feindselig, als wartete sie nur darauf, mich zu verschlucken. All die fürchterlichen Ammenmärchen und Gräuelgeschichten von betrügerischen Müllern und meuchelnden Mühlenknappen kamen mir in den Sinn, und mir standen mit einem Mal die Nackenhaare zu Berge.

Die Mühle war zu ebener Erde in Fachwerkbauweise errichtet und die Fächer mit alten Feldbrandsteinen ausgefüllt. Nur der Unterbau auf Höhe der Schleuse bestand aus wuchtigen Sandsteinquadern, welche besser geeignet waren, der Feuchtigkeit und dem Wasserdruck standzuhalten. Das niedrige Dach war aus Eichenholz gefertigt und mit Hohlziegeln gedeckt, und die Giebel waren ebenfalls mit Eichenbrettern verschalt. Die Kolkmühle befand sich bereits seit etlichen Jahrhunderten an Ort und Stelle, das jetzige Gebäude stammte jedoch, wie man dem über dem Haupteingang im Türbogen eingeritzten Datum entnehmen konnte, aus dem siebzehnten Jahrhundert. Oberhalb der Eichentür war ein in Sandstein gehauenes Wappen ins Fachwerk eingelassen. Es zeigte die Initialen C und A des Fürstbischofs Clemens August von Münster, daneben einen Krummstab und ein Schwert als Zeichen seiner weltlichen wie kirchlichen Macht sowie die Inschrift »Renovatum Anno 1721«.

Bis vor wenigen Jahren hatte die Mühle – wie auch das Schloss in Altheim – dem Bistum Münster gehört und war erst auf Drängen Napoleons den Fürsten zu Salm übereignet worden. Der Pächter und Kolkmüller allerdings war der gleiche geblieben. Er hieß Jan Lösing, lebte seit Jahrzehnten mit seiner Frau und den beiden mittlerweile erwachsenen Söhnen an der Mühle und war der Bruder des verstorbenen Moorbauern. Wie so viele Müller stand auch er in dem Ruf, nicht der Ehrlichsten einer zu sein.

Ich schritt vorsichtig und in geduckter Haltung über das Mühlenwehr, hielt Ausschau nach Lichtquellen und horchte angestrengt auf Menschenstimmen oder verdächtige Geräusche. Doch nichts war zu vernehmen, nicht einmal ein Hofhund meldete sich. Allein das lang gezogene »Kii-wiit« eine Kiebitzes klang von den nahegelegenen Sumpfwiesen herüber. Die Mühle lag einsam und verlassen da, als wäre sie schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb. Allein der Wind pfiff in den Baumwipfeln, und das Wasser rauschte leise unter mir. Es trat als breiter Strahl aus einer als Abfluss dienenden Öffnung des Wehrs und floss unterhalb der Mühle als Bächlein in Richtung Holland davon. Da die eigentliche Schleuse, welche die Wasserzufuhr für die beiden Mühlräder regelte, geschlossen war, standen die mächtigen Schaufelräder aus Eichenholz still. Das sonst so typische Knarren der Kammräder und Königswellen im Inneren der Mühle war nicht zu vernehmen. Es war rundum gespenstisch still. Wie auf einem Friedhof.

Das Wirtshaus »Zum schwarzen Kolk« lag, ebenso wie die Stallungen und der Geräteschuppen auf der anderen Seite des Weges, direkt am Wasser und im Schatten einer riesigen Linde. Da der Baum, wie es auch heute noch Sitte ist, zum Richtfest wichtiger Gebäude gepflanzt wurde, konnte man davon ausgehen, dass die Linde ebenso alt war wie die Mühle. Sie überragte das einstöckige und recht schmucklose Gasthaus um beinahe das Doppelte, und ihre Äste und knospenden Zweige zeichneten sich wie ein Skelett vor dem gewittrigen Himmel ab.

Die Schenke war noch nicht sehr alt und wenig mehr als ein notdürftig umgebauter Bauernkotten. Das Tennentor war durch eine kleinere Pforte ersetzt worden, und man hatte Trennwände im Inneren errichtet. Ferner waren an den Seitenwänden größere Fenster angebracht worden, damit man von der Wirtsstube aus einen Blick auf die malerische Mühle und den schwarzen Kolk besaß. Meine Mutter hatte einmal erzählt, die früheren Pächter der Mühle wären noch nicht im Besitz einer Schankerlaubnis gewesen und hätten jahrelang hartnäckig, aber erfolglos darum gekämpft. Erst der heutige Müller hatte – dank vehementer Fürsprache des Dorfschulzen – von einem Tag auf den anderen die amtliche Genehmigung zum Verkauf von Bier und Wein erhalten. Man munkelte, dies sei wohl auf den Verkauf des Moorbauernhofs an den Schulzen zurückzuführen. Indem er dem alten Lanvermann den abgebrannten Hof überlassen habe, habe sich der Kolkmüller gleichzeitig dessen Unterstützung für seine Wirtshauspläne gesichert. Eine Hand wasche eben die andere, hatte es im Dorf geheißen, auch wenn es die eines windigen Müllers sei.

Das Wirtshaus war ebenso unbeleuchtet wie die Mühle, kein Licht war hinter den Fenstern zu sehen. Allerdings vermochte ich von meinem Standpunkt aus nicht zu erkennen, ob es tatsächlich duster im Inneren war oder ob man die dicken Vorhänge an den Fenstern zugezogen hatte. Ich schlich mich am Ufer des Kolks entlang, um im Halbbogen um das Haus herumzugehen. An der hölzernen Anlegestelle, direkt neben dem Mühlenwehr, sah ich ein Ruderboot auf dem Wasser liegen. Hübsche Feldblumen lagen lieblos im Inneren verstreut.

Ein Geräusch ließ mich plötzlich zusammenfahren. Ich warf mich zu Boden, kroch hinter eine Mauer, die den Platz vor der Schenke von der niedriger gelegenen Anlegestelle trennte, und schaute gebannt hinüber zur Gaststätte. Ein junger Mann hatte das Gebäude verlassen, stand nun vor der Türe und streckte sich. Sah man einmal von dem Säbel an seiner Seite und der Pistole in seinem Gürtel ab, wirkte der Mann recht unauffällig. Weder trug er Uniform wie der Mann namens Simon noch eine markante Tracht wie der Kober-Jackel, er war in gewöhnlicher Bauernleinwand gekleidet, und auf dem Kopf saß ihm ein großer Schlapphut aus Leder. In der Hand hielt er einen Bierkrug, aus dem er nun einen mächtigen Schluck nahm.

»Mensch, Hannemann!«, erschallte es aus dem Inneren der Schenke. »Was treibst du da draußen? Weißt du nicht, was der Chef befohlen hat?«

»Der Chef kann mir mal den Buckel herunterrutschen!«, erwiderte der Angesprochene. »Den ganzen Tag sitzen wir schon in dieser muffigen Beiß und starren Löcher in die Luft wie die Ölgötzen und keine einzige Busche weit und breit. Mein Bachwalm ist schon ganz welk und verkümmert.«

»Dass du auch immer nur an die Weiber denken kannst!«, rief der zweite Mann gutgelaunt und trat nun ebenfalls vors Haus. »Dein kleiner Bruder in der Hose wird sich wohl noch ein paar Tage gedulden können.« Mit schalkhaftem Lachen setzte er hinzu: »Oder du musst mit der Müllerin vorlieb nehmen.« Er war ein älterer Mann mit buschigem grauen Backenbart, dessen Tonfall ihn als Rheinländer zu erkennen gab. Er trug eine Uniform, die ich in dieser Zusammenstellung noch nie gesehen hatte. Seine Hosen waren hellblau wie die eines österreichischen Musketiers, der Rock erinnerte an das Gewand eines französischen Grenadiers aus der Revolutionszeit, und statt eines Helms oder Hutes saß ihm ein preußischer Tschako auf dem Kopf, wie sie ihn auch bei der Landwehr trugen. Auf den flüchtigen Blick erschien er als Soldat, bei näherem Hinsehen jedoch erkannt man die billige Maskerade.

»Die Müllerin ist wohl eher dein Jahrgang, Nickel«, sagte der junge Mann und nahm einen weiteren Schluck aus dem Krug. »Aber so hässlich und fett wie sie ist, dürftest sogar du sie verschmähen.« Er lachte anzüglich und klopfte dem Alten kameradschaftlich auf die Schultern. »Ein Kober-Jackel müsste man sein, dann würden sich jungen Buschen nur so um einen reißen.« Er baute sich plötzlich majestätisch auf, nahm den Hut ab, strich sich über die langen Haare und sagte in geziertem Tonfall: »Ein Kober-Jackel weiß, wie man mit den Weibern umgeht.«

Beide Männer lachten, als läge in den Worten ein verborgener Witz.

»Der Chef wird schon wissen, was er tut«, sagte schließlich der alte Nickel. »Du kennst ihn noch nicht so gut wie ich. Auf Bosbeck ist Verlass. Glaub mir, Hannemann, der alte Simon ist ein schlauer Fuchs. Dieser sture Jidde weiß Bescheid, das lass dir ruhig gesagt sein. Nicht umsonst ist er so lange der Feldglocke aus dem Weg gegangen! Komm, Bruder, lass uns ein Gotteswort schnabeln. Meine Gurgel ist schon ganz vertrocknet.«

»Dass du auch immer nur ans Saufen denken kannst!«, erwiderte Hannemann lachend und legte dem Alten den Arm um die Schulter. Während sie zur Tür gingen, fragte er seinen Kumpan: »Was hältst du eigentlich von dem Flessener? Glaubst du, der ist koscher?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Nickel und kraulte seinen Backenbart. »Dem Gatsch traue ich nicht über den Weg! Ein rechter Bratelfreier ist das nicht.«

Sein Kamerad nickte und bestätigte: »Wenn dieser Kaffer ein Rot ist, dann will ich nicht länger Hannemann heißen.«

Mit diesen Worten verschwanden die beiden im Wirtshaus und schlossen die Türe hinter sich.

Obwohl ich nur die Hälfte des räuberischen Kauderwelsches verstanden hatte, war ich mir nun gewiss, auf der richtigen Fährte und am rechten Ort zu sein. Die Räuber hatten sich im Gasthaus an der Mühle versammelt und harrten dort seit Beginn des Tages der weiteren Befehle des Hauptmannes. Was sie mit dem Müller und seiner Familie angestellt hatten und ob dieser gar mit den Räubern unter einer Decke steckte, das galt es noch herauszufinden. Des Weiteren musste ich in Erfahrung bringen, was dieser Hannemann mit seiner letzten Frage gemeint hatte. War der Flessener womöglich gar kein Räuber? War der Kaffer kein Rot?, wie es der Kerl in seiner Gaunersprache angedeutet hatte. Wenn Bernhard aber nicht zu der Brabanter Bande gehörte, zu wem gehörte er dann? Und was hatte er mit dem Räuberhauptmann zu schaffen? Warum nannte er diesen Simon Bosbeck seinen Freund und sogar seinen Lebensretter?

Ich wartete einen Moment, um sicherzugehen, dass die Wirtshaustür verschlossen blieb, kam dann aus meiner Deckung hervor und schlich mich, wie eine Schlange auf dem Boden kriechend, zur Schenke. Erst als ich kurz vor dem Fenster neben der Eingangstür angelangt war, konnte ich leises Murmeln und gedämpfte Stimmen aus dem Inneren vernehmen, und ich sah, dass die Vorhänge vorgezogen waren.

Plötzlich bewegte sich etwas hinter der Fensterscheibe, der Vorhang wurde einige Zoll zur Seite geschoben. Erneut warf ich mich zu Boden und wollte mich verstecken, doch in bangem Schrecken musste ich erkennen, dass weit und breit keinerlei Deckung auszumachen war. Ich hielt den Atem an, mir war elendig heiß, und der Schweiß lief mir in Strömen über die Stirn und in den Nacken. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Sturmwind zu einem lauen Lüftchen geworden war. Eine plötzliche Schwüle kroch über das Land, und ich fühlte mich wie in einer dampfenden Räucherkammer.

Atemlos starrte ich zum Wirtshaus und wartete darauf, dass etwas passierte. Doch nichts geschah, niemand rief Alarm aus, nichts rührte sich, die Tür blieb verschlossen. Langsam richtete ich mich auf, und dann sah ich, was sich hinter dem Fenster bewegt hatte. Einer der Räuber hatte seinen Bierkrug auf das Fensterbrett gestellt und dabei den Vorhang ein wenig zur Seite gerückt. Ein schwacher Lichtschein drang durch den Spalt nach draußen, und obgleich mir das Herz in die Hosen gesackt war, zwang ich mich, zum Fenster zu kriechen und durch die Scheibe zu kiebitzen.

Die ganze Horde war in der Wirtsstube versammelt. An die dreißig Männer hockten auf den Stühlen, saßen in kleinen Gruppen beim Kartenspiel an den Tischen oder versammelten sich trinkend und einander zuprostend um die Theke – zu den letzteren zählten auch der junge Hannemann und sein rheinischer Kumpan Nickel, die sich von der etwas blassen, aber dennoch resolut dreinschauenden Müllerin einschenken ließen. Vom bartlosen Jüngling bis zum grauhaarigen Gevatter war jedes Alter vertreten, einige hatten die dunkle Haut- und Haarfarbe der Südländer, andere waren rothaarig, blauäugig und käsegesichtig, wie es nur Holländer sein können. Auch hinsichtlich der Kleidung war die Bande auffallend uneinheitlich. Etliche von ihnen trugen zerlumpte Uniformen aus aller Herren Länder, andere waren von Kopf bis Fuß in feinstem Leder gekleidet, und wieder andere sahen aus, als hätten sie ihre armselige und verlotterte Bettlerkleidung seit Jahren nicht mehr ausgezogen.

So unterschiedlich das Alter, die Herkunft und die Bekleidung auch waren, allen Männern gleich war die ruhige und abwartende Haltung, die sie an den Tag legten. Eine angespannte Ruhe schien zwischen ihnen zu herrschen, sie gaben sich der Muße hin und wirkten doch so, als wären sie abmarschbereit und könnten im nächsten Moment Gewehr bei Fuß stehen. In meiner Phantasie hatte ich mir eine Räuberbande stets als lärmende und sich beständig prügelnde Meute vorgestellt, ich hatte geglaubt, alle Räuber seien grobschlächtige und kulturlose Kerle, die unentwegt stritten, sich betranken, miteinander keilten und alles zerstörten, was ihnen in die Hände kam. Was ich nun jedoch in der Schenke sah, entsprach so gar nicht diesem Bild. Ihr Aussehen war sicherlich seltsam und vielleicht auch ein wenig furchteinflößend, aber ihr Auftreten und Betragen war tadellos. Sie grölten nicht beim Skatspiel, sie kämpften nicht ums Bier, sie flegelten sich nicht auf den Bänken und Tischen herum, und von einer Zerstörungswut war auch nicht das geringste zu erkennen. Die Horde benahm sich gesittet und behandelte, wie es schien, auch die Müllerin mit Respekt. Die Bande von Gesetzlosen verhielt sich beinahe so, als wären sie lediglich zahlende Gäste in einem Wirtshaus. Entweder waren sie des Lärmens müde, oder ihr Hauptmann hatte ihnen militärische Disziplin eingebläut.

»Jeder führt seinen eigenen Krieg«, fielen mir Bernhards Worte ein. Und den Hauptmann hatte er mit »mon capitaine« angesprochen. Simon Bosbeck schien seine Mannen wie einen Soldatentrupp zu führen. Die Brabanter Bande war keineswegs ein wild zusammengewürfelter und kopflos durch die Gegend rennender Haufen, sondern eine militärisch gedrillte Kompanie.

Eine Hand fuhr mir plötzlich vor das Gesicht. Jedenfalls hatte ich für einen kurzen Moment diesen Eindruck. In Wirklichkeit jedoch griff die Hand zu dem steinernen Bierkrug auf dem Fenstersims und zog ihn weg. Der Vorhang fiel wieder zur Seite, und mir war die Sicht in die Stube versperrt.

So kurz und flüchtig mein Blick auf die Räuber auch gewesen war, war ich mir dennoch gewiss, dass sich weder Bernhard Lanvermann noch der Hauptmann oder der junge Kober-Jackel in der Wirtsstube aufgehalten hatten. Auch die abfälligen Bemerkungen des Räubers Hannemann über den Chef und den Flessener ließen darauf schließen, dass sie sich zurückgezogen hatten. Wo aber waren sie? Und warum hielten sie sich von der Truppe fern?

Vom Müller und seinen beiden Söhnen war ebenfalls nichts zu sehen gewesen. Lediglich die Müllerin hatte hinter der Theke gestanden und war den Räubern zu Diensten gewesen. Ob man die Männer irgendwo gefangen hielt? Oder hatten die Räuber sie gar ermordet? Ich zwang mich, nicht länger über diese schrecklichen Dinge nachzudenken, und kroch zurück zur Anlegestelle und von dort um das Wirtshaus herum.

Als ich mich am Wasser entlangschlich, bemerkte ich die zuckenden Blitze, die am Horizont niedergingen und für Bruchteile von Sekunden den Himmel erhellten. Der Schattenriss des Ahlbecker Kirchturms war einen Moment lang in der Ferne zu sehen, bevor die Dunkelheit sich wieder wie ein schwarzes Tuch über das Land legte. Der Donner folgte den Blitzen nach einigen Sekunden, das Zentrum des Gewitters war noch eine gute Meile entfernt. Die feuchte Schwüle hatte in der Zwischenzeit merklich zugenommen, die Luft stand nun regelrecht still, kein Wind regte sich mehr. Der Sturm war vorüber, alles wartete auf das erlösende Gewitter.

Das Wirtshaus war auf der nördlichen Seite von der Mühle und dem schwarzen Kolk umgeben und auf der südlichen von morastigen Sumpfwiesen, auf denen sich die Brachvögel und Schnepfen im hohen Gras tummelten und sich durch ihre lauten Flötentöne bemerkbar machten. In der Ferne hörte ich das dumpfe Bellen eines Hundes. Dann war plötzlich Stille.

Ich erreichte die Rückseite der Schenke und horchte angestrengt nach irgendwelchen Lauten. Aus den Stallungen, die sich hinter dem Wirtshaus befanden, war das leise Wiehern und aufgeregte Trappeln mehrerer Pferde zu hören, das ferne Donnergrollen schien die Tiere unruhig werden zu lassen. Ich wandte mich dem Haus zu und hörte mit einem Mal aufgeregte Stimmen aus dem Bereich des Kottens, welcher dem Müller als Wohnstube diente. Eine hitzige Debatte schien im Gange zu sein, und es fiel mir nicht schwer, die Stimme des Kober-Jackels zu erkennen. Sein harter südländischer Akzent war unverkennbar.

»Verstehst du denn nicht, Simon«, rief er, »die Blechköpfe sind uns auf der Spur! Wenn wir nicht schleunigst verschwinden, dann werden wir alle ins Gebirge gehen. Wir haben es hier mit einer ganzen Landsturmkompanie zu tun, und das einzige, was uns übrig bleibt, ist auf der Stelle ins Wasserland zu flitzen! Oder bist du etwa lebensmüde geworden?«

Auf der Rückseite des Hauses befanden sich drei kleine, mit Butzenscheiben versehene Fenster, zwei davon waren geschlossen und dunkel, das dritte jedoch, das Fenster zur Küche, war geöffnet und von innen matt erleuchtet. Ein Vorhang aus weißem Leinen war vorgezogen, auf dem sich die Schattenrisse mehrerer Männer abzeichneten. Zwar konnte ich nicht genau erkennen, was sich im Inneren der Stube abspielte, aber wenn ich mich nah genug heranwagte, bot mir das geöffnete Fenster zumindest die Möglichkeit, das Gespräch Wort für Wort zu verfolgen.

»Der Flessener behauptet etwas anderes«, erklang in diesem Moment eine zweite, vergleichsweise ruhige Stimme. Es war die des Hauptmannes, des Mannes in der weißen Gardeuniform. Wieder bemerkte ich das seltsame Zischeln seiner Stimme, aber jetzt, da ich ihm so nahe war, erkannte ich, dass er nicht lispelte, sondern mit holländischem Akzent sprach. Der Hauptmann fuhr in sachlichem Ton fort: »Was unser Freund vorgetragen hat, klang für meine Ohren nicht unglaubwürdig.«

»Wem traust du mehr?«, ereiferte sich der Kober-Jackel. »Einem Baldower, der dir schon seit Jahren treu zu Diensten ist oder einem dahergelaufenen Kaffer, von dem kein Mensch weiß, was er eigentlich mit alldem zu schaffen hat?! Glaubst du vielleicht, ich will dich betuppen?«

»Ich behaupte ja gar nicht, dass du die Unwahrheit sagst«, mischte sich nun Bernhard beschwichtigend ein. »Ich sage lediglich, dass das, was du herausbaldowert hast, nicht das bedeutet, was du denkst.«

»Komm mir bloß nicht mit irgendwelchen Haarspaltereien. Behalte deinen Stuss lieber für dich! Ich kann doch eins und eins zusammenzählen!«, schrie der Baldower. »Ein Kober-Jackel ist schließlich kein Dummkopf!« Es entstand eine gefährliche Pause, und dann fügte er hinzu: »Oder willst du das etwa behaupten? Hältst du mich für eine Flöte?«

»Ein Dummkopf bist du ganz gewiss nicht«, entgegnete Bernhard sehr ruhig, aber zugleich bestimmt. »Ich behaupte lediglich, dass du dich irrst. Das hat mit Dummheit nichts zu tun. Ich habe verlässliche Informationen, die dir nicht zur Verfügung stehen, und die besagen, dass der Amtmann nicht die geringste Ahnung hat, dass wir uns überhaupt in Ahlbeck aufhalten.«

»Und warum lässt der Schankler dann den gesamten Landsturm aufstellen? Kannst du mir das vielleicht erklären?«

»Er ist hinter einigen Deserteuren her«, antwortete Bernhard. »Etwa ein Dutzend Bauernlümmel sind vor der Landwehr getürmt und verstecken sich nun im Dorf.«

»Und für die paar Schimmler braucht er eine ganze Kompanie?«, entgegnete der andere höhnisch. »Das glaubst du doch selbst nicht!«

Es herrschte plötzlich eine merkwürdige Stille im Raum. Keiner der drei Männer sagte ein Wort. Schließlich jedoch meldete sich der Hauptmann und fragte: »Nun, Flessener, was sagst du dazu? Der Einwand von Jackel ist durchaus berechtigt. Das klingt nicht sehr logisch.«

Wieder folgte eine lange Pause, und dann setzte Bernhard zu sprechen an: »Ich bin mir absolut gewiss, dass der Amtmann morgen mit all seinen Mannen in Ahlbeck einziehen wird, um die Fahnenflüchtigen festzusetzen. Daran kann für mich überhaupt kein Zweifel bestehen. Wenn es überhaupt einen günstigen Zeitpunkt für unsere Unternehmung geben kann, dann ist es die Mittagszeit des morgigen Karfreitag!«

Ein plötzlicher und ohrenbetäubender Krach ließ mich zusammen- und herumfahren. Der ganze Himmel war kurzzeitig von einem gleißenden Licht erfüllt. Ein gewaltiger Blitz war nicht weit von dem Wirtshaus entfernt mit Getöse in den Boden eingeschlagen und hatte die Erde erzittern lassen. Das Echo des Donners hallte noch in meinen Ohren nach. Ich hatte mich derart auf das Gespräch der Räuber konzentriert, dass ich von dem aufkommenden Gewitter kaum etwas mitbekommen hatte. Bereits vor einigen Minuten hatte es leicht zu tröpfeln angefangen, nun aber prasselte mit einem Mal ein fürchterlicher Platzregen hernieder, das Wasser kam wie aus Kübeln vom Himmel geschüttet. Wahre Sturzbäche ergossen sich zu Boden. Binnen weniger Sekunden war ich bis auf die Haut durchnässt und stand mit meinen Holzpantinen bis zu den Knöcheln im aufgewühlten Schlamm. Um bei dem Krachen der Blitze und dem Rauschen des Regens überhaupt noch etwas von dem Streit in der Stube verstehen zu können, ging ich noch näher ans Fenster heran und hielt mein Ohr beinahe zur Öffnung hinein. Zum Glück schienen sich die Männer in dem Haus nicht im Geringsten für das Unwetter zu interessieren. Keiner kam auf die Idee, das Fenster zu schließen.

»Ich glaube dir kein Wort«, beharrte der Kober-Jackel. »Und wenn du denkst, dass du mich wie einen dummen Jungen an der Nase herumführen kannst, dann hast du dich aber mit dem Messer geschnitten. Wegen dir werde ich nicht ins Gebirge gehen. Und was soll überhaupt dieses alberne Gerede von deiner Mischpoke? Was kümmert mich dein verdammter Bruder? Wenn du dich rächen willst, warum tust du es dann nicht einfach? Was brauchst du uns dazu?« Er lachte laut und abfällig und setzte frohlockend hinzu: »Bist ein Federnhändler, was?«

»Ich verstehe kein Wort von deinem Geschwätz«, erwiderte der Flessener mürrisch. »Was, zum Henker, ist ein Federnhändler?«

»Ein Angsthase«, rief der Kober-Jackel, »ein lausiger Angsthase bist du!« Wieder lachte er und fügte hinzu: »Und wenn du in unserer Bande bleiben willst, dann solltest du auch unsere Sprache sprechen können.«

»Ich mache, was ich will«, antwortete Bernhard, und plötzlich klang seine Stimme gar nicht mehr versöhnlich. »Merk dir das, mein Junge. Von einem halbgaren Bürschchen lass ich mir schon gar nichts erzählen.«

Ich konnte nicht sehen, was sich zwischen den beiden in der folgenden Pause abspielte, aber ich stellte mir vor, wie sie sich mit drohenden Blicken bedachten und maßen.

»Drohst du mir etwa?«, fauchte Jackel schließlich und brach als erster das Schweigen. »Pass auf, was du sagst, sonst blüht dir was!«

»Warum lassen wir das nicht einfach den Hauptmann entscheiden?«, antwortete Bernhard und räusperte sich. »Wo steckt Simon eigentlich die ganze Zeit? Wieso ist er plötzlich verschwunden?«

»Vielleicht hat er eine schwache Blase«, erwiderte der Baldower und lachte dreckig. »In seinem Alter soll das schon mal vorkommen.«

»Das habe ich genau gehört, mein lieber Jackel«, erklang in diesem Moment die Stimme des Hauptmannes. Aber sie kam nicht aus dem Zimmer, sondern posaunte mir direkt ins linke Ohr. Ich fuhr zusammen und sah den Mann in der weißen Uniform unmittelbar vor mir stehen. Er ging mir nur bis zur Nase, machte aber machte die fehlende Größe mit einem mächtigen Oberkörper und zwei kräftigen Armen wett. Er packte mich mit der Rechten am Kragen und riss mit der Linken den Vorhang zur Seite.

Durch das Fenster sahen mich der Flessener und der Kober-Jackel mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ein Spitzel!«, rief der Baldower. »Ein verdammter Spitzel!«

»Und ein ganz dummer obendrein«, fügte der Hauptmann grinsend hinzu. »Stellt sich bei einem Gewitter vors Fenster, ohne darauf zu achten, dass bei den Blitzen sein Schatten auf den Vorhang fällt. Du musst noch viel lernen, mein Kleiner, aber ich befürchte, dafür wirst du keine Zeit mehr haben.« Er zückte eine Pistole, hielt mir die Mündung an die Schläfe und setzte auf holländisch hinzu: »Vaarwel, mijn jonge!«

»Jeremias!«, war alles, was Bernhard über die Lippen brachte. »Was treibst du denn hier?«

Simon Bosbeck sah ihn überrascht an und fragte: »Du kennst diesen Burschen?«

Bernhard nickte und sagte: »Jackel hat ganz recht, er ist ein Spitzel. Genauer gesagt: Er ist mein Baldower.« Er lachte abfällig und setzte hinzu: »Jeremias ist einer der Deserteure, von denen ich eben sprach.«

»Sieh mal einer an, ein Schimmler«, entgegnete Bosbeck und nahm die Mündung seiner Pistole von meinem Kopf. »Der Bursche fängt an, mich zu interessieren.« Er schenkte mir ein katzenfreundliches Lächeln und schüttelte ein wenig ungläubig den kugelrunden Kopf, auf dem nun statt der Pelzmütze ein schmuckloser Dreispitz saß. Als ich den Hauptmann am gestrigen Abend aus der Ferne gesehen hatte, da war er mir nur wie ein kleiner dicker Mann mit Brille und weißer Uniform erschienen. Jetzt aber, da ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, machte er ungleich mehr Eindruck auf mich. Es war nicht allein sein massiger Körper und der große Umfang seines gedrungenen Leibes, es war vielmehr sein durchdringender Blick und die ruhige und gefasste Art zu sprechen, die mich geradezu vor Ehrfurcht erstarren ließ. Wenn er redete, neigte er den Kopf leicht nach vorne und schaute mich über den Rand seiner Brille hinweg an. Dem äußeren Erscheinen nach war er weit über sechzig Jahre alt, darauf deutete vor allem das schlohweiße Haar hin, das zu einem Zopf gebunden unter seinem Hut hervorschaute, aber gleichwohl strahlte er eine ungeheure Energie und Autorität aus. Ohne mir recht darüber klar zu sein, hing ich ihm an den Lippen und stierte ihm ins fleischige und bartlose Gesicht wie ein kleiner Junge, der zu einem Idol aufblickt.

»Ist das wahr, mein Kleiner?«, wandte sich der Räuberhauptmann an mich. »Gehörst du zum Flessener?«

Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, aber ich spuckte zu Boden und rief: »Eher würde ich krepieren, als mit dem Lanvermann unter einer Decke zu stecken! Nie und nimmer gehöre ich zu dem da!«

»Oho!«, sagte der Hauptmann belustigt. »Der Schimmler scheint wenig Bammel zu haben. Nimmst den Mund ein wenig voll, mein Guter!«

»Spiel hier nicht den Querkopf!«, fuhr mich der Flessener an. »Denk lieber daran, dass dein Leben von meinem Wort abhängt.«

»Auf Euer Wort ist ohnehin kein Verlass!«, erwiderte ich ungerührt und wusste zugleich, dass ich mich um Kopf und Kragen redete. »Ihr lügt doch, wenn Ihr den Mund aufmacht!«

»Wollten wir uns nicht duzen?«, wandte Bernhard kopfschüttelnd ein und lachte gezwungen. »Was, um alles in der Welt, ist denn in dich gefahren?«

»Das wisst Ihr ganz genau!«, schrie ich ihn an. »›Man sollte sich darüber im Klaren sein, wenn man verloren hat!‹ Waren das nicht Eure Worte? Und wie habt Ihr gemeint: ›Von mir aus kann der Amtmann mit seinem Landsturm die Räuber mit Sack und Pack verhaften und an den Galgen bringen. Ich werde ihnen keine Träne nachweinen!‹ Pah!« Mehr für mich als für die anderen setzte ich flüsternd hinzu: »Und ich Dämlack habe Euch auch noch geglaubt.«

»Was machen wir denn nun mit ihm?«, fragte der Hauptmann und wandte sich grinsend an Bernhard, indem er wieder über den Rand seiner Brille hinwegschaute. »Dein Wort zählt, Flessener!« Er sprach diese Worte ganz beiläufig und scheinbar ohne jeden Hintersinn, als hätte er meine Tirade gar nicht wahrgenommen, und dennoch fühlte ich im gleichen Augenblick, dass er den Lanvermann auf die Probe stellte.

Auch Bernhard schien dies zu bemerken, er wurde kreidebleich im Gesicht und bemühte sich um eine unbeteiligte Miene, als er sagte: »Mach mit ihm, was du willst. Meinetwegen stich ihn ab oder jag ihm eine Kugel in den Kopf. Wir haben die Informationen, die wir benötigen, und brauchen den Kaffer nicht mehr.«

»Mit dem größten Vergnügen«, mischte sich nun der Kober-Jackel ein und machte sich bereits an seinem breiten Gürtel zu schaffen, um einen hübsch ziselierten Dolch herauszuziehen. »Lass mich ihn abmecken!«

Der Hauptmann ließ den Baldower mit einer Handbewegung innehalten und sagte: »Einen Moment noch!« Er legte den Kopf auf die Seite, kniff ein Auge zu und leckte sich die Lippen. Schließlich hob er entschuldigend die Achsel und schaute zwischen Bernhard und mir hin und her. Dann hob er die Pistole, lächelte mir ins Gesicht und sagte: »Du hast ja gehört, was der Flessener gesagt hat. Er hat für dich keine Verwendung mehr.« Er schnaufte verächtlich, kniff erneut die Augen zusammen und setzte hinzu: »Andererseits …«

»Wenn Ihr glaubt, dass ich Euch um mein Leben anbettele, dann habt Ihr Euch mit dem Messer geschnitten«, sagte ich und meinte es sogar. Ich ärgerte mich dermaßen über mich selbst, dass ich wahrhaftig am liebsten gestorben wäre. Bernhard Lanvermann hatte mich wie einen dummen Jungen benutzt, und ich Blödian war ihm gleich zweimal ein unwissender Helfer gewesen. Einerseits hatte ich ihm als Spitzel auf dem Schulzenhof gedient, andererseits hatte ich ihm mit meinem Bericht über den Landsturm jene Gelegenheit geboten, auf die er schon seit zwei Jahren sehnlichst wartete: Rache zu nehmen! Denn das war der Grund, warum die Räuber sich in der Mühle verschanzten – sie hatten es auf den Schulzenhof abgesehen! Deshalb hatte er sich der Bande angeschlossen. Die Beute war ihm unwichtig, es ging ihm um den Bruder.

All dies schoss mir mit einem Mal durch den Kopf, und ich wäre gern vor Scham im Boden versunken. Doch gleichzeitig meldete sich mein Stolz und bäuerlicher Dickkopf, und ich fauchte: »Bringt mich doch um! Ihr habt ja keine Ahnung, wie wenig mir am Leben liegt!«

Simon Bosbeck sah mir erstaunt ins Gesicht, kniff die Augen zusammen und wandte sich schließlich an seinen Baldower: »Schaff mir ein Seil herbei, Jackel!«

»Ein gute Idee«, rief dieser erfreut. »Wir knüpfen ihn am nächsten Baum auf, da wird er sein großspuriges Gerede bald bereuen!«

»Red keinen Stuss!«, entgegnete der Hauptmann unwirsch. »Du wirst ihn fesseln und zu den anderen in die Mühle schaffen.« Als er sah, dass der Kober-Jackel etwas erwidern wollte, fuhr er ihn an: »Wird’s bald?!«

»Simon, ich weiß …«, wollte der Flessener zu sprechen ansetzen, doch der Räuber fuhr ihm über den Mund.

»Du hältst fürs Erste den Rand!«, rief er ungnädig. »Und wenn wir mit diesem Rob hier fertig sind«, er deutete dabei auch mich, »dann haben wir ein ernstes Wort miteinander zu reden! Mir scheint, es gibt in unserer Truppe zu viele Eigenmächtigkeiten, und das will mir nicht gefallen.« Er schüttelte den massigen Kopf und wiederholte: »Das will mir ganz und gar nicht gefallen! Godverdoemd!«

Mir wurden vom Kober-Jackel die Hände auf dem Rücken verschnürt. Als er dabei die Kette an meinem Hals sah, fingerte er das Medaillon unter dem Hemd hervor, pfiff durch die Zähne und nahm den Anhänger in die Hand. »Sieh mal einer an«, sagte er und grinste abfällig. »Eine Mutter Gottes, wie niedlich! Wir scheinen es hier mit einem braven Katholiken zu tun zu haben.« Er wollte mir das Medaillon samt Kette vom Hals reißen, doch erneut wurde er vom Hauptmann zurückgehalten.

»Lass ihm den Tand!«, rief Bosbeck. »Bei mir kann jeder glauben, was er will. Und wenn es noch so unsinnig ist. Wir sind schließlich keine gottlosen Barbaren.« Er spuckte bei dem letzten Wort zu Boden.

»Hört euch den alten Juden an«, erwiderte Jackel kopfschüttelnd.

»Die Kette ist nichts wert«, erklärte der Hauptmann sachlich, aber merkbar gereizt. »Was willst du also mit dem unnützen Kram?«

Kober-Jackel griente verschlagen, legte mir das Medaillon sorgsam über das Hemd und wischte dann mit seinem Ärmel auf dem Glasdeckelchen herum, als wollte er es polieren. »Bete schön, mein Kleiner«, sagte er und kniff mir dabei in die Wange. »Auch wenn ich bezweifle, dass es dir was nützt!«

Er bedachte mich mit einem spöttischen und zugleich drohenden Blick, lachte plötzlich lauthals und führte mich ab.

6

Wir betraten die Mühle durch den ebenerdigen Haupteingang unter dem fürstbischöflichen Wappen. Kober-Jackel, der mittlerweile ebenfalls bis auf die Haut nass geregnet war und deswegen unentwegt fluchte, sperrte die schwere Eichentür auf und stieß mich durch die niedrige Öffnung ins Innere. In der Mühle war es dunkel und stickig, es roch modrig und nach Schimmel, Mehlstaub hing in der Luft und verursachte ein Kratzen in der Lunge.

»Sapperlot!«, rief der Räuber und schloss die Tür. »Hier drinnen riecht es ja wie im Grab!« Er lachte höhnisch über seinen Witz und schlug mir kräftig auf die Schultern. »Aber so mutig und verwegen, wie du bist, wirst du dich gewiss nicht fürchten!« Wieder lachte er und kniff mir in die Wange.

»Fahr zur Hölle!«, zischte ich leise und versuchte, mich in der Mühle umzuschauen. Nachdem ich mich leidlich an das diffuse und schummrige Licht, das durch drei kleine Fenster auf der Nordseite hereindrang, gewöhnt hatte, konnte ich im hinteren Teil des Raumes die drei Mahlgänge der Mühle erkennen. Jeder dieser Mahlgänge bestand aus einem hölzernen Korntrichter, zwei großen Mühlsteinen, die von einem Holzgehäuse eingefasst waren, und einer senkrechten Antriebsachse, die mit dem oberen dieser Steine verbunden war. Die Achse war oberhalb des Mahlganges mit einem Zahnrad versehen, das mittels eines Hebels in eines der beiden riesigen Kammräder unterhalb der niedrigen Decke eingerastet werden konnte. Diese mehr als mannsgroßen Kammräder gehörten zur sogenannten Königswelle, der mächtigen Hauptantriebsachse, die durch den Boden in den Keller führte und dort – wiederum über ein Kammrad – durch die Mühlräder angetrieben wurde. Da die Schleuse geschlossen war und sich daher die Mühlräder nicht drehten, standen auch die Zahnräder im Inneren der Mühle still. Das sonst so gefräßige Mühlentier mit seinen trichterförmigen Schlünden, seinen Zähnen aus Holz, den knarrenden Gelenken und knirschenden Kiefern aus Stein schien noch zu schlummern. Ich fühlte mich wie ein Knochen, dem man einem schlafenden, aber ausgehungerten Köter vor die Nase wirft. Ich wartete darauf, verschluckt und verspeist zu werden.

Das Gewitter war mittlerweile nach Norden über uns hinweggezogen, und die Blitze entluden sich auf der holländischen Seite der Grenze. Als gleich eine ganze Reihe solcher Blitze hintereinander den Himmel erleuchtete, war auch der Mühlraum für einige wenige Sekunden von gleißendem Licht erfüllt, und die zahlreichen Zahnräder und Antriebswellen warfen gespenstische Schatten in den hinteren Teil des Raumes. Im gleichen Moment sah ich die beiden Müllergesellen, die Söhne des Kolkmüllers, in der Ecke auf dem Boden kauern. Sie hatten die Hände hinter dem Rücken verschnürt und waren mit Oberkörper und Füßen an den hölzernen Mühlsteineinfassungen festgebunden, sodass sie sich weder drehen noch wenden konnten. Ihre Münder waren geknebelt, und man hatte sie so gesetzt, dass sie sich nicht mit Blicken verständigen konnten. Einer der beiden, ein stämmiger Bursche von vielleicht dreißig Jahren, wandte seinen Kopf in unsere Richtung und schaute mich mit geradezu flehentlichem Blick an. Als er sah, dass auch meine Hände gefesselt waren, ließ er den Kopf sinken und starrte missmutig zu Boden.

»Hübsch verpackt, nicht wahr?!«, rief mir der Kober-Jackel munter zu. »Und für dich, kleiner Kaffer, werden wir auch noch ein hübsches Plätzchen finden!« Er schubste mich zu einer Falltür im Fußboden, schob zwei eiserne Riegel zur Seite und klappte die Tür hoch. »Los! Scher dich runter!«, befahl er und stieß mir, als ich halb die wackelige und ausgetretene Treppe hinuntergegangen war, seinen Stiefel in den Rücken, sodass ich den Halt verlor und kopfüber in den Keller stürzte.

»Weiche Knie, was?!« Er lachte schallend und folgte mir ins Untergeschoss der Mühle. »Kein Wunder. Ich an deiner Stelle würde mir vor Bammel in die Hose machen. Du hast nämlich allen Grund dazu.«

Im Keller war der Modergeruch beinahe unerträglich. Es roch derart nach morschem Holz und schimmligen Wänden, dass ich mir am liebsten die Nase zugehalten hätte, wenn mir dies möglich gewesen wäre. Es war völlig finster hier unten, es gab weder offene Fenster noch Luken, und wäre durch die Falltür nicht ein wenig Licht hereingedrungen, ich hätte wohl auch den Kolkmüller nicht bemerkt. Er war wie seine Söhne an Händen und Füßen gefesselt, hatte aber – anders als diese – keinen Knebel im Mund. Die Räuber hatten ihn an einem Eichenpfosten angebunden, der als Stütze für eine der Mehlrutschen diente. Auf diesen Rutschen gelangte das gemahlene Korn unmittelbar von den Mahlgängen in den Keller, um dort in Säcken verpackt zu werden. Der Müller saß direkt unter der schweren hölzernen Rutsche, sie schwebte geradezu über seinem Kopf, wie ein Damoklesschwert.

Während ich mich mühsam aufrappelte und mir dabei das Blut aus der aufgeschlagenen Nase lief, stierte der Müller zu uns herüber und rief: »Was wollt ihr denn noch von mir?! Ich habe euch doch gesagt, dass bei mir nichts zu holen ist! Glaubt mir doch endlich!« In unnützem und verzweifeltem Eifer zerrte er an seinen Fesseln, die aber offensichtlich keinen Zoll nachgaben.

»Halt’s Maul, Rollfetzer!«, blaffte ihn der Räuber an. »Oder soll ich dich noch mal Mores lehren?!«

Das Gesicht des Müllers sah arg geschunden aus, eine Augenbraue war aufgeplatzt und das Auge darunter blau angelaufen. Getrocknetes Blut war unter seiner Nase und in seinem Mundwinkel zu erkennen, und die Wangen waren verschrammt. Er war etwa im gleichen Alter wie mein Vater, aber die ständige Arbeit in der ungesunden Luft der Mühle hatte ihn frühzeitig altern lassen, seine kurz geschorenen Haare waren mausgrau und die Wangen eingefallen wie bei einem Totenschädel. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, vor allem aber war es von einer regelrechten Leichenblässe. Vielleicht lag dies aber auch an dem milchig trüben Licht, das durch die Deckenluke fiel.

Der Müller stemmte sich ein letztes Mal gegen den Balken, an dem man ihn gefesselt hatte, und für einen kurzen Augenblick hatte ich den Eindruck, als hätte sich der Pfosten bewegt und es leicht im Gebälk geknarrt. Schließlich jedoch gab der Kolkmüller das unsinnige Gezerre an den Fesseln auf, seufzte kraftlos und fragte: »Geht es mir jetzt an den Kragen? Sag schon, Ungar, was für eine Gemeinheit hast du nun wieder mit mir vor?«

»Mein Name ist Kober-Jackel«, erwiderte der schmierige Bandit, »und diesen Namen kannst du dir ruhig merken, er wird dir noch häufig begegnen.« Er strich sich über den gezwirbelten Schnauz und lachte abfällig. »Und ich habe nichts dergleichen mit dir vor, mein Guter«, setzte er grinsend hinzu. »Ich habe dir lediglich ein wenig Gesellschaft gebracht, damit du dich im Dustern nicht langweilst.« Er stieß mich wieder zu Boden, zerrte mich quer durch den Keller, holte schließlich ein langes Seil hervor und fesselte mich dem Müller gegenüber an einer Holzstrebe, die Teil der Rahmenkonstruktion war, mit der das riesige Kammrad unter der Decke befestigt war. Ich saß nun unmittelbar unter dem Zahnrad und gleich neben der eisernen Antriebsachse, die zu den äußeren Mühlrädern führte. Ich war im Bauch der Mühle angelangt, wie einst Jonas im Wal. Allerdings machte ich mir wenig Hoffnung, wie jener einfach und unbeschadet wieder ausgespien zu werden.

Als der Kober-Jackel sein Werk verrichtet und die Fesseln überprüft hatte, grüßte er spöttisch, wünschte uns viel Vergnügen und verließ gut gelaunt und munter pfeifend das Untergeschoss. Die Falltür knallte zu, die beiden Riegel wurden vorgeschoben, und ich saß mit dem Müller allein in pechschwarzer Dunkelheit.

»Wer bist du?«, hörte ich den Müller fragen. »Und was treibst du hier?«

Ich erzählte ihm in verkürzter Form, wer ich war und wie ich hierher geraten war. Ich berichtete von der Brabanter Bande, von dem Räuberhauptmann Bosbeck und dem ehemaligen Dorfschulzen Lanvermann.

»Bernhard?«, rief der Müller. »Lanvermann ist wieder in Ahlbeck? Bist du dir dessen gewiss?« Seine Stimme klang sehr aufgeregt, und nervös setzte er hinzu: »Er ist also jetzt unter die Räuber gegangen? Ich habe ihn gar nicht bei der Bande gesehen.«

»Er hat die Räuber nach Ahlbeck geführt, um sich an seinem Bruder zu rächen.« Ich erzählte ihm von meinem Zusammentreffen mit dem Flessener und von dessen Worte, die ich vorhin am Küchenfenster aufgeschnappt hatte. Allerdings überging ich die unglückliche Rolle, die ich als sein Spitzel auf dem Schulzenhof gespielt hatte.

»Dass er die Stirn hat, einfach so zurückzukehren«, murmelte der Müller und seufzte nachdenklich. »Nach allem, was geschehen ist!« Plötzlich jedoch schrak er aus seinen Gedanken auf und fragte: »Hast du meine Frau und die Söhne gesehen? Geht es ihnen gut?«

»Die Müllerin ist im Wirtshaus und bedient die Räuber. Sie wirkt ein wenig verängstigt, aber es scheint, als hätte man ihr kein Leid angetan. Die Banditen benehmen sich auffallend ruhig und erstaunlich gesittet.«

»Und meine Jungs?«

»Die sitzen direkt über uns an den Mahlgängen, sie sind verschnürt und geknebelt, deshalb können sie sich nicht bemerkbar machen. Aber die Räuber haben den beiden nicht so übel mitgespielt wie Euch.«

Er schwieg, und ich hatte Zeit mich in dem Raum ein wenig umzuschauen. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich die Gegenstände im Keller schemenhaft ausmachen, es war zu dunkel, um wirklich etwas im Detail zu erkennen, aber von irgendwoher schien der Schimmer eines Lichtstrahls einzudringen.

»Gibt es hier keine Fenster?«, fragte ich. »Warum ist es so finster?«

»Es gibt zwei kleine Luken, die eine nach Norden hin, in Richtung des unteren Mühlteichs, die andere über den Mühlrädern, aber beide sind verriegelt, weil das Gesindel es lustig fand, mich in der Dunkelheit einzusperren. Ich habe mich dummerweise allzu heftig gewehrt, als sie mich hierher geschleift haben, und das haben sie mir übelgenommen.«

»Warum sind wir nicht geknebelt? Könnten wir nicht um Hilfe rufen?«

Als Antwort lachte er aus vollem Halse und rief: »Wir sitzen weit unterhalb der Straße, mein Junge, etwa auf Höhe des Mühlwehrs, um uns herum sind riesige Sandsteinquader, über uns eine doppelt gezimmerte Eichendecke. Warum sollten sie uns knebeln? Wir könnten uns die Lungen aus dem Leib schreien, kein Mensch würde uns draußen hören. Du wirst bald merken, dass es hier drinnen so still wie in einem Grab ist. Kein Mucks dringt durch diese Wände.« Wieder seufzte er tief und fügte dann hinzu: »Und wer sollte uns wohl hören? Um diese Zeit verirrt sich kein Mensch mehr her.«

»Das ist auch der Grund, warum sie sich die Mühle als Unterschlupf ausgesucht haben«, erwiderte ich. »Sie liegt weit ab vom Dorf, aber nahe am Schulzenhof. Günstiger könnten es die Schufte gar nicht treffen. Wann sind sie hier eingetroffen?«

»Dieser aufgeplusterte Gockel, der dich hergebracht hat, ist schon seit einigen Tagen da, vermutlich als eine Art Vorhut. Er hat sich ein Zimmer im Gasthof gemietet und behauptet, er sei ein Dichter und auf der Suche nach hübschen Schauplätzen für eine kleine Schauernovelle.«

»Ausgerechnet!«

»Gestern Abend, kurz nach Sonnenuntergang, tauchte dann eine Handvoll Reiter auf«, fuhr der Müller fort. »Sie trugen allesamt Uniform und erzählten, sie seien nur auf der Durchreise und auf dem Weg nach Deventer, um sich dort irgendwelchen Truppen anzuschließen. Sie haben allerlei Fragen gestellt, und als sie sichergehen konnten, dass außer uns kein Mensch auf dem Gelände war, zückten sie plötzlich ihre Pistolen und Degen und nahmen uns gefangen. Es ging alles pfeilschnell, mit einem Mal waren überall bewaffnete Kerle, und wir saßen wie die Mäuse in der Falle.«

»Und seitdem warten die Banditen auf den geeigneten Zeitpunkt für den Überfall!«, rief ich aus. »Sie werden bis morgen Mittag warten und zuschlagen, sobald die Männer sich zur Kreuzwegprozession nach Altheim aufgemacht haben!« Mit Schrecken dachte ich daran, was sich zur gleichen Zeit im Dorf abspielen würde. Auch dort würde es zu einem Überfall kommen!

»Bist du sicher, dass sie es auf den Schulzen abgesehen haben?«, fragte er ungläubig. »Bernhard kann doch nicht so dumm sein, ausgerechnet hierher zurückzukommen, wo ihn jeder kennt und sein Leben keinen Pfifferling wert ist. Wenn ihm irgendein Bekannter über den Weg läuft, hängt er prompt am nächsten Galgen.«

»Er ist vielleicht nicht dumm, aber gewiss sehr rachsüchtig. Er hat noch eine Rechnung offen. Und um nicht auf dem Galgenbülten zu enden, hat er sich den Räubern angeschlossen.«

Der Müller gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden, er brummte etwas Unverständliches und fragte: »Aber warum sollte er sich rächen wollen? Wofür denn? Und an wem? Das will mir nicht einleuchten!«

Ich erzählte ihm, was der Flessener mir von der Mordnacht vor zwei Jahren berichtet hatte und dass er von seinem Bruder in eine Falle gelockt worden sei. »Er behauptet, er sei neben der Leiche seiner Frau aufgewacht, und sein Bruder habe plötzlich vor ihm gestanden und ihn zur Flucht und damit zum Schuldeingeständnis gezwungen. Andernfalls hätte er ihn erschossen.« Wie um diese Worte zu bekräftigen, setzte ich hinzu: »Wusstet Ihr, dass Johann ein Liebesverhältnis mit der Schulzin hatte?«

»Dummes Zeug!«, fuhr mir der Müller über den Mund. »Irmgard hat mit niemandem eine Liebelei gehabt und mit ihrem Schwager schon gar nicht. Sie hat Johann nicht ausstehen können, oft genug hat sie ihn einen hochnäsigen und eingebildeten Pinkel genannt. Nein! Das ist alles ausgemachter Blödsinn.«

Ähnlich erbost hatte auch Bernhard reagiert, als ich ihm von den Gerüchten um die Moorbäuerin berichtet hatte. Und auch bei ihr hatte sich der angebliche »Unsinn« als durchaus wahrscheinlich entpuppt.

»Aber Johann hat nach Bernhards Verschwinden den Hof und das Schulzenamt übernommen«, beharrte ich auf meiner Version. »Sein Leben lang hatte er im Schatten seines älteren Bruders gestanden. Das ist doch ein guter Grund für ein Verbrechen, meint Ihr nicht?«

»Von wegen!«, entgegnete er. »Glaubst du etwa, er hat sich um das Amt gerissen und sich auch nur einen Deut für den Hof interessiert? Johann war doch froh, sich nicht um die bäuerliche Arbeit und den ganzen elenden Papierkram kümmern zu müssen. Er hatte ausreichend Geld, um ein sorgenfreies Leben zu führen, er musste nicht arbeiten und konnte sich nach Lust und Laune um seine Bücher und seine Musik kümmern.«

»Und um seine Malerei«, fügte ich hinzu und dachte an das Bildnis der Moorbäuerin.

»Malerei?«, erwiderte er überrascht. »Davon weiß ich nichts.« Eine kurze Pause entstand, doch dann fuhr er fort: »Wie auch immer, jedenfalls hatte er Weiber genug und es wahrlich nicht nötig, sich an seine Schwägerin heranzumachen. Nein, mein Junge, da bist du auf dem Holzweg. Johann mag ein eitler Geck sein, aber nur um sich Schulze zu nennen, würde er doch nicht seine eigene Schwägerin erdolchen. Dazu fehlt diesem aufgeplusterten Pfau jeglicher Mut und vor allem die Kaltblütigkeit.« Er räusperte sich und fügte hinzu: »Im Übrigen ist Bernhard nicht nur von seinem Bruder auf frischer Tat ertappt, sondern auch bei der Flucht gesehen worden. Hubertus Wessendorf hat ihn mit blutigem Hemd davonrennen sehen. Mir will scheinen, das sind Beweise genug. Oder zumindest ist es glaubwürdiger als das herzergreifende Ammenmärchen, das dieser gerissene Teufel dir weisgemacht hat.«

»Warum aber sollte Bernhard seine Frau umgebracht haben?«, beharrte ich. »Wenn es stimmt, dass Irmgard ihn gar nicht hintergangen hat, dann gab es nicht das geringste Motiv dafür.«

»Vielleicht hat Bernhard sich diese vermeintliche Liebschaft so sehr eingeredet, dass er sie schließlich selbst geglaubt hat. Nach dem Tod von Matthias war er ohnehin nicht ganz bei Trost, ständig hat er Streit angefangen oder sich wie ein Einsiedler vergraben.«

»Matthias?«, fragte ich. »Der Schulzensohn?«

Der Müller nickte. »Er ist kurze Zeit vor dem Mord an Irmgard bei einem Unfall ums Leben gekommen. Bei einem Ausritt ist er einen steilen Abhang hinuntergestürzt.«

»Ich erinnere mich«, erwiderte ich, »der Gaul hat ihn unter sich begraben und zerquetscht. War es nicht so?«

»Ja«, bestätigte der Müller und seufzte. »Matthias war ein merkwürdiger Junge, etwas aus der Art geschlagen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Ich verstand nicht.

»Wie soll ich das erklären«, druckste er herum, »er war irgendwie anders. Zum Beispiel hatte er Angst vor Tieren, vor allem vor Pferden. Das muss man sich mal vorstellen, als Bauernsohn! Um die Ställe hat er immer einen großen Bogen gemacht, am liebsten saß er bei seiner Mutter in der Stube und hat ihr bei der Küchenarbeit zugesehen. Nie hat er das Maul aufbekommen, und wenn man ihn laut ansprach, hat er gezittert wie Espenlaub und sich hinter der Schürze seiner Mutter verkrochen. Ein seltsamer Junge, fürwahr! Bernhard hat den Tod seines Sohnes nie verwinden können und sich in der Folgezeit wie ein Irrsinniger aufgeführt. Vor allem Irmgard hat darunter leiden müssen. Als sei es nicht auch ihr Sohn gewesen!« Mit diesen Worten senkte er den Kopf und schloss die Augen.

Ich musste zugeben, dass mich die Worte des Müllers verwirrt hatten, sie wollten nicht zu dem passen, was ich bislang in Erfahrung gebracht und mir zusammengereimt hatte. Andererseits wiederholte er nur all das, was an Gerüchten und Tratsch im Dorf umging und was von Bernhard gar nicht geleugnet wurde. Alles sprach gegen ihn, niemand glaubte ihm, alle verurteilten ihn und sähen ihn am liebsten am Galgen baumeln. Und vielleicht war dies der Grund, warum ich geneigt war, ihm – trotz aller Lügen, die er mir über die Räuber aufgetischt hatte – bezüglich der Mordnacht zu glauben. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür, es war lediglich ein Gefühl, aber ein sehr bestimmtes Gefühl. Gleichwohl erschütterten die Ausführungen des Müllers das Motiv des jetzigen Schulzen für die Tat. Wenn Johann tatsächlich keinerlei Interesse an der Herrschaft auf dem Schulzenhof gehabt hatte, warum hätte er dann ein so perfides Verbrechen planen sollen? War der »eingebildete Pinkel« Johann überhaupt fähig zu einer solchen Bluttat? Oder war es etwa ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen?

Ein Schnarchen von gegenüber ließ mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Der Müller war eingenickt und ließ pfeifende und sägende Geräusche vernehmen. Wie konnte er nur in dieser Situation schlafen?! Ich selbst zwang mich, die Augen und Ohren offen zu halten und meine aufkommende Müdigkeit zu bekämpfen, damit mir nicht die geringste Kleinigkeit entging. Doch bald schon merkte ich, wie sinnlos dieser Versuch war. Im Keller der Mühle gab es nichts zu hören oder zu sehen, ich war allein mit mir und meinen Gedanken, aber diese drehten sich zunächst sinnlos im Kreis und bewegten sich dann gar nicht mehr von der Stelle. Ich hätte schreien können, aber niemand hätte mich gehört; ich hätte wie der Müller an meinen Fesseln zerren oder Fluchtpläne schmieden können, aber das wäre nichts weiter als kindisch und dumm gewesen. Ich war zur Untätigkeit verdammt, und auch wenn es mir schwerfiel, dies einzusehen: Ich war hilflos.

Vielleicht war es doch ratsam, für einen Moment die Augen zu schließen und Kräfte zu sammeln. Es war ein anstrengender und ereignisreicher Tag gewesen, und woher sollte ich wissen, ob ich nicht in den folgenden Stunden meine ganze Kraft und Geistesgegenwart noch benötigen würde. Langsam, aber unaufhaltsam sickerte der Schlaf in mein Hirn, die Augenlider wurden schwer, und ich nickte schließlich ein.


Vierter Teil

»›Glauben Sie mir bitte nicht jedes Wort, bitte glauben Sie mir niemals ganz, mein Charakter ist eben so zweideutig, ich gebe das zu; nur das möchte ich noch hinzufügen: Ob ich ein niederträchtiger oder ein ehrlicher Mensch bin, das können Sie wohl selbst beurteilen!‹«

Fjodor M. Dostojewski, »Schuld und Sühne«

1

Ein knarrendes Geräusch aus dem oberen Geschoss riss mich aus dem Schlaf. Auch der Müller schien wieder wach zu sein, er räusperte sich, und ich konnte ihn leise murmeln hören. Es hörte sich beinahe an, als betete er.

Es machte zweimal »Klack!« und im nächsten Moment wurde die Falltür geöffnet. Der Schatten eines Mannes kam rückwärts die Treppe herunter. Um die Schulter trug er eine klitschnasse Pelerine, in der rechten Hand hielt er eine Kerze, die er mit der linken vor der Zugluft abschirmte, und als er sich umwandte, erkannte ich den Flessener, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf uns zukam.

»Wohl geruht?«, fragte er gut gelaunt. »Oder war es zu unbequem?«

»Wie spät ist es?«, wollte ich von ihm wissen.

»Kurz vor Sonnenaufgang, noch ist es dunkel draußen.«

»Sonnenaufgang«, murmelte ich überrascht. Ich schien länger geschlafen zu haben, als ich gedacht und beabsichtigt hatte. Der neue Tag hatte bereits begonnen. Der Stille Freitag war angebrochen.

»Jeremias«, sagte er kopfschüttelnd und kam schlurfend auf mich zu. »Das war gestern Abend nicht nett von dir. Deine Worte haben keinen guten Eindruck auf den Hauptmann gemacht! Wie konntest du mich nur so bloßstellen? Das war kein feiner Zug, mein Junge, du hast mich ganz schön ins Schwitzen gebracht.« Er zuckte mit den Achseln und fügte hinzu: »Aber sei’s drum.« Aus den Augenwinkeln schaute er für einen kurzen Moment zum Müller hinüber, nickte leicht und sagte: »Guten Morgen, Jan, so sieht man sich wieder.«

Der Angesprochene reagierte, indem er den Gruß schlicht ignorierte und voller Verachtung auf den Boden spuckte.

»Was wollt Ihr hier?«, blaffte ich den Lanvermann an. »Genügt es nicht, dass wir hier gefesselt sind? Müsst Ihr Euch auch noch über uns lustig machen?«

Bernhard schnaufte ungläubig, legte das nasse Cape ab, stellte die Kerze auf den Boden und setzte sich auf einen Mehlsack, den er aus einer Ecke des Raumes hervorgeholt hatte. »Warum bist du plötzlich so angriffslustig?«, wandte er sich an mich. »Was habe ich dir getan, dass du mich plötzlich behandelst wie einen Strauchdieb?«

»Weil Ihr ein Strauchdieb seid«, antwortete ich. »Und ein gemeiner Lügner. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich zum Narren hält.«

»Was hätte ich denn machen sollen?«, sagte er und nahm seine ebenfalls regennasse Mütze vom Kopf. »Wenn ich dir die Wahrheit gesagt hätte, wärst du auf dem schnellsten Wege zu den Gendarmen gelaufen und hättest mich verraten. Du brauchst gar nicht mit dem Kopf zu schütteln, Jeremias. Mir blieb doch gar nichts anderes, als dir eine Lügengeschichte zu erzählen.«

»Allmählich bezweifle ich, dass irgendetwas Wahres an Euren Worten war! Vermutlich wart Ihr niemals bei der französischen Armee, genauso wenig wie die anderen Uniformierten in der Räuberbande. Und was vor zwei Jahren mit Eurer Frau geschehen ist, das will ich lieber gar nicht wissen.«

»Ich habe schon gehört, dass du mit einem Mal ein armes Unschuldslamm geworden bist«, meldete sich nun auch der Müller zu Wort. Er lachte höhnisch und setzte geringschätzig hinzu: »Bernhard Schulze Lanvermann, das bemitleidenswerte Opfer einer bösen Intrige! Dass ich nicht lache!« Wieder spuckte er zu Boden und rief: »Verdammter Meuchelmörder!«

»Das sagst ausgerechnet du?«, schrie ihm der Flessener entgegen und sprang plötzlich auf. »Wenn irgendjemand sein Maul nicht so weit aufreißen sollte, dann bist du es, mein lieber Jan! Vergiss das bitte nicht! Wer selbst keine weiße Weste hat, der sollte hübsch den Mund halten.« Er stellte sich direkt vor dem Müller auf, beugte sich über ihn und wiederholte, mit dem rechten Zeigefinger auf ihn deutend: »Vergiss du das bitte niemals!«

Die Reaktion des Müllers überraschte mich. Er zuckte regelrecht zusammen, als hätte ihm der Lanvermann eine Ohrfeige gegeben, und machte sich ganz klein. Er duckte sich, als erwartete er eine Tracht Prügel, blickte zu Boden, und kein Wort kam mehr über seine Lippen.

Bernhard stand einige Sekunden abwartend vor ihm, nickte dann zufrieden und setzte sich zurück auf seinen Mehlsack. Als hätte der Müller überhaupt nichts gesagt, setzte er unsere Unterhaltung an genau der Stelle fort, an der er unterbrochen worden war. »Du traust mir also nicht über den Weg, was? Und du glaubst nicht einmal, dass ich bei den Franzosen war.«

»Wart Ihr?«, erwiderte ich knapp.

»Allerdings! Ich mag dich hinsichtlich der Bosbeck-Bande angelogen haben, aber alles andere ist wahr. Ich war tatsächlich Infanterist und habe mir meine Narben im Gesicht als Soldat eingefangen, und ich bin erst seit wenigen Tagen wieder im Münsterland. Das magst du anzweifeln oder nicht, aber es bleibt dennoch die Wahrheit. Kannst mir ruhig glauben!«

»Ich dachte, Ihr schert Euch nicht um meine Meinung,« wunderte ich mich. »Ich bin doch nur ein dummer kleiner Kaffer, der Euch ein paar nützliche Informationen verschafft hat. Was kümmert es Euch, was ich denke?«

»Jetzt sei nicht so nachtragend!«, entgegnete er. »Du hast ja einen fürchterlichen Dickschädel. Genau wie deine Mutter!«

»Was hat denn meine Mutter damit zu tun?!«, brauste ich auf. »Ihr kennt sie doch gar nicht! Wagt es bloß nicht, meine Familie schlecht zu machen. Dann werdet Ihr erst erleben, wie nachtragend ich sein kann!«

Er lachte amüsiert, schüttelte erneut den Kopf und sagte: »Simon hat recht, du bist ein jähzorniger kleiner Kerl, vielleicht sogar ein gefährlicher Bursche. Ich glaube, ich habe dich bislang unterschätzt.«

»Was habt Ihr überhaupt mit dem Räuber zu schaffen?«, setzte ich nach. »Und wieso hat er Euch das Leben gerettet?«

»Das ist eine merkwürdige Geschichte«, antwortete Bernhard, zog seine Pfeife hervor und zündete sie an, wie er es jedes Mal tat, wenn er in seinen Erinnerungen kramte. »Ich war vor einigen Tagen in Ostwick, und mein Gaul begann zu lahmen, es war eine altersschwache Schindmähre, die ich irgendeinem Bauern gestohlen hatte. Nun ja, ich dachte, dass vielleicht etwas mit dem Huf oder dem Hufeisen nicht stimmte und bin deshalb zum Schmied gegangen. Und als ich dort ankam …«

»Waren die Räuber da!«, ergänzte ich den Satz. »Ich habe davon gehört.« Ich erinnerte mich an die Gerüchte vom Überfall auf den Ostwicker Schmied, die im Dorf umgingen. Es hatte geheißen, die Räuber hätten sowohl den Schmied wie auch seine Frau getötet.

Bernhard nickte und sagte: »Ich geriet mitten ins Gemetzel. Der Schmied verteidigte sein Hab und Gut mit allen Mitteln und Waffen, und er hat einige der Räuber getötet, bevor sie ihm schließlich den Kopf abhackten. Es war, als wären sie plötzlich in einen Blutrausch geraten, sie schlugen auf alles ein, was sich bewegte. Selbst die Haustiere haben sie geschlachtet, meinen armen Klepper haben sie regelrecht zu Hackfleisch verarbeitet. Und gewiss hätte auch mein letztes Stündlein geschlagen, wenn der Hauptmann nicht dazwischen gegangen wäre. Er hat dem blutigen Spuk ein Ende gemacht und die Raserei seiner Kumpanen – so gut es jedenfalls ging – gestoppt. Simon Bosbeck ist nicht wirklich ein grausamer Mensch. Als er vorhin sagte, er sei kein gottloser Barbar, so war dies durchaus richtig.«

»Das hat er in Ostwick blutig unter Beweis gestellt!«, unterbrach ich ihn. »Wenn das nicht barbarisch und gottlos war, dann weiß ich nicht, was man unter diesen Worten versteht.«

»Die Sache mit dem Schmied ist bestimmt nichts, worauf er stolz ist. Mir hat er in jedem Fall das Leben gerettet. Ich hatte schon ein Messer an der Gurgel und wäre wie ein Schwein abgestochen worden, wenn Simon nicht gewesen wäre.«

»Und aus lauter Dankbarkeit habt Ihr ihm Euren Bruder zum Fraß hingeworfen«, entgegnete ich. »Weil der Hauptmann Euer Leben geschont hat, muss Johann nun mit dem seinen dafür bezahlen.«

»Eine Hand wäscht die andere, mein lieber Jeremias«, antwortete er und lachte hässlich. »Für die Räuber gibt es auf dem Hof einiges zu holen, und mir wird es eine Freude sein, meinen eitlen Bruder um sein erbärmliches Leben betteln zu sehen.«

»Wie schändlich!«, rief ich. »Und wie feige!«

Er grinste abschätzig, zuckte mit den Schultern und sagte: »Du solltest mir nicht so ablehnend gegenüberstehen. Schließlich erweise ich dir sogar einen Gefallen, wenn ich dem lieben Johann die verdiente Abreibung verpasse.«

Ich starrte ihn nur fragend an.

Er lachte dreckig und sagte: »Jackel ist gewiss ein schlechter Mensch und übler Halunke, aber er ist ein sehr guter Baldower. Er hat mir von einer Hochzeit erzählt, die in Kürze auf dem Schulzenhof gefeiert werden soll. Der gute Johann hat sich eine Braut erwählt. Ein hübsches junges Ding aus Oldendorf, heißt es, und ich glaube, dass sie dir nicht ganz unbekannt sein dürfte. Lotte ist ihr Name, sie ist die Tochter des Amtmannes und soll sich schon mächtig auf die Ehe freuen.«

»Du verdammter Mistkerl!«, fauchte ich ihn an und merkte gar nicht, dass ich ihn duzte. »Du wirst mich nicht zu deinem Komplizen machen!«

Mit einem herzhaften Lachen stand er auf, nahm den Umhang und die Mütze, griff nach der Kerze und ging schlurfend zur Treppe. Plötzlich jedoch wandte er sich um und sagte: »Vielleicht wirst du mir noch einmal dankbar sein, mein lieber Jeremias. Auch wenn du das jetzt nicht gerne hören willst. Denk an meine Worte, du wirst mir noch mal danken.«

»Bernhard?«, rief ich ihm nach.

Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als ich ihn mit dem Vornamen ansprach. »Was denn noch?«, fragte er.

»Was geschieht nun mit uns?«

»Ich habe dir gestern Mittag gesagt, dass du etwas bei mir gut hast. Und ich stehe zu meinem Wort, auch wenn du das nicht glauben willst. Dir wird kein Haar gekrümmt, solange du dich vernünftig verhältst. Komm also nicht auf die Idee, den Helden spielen zu wollen. In wenigen Stunden ist alles vorbei.«

»Lasst Ihr …«, hakte ich nach, unterbrach mich aber sogleich und sagte schließlich: »Lässt du uns die Kerze da? In der Dunkelheit wird mir ganz übel.« Mir war schon jetzt ganz schlecht, weil ich ihn in schmeichlerischem Ton um einen Gefallen bat, aber ich überwand meinen Ekel und setzte hinzu: »Bitte.«

Er überlegte einen Moment und zögerte, weil er merkte, dass meine plötzliche Unterwürfigkeit gespielt war. Dennoch entschloss er sich, mir den Gefallen nicht abzuschlagen. »Ach, was soll’s?«, sagte er und stellte die Kerze außer Reichweite auf den Boden. »Aber zündet mir die Mühle nicht an. Es wäre schade um das alte Haus.«

»Lanvermann?!« Diesmal kam der Ruf vom Kolkmüller.

»Was?!«, schnauzte Bernhard ihn an. »Was willst du?«

»Regnet es draußen immer noch?«

Schallend fing der Flessener an zu lachen. »Ist das Wetter dein einziges Problem? Du scheinst mir zu lange im Dunkeln gesessen zu haben!« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und wollte sich abwenden.

»Wenn es draußen tagelang schüttet, dann wird der Pegel des Ahlbachs ansteigen«, erwiderte der Müller in aller Seelenruhe und ließ sich nicht durch das Lachen irritieren. »Wenn ihr Banditen nicht wollt, dass das Mühlwehr Risse bekommt und das Mauerwerk zusammenstürzt, dann solltet ihr den Umfluter ein wenig öffnen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung der Mühlräder und setzte hinzu: »Es ist die kleine Schleuse an der Schranke.«

»Mal sehen, was sich machen lässt«, sagte Bernhard, hob die Hand zum Gruß, schenkte uns ein letztes höhnisches Grinsen und verschwand.

»Verdammter Meuchelmörder«, stieß der Müller hervor und spuckte zu Boden. »Ich traue dem Kerl nicht über den Weg.« Und zu mir gewandt setzte er hinzu: »Und du solltest dich auch vor ihm in acht nehmen.«

»Ich weiß«, erwiderte ich. »Aber leider ist es jetzt ohnehin zu spät.«

Mit einem Mal war es, als bebte der Boden unter uns. Es fühlte sich an, als erwachte die Mühle plötzlich zum Leben, und im gleichen Moment setzte ein ohrenbetäubender Lärm ein. Das riesige Zahnrad, das mit den äußeren Mühlrädern verbunden war, setzte sich knarrend in Bewegung, die eiserne Antriebsachse drehte sich, und die wuchtigen Kammräder über mir sausten im Kreis herum. Alles um uns herum geriet in Bewegung, alles drehte sich, die Zähne der Räder griffen ineinander und verursachten einen Lärm, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte. Das Holz quietschte in höchsten Registern, das Eisen gab kreischende und jammernde Geräusche von sich, die gesamte Mühle dröhnte und ächzte, als wollte sie bersten.

»Dieser Hund!«, rief der Müller gegen das Getöse an. »Er hat statt des Umfluters die Mühlschleuse geöffnet!«

»Und was bedeutet das?«

»Das hörst und siehst du doch. Lanvermann hat sich einen kleinen Scherz mit uns erlaubt.« Er schaute zur Mehlrutsche hoch, die direkt über ihm zu den Mahlgängen im Erdgeschoss führte, und fügte hinzu: »Zum Glück sind die Zahnräder der Mahlgänge nicht in der Königswelle eingerastet, sonst würden wir unser blaues Wunder erleben.«

Im gleichen Moment war über uns ein fürchterliches Jaulen zu hören. Es hörte sich an wie das Kreischen von Möwen, nur tausendfach lauter. Die Mühlsteine setzten sich mit schrillem Gequietsche in Bewegung und ließen die Decke über uns erzittern. Die Reste des Mehls, die sich noch vom letzten Mahlen zwischen den Mühlsteinen befunden hatten, rieselten nun über die Rutsche nach unten und bedeckten den Müller mit einer weißen Schicht aus feinem Mehlstaub.

»Zu früh gefreut«, rief der Müller und schüttelte sich. »Er hat den Hebel gefunden.« Wieder spuckte er zu Boden und rief: »Dieser verfluchte Teufel!«

2

Es ist erstaunlich, wie schnell man sich selbst an die widrigsten Umstände gewöhnen kann, bis man sie schließlich kaum noch wahrnimmt. Was einem zunächst unerträglich erscheint, wird mit der Zeit als Normalzustand hingenommen und ertragen. Ähnlich erging es mir mit dem Lärm der Mühlsteine und dem Rumpeln der Zahnräder, welche die Mühle in ihren Grundfesten erschüttern ließen. Seit mindestens einer Stunde schon kreischten die Steine und ächzten die Holzbalken, und der Lärm hatte in dieser Zeit keineswegs nachgelassen, dennoch hörte ich ihn schließlich kaum noch; es war, als wehrte sich mein Hirn gegen den ohrenbetäubenden Krach, indem es ihn schlicht ignorierte.

Der Kolkmüller saß seit geraumer Zeit zusammengesunken mir gegenüber und schien seinen eigenen düsteren Gedanken nachzuhängen. Sein Gesicht und der Oberkörper waren immer noch weiß vor Mehl. Er stierte ausdruckslos zu Boden, rührte sich nicht und gab keinen Ton von sich. Es hatte beinahe den Anschein, als wäre sämtliche Energie plötzlich von ihm gewichen. Er hatte sich in sein Schicksal gefügt und unternahm keine Anstrengung mehr, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien.

Ich hingegen hielt diesen Zustand nicht länger aus, die Hilflosigkeit und die Unfähigkeit, irgendetwas zu unternehmen, machten mich rasend. Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich mich meiner Fesseln entledigen konnte, wider besseres Wissen zerrte ich an den Seilen, um zu prüfen, ob die Knoten sich lockerten. Doch anstatt nachzugeben, schnitten mir die Fesseln nur noch mehr ins Fleisch. Meine Arme, die hinter meinem Rücken und hinter dem Pfosten, an dem ich saß, verschnürt waren, schwollen vor Anstrengung an und schmerzten. Allein mit meiner – zudem äußerst bescheidenen – Körperkraft konnte ich mich nicht befreien, und ein Hilfsmittel, mit dem ich die Schnüre zerreißen oder durchtrennen könnte, hatte ich nicht zur Hand. Die Kerze, die der Flessener zurückgelassen hatte, stand etwa zwei Ellen von meinen Fußspitzen entfernt auf dem Boden, sodass ich nicht heranreichen und die Fußfesseln durchbrennen konnte. Ein ohnmächtige Wut stieg in mir auf, und ich ließ sie heraus, indem ich einen lauten Schrei von mir gab.

»Gib es auf, Jeremias«, sagte der Kolkmüller und schüttelte mitleidig den Kopf. »Die Räuber verstehen ihr Handwerk und wissen, wie man eine Fessel anlegt. Es nützt nichts, wenn wir uns unnötig anstrengen. Wir können nur warten und beten, vielleicht unterläuft ihnen ja doch noch ein Fehler, und dann sollten wir bereit sein und augenblicklich zugreifen.« Er zuckte – soweit die Fesseln dies zuließen – mit den Schultern und setzte hinzu: »Auch wenn ich allmählich nicht mehr daran glaube.«

»Ihr habt nicht zufällig ein Messer in der Tasche?«, fragte ich halb im Scherz und halb ernsthaft. »Oder sonst ein Werkzeug?«

»Glaubst du, ich würde dann noch wie ein Paket verschnürt hier sitzen? Sei froh, dass sie dir nur die Knöchel und Handgelenke gefesselt haben. Du kannst wenigstens deinen Oberkörper bewegen und die Knie anwinkeln. Mich haben sie eingerollt wie eine Roulade, und sämtliche Glieder schlafen mir ein, weil ich mich nicht rühren kann.« Er schnaufte abfällig und schüttelte den Kopf. »Spar dir deine Fluchtpläne für den entscheidenden Moment.« Er wollte bereits wieder den Kopf senken und die Augen schließen. Plötzlich jedoch fuhr er zusammen, starrte mich entsetzt an und öffnete den Mund, ohne aber einen Laut herauszubringen.

»Was ist mit Euch?«, rief ich erstaunt. »Warum schaut Ihr mich so an?«

Er erstarrte, schüttelte sich dann und lächelte verkrampft.

»Irgendetwas hat Euch doch erschreckt. Was ist es?«

»Ach, nichts«, erwiderte er, und das unechte Lächeln war nun wie eingemeißelt. »Es ist nur das Medaillon. Woher hast du es?«

»Das Medaillon?«, wiederholte ich und schaute hinab auf meine Brust, auf der das Schmuckstück an der Kette baumelte. Ich überlegte einen Moment, was ich antworten sollte, und sagte dann, das Gesicht des Müllers genau betrachtend: »Ich habe es von meiner Mutter.«

Er nickte bedächtig und sagte: »Aha.« Wieder schüttelte er sich, als wollte er lästige Gedanken aus seinem Kopf schütteln, und fügte hinzu: »Ich habe einmal ein ganz ähnliches Medaillon besessen, aber wenn dieses da von deiner Mutter stammt, dann kann es wohl kaum das gleiche sein. Es gibt schließlich viele Marienbilder.«

»Wo ist Euer Medaillon geblieben?«, fragte ich und versuchte, meine Stimme nicht allzu aufgeregt klingen zu lassen. »Habt Ihr es verloren?«

»Ich habe es verschenkt«, antwortete er und senkte den Blick. »Das ist schon so lange her, vermutlich existiert es gar nicht mehr.« Er schaute zu mir hoch und wollte zu einem verächtlichen Lachen ansetzen, doch dieses blieb ihm im Halse stecken, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Was ist?«, rief er. »Wieso stierst du mich so an?«

»Wem habt Ihr das Medaillon geschenkt?«

»Niemand, den du kennst oder der dich zu interessieren hat, mein Junge«, antwortete er ausweichend. »Damals warst du vermutlich noch nicht mal geboren. Warum fragst du überhaupt? Was schert dich mein Medaillon?« Er sah mich missbilligend an, schien die brennende Neugier und das Verlangen nach einer Antwort in meinem Gesicht ablesen zu können und rief geradezu entrüstet aus: »Was soll das?! Was willst du eigentlich? Warum steckst du deine Nase in Sachen, die dich nichts angehen?!«

Schon einmal hatte ich eine ähnliche und ähnlich empört gestellte Frage vernommen. Auch Bernhard Lanvermann hatte mir erst am Vortag geraten, mich nicht in Dinge einzumischen, von denen ich nichts verstand. Gestern wie heute hatte ich versucht, zwei Geschichten miteinander zu verbinden, die scheinbar nicht zusammengehörten. Ich hatte geglaubt, mit einem Schlag zwei Geheimnisse lösen zu können, die doch eigentlich nichts gemein hatten. Bei der einen Geschichte handelte es sich um das Geheimnis meiner Geburt, um die Identität meiner Mutter, bei der anderen um den Brand des Moorhofes und den Freitod des Vennekötters. Schon einmal hatte ich gedacht, das Bindeglied zwischen beiden Geschichten in der Gestalt der Moorbäuerin gefunden zu haben. Gestern noch hatte ich diesen Gedanken verwerfen müssen, doch nun sah alles ganz anders aus. Mit einem Mal hielt ich den Schlüssel in der Hand, mit der sich die Tür zwischen diesen beiden Geschichten öffnen ließ. Dieser Schlüssel saß direkt vor mir.

»Jan Lösing!«, rief ich. »Euer Name ist Jan Lösing, nicht wahr?«

Der Müller sah mich beinahe ängstlich an. »Weshalb rufst du meinen Namen? Was soll dieses Theater? Du weißt doch, wie ich heiße!«

»Ihr seid Jan Lösing«, wiederholte ich. »Ihr seid J. L.!«

Heute erscheint es mir merkwürdig, dass ich nicht eher darauf gekommen bin. Natürlich! Nicht Johann Lanvermann war der Liebhaber der hübschen Moorbäuerin gewesen, sondern ihr eigener Schwager, der Kolkmüller Jan Lösing. Nicht der Sohn des Schulzen, sondern der Bruder des Bauern hatte das Bild der Vennekötterin gemalt und es mit »Für meine Lisbeth. Von J. L.« signiert. Der Grund dafür, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht auf den Gedanken gekommen war, die Initialen J. L. mit dem Müller Jan Lösing in Verbindung zu bringen, bestand schlicht und einfach in der Tatsache, dass mir der Nachname zwar geläufig, aber nicht wirklich im Bewusstsein gegenwärtig gewesen war. Alle nannten Jan Lösing nur den Kolkmüller, genauso wie sein Bruder stets Vennekötter oder mein Vater nur Magisterbauer genannt wurde. Niemand interessierte sich für die offiziellen Nachnamen, diese bestanden nur auf dem Papier. Die Bauern in Ahlbeck wurden mit ihrem erblichen und zumeist plattdeutschen Hofnamen angesprochen. Heiratete beispielsweise ein Mann die Erbin eines Bauernhofes, so nahm sie zwar in den Büchern den Namen des Gatten an, in Wirklichkeit jedoch wurde der Mann fortan mit dem Hofnamen seiner Frau angesprochen. Der Vetter meines Vaters, Gerrit Homölle, hatte eine Tochter aus dem Hause Pätten geheiratet, und darum nannte man ihn ab diesem Zeitpunkt den Pättenbauer.

Die Gedanken in meinem Hirn drehten sich wild im Kreis wie die Kammräder über mir, und in meinem Kopf herrschte ein Lärm, der das Getöse der Mühle um ein Vielfaches übertönte. Jan Lösing war J. L.! Daran konnte für mich in diesem Moment kein Zweifel bestehen. Als ich gestern das Bildnis der Elisabeth und das gekritzelte Kürzel zum ersten Mal gesehen hatte, war mein Verdacht prompt auf den Schulzen gefallen, weil es so nahtlos ins Gesamtbild zu passen schien. Johann war ein hübscher Mann und notorischer Schürzenjäger, und kein Frauenzimmer war vor ihm sicher. Was lag also näher, als ihn auch als Liebhaber der Moorbäuerin zu betrachten?

Aber er war es nicht!

»Was ist denn in dich gefahren?«, rief der Müller, immer noch mit weit aufgerissenen Augen. »Erst schreist du meinen Namen, als wäre er der des Teufels, und dann schweigst du und starrst mich an, als würdest du ein Gespenst sehen! Willst du mir nicht erklären, was das alles soll?«

Statt ihm zu antworten, stellte ich ihm meinerseits ein Frage: »Habt Ihr das Medaillon Eurer Schwägerin Elisabeth geschenkt?«

Es war, als führe ein Blitz in den Müller, er zuckte zusammen und erstarrte im nächsten Augenblick zur Salzsäule. Zwar war sein ausgemergeltes Gesicht immer noch mehlbestäubt und lag zudem im Halbschatten, dennoch war ich mir sicher, dass es blasser geworden war.

»Es stimmt doch, oder? Dieses Medaillon hat einst der Moorbäuerin gehört. Und Ihr habt es ihr geschenkt – als Liebespfand!«

»Was fällt dir ein?!«, geiferte der Müller. »Hältst du wohl augenblicklich dein loses Mundwerk! Wie kannst du es wagen, solche gemeinen Lügen zu verbreiten?! Hast du denn überhaupt kein Schamgefühl? Verdammter Bengel! Dir werde ich’s zeigen!« Mit einem Mal bäumte er sich auf – oder versuchte es zumindest –, stemmte sich mit aller Macht gegen den Pfosten, an den er gebunden war, und zerrte wie ein Irrer an seinen Fesseln. Diese gaben, wie nicht anders zu erwarten war, keinen Zoll nach, doch plötzlich knirschte es im Gebälk über ihm, und erneut hatte ich den Eindruck, als hätte sich der Pfosten ein wenig zur Seite bewegt. Die Mehlrutsche über dem Kopf des Müllers vibrierte bedrohlich.

»Es ist keine Lüge«, erwiderte ich und hielt dem finsteren Blick des Müllers stand. »Das wisst Ihr sehr wohl! Ich kann es sogar beweisen.«

Ich holte tief Luft und erzählte ihm alles, was ich in den letzten Tagen in Erfahrung gebracht oder mir zusammengereimt hatte. Ich berichtete von dem Fund des Bildes auf dem Dachboden des Gesindehauses, von dem Kürzel J. L. am unteren Rande des Portraits, von den Gerüchten im Dorf, die von einem geheimnisvollen Liebhaber handelten, von der alten Gertrud, welche die ehemalige Jüdin Elisabeth eine Mordbrennerin genannt hatte, und von meiner Mutter, die eine gute Freundin der Moorbäuerin gewesen sein soll.

Der Müller hörte sich meine Worte mit stoischem Gesichtsausdruck und ohne jede äußerlich erkennbare Regung an. Er gab keinen Ton von sich und versuchte nicht, mir zu widersprechen. Er saß nur da, starrte mich wie einen Geist an und hörte gebannt zu. Erst bei meinen letzten Worten schaute er überrascht auf und fragte: »Was hat denn deine Mutter damit zu tun?«

»Sie ist nicht meine wirkliche Mutter«, antwortete ich, »und deshalb hat sie sehr viel damit zu tun.«

»Sprich nicht in Rätseln«, fuhr er mich an, »sondern sag einfach, was du zu sagen hast! Oder halte den Mund!«

Ich erzählte dem Müller, was meine Mutter mir erzählt hatte: Dass ich nicht das Kind meiner Eltern war, sondern im Mai 1795 als neugeborenes Findel vor der Tür der Magisterbauern abgelegt worden war. Und dass die einzige Mitgift meiner leiblichen Mutter in dem Marienmedaillon auf meiner Brust bestand.

»Was willst du damit sagen?«

»Ist das nicht offensichtlich? Wenn dieses Medaillon der Moorbäuerin gehört hat, dann ist sie meine leibliche Mutter. Sie hat mich bei der Magisterbäuerin abgegeben, weil diese keine Kinder bekommen konnte und weil sie wusste, dass ich bei den Magisterleuten in guten Händen war.«

Ich wartete auf eine Reaktion des Müllers, aber diese blieb aus. Er rührte sich nicht und starrte Löcher in die Luft. Um ihn endgültig aus der Reserve zu locken, fuhr ich fort: »Und wenn Ihr der Geliebte der Elisabeth wart, dann ist es mehr als wahrscheinlich, dass Ihr mein Vater seid!«

Die verhängnisvollen Worte waren ausgesprochen und konnten nicht mehr zurückgenommen werden. Ich vermag kaum zu beschreiben, wie viel Überwindung es mich gekostet hatte, sie über die Lippen zu bringen.

Ich hatte einen erneuten Wutausbruch des Müller befürchtet, aber Jan Lösing schüttelte nur ungerührt den Kopf und sagte: »Du irrst dich.«

»Ist dies das Medaillon, das Ihr der Moorbäuerin geschenkt habt?«

Ein nervöses Zucken in den Mundwinkeln verriet seine Aufregung, als er zugab: »Es sieht jedenfalls so aus.«

»Ist Elisabeth Lösing also meine Mutter?«, setzte ich nach. »Bin ich der uneheliche Sohn der Vennekötterin?«

Er schien vollends irritiert und wusste nicht, was er sagen sollte. Er zuckte wortlos mit den Schultern und presste die Lippen aufeinander.

»Seid Ihr mein Vater?!«, rief ich mit schriller Stimme. »Bin ich das Resultat Eurer Liebschaft mit der Moorbäuerin?!«

»Nein!«, schrie er und schüttelte vehement den Kopf. »Ich bin nicht dein Vater, ganz gewiss nicht!« Mit Nachdruck und nach wie vor kopfschüttelnd setzte er hinzu: »Ich kann es gar nicht sein!«

»Wieso nicht?«

»Wie alt warst du, als die Magisterbauern dich im Mai 1795 vor ihrer Tür gefunden haben?«

»Frisch abgenabelt«, erwiderte ich. »Noch keinen Tag alt.«

»Dann bin ich nicht dein Vater«, antwortete er und blickte mir ganz ruhig in die Augen. »Ich habe Lisbeth zum letzten Mal am Tag nach dem Brand gesehen. Das war im Mai 1794, genau ein Jahr vor deiner Geburt. Du siehst selbst, dass es ganz undenkbar ist.«

Da waren sie wieder, die drei fehlenden Monate, die das Ganze so verwirrend und unerklärlich machten. Ich hatte bereits geglaubt, das Geheimnis meiner Herkunft gelüftet zu haben, doch erneut wollten die Puzzleteile nicht recht zusammenpassen. Die Identität meiner Mutter hatte ich herausgefunden, ich zweifelte nicht daran, dass die Moorbäuerin Elisabeth mich zur Welt gebracht und dann ihrer Freundin Maria Vogelsang anvertraut hatte. Aber wer war mein Vater? Wenn der Müller die Wahrheit sagte, dann war ich von der Antwort dieser Frage weiter denn je entfernt. Und falls er log?, schoss es mir durch den Kopf. Wenn ich in den letzten Tagen eine Lektion gelernt hatte, dann diese: Niemand sagte freiwillig die Wahrheit, alle versteckten sich hinter Ausflüchten, Geheimnissen und dreisten Lügen. Und zwar ausnahmslos. Warum sollte ich also ausgerechnet dem Müller glauben?

»Woher weiß ich, dass Ihr die Wahrheit sagt?«

»Was hätte ich für einen Grund, dich anzulügen?«, erwiderte er ungerührt. »Du weißt ohnehin schon das meiste. Glaub mir, wenn ich geahnt hätte, dass du der Sohn von Lisbeth bist, dann hätte ich …« Er stutzte plötzlich und brach mitten im Satz ab.

»Ihr gebt also zu, dass sie Eure Geliebte war?«, setzte ich nach, ohne wirklich auf eine Antwort zu warten. Der Müller hatte meine Vermutung längst durch sein Verhalten bestätigt. Er war der geheimnisvolle Liebhaber, von dem hinter vorgehaltener Hand gemunkelt worden war. Wenn man sich ihn anschaute, mochte man dies kaum glauben, so blass und ausgezerrt wie er nun vor mir saß. Aber vor zwanzig Jahren mochte er ein stattlicher Mann gewesen sein, auch heute noch war er ein kräftiger Kerl mit imposantem Oberkörper. Und vielleicht hatte sein Gesicht damals noch nicht so kränklich und eingefallen ausgesehen. Womöglich war seine äußere Erscheinung auch gar nicht entscheidend gewesen, vielleicht steckte in diesem grobschlächtigen Müller, dem alle im Dorfe mit Misstrauen und Vorsicht begegneten, ein gutherziger Kern. Wenn die junge Elisabeth von ihrem Gatten derart misshandelt worden war, wie der Flessener es beschrieben hatte, war es da nicht nur normal, dass sie sich nach einem verständnisvollen und wohlwollenden Mann sehnte? Wer mochte es ihr verdenken?

Beim Gedanken an den Moorbauern kam mir sein grausiges Ende in den Sinn. Zumindest indirekt hatten Jan und Elisabeth den Tod des Alois Lösing auf dem Gewissen. Wie hatte der Flessener vorhin gesagt?: Wer selbst keine weiße Weste hat, der sollte hübsch den Mund halten. Und der Müller war daraufhin zusammengezuckt, als hätte man ihn geohrfeigt.

»Was ist in der Brandnacht wirklich geschehen?«, wollte ich wissen. »Wieso hat der Hof gebrannt? Und wie ist Euer Bruder zu Tode gekommen?«

»Das kann ich dir nicht sagen«, erwiderte er flüsternd, sodass ich Schwierigkeiten hatte, ihn bei dem Lärm der Zahnräder zu verstehen. »Was nützt es, in der Vergangenheit zu wühlen? Lass die Toten ruhen, mein Junge!«

»Könnt Ihr nichts sagen oder wollt Ihr es nicht?«

»Ich darf es nicht«, rief er beinahe flehentlich aus. »Ich bin durch einen Schwur gebunden. Ich habe es versprochen! Hoch und heilig. Ich habe Lisbeth mein Wort gegeben. Außerdem ist …«

»Aber ich bin ihr Sohn«, unterbrach ich ihn. »Könnt Ihr nicht verstehen, dass ich wissen möchte, was mit meiner Mutter geschehen ist? Habe ich nicht sogar ein Anrecht darauf, die Wahrheit zu erfahren?«

»Glaub mir, Jeremias«, erwiderte er mit trauriger Miene, »nicht immer ist es ratsam, alles wissen zu wollen.«

»Ich will es nicht wissen, sondern ich muss es wissen!«

Warum glaubten nur alle, dass es besser sei, mit der Lüge oder mit Halbwahrheiten zu leben? Meine Mutter – also meine Adoptivmutter – hatte sich in diesem Sinne geäußert. Manchmal sei es besser, mit der Lüge zu leben, hatte sie gesagt. Und der Flessener hatte etwas Ähnliches behauptet. Selbst Eva hatte gemeint, man könne unangenehme Dinge ignorieren, indem man sie einfach nicht aussprach. Und jetzt stieß der Müller ins gleiche Horn und glaubte, mir einen Gefallen zu tun, wenn er mich in Unwissenheit ließ.

»Warum überlasst Ihr es nicht einfach mir, darüber zu entscheiden?«, stieß ich hervor. »Ich bin alt genug, um zu wissen, was gut für mich ist.«

»Wenn du meinst«, antwortete er und fuhr sich nachdenklich mit der Zunge über die Lippen. »Aber du musst mir zweierlei versprechen. Erstens musst du mir zusichern, dass nichts von dem, was ich dir erzählen werde, diese vier Wände verlassen wird. Du darfst keiner Menschenseele ein Sterbenswörtchen davon erzählen.«

Ich nickte sagte: »Ich verspreche es.«

»Zweitens musst du mir versprechen, dass du deine Mutter nicht dafür hassen wirst«, fuhr er eindringlich und geradezu beschwörend fort. »Was auch immer geschehen ist und egal, was ich dir gleich erzählen werde, du darfst mir glauben, dass Lisbeth ein herzensgutes Mädchen war. Hasse sie nicht für etwas, das sie nicht wirklich zu verantworten hatte.«

Die Worte des Müllers und die Inbrunst, mit der er sie hervorstieß, ließen mich erschaudern. Für einen kurzen Augenblick zögerte ich, beinahe verließ mich der Mut. Vielleicht sollte ich doch wie alle anderen die Augen und Ohren verschließen und alles leugnen und – wie Eva am Nachmittag gesagt hatte – vergessen, was ohnehin nicht mehr zu ändern war. Doch dann überwand ich mich und meine Feigheit, schaute dem Müller unverwandt ins Gesicht und sagte: »Ich schwöre es!«

3

Ich vermochte beim besten Willen nicht zu sagen, wie spät es mittlerweile war. Vermutlich war die Sonne längst aufgegangen, womöglich war es schon die Zeit des zweiten Frühstücks, im finsteren Keller der Mühle war mir jedes Zeitgefühl abhanden gekommen. Die Kerze war etwa zu zwei Dritteln niedergebrannt, und ich überlegte, wie lange sie uns noch mit Licht versorgen würde. Zwei Stunden, schätzte ich, vielleicht drei.

Den Müller schienen solche profanen Überlegungen überhaupt nicht zu kümmern, er saß in seiner geduckten Haltung auf dem Boden und begann, mit monotoner Stimme und ohne mich dabei anzusehen, all das zu erzählen, was er seit zwanzig Jahren mit sich herumschleppte und was er in der ganzen Zeit – wie er es einst versprochen hatte – niemandem anvertraut hatte. Während er redete, verharrte er in ein und derselben gekrümmten Position, es sah beinahe so aus, als hinge er in seinen Fesseln. Nur von Zeit zu Zeit wandte er seinen Blick zur Decke, so als wären seine Worte nicht an mich, sondern an eine höhere Instanz gerichtet. Er sprach langsam und schwerfällig, aber ohne Pause und ohne dabei seine Gefühle zu offenbaren, und nur selten wagte ich, ihn zu unterbrechen und Zwischenfragen zu stellen. Und dies ist, was er mir berichtete:

Der Vennekötter Alois Lösing war Zeit seines Lebens ein Trunkenbold und Hitzkopf gewesen. Schon als junger Kerl hatte ihm der zweifelhafte Ruf eines streitsüchtigen und wenig umgänglichen Menschen angehaftet. Bei den Schützenfesten, die in Ahlbeck bereits seit dem Großen Deutschen Krieg in regelmäßigen Abständen stattfanden, gehörte er stets zu jenen leicht aufbrausenden Burschen, die nach dem eigentlichen Fest einer ordentlichen und zünftigen Prügelei nicht aus dem Wege gingen. Bei jeglichen Gemeindefeierlichkeiten sah man ihn betrunken in der Gosse krauchen oder sich mit anderen Rabauken in den Haaren liegen, an den Sonntagen torkelte er grölend aus der Dorfschenke, und mit der Zeit war seine Sauferei nicht mehr allein aufs Wochenende beschränkt. Je mehr er trank, desto rauflustiger und mürrischer wurde er, und einen Grund oder einen Vorwand zum Besäufnis gab es immer. Zwar galt er als tüchtiger und fleißiger Landmann, aber ebenso nannte man es im Dorf eine ausgemachte Sache, dass der Alkohol den Vennekötter einmal frühzeitig ins Grab bringen würde.

Alois war der älteste Sohn und damit Erbe eines nicht gerade vermögenden, aber auch nicht ärmlich lebenden Mittelbauern. Während allerdings seine jüngeren Brüder bereits in jungen Jahren geheiratet oder dem Hof den Rücken gekehrt hatten – außer dem jüngsten Sohn, dem heutigen Kolkmüller, gab es noch einen weiteren Sprössling, der das Dorf Ahlbeck verlassen hatte, um als Söldner sein Glück im Kriegsgeschäft zu suchen –, während also die Brüder in den ruhigen Hafen der Ehe einliefen oder sich bei den Uniformierten die Hörner abstießen, blieb der Menschenfeind und Raufbold Alois unverheiratet und seinem unsteten Lebenswandel treu. Zweimal bereits war er mit einem Mädchen aus dem Dorf verlobt gewesen, aber beide Male musste die geplante Hochzeit abgesagt werden, nachdem der Moorbauer seine Verlobten im Vollrausch beinahe zu Tode geprügelt hatte. Bei dem letzten dieser Vorfälle hatte er wegen einer belanglosen Nichtigkeit seiner Braut den Kiefer gebrochen, sodass diese in der Folgezeit mit einem Sprachfehler durchs Leben gehen musste und der Moorbauer einen drohenden Strafprozess nur durch die Zahlung eines beträchtlichen Schmerzensgeldes abwenden konnte. Kurzum, Alois Lösing war zwar eine gute Partie und in seinen besten Jahren, aber keine fürsorgliche Mutter hätte ihre Tochter einem solchen Tyrannen und brutalen Kerl zur Frau gegeben. Und nur eine Lebensmüde oder eine nichtsahnende Auswärtige hätte sich mit dem Moorbauern verehelicht.

Man schrieb derweil das Jahr 1790. Alois hatte das vierzigste Lebensjahr überschritten, und obwohl er keineswegs daran dachte, sich oder seinen Lebensstil zu ändern, wurde ihm doch mit einem Mal bewusst, dass es keinen direkten Erben für den Moorhof gab, und dieser Gedanke machte ihm gehörig zu schaffen. Bei einem sonntäglichen Frühschoppen im Wirtshaus »Zur alten Linde« – wohlgemerkt, sein Bruder Jan war damals zwar schon Kolkmüller, aber die Schenke an der Wassermühle gab es noch nicht – lernte der Moorbauer den jüdischen Händler und Hausierer Jos Zeebonk kennen. Dieser lebte mit seiner Familie – einer Frau und vier wohlgeratenen Töchtern – in der holländischen Grafschaft Twente und ging des Öfteren über die Grenze, um mit den münsterländischen Bauern Handel oder Geldgeschäfte zu treiben oder sich am Wochenende zu vergnügen. Zeebonk stand dem Moorbauern in seinem unsteten Lebenswandel in nichts nach, auch er betrank sich mit Vorliebe sinnlos, verprasste dabei sein Geld und benahm sich wie ein Tollwütiger, wenn er schließlich und fast zwangsläufig von den Wirten auf die Straße geworfen wurde.

Alois und Jos entdeckten an diesem Sonntag eine gemeinsame Leidenschaft, das Würfelspiel, und so begannen sie, sich beim Knobeln zu messen. Drei Würfel, drei Versuche, und die höchste Zahl gewann. Bald schon reichte ihnen der gewöhnliche Einsatz nicht mehr, und man schlug eine Verdoppelung vor. Der dritte Mann im Bunde war nach kurzer Zeit bargeldlos, verließ fluchend die Schenke und behauptete unbeirrt, die beiden Gauner hätten ihn aufs Kreuz gelegt. Die übrig gebliebenen Hasardeure klopften sich anerkennend auf die Schultern, bestellten eine weitere Runde Bier und Schnaps und kamen überein, das Spiel zu zweit fortzusetzen. Sie schraubten im Verlaufe des Knobelns den Mindesteinsatz in geradezu schwindelerregende Höhen. Es war nicht genau zu sagen, ob der Moorbauer eine unerhörte Glückssträhne hatte oder ob er diesem Glück mit etwas handwerklichem Geschick oder präparierten Würfeln nachhalf, Tatsache ist jedoch, dass der Holländer bald keinen Heller mehr in der Tasche hatte. Alois Lösing hatte ihn wie ein Hühnchen gerupft und ihm den letzten Gulden abgenommen, ohne dass ihm allerdings ein Falschspielen nachgewiesen werden konnte.

Jeder andere Spieler hätte hierauf mit dem Ende des Spiels geantwortet und sich schleunigst verdrückt, nicht so jedoch Jos Zeebonk, er hatte inzwischen so viel getrunken und sich derart in Rage gespielt, dass er den Bauern um Kredit bat und ihn beschwor, ihm noch eine letzte Chance zu geben. Alois willigte ein, reichte dem anderen den Knobelbecher und gewann erneut. Vor ihm stapelten sich mit der Zeit die Schuldscheine, und allmählich verlor der Bauer die Lust am Spielen und am Gewinnen. Sein Gegenüber hatte offensichtlich zu viel getrunken und war nicht mehr in der Lage, seine Würfel ordentlich zu handhaben.

»Schluss jetzt!«, verkündete Alois. »Nun ist Sense mit dem Spiel!«

»Eine Runde noch«, flehte Jos. »Die Schuldscheine eines Zeebonk sind so gut wie bares Geld! Oder willst du meinem Wort misstrauen?«

»Was soll ich mit all dem Geld?«, erwiderte der Vennekötter. »Geld habe ich selbst genug. Kannst du mir sonst nichts bieten?«

»Sag mir, was du brauchst. Jos hat es oder kann es dir beschaffen!«

»Das einzige, was mir noch fehlt«, antwortete Alois lallend, »ist eine Frau!« Dabei lachte er grölend und schlug sich auf die Schenkel. »Leg ein Weibsbild auf den Tisch, und ich werde deinen Einsatz akzeptieren.«

»Du sollst dein Frauenzimmer haben!«, schrie der Holländer in Rage und haute mit der Faust auf den Tisch. »Beim Teufel, du sollst es haben! Wofür habe ich denn mein unnützes Töchtervolk? Allesamt hübsch anzuschauen und jungfräulich wie eure Mutter Maria. Aber sie liegen mir auf der Tasche und wollen noch eine Mitgift obendrein!«

»Eine Mitgift brauche ich nicht«, krakeelte der Moorbauer gut gelaunt.

»Dann schlag ein!«, erwiderte Jos und hielt ihm die Hand hin. »Meine Älteste ist in heiratsfähigem Alter und gerade recht für dich.«

Alois akzeptierte die Bedingungen, schlug ein und ließ dem anderen den Vortritt. Jos würfelte dreimal und erhielt eine Sechs und zwei Fünfer. »Sechshundertfünfundfünfzig!«, frohlockte er. »Das will erst einmal geschlagen sein.«

Alois würfelte achselzuckend und bekam eine Vier und zwei Dreier. Er legte sämtliche Würfel in den Becher zurück und versuchte es erneut: dreimal die Zwei. Jos frohlockte bereits und grinste siegessicher.

»Mein Glück scheint mich zu verlassen«, murmelte Alois, spuckte auf die Würfel und hämmerte den Knobelbecher auf den Tisch. Zum Vorschein kamen eine Eins und zwei Sechser.

Sechshunderteinundsechzig. Alois hatte gewonnen.

Und so ging die hübsche Tochter des jüdischen Händlers in den Besitz des Ahlbecker Moorbauern über.

»Er hat meine Mutter beim Würfelspiel gewonnen?«, rief ich ebenso entsetzt wie ungläubig aus und unterbrach den Müller in seiner Erzählung. »Er hat sie beim Knobeln erspielt?«

Jan Lösing starrte mich wie in Trance an und schien nur langsam aus seinen Gedanken in die Gegenwart zurückzukehren. Schließlich nickte er und sagte: »So muss man das wohl sehen, er hatte seine Ehefrau einem glücklichen Händchen beim Hasardspiel zu verdanken. Allerdings war auf das Wort des Jos Zeebonk, wie sich später herausstellte, nicht wirklich Verlass. Als Alois in Holland auftauchte, um seine Braut abzuholen, weigerte sich der Händler, seine älteste Tochter herauszugeben. Er leugnete, den Deutschen überhaupt zu kennen, und als dieser ihm die unterschriebenen Schuldscheine und die schriftliche Vereinbarung zur Übergabe des Mädchens unter die Nase hielt, wollte er meinen Bruder als schändlichen Betrüger aus dem Hause weisen und drohte ihm sogar Prügel an. Seltsamerweise war es ausgerechnet Lisbeth, die sich nun zu Wort meldete. Spielschulden seien Ehrenschulden, sagte sie und erklärte sich einverstanden, dem Fremden auf dessen Hof zu folgen.«

»Sie hat freiwillig ihre Familie verlassen? Wieso hat sie das getan? Sie kannte den Moorbauern doch gar nicht.«

Der Müller zuckte nur mit den Achseln und sagte: »Das Leben scheint bis dahin nicht gerade ein Zuckerschlecken für das arme Mädchen gewesen zu sein. Der Vater war ein Säufer und Tyrann, dem die Hand lose saß; die Mutter war kränklich und leidend und ließ ihre Unzufriedenheit mit dem eigenen verpfuschten Leben an den Kindern aus; und Lisbeth selbst musste das ganze Jahr über schuften, ohne auch nur einen Gulden für sich behalten zu dürfen. Alles, was die Familie beim Hausieren und Handeln verdiente, versoff oder verspielte der Vater. Ich vermute, dass Lisbeth gar nichts Besseres passieren konnte, als durch eine plötzliche Hochzeit aus dieser Hölle verschwinden zu können.«

»Wie ging es dann weiter?«

»Wenn du mich nicht ständig unterbrechen würdest«, fuhr mich der Müller unwirsch an, »dann wüsstest du es längst.«

Als Elisabeth Zeebonk den Moorbauern heiratete, war sie gerade einmal sechzehn Jahre alt. In aller Eile und Stille wurde sie vom Ahlbecker Pastor getauft, und bereits am nächsten Tage wurde das kirchliche Aufgebot bestellt. Dass sie, um den Vennekötter zu heiraten, ihren jüdischen Glauben aufgeben musste, schien ihr nicht sehr nahezugehen. Ihre Familie hatte sich nie besonders viel aus der eigenen Religion gemacht, Elisabeth war zwar nach den Geboten des Talmud erzogen worden, ohne dass sich jedoch die Eltern selbst an diese Gebote gehalten hätten. Und so war es auch der Tochter leidlich egal, ob sie sich nun eine Jüdin oder Katholikin nannte. Ihren alten Gott behielt sie ja, sie bekam lediglich zwei neue und einige Heilige hinzu, so ungefähr betrachtete sie das, und statt des Sabbaths heiligte sie fortan den Sonntag. Sie war eine ebenso teilnahmslose Christin wie sie eine leidenschaftslose Jüdin gewesen war, und wer wollte es ihr verdenken! Dennoch führte ihr Übertritt zum fremden Glauben zu einem Bruch mit ihrer Familie, die – vielleicht auch um ihr Gesicht zu wahren – bei der Hochzeit nicht zugegen war und auch in der Folgezeit den Kontakt mit den Moorbauern mied.

Elisabeths Vater soll einige Monate später, nach einer durchzechten Winternacht, auf dem Rückweg von einer Waldschenke in einem dichten Gehölz gestürzt und eingeschlafen und daraufhin den Kältetod gestorben sein. Was aus dem Rest der Familie geworden ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, es hieß, die Mutter habe mit ihren Töchtern die Grafschaft Twente in Richtung Nordseeküste verlassen, um sich in Rotterdam nach Amerika einzuschiffen. Aber das waren lediglich Gerüchte, die niemals bestätigt werden konnten. Fest steht jedoch, dass Elisabeth nach ihrer Vermählung jegliche Verbindung mit ihrer Familie abbrach und diese in der Folgezeit nicht wieder aufnahm.

Die Hochzeit selbst wurde nicht, wie sonst bei den Ahlbecker Bauern üblich, in pompösem Rahmen und über mehrere Tage gefeiert, sondern heimlich und leise und sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten. Es habe beinahe den Eindruck, so wurde im Dorfe gemunkelt, als schämte sich der Vennekötter seiner jungen holländischen Braut. Und dies mag sogar zugetroffen haben, denn während Alois sein zügelloses Leben fortsetzte, sah man seine Frau Elisabeth nie an seiner Seite in Ahlbeck. Sie versteckte sich geradezu auf dem Moorhof und erschien nicht einmal zum sonntäglichen Hochamt in der Kirche. Der Bauer entgegnete auf etwaige Nachfragen lediglich, seine Frau habe noch Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache und müsse sich auch erst in die katholische Liturgie einfinden. Sie werde sich den Leuten schon früh genug zeigen. Und außerdem sollten sie nicht so neugierig sein und sich überhaupt alle zum Teufel scheren!

Das erste Jahr der Ehe verstrich ohne erwähnenswerte Zwischenfälle. Elisabeth lebte sich auf dem Hof und in der neuen Umgebung einigermaßen ein und zeigte auffallendes Geschick bei der Landarbeit und Feingefühl im Umgang mit dem Gesinde. Sie war durchaus beliebt bei den Mägden und Knechten, aber eine wirkliche Herrin auf dem Hofe war sie nicht, dazu fehlten ihr sowohl das Alter wie auch die Erfahrung. Mit der Zeit präsentierte sie sich ebenfalls den Dorfbewohnern, die ihr aber – mit wenigen Ausnahmen – sehr reserviert und kühl gegenüberstanden und in ihr immer noch die jüdische Hausiererin sahen.

Die Moorbäuerin interessierte sich nicht wirklich für die Meinung im Dorfe und gewöhnte sich sogar an die Sauferei ihres Gatten und daran, dass ihm hin und wieder die Hand ausrutschte. Sie nahm die Grobheiten des Bauern mit einem seltsam stoischen, geradezu störrischen Gleichmut auf und murrte nie. Vermutlich war sie von ihrem Vater Schlimmeres gewöhnt und betrachtete die Prügel, die sie von ihrem Mann bezog, sogar als Erleichterung. Sie bemühte sich in ihrer Schüchternheit und unverkennbaren Unsicherheit, nicht aufzufallen, sich niemandem aufzudrängen und unbelästigt ihr bescheidenes Leben zu leben. Leider sollte ihr dies nicht lange vergönnt sein.

Als sich nämlich nach gut einem Jahr immer noch kein Nachwuchs eingestellt hatte, wurde Alois zunehmend ungehalten. Er machte seiner Frau Vorwürfe und behauptete, sie komme ihren Pflichten als Gattin nicht nach. Für den Moorbauern war das Kinderkriegen ausschließlich Frauensache; wenn die Kinder ausblieben, so konnte dies – nach seiner ebenso beschränkten wie unbeirrbaren Meinung – nur an seinem Weib liegen. Er befahl ihr regelrecht, alsbald schwanger zu werden, und drohte für den Fall, dass dies nicht geschehe, sie grün und blau zu dreschen. Schließlich sei der Hoferbe der einzige Grund gewesen, warum er sie aus ihrer grässlichen Familie befreit habe. So sah er das: Er hatte dem Mädchen einen Gefallen getan und sie aus den Klauen des Vaters errettet, und nun war Elisabeth so undankbar und dreist, sich nicht an die eheliche Abmachung zu halten. Dass der Grund für die Kinderlosigkeit womöglich bei ihm zu suchen sei, das war für den Bauern undenkbar. Die Lösings, so posaunte er, seien immer schon fruchtbare Mannskerle gewesen. Und die Vennekötterin – er nannte sie selten beim Vornamen – solle sich unterstehen, irgendwelche unverschämten Lügengeschichten in Umlauf zu bringen. Sie solle sich nur ein wenig anstrengen und sich nicht länger zieren, dann könne das mit den Blagen doch nicht so schwierig sein!

Ungefähr zu dieser Zeit lernte Elisabeth die Frau des Magisterbauern, Maria Vogelsang, kennen. Auch die war keine Hiesige und hatte am eigenen Leib erfahren müssen, was es bedeutete, keine »Pfahlbürgerin« (wie man die Alteingesessenen in Ahlbeck immer noch nannte) zu sein. Zwar hatte sich Maria als Eheweib des Lehrers und talentierte Schneiderin Respekt verschafft, aber auch sie war als Hannoversche anfangs auf die Ablehnung der Dorfbewohner gestoßen, bei denen das Fremde und Andersartige immer auch als minderwertig zu gelten schien. Wer kein gebürtiger Ahlbecker war, so die einhellige Meinung im Dorf, der konnte nicht wirklich ein wertvoller Mensch sein, er war sozusagen unvollständig. Nicht umsonst nannten sich die Ahlbecker in aller Unbescheidenheit die »guten Leute«.

Vor diesem Hintergrund war es nicht verwunderlich, dass sich die beiden Außenseiterinnen zusammentaten, dass das Mädchen Elisabeth und die beinahe doppelt so alte Maria Freundinnen und Vertraute wurden. Die Magisterbäuerin nahm die Vennekötterin unter ihre Fittiche, machte sie mit den Gepflogenheiten im Dorf bekannt und gab ihr Rat, wo immer es ihr möglich war. Der Moorbauer sah diese Freundschaft gar nicht gern und hielt seiner Frau immer häufiger Strafpredigten. Sie solle sich lieber an die gebärfreudigen Weiber halten, anstatt mit den kinderlosen Vetteln herumzutratschen. Das sei ja geradezu ein schlechtes Omen!

Auch das zweite und dritte Jahr der Ehe verstrich, aber von einem Erben war nichts zu sehen. Alois war mittlerweile so ungehalten und erbost, dass er sein Weib mindestens einmal im Monat windelweich prügelte und dabei nicht mehr nur die Hand benutzte. Mit dem Dreschflegel jagte er sie über den Hof, wenn wieder einmal der Beweis der ausgebliebenen Schwangerschaft erfolgt war. Die arme Elisabeth lebte in beständiger Angst, sie betete zum ersten Mal inständig zum Himmel und flehte den Herrn an, Gnade mit ihr zu haben und ihr ungerechtes Leiden endlich zu beenden. Allein es nützte nichts.

Die Monate gingen ins Land, und der Moorbauer wurde immer rabiater, wenn es darum ging, seine – wie er meinte – ungehorsame und widerspenstige Frau für ihr Fehlverhalten zu strafen. Wenn sie sich in ihrer Not zu ihrer Freundin flüchtete, ging ihr Mann ihr nach, schleifte sie an den Haaren zum Hof zurück und drohte den Magisterbauern, sich bloß nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen. Die immer brutalere Vorgehensweise des Moorbauern, die zunehmend einer Raserei glich, blieb auch der Müllerfamilie nicht verborgen. Und als Elisabeth eines Tages mit blutenden Platzwunden und blauen Flecken beim Kolkmüller Zuflucht suchte, sah sich dieser gezwungen, seinen Bruder zur Rede zu stellen. Das Gespräch wurde lautstark und nicht gerade freundschaftlich geführt und endete damit, dass sich die Brüder mit erhobenen Fäusten und schließlich sogar mit Knüppeln in den Händen gegenüberstanden. Da der Kolkmüller nicht nur jünger, sondern auch kräftiger und flinker als sein Bruder war, lenkte dieser schließlich ein, lachte lauthals und tat die ganze Angelegenheit ab, indem er meinte, man müsse die Weiber eben erziehen, solange sie noch jung seien. »Als alte Vetteln«, rief er, »ist den Frauenzimmern ja nicht mehr beizukommen!«

»Treib es nicht zu weit, Alois«, erwiderte der Kolkmüller ernst. »Sonst komme ich zurück und verabreiche dir die Tracht Prügel, die du längst verdient hast. Das schwöre ich dir, auch wenn du mein Bruder bist.«

Das tatkräftige Einmischen und die Parteinahme des Müllers zeigte zwar eine Zeit lang Wirkung auf den Bruder, der sich in den folgenden Wochen merklich zusammenriss und nicht mehr – oder nur ganz selten – handgreiflich wurde, aber die Ruhe auf dem Moorhof war eine trügerische und nicht von langer Dauer. Bald schon tobte der Bauer wie eh und je, prügelte auf seine Frau, das Gesinde und die Tiere – abgesehen von seinem Schäferhund Rex – ein und ließ sich auch nicht mehr durch die Drohungen seines Bruders einschüchtern. Alles war wie gehabt und ging seinen gewohnten und alltäglichen Gang, und dennoch hatte sich die Situation grundlegend verändert, etwas Unerhörtes und Unerwartetes war geschehen: Der Kolkmüller und die Vennekötterin hatten sich schätzen und lieben gelernt und hatten schließlich zueinandergefunden.

In den ersten Jahren nach der Hochzeit des Moorbauern hatte Jan Lösing seine Schwägerin gar nicht als Frau wahrgenommen. Sie war für ihn lediglich ein junges und unerfahrenes Mädchen gewesen, das bemitleidet werden musste, für das er aber keine weitergehenden Gefühle empfand. Sie war ein hübsches Kind, aber eben nur ein Kind und kein Weib, für das man eine ernstzunehmende Leidenschaft entwickeln konnte.

Im Laufe der Jahre jedoch war aus dem pausbäckigen Mädchen eine erwachsene Frau geworden. Ihre Züge waren – vielleicht auch durch das Leid, das sie hatte ertragen müssen – härter und weniger rundlich geworden, ihr Auftreten wirkte nun, da sie auch die fremde Sprache fließend beherrschte, sicherer und selbstbewusster, und ihre Wirkung auf die Männer des Dorfes hatte entsprechend zugenommen. Vermutlich war sie sich selbst dieser Veränderungen gar nicht bewusst, aber aus der niedlichen Maid war eine imponierend schöne Frau geworden und aus dem unsicheren und eingeschüchterten Ding eine energische und starke Persönlichkeit. Den Prügeleien ihres Mannes hatte sie körperlich nichts entgegenzusetzen, aber charakterlich war sie ihm weit überlegen und ließ ihn das oft genug spüren. Je mehr er versuchte, sie zu erniedrigen, desto stolzer und abweisender wurde sie. Je öfter er sie mit Schlägen traktierte, desto geringschätziger und trotziger behandelte sie ihn, was erst recht seinen Jähzorn hervorrief. Und ein neues Gefühl stieg in dem Bauern hoch: das der Eifersucht. Seine Frau hatte – ohne sich dieses klarzumachen – den Kampf gegen ihren Gatten aufgenommen, aber es war ein Kampf mit ungleichen Waffen.

Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis auch dem Kolkmüller die Veränderungen im Wesen und Aussehen seiner Schwägerin auffallen und er Gefallen an dieser Entwicklung finden würde. Zunächst wehrte er sich gegen die in ihm aufsteigenden Gefühle, er wollte nicht wahrhaben, was mit ihm geschah. Doch immer häufiger und nicht mehr nur in Gedanken beschäftigte er sich mit Elisabeth. Er ertappte sich dabei, wie er nach Vorwänden suchte, um seinen Bruder und dessen Frau zu besuchen. Er beobachtete seine Schwägerin heimlich bei der Arbeit auf dem Feld und genoss es, ihren Namen leise und für sich auszusprechen, als wäre er ein Gedicht. Selbst ihren holländischen Akzent ahmte er dann und wann nach und fand ihn niedlich. Ja, er malte sogar heimlich ein Bild von ihr, das er oft verträumt ansah und wie einen Schatz hütete. Mit einem Wort, er hatte sich verliebt.

Elisabeth hatte von alledem zunächst keine Ahnung. Ihr fielen die beifälligen oder lüsternen Blicke der Männer und die missgünstigen oder mürrischen der Frauen auf, aber sie dachte sich wenig dabei. Sie sehnte sich lediglich nach ein wenig Zufriedenheit und nach Ruhe vor ihrem Mann. Sie wehrte sich gegen ihn, so gut sie konnte, und ertrug, wogegen kein Wehren möglich war. Und sie freute sich auf die Gespräche und Treffen mit dem Müller, die sich in der letzten Zeit zu einer lieben Gewohnheit entwickelt hatten. Elisabeth war der liebevollen und tröstenden Worte so bedürftig, dass sie sie aufnahm wie ein Löschblatt die Tinte auf dem Papier. Dass ihr Schwager Jan nicht nur um des Redens willen mit ihr zusammensaß, kam ihr zunächst gar nicht in den Sinn, und als sie es schließlich herausfand, war sie erstaunt zu merken, dass es ihr nicht unangenehm war. Ja, dass ihr seine körperliche Nähe ebenso guttat wie seine geistige. Jan war so anders als ihr Mann, so gütig und nett und zärtlich, und er hatte seine Lisbeth ebenso lieb wie sie ihn.

»Genug!«, unterbrach ich ihn. »Ich will das nicht hören!«

Ich kann nicht genau sagen, was mich an den Worten des Müllers störte, aber es war mir nicht möglich, seiner Erzählung ohne Widerwillen zu folgen. Vielleicht widerstrebte es mir, von der heimlichen Liebschaft meiner eigenen Mutter zu hören, vielleicht machte mir auch der allzu romantisierende und rührselige Tonfall, in dem der Müller von ihr sprach, zu schaffen. Er redete, nein, er schwelgte geradezu von der Moorbäuerin, von ihrer Schönheit und ihrer Anmut, als wäre sie immer noch seine Geliebte, seine angebetete Lisbeth. Und das konnte und wollte ich nicht länger ertragen!

»Was ist denn?«, erwiderte er erstaunt. »Ich dachte, du willst erfahren, was mit deiner Mutter geschehen ist? Hast du es dir anders überlegt?«

»Es reicht mir zu wissen, dass sie Eure Geliebte war. Ihr müsst mir das alles nicht auch noch haarklein unter die Nase reiben!«

»Wenn dir das alles schon nicht gefällt«, antwortete er brüskiert, »dann willst du das Weitere erst recht nicht hören.« Er funkelte mich wutentbrannt an und stemmte sich gegen den Eichenpfosten, dass es erneut im Gebälk über ihm knarrte und die Mehlrutsche merklich zitterte. »Was glaubst du eigentlich, worum es hier geht? Hast du gedacht, ich erzähle dir eine harmlose Gute-Nacht-Geschichte? Wach auf, mein Kleiner, und reiß dich am Riemen!«

»Es ist nur alles so …«, begann ich, mich zu erklären, doch der Müller schnitt mir das Wort ab und fuhr mich barsch an: »Es ist alles so was?!«

Ich wusste keine Antwort und senkte den schweigend den Kopf.

»So unmoralisch?«, fuhr er unbeirrt und in unverminderter Lautstärke fort. »So unrecht? So unschön? So unsittlich?! Pah! Hast du eine Ahnung! Wenn dir das bisschen Glück deiner Mutter schon so zuwider ist, wie wirst du dann erst reagieren, wenn ich von ihrem Unglück erzähle? Glaub mir, mein Junge, der hässliche Teil kommt erst noch!«

Ich schaute ihn betreten an und fühlte mich wie ein kleiner dummer Junge, der auf frischer Tat bei einer Unartigkeit ertappt worden war.

»Entschuldigt bitte«, murmelte ich kleinlaut. »Ich hatte nur gedacht …«

»Ich weiß genau, was du dir gedacht hast!«, unterbrach er mich. »Aber so ist die Welt nun einmal: Nicht alles was schön ist, ist deswegen auch rechtens und gut. Es gibt weder Schwarz noch Weiß, merk dir das! Es gibt nur Grau, mal heller, mal dunkler. Deine Mutter war eine Ehebrecherin, aber war sie deswegen ein schlechter Mensch? Willst du sie verdammen, weil sie sich nach Liebe gesehnt hat? Dann wärst du auch nur einer von diesen verlogenen Pharisäern. Schau mich an, vor dir sitzt der Mann, der deine Mutter glücklich gemacht hat, und zugleich bin ich derjenige, der für ihr Elend verantwortlich ist. Ein Elend, gegen das ihre fürchterliche Ehe wie das Paradies erscheint. Und ich kann dir versichern, dass seitdem kein Tag vergangen ist, an dem ich mich nicht dreckig und schuldig gefühlt habe. Aber vermutlich würde ich mich beim nächsten Mal wieder genauso verhalten. Und weißt du wieso?« Er sah mir forschend ins Gesicht, wartete einen Moment und gab dann selbst die Antwort: »Weil wir, verdammt noch mal, keine Heiligen sind! Deine Mutter nicht, ich erst recht nicht, aber auch du nicht, kleiner Jeremias. Es ist leicht, eine weiße Weste zu behalten, wenn man auf dem hohen Ross sitzt, aber versuch dies mal, wenn du im Schlamm steckst.«

Wir saßen uns eine Minute lang schweigend gegenüber, doch dann fuhr er plötzlich hoch, blickte mich streng an und fragte: »Willst du den Rest hören oder lieber nicht?«

Ich schaute beschämt zu Boden und nickte.

4

Seit etwa einem Monat trafen sich Elisabeth und Jan heimlich an den unterschiedlichsten Orten, um einander zu sehen, miteinander zu sprechen und sich zu lieben. Da es nur sehr schwer möglich war, längere Zeit von der Mühle oder vom Bauernhof abwesend zu sein, ohne Verdacht zu erregen, waren diese Stelldicheins eher selten und immer nur kurz, und zumeist trafen sich die Liebenden in tiefster Nacht irgendwo im Wald oder am Wasser. Es gab eine Stelle am Ahlbach, gleich hinter einer Flussbiegung und am Fuße eines kleinen Abhangs, wo das Ufer flach und sandig und dennoch vom Weg aus nicht zu sehen war. Dort wartete Elisabeth auf den Müller, der mit einem Ruderboot hierherkam, aber selten länger als eine halbe Stunde bleiben konnte. Während nämlich der Moorbauer, zumal in betrunkenem Zustand, fest und schnarchend schlief und nicht einmal durch Zeter und Mordio aufzuwecken war, hatte die Müllerin einen ausgesprochen leichten Schlaf. Sie war bereits einige Male nachts aufgeschreckt und hatte erstaunt festgestellt, dass der Platz neben ihr im Bett leer war. Zwar hatte der Müller jedes Mal eine plausible Erklärung für seine nächtlichen Unternehmungen finden können, doch seine Frau schien Verdacht zu schöpfen und ihrem Gatten zu misstrauen. Jan merkte das vor allem daran, dass sie, wann immer sie mit Elisabeth zusammenkam, diese skeptisch betrachtete und sie regelrecht unter die Lupe nahm. Der Müller bemühte sich, in Elisabeths Gegenwart unbefangen zu wirken, doch er hatte Angst, dass ihn sein Blick verraten könnte. Seine Hände und seine Körperhaltung hatte er unter Kontrolle, aber er ertappte sich des Öfteren dabei, wie er seine Schwägerin – im Beisein der gesamten Familie – mit den Augen verschlang und seinen Blick nicht von ihr wenden konnte.

Den Argusaugen der Müllerin war dies offensichtlich nicht entgangen, und sie sprach ihren Gatten eines Tages darauf an. Sie schalt ihren Mann einen Schwerenöter und warf ihm vor, er habe es auf die kleine Lisbeth abgesehen, dass er sie so anstarre. Jan redete sich heraus und tat die Eifersucht seiner Frau als kindisch und unbegründet ab. Die Moorbäuerin sei noch ein halbes Kind, und er, Jan, könne ja ihr Vater sein. Das gelte für den Vennekötter erst recht, antwortete die Müllerin mürrisch, und dennoch habe ihn dies nicht davon abgehalten, das Mädchen zu heiraten.

Jan und Elisabeth kamen überein, sich fortan nicht mehr tagsüber besuchen zu wollen und sich – so schwer ihnen dies auch fiel – auf die wenigen nächtlichen Zusammentreffen zu beschränken.

Der Moorbauer seinerseits war ebenfalls rasend vor Eifersucht, er sah in jedem Mann einen möglichen Rivalen und hatte bereits mehrmals seine Knechte zurechtgewiesen oder beschimpft und ihnen Keile für den Fall angedroht, dass sie es noch einmal wagen würden, seiner Gemahlin schöne Augen zu machen. Nur seinen Bruder hatte er nicht in Verdacht, er besprach sich sogar mit ihm und holte seinen Rat ein, wenn ihn die Eifersucht zu sehr quälte. Sein rabiates Verhalten der Bäuerin gegenüber änderte er jedoch nicht, seine Eifersucht steigerte sein brutales Vorgehen eher noch, sie entsprang auch weniger einem zärtlichen Gefühl als einem ausgeprägten Besitzdenken. Elisabeth gehörte ihm, und er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihm andere Männer sein Eigentum streitig machen wollten.

So kam der Mai 1794. Die Situation hatte sich in den letzten Wochen noch zugespitzt, die Müllerin war allmählich nicht mehr nur mit Beteuerungen ihres Mannes zu besänftigen und hatte gedroht, mit dem Moorbauern zu sprechen. Die Tatsache, dass Jan und Elisabeth sich in ihrer Gegenwart geradezu unterkühlt gaben und jeden längeren Blickkontakt oder jede angeregte Unterhaltung mieden, verstärkte noch den Verdacht der Müllerin. So widersinnig dies auch klingen mag: Je weniger Beweise sie für ihre Vermutungen hatte, desto misstrauischer wurde sie.

Die Lage wurde für die Liebenden immer unhaltbarer. Zudem war es vor kurzem zu einem unglücklichen Zwischenfall auf dem Moorhof gekommen. Nach einem Besuch bei seinem Bruder hatte der Kolkmüller die Gelegenheit genutzt, um auf der Tenne einige Worte mit seiner Liebsten zu wechseln und sie für einen Moment an sich zu drücken und zu liebkosen, als plötzlich, wie aus dem Nichts, die blinde Magd Gertrud vor ihnen stand. Sie hatte offenbar in einer dunklen Nische des Kuhstalls gesessen, vielleicht war sie beim Melken eingeschlummert oder hatte es sich im Heu gemütlich gemacht. Mit einem Mal stand sie jedenfalls vor den beiden und starrte sie mit ihren toten Augen an. Zwar konnte sie nicht sehen, dass der Müller seine Arme um die Schwägerin gelegt hatte und ihr liebevoll etwas ins Ohr flüsterte, aber Jan konnte ebenfalls nicht sicher wissen, ob die Alte nicht doch etwas von der Unterhaltung mitbekommen hatte. Er verdrückte sich schleunigst und wortlos und beschloss noch am gleichen Tage, die unerträglich gewordene Situation ein für alle Mal zu beenden. Es war nötig und unausweichlich, einen Schlussstrich zu ziehen, bevor sie allesamt ins Unglück stürzten. Sie hatten sich zu etwas Schönem, aber Unvernünftigem und Gefährlichem hinreißen lassen, und nun war es an der Zeit, in die Wirklichkeit zurückzukehren und den Tatsachen ins Auge zu schauen, und diese lauteten: Jan und Elisabeth hatten keine gemeinsame Zukunft!

So dachte der Müller und wartete nur noch auf den richtigen Zeitpunkt, der Moorbäuerin seine Entscheidung mitzuteilen. Sie würde es schon verstehen, glaubte er, schließlich war sie eine kluge und verständige Frau.

Die Gelegenheit, auf die der Müller wartete, sollte sich bald ergeben. Mitte des Monats kündigte der Moorbauer an, er wolle sich für einige Tage auf den Weg nach Deventer machen, um auf der dortigen Messe einen Zuchtbullen zu ersteigern. Zu diesem Zweck wollte er den Knecht Hermann mitnehmen, damit dieser ein wenig auf andere Gedanken kam. Hermann war der Sohn der blinden Gertrud, seine Frau Hermine war im achten Monat schwanger und hatte in der letzten Zeit ein leichtes Kneifen im Bauch verspürt und einige fiebrige Schwindelanfälle erlitten, die allerdings von der Hebamme als nicht bedenklich erachtet wurden. Das sei ganz normal, meinte diese, schließlich handele es sich um Hermines Erstlingsgeburt. Hermann war dennoch ganz krank vor Sorge, lief wie ein aufgescheuchtes Huhn in der Gegend herum und war für die tägliche Arbeit kaum zu gebrauchen. Hermine war bei den Frauen auf dem Hof in guten Händen, dessen war er sich durchaus bewusst, und auch die alte Hebamme verstand ihr Handwerk und hatte in ihrem Leben an die hundert Kinder auf die Welt gebracht, aber die innere Unruhe machte dem armen Kerl arg zu schaffen. Das Schlimmste war, dass er seiner Frau, die selbst noch ein Kind war, nicht helfen konnte und zur Untätigkeit verdammt war. So beschloss der Vennekötter, seinen Knecht mitzunehmen und ihn – wenigstens für ein paar Tage – von den alltäglichen Sorgen zu befreien. Außerdem brauchte Alois tatkräftige Unterstützung beim Ersteigern und anschließenden Begießen des Handels. Mit wem sollte der Bauer denn auf den Kauf des Bullen anstoßen, wenn er im fremden Ort niemanden kannte?

Hermann ließ sich nur widerwillig überreden und bat Alois mehrmals, einen der anderen Burschen mitzunehmen, doch der Moorbauer wollte davon nichts hören, und so brachen die beiden Männer an einem Freitag im Morgengrauen mit dem Pferdewagen auf. Alois verkündete seiner Frau, sie könne mit seiner Rückkehr in frühestens zwei Tagen rechnen. Er werde die erste Nacht in Deventer verbringen und die zweite Nacht irgendwo unterwegs einkehren, da er davon ausgehe, dass der Rückweg mit dem Bullen im Geschirr nicht so geschwind vonstatten gehe. Wenn es wider Erwarten irgendetwas auf dem Hof zu regeln gebe, mit dem sie nicht zu Rande komme, dann solle sie sich in seiner Abwesenheit ruhig an den Kolkmüller wenden.

Als Jan von den Plänen seines Bruders erfuhr, beschloss er, gleich den ersten Abend nach der Abreise zu nutzen, um mit Lisbeth zu reden und ihr seine Entschlüsse mitzuteilen. Wie jeden Tag ging er mit seiner Frau um Punkt neun Uhr zu Bett, und während diese sich herumwälzte und nur mühsam Schlaf fand, starrte er zur Decke und suchte in Gedanken nach den passenden Worten, mit der er seiner Liebsten das Ende ihrer Liebschaft erklären konnte. Als eine Stunde verstrichen war und er sichergehen konnte, dass seine Frau eingeschlafen war, kleidete er sich geräuschlos an, schlich sich aus dem Zimmer und machte sich eilends auf den Weg zum Moorhof.

Es war eine sternenklare und laue Frühlingsnacht, kein Wölkchen bedeckte den Himmel, aber der Neumond sorgte nichtsdestotrotz dafür, dass ringsum Finsternis herrschte. Der Bauernhof lag verschlafen am Rand des Waldes, kein Licht war weit und breit zu sehen, kein Laut zu vernehmen. Der Müller hatte der Moorbäuerin nichts von seinem nächtlichen Vorhaben gesagt, vielleicht hatte er Angst vor der eigenen Courage gehabt, womöglich hatte er befürchtet, er könne es sich im letzten Moment anders überlegen und doch nicht den nötigen Mut aufbringen. Er hatte es auch nicht übers Herz gebracht, sie ausgerechnet zu jenem Platz am Ahlbach zu bestellen, wo sie die schönsten und süßesten Stunden verbracht hatten. Nein, lieber wollte er Lisbeth – gleich in doppeltem Sinne – zu Hause überraschen und die Trennung kurz und schmerzlos und ohne große Ankündigung vollziehen. Was nützte all das Sinnieren?, dachte er für sich. Was hatte es für einen Sinn, sich einen Plan zurechtzulegen? Was unvermeidbar war, das hatte zu geschehen.

So schlich er sich nun also an der Landwehr entlang und am Gesindehaus vorbei, um von der Rückseite des Anwesens her zum Bauernhaus zu gelangen. Er hatte die Absicht, ans Fenster der Schlafkammer zu klopfen, um Lisbeth auf diese Weise zu wecken und von ihr Einlass zu erhalten. Immer wieder glaubte er, eine Bewegung hinter sich oder ein Rascheln vor sich zu vernehmen, aber stets war es nur ein Luftzug, der die Äste zittern ließ, oder ein Vogel, den er aus dem Schlaf aufgeschreckt hatte. Ein gutes Dutzend Mal hatte er sich in den letzten Wochen heimlich mit Lisbeth zum Stelldichein getroffen, aber nie waren seine Nerven derart angespannt gewesen wie jetzt, da er vorhatte, dieser Heimlichkeit und diesem Versteckspiel ein Ende zu bereiten. Und im gleichen Moment wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Dem Spiel mit dem Feuer war er auf Dauer nicht gewachsen. Er war einfach zu alt und zu vernünftig, um sich wie ein grüner Jüngling aufzuführen.

Ohne Zwischenfälle gelangte der Müller zum Kotten, alles klappte wie am Schnürchen, niemand sah ihn, kein Mensch begegnete ihm. Er trat vorsichtig ans Fenster, klopfte leise, wartete eine Weile und klopfte erneut, diesmal etwas energischer. Im gleichen Moment hörte er, wie auf dem Hof der Schäferhund anschlug. Wie vom Blitz getroffen, fuhr er zusammen, starrte in die Dunkelheit und horchte, was weiter geschehen würde. Er erwartete, dass irgendjemand durch das Bellen geweckt würde oder dass der Hund um die Ecke geflitzt kam und sich auf ihn stürzte. Doch das Kläffen des Köters ging lediglich in schläfriges Heulen über, und schließlich kehrte wieder Stille ein. Das Gebell hatte dem Müller einen solchen Schrecken eingejagt, dass er auf der Stelle sein Vorhaben und seine festen Vorsätze vergaß und stehenden Fußes das Weite suchen wollte. Doch im selben Augenblick hörte er die Stimme der Moorbäuerin hinter sich und fuhr herum.

»Jan?«, flüsterte sie erstaunt. Sie hatte das Fenster geöffnet und lehnte sich hinaus. »Liebster, was gibt es? Ist irgendetwas geschehen?« Sie trug ein schlichtes leinenes Nachtkleid, und ihre langen und lockigen Haare fielen ihr lose über die Schultern. Ihr Gesicht war blass, und ihren Augen war anzusehen, dass sie fest geschlafen hatte. »Warum starrst du mich so an?«, fragte sie und rieb sich die Müdigkeit aus den Augen.

Tatsächlich blickte der Müller sie an, als sähe er ein Gespenst vor sich. Er lächelte gequält, schüttelte leicht den Kopf und murmelte: »Ich muss mit dir sprechen, Lisbeth. Lässt du mich herein?«

»Natürlich«, antwortete sie verwirrt und schien ihre Gedanken sammeln zu wollen. »Warte einen Moment, ich öffne dir die Tür.«

»Nein«, entfuhr es Jan prompt und heftig, und er legte seine Hand auf die ihre, als er hinzufügte: »Ich klettere durchs Fenster zu dir.«

Behände stieg er aufs Fensterbrett, schwang sich in die Kammer und schloss das Fenster sofort wieder. Er baute sich vor der Bäuerin auf, räusperte sich verlegen und wusste nicht, wie und womit er beginnen sollte. Als Elisabeth eine Kerze anzünden wollte, herrschte er sie an: »Nein, kein Licht!«

»Zieh die Vorhänge zu!«, erwiderte sie ungerührt und entzündete ein Streichholz. »Wenn du mir etwas mitzuteilen hast, dann möchte ich dabei dein Gesicht sehen können, damit ich weiß, ob du meinst, was du sagst.« Sie sprach ganz ruhig und gefasst, und in ihrem Blick lag etwas wie Resignation. Sie schien zu wissen, was nun kommen würde. Sie hatte bereits seit einiger Zeit darauf gewartet. »Sag, was du zu sagen hast«, setzte sie tonlos hinzu, »ich werde dir zuhören.«

Der Müller nahm allen Mut zusammen und erzählte in fahrigen und gestammelten Worten, was er sich in den letzten Tagen überlegt hatte: dass es zu gefährlich und geradezu verrückt war, sich weiterhin nächtens zu treffen; dass die Nervenanspannung zu viel für ihn sei und er keine Kraft mehr habe; dass er sich zwar wie ein kleines Kind auf die Treffen mit ihr freue, dass er aber nicht länger so tun könne, als wäre er unverheiratet und als hätte er nicht selbst zwei kleine Kinder; dass er das, was zwischen ihnen gewesen sei, wie einen heiligen Schatz in seinem Herzen hüten werde, aber dass der Zeitpunkt gekommen sei, einen traurigen, aber nötigen Schlussstrich zu ziehen; und schließlich, dass er Lisbeth liebe, wie er noch niemanden zuvor geliebt habe, und dass er sie lediglich um Verzeihung bitten könne und hoffe, sie denke nun nicht allzu schlecht von ihm.

Als er geendet hatte, herrschte lange Zeit Schweigen zwischen ihnen. Er blickte sie an wie einen Richter, dessen Urteilsspruch er erwartete. Er hatte das einzig Richtige oder zumindest das Vernünftige getan, und dennoch fühlte er sich schuldig und wie ein gemeiner Verräter. Und Elisabeth schaute ihn an oder durch ihn durch, als hätte sie seine Worte gar nicht vernommen, als wäre sie gänzlich der Welt entrückt. Nur die Tränen, die sich in ihren Augen sammelten, bewiesen, dass sie jedes Wort verstanden hatte.

Der Müller griff in seine Tasche und holte ein silbernes Medaillon heraus, das er der Bäuerin nun mit ausgestreckter Hand hinhielt. »Ich möchte dir dies gerne schenken. Es hat früher meiner Mutter gehört, sie hat es mir kurz vor ihrem Tode gegeben.«

»Was soll ich damit?«, war alles, was Elisabeth erwiderte.

»Es soll dich an mich erinnern. Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich immer lieb haben werde.«

Sie nahm das Medaillon und betrachtete es eingehend und traurig. Ihre Wangenmuskeln waren angespannt, und ihre Kiefer mahlten, als müsste sie das Gehörte – im wahrsten Sinne des Wortes – erst hinunterschlucken. Dann biss sie sich auf die Unterlippe und versuchte sich an einem grotesken und gespenstischen Lächeln.

»Hast du nichts dazu zu sagen?«, wollte der Müller wissen.

»Es ist alles gesagt«, erwiderte sie ruhig, »mehr sogar als nötig.«

Und plötzlich geschah etwas Seltsames. Elisabeth öffnete das Band, mit dem ihr Nachtkleid vor der Brust verschnürt war, ließ das Gewand an sich herunter und zu Boden gleiten und stand plötzlich nackt vor dem Müller. Sie ging langsam zu ihrem Bett, legte sich unter die Decke, hob diese – wie als Einladung – an einem Ende hoch und sagte: »Komm!«

Jan konnte sie nur anstarren, Worte kamen nicht über seine Lippen.

»Es ist schließlich unsere letzte Nacht«, sagte sie, und der bittere und gequälte Tonfall, mit dem sie diese Worte hervorpresste, ließ Jan erschaudern. »Lass uns nicht auseinandergehen, als hätten wir uns nicht mehr lieb.«

Der Müller zögerte, er machte einen Schritt in ihre Richtung und blieb dann stehen, wo er war. Er hatte sich alle möglichen Reaktionen seiner Geliebten ausgemalt, von herzergreifendem Schluchzen bis zu gehässigen Worten und sogar Handgreiflichkeiten, aber mit der jetzigen Situation hatte er nicht gerechnet. Er war schlicht überfordert. Was bezweckte Elisabeth? Ging es ihr wahrhaftig nur um eine letzte Liebkosung, einen letzten Kuss, eine letzte Umarmung? Wollte sie vielleicht durch ihr Tun die Entscheidung des Müllers zum Wanken bringen? Oder war es nur der hilflose und ohnmächtige Ausdruck von Enttäuschung und Schmerz? Er wollte standhaft bleiben, ganz gewiss, das wollte er. Und als draußen der Hund erneut anschlug, wollte er es mehr denn je. Doch ebenso plötzlich wie das Gekläffe erklungen war, verstummte es auch wieder. Und dann hörte er das beinahe krampfhafte Weinen unter der Decke und sah die Umrisse des gekrümmten und zuckenden Körpers, und um seine Standhaftigkeit war es geschehen.

»Lisbeth!«, rief er, lief zum Bett und kroch zu ihr unter die Decke. Auch ihm schossen nun die Tränen in die Augen, als sie sich wie zwei Ertrinkende aneinander klammerten und sich mit verzweifelten und fast gewalttätig wirkenden Küssen bedeckten.

»Liebster!«, rief Elisabeth schluchzend. »Verlass mich nicht! Bleib bei mir!« Ihr Körper schüttelte sich wie unter Fieberanfällen, ihre Hände krallten sich in sein Hemd, ihre Augen waren weit aufgerissen und schienen doch nichts wahrzunehmen. Auf ihren Lippen bildete sich ein irres und zugleich todtrauriges Lächeln.

Und im gleichen Augenblick wurde die Tür zur Kammer aufgerissen, und der Moorbauer stand im Rahmen, in der Hand einen Knüppel, das Gesicht zu einer hassverzerrten Fratze verzogen.

»Habe ich es doch gewusst!«, rief er wie von Sinnen, riss die Bettdecke beiseite und fauchte: »Verdammte Hure! Das sollst du mir büßen!«

»Alois?«, rief ich erschrocken. »Euer Bruder? Wieso denn das? Ich dachte, er wäre …«

»Das hatte ich auch gedacht«, erwiderte der Müller und schaute müde zu mir herüber. Ein Stoßseufzer entfuhr ihm, als er achselzuckend fortfuhr: »Ich weiß bis heute nicht genau, wieso er zurückgekehrt ist. Vielleicht hatte er bereits einen Verdacht gehabt und die Reise nach Deventer war nur ein Vorwand gewesen, um uns in Sicherheit zu wiegen und auf frischer Tat zu ertappen. Ganz sicher kann ich das nicht sagen. Das kann keiner.«

»Was hat denn der Knecht dazu gesagt? War der auch zurückgekehrt?«

»Kuckels Hermann?« Jan Lösing schüttelte den Kopf. »Der kam wie geplant am Sonntag mit dem ersteigerten Bullen zum Bauernhof zurück. Nur dass es eben keinen Bauernhof mehr gab. Nichts gab es mehr, der Hof lag in Schutt und Asche, Alois war tot, Elisabeth verschwunden, Hermanns Frau hatte eine Missgeburt zur Welt gebracht und lag mit Fieber danieder.« Voller Ekel starrte er an sich hinab und dann wieder zu mir auf und setzte schließlich hinzu: »Der arme Kerl! Als er am Freitag losmarschiert war, hatte alles in seinem Leben einen Sinn und ein Ziel gehabt, und als er nach zwei Tagen zurückkam, war nur noch ein Scherbenhaufen davon übrig.«

»Hat man ihn später nicht zu der Sache vernommen?«

»Das schon«, erwiderte der Müller, und ein verächtliches Grinsen huschte über sein Gesicht. »Aber die Untersuchung leitete der alte Lanvermann, und der hatte mittlerweile allen Grund, nicht zu nah an die Wahrheit zu geraten oder allzu viel Staub aufzuwirbeln. Als Hermann wieder in der Lage war, ein vernünftiges Wort von sich zu geben, wollte ihm niemand wirklich zuhören, und der Schulze schon gar nicht. Die Sache war längst geregelt.«

Ich sah ihn erstaunt an, doch er verfiel in düsteres Schweigen und senkte den Kopf. Ich bemühte mich, den Faden wieder aufzunehmen, und fragte: »Was ist auf dem Weg nach Deventer geschehen?«

»Nach dem, was Hermann zu Protokoll gegeben hat, waren die beiden etwa eine halbe Tagesreise von Ahlbeck entfernt, als mein Bruder plötzlich vorschlug, in einem Wirtshaus in der Nähe der holländischen Stadt Neede einzukehren. Hermann wunderte sich zwar, weil sie noch etwa zwei Drittel des Weges vor sich hatten, aber Alois bestand darauf und meinte, auf eine Stunde mehr oder weniger komme es nicht an. Er sei sehr reizbar und in einer merkwürdigen Stimmung gewesen, sagte Hermann später aus. Er habe viel zu viel Bier und Schnaps in viel zu kurzer Zeit in sich hineingeschüttet und sei bereits nach einer halben Stunde sturzbetrunken gewesen.« Der Müller unterbrach sich und setzte nachdenklich hinzu: »Oder er hat zumindest so getan, als wäre dies der Fall, denn eigentlich konnte Alois einiges vertragen und war nur schwer unter den Tisch zu trinken.«

»Er wollte, dass Hermann ihn für betrunken hielt?«

Ein Achselzucken war die Antwort. »Das ist zumindest denkbar«, sagte er schließlich. »Alois soll seltsames und wirres Zeug gefaselt haben. Vom Undank der Weiber habe er geklagt und dass er gar nicht wisse, wofür er eigentlich noch lebe. Man schufte und ackere, dass einem die Hände bluteten, und es sei doch alles für die Katz! Sie würden in Ahlbeck alle noch ihr blaues Wunder erleben, habe er ausgerufen. Er werde schon dafür sorgen, dass man ihn nicht so bald vergesse. Einen Schlussstrich wolle er ziehen, ein für alle Mal müsse es damit vorbei sein. Jetzt reiche es! Und dann soll er mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gesagt haben: ›Du wirst noch an meine Worte denken, Hermann! Darauf kann ich dir Brief und Siegel geben. Jetzt ist Schluss!‹ Der Dorfschulze hat diese seltsamen Worte natürlich als Hinweis auf den Freitod meines Bruders gewertet. Dabei wusste er nur zu gut, dass Alois das ›Schluss machen‹ keineswegs auf sich selbst bezogen hatte.« Wieder verzog er sein Gesicht zu einem verächtlichen Lächeln und setzte dann hinzu: »Alois hat jedenfalls an diesem Freitagmittag seinen Knecht alleine nach Deventer geschickt, um dort den Bullen zu kaufen. Er wusste, dass er sich auf Hermann voll und ganz verlassen konnte, er hat ihm das Geld und genaue Anweisungen für die Ersteigerung gegeben. Er selbst ist dann ohne Begleitung nach Ahlbeck zurückgekehrt, angeblich, weil er zu betrunken war, um die Weiterreise zu bewältigen. In Wirklichkeit jedoch hatte er nie vorgehabt, die Messe in Deventer in eigener Person zu erreichen. Dass er darauf bestanden hatte, Hermann mitzunehmen, hatte meines Erachtens auch nichts mit dessen häuslichen Problemen zu tun. Es ging Alois keineswegs darum, den Knecht für ein paar Tage von seinen Sorgen zu befreien. Nein, er brauchte Hermann, weil er nur ihm zubilligte, statt seiner den Kauf zu tätigen.«

»Und dann hat Euch der Vennekötter auf frischer Tat erwischt?«

»Das hat er«, antwortete der Kolkmüller. »Und nicht nur das.«

5

Alois stand, vor Wut schnaubend und mit bleichem Gesicht, vor dem Bett und fuchtelte aufgeregt mit dem Knüppel herum. Dennoch schien er einen Moment unentschlossen, er verharrte wie angewurzelt auf der Stelle, als wäre es ihm nicht möglich, seine Füße vom Fleck zu bewegen. »Lumpenpack!«, stieß er schließlich hervor. »Wie räudige Köter sollte man euch ertränken. Mit dem Knüppel werde ich euch totschlagen.«

Elisabeth stierte ihn nur ängstlich an, kroch ans Kopfende des Bettes und rief flehentlich: »Lass dir doch erklären …«

Als seien diese hilflosen Worte die Zauberformel, die ihn aus seiner Starre erlöste, fuhr der Bauer plötzlich in die Höhe und wollte sich in Rage auf seine Frau stürzen. »Erklären?!«, rief er. »Was gibt es denn da zu erklären?«

Im selben Augenblick war Elisabeth aufgesprungen und hatte sich in eine Ecke der Kammer geflüchtet. Das Nachtkleid vor sich haltend und so ihre Nacktheit bedeckend, stand sie geduckt da und wartete darauf, dass ihr Gatte mit dem Knüppel auf sie einschlug.

Als Alois ihr nachsetzen wollte, stellte sich der Müller ihm in den Weg. Wenn der Vennekötter Lisbeth etwas antun wolle, sagte er und fasste den Bauern an den Schultern, dann müsse er erst ihn zusammenschlagen. Jan stand seinem Bruder so nahe, dass er dessen Alkoholfahne riechen konnte und ihm fast übel davon wurde. Dennoch fuhr er fort, Alois regelrecht zu beschwören. »Lisbeth ist nicht verantwortlich für das, was geschehen ist. Es ist allein meine Schuld!« Wenn es schon gelte, jemanden zu bestrafen, so solle sich Alois an ihn wenden und seine Frau verschonen. Er solle nichts tun, was er später bereuen könnte.

Der Bauer lachte höhnisch, und ohne Ankündigung stieß er seinem Bruder plötzlich mit aller Macht den Holzknüppel in den Unterleib, dass diesem die Luft wegblieb und er wie ein Mehlsack zu Boden ging.

»Zu dir komme ich später, kleiner Bruder«, sagte der Moorbauer spöttisch und mit grausamem Grienen im Gesicht und wandte sich dann seiner Frau zu. »Erst einmal muss ich mich um mein teures Weib kümmern.« Er riss Elisabeth an den Haaren und zwang sie in die Knie. »Hast du noch etwas zu sagen?«, fragte er und holte mit dem Knüppel aus. »Ansonsten würde ich dir raten, ein letztes Gebet zum Himmel zu schicken.«

Der finstere und entschlossene Gesichtsausdruck des Bauern ließ keinen Zweifel daran, dass er seine Worte bitterernst meinte und im nächsten Moment zuschlagen würde. Er war ihr Scharfrichter und hatte sie zum Tode verurteilt, er hielt sich für berechtigt, das Urteil auf der Stelle zu vollstrecken.

Elisabeth winselte nicht um ihr Leben, sie betete auch nicht zum Himmel, sie kniete zwar vor ihrem Mann, sah ihm aber unverwandt und beinahe trotzig in die Augen und rief: »Schlag schon zu! Worauf wartest du noch? Glaubst du, ich werde dich um mein armseliges Leben anflehen? Schlag doch zu! Was kümmert’s mich?! Was habe ich denn schon großartig zu verlieren? Der Tod macht mir keine Angst. Dann ist wenigstens alles vorbei!«

Diese Worte retteten ihr Leben. Denn Alois war so überrascht, dass er einen Moment innehielt, und im gleichen Augenblick ging er zu Boden.

Der Müller war wieder zu sich gekommen und hatte blitzschnell gehandelt. Mit dem Fuß hatte er seinem Bruder die Beine weggezogen, sodass dieser den Halt verlor und der Länge nach hinfiel. Doch der Vorteil war nur von kurzer Dauer, der Moorbauer rappelte sich rasch wieder auf, stieß einen Fluch aus, holte mit dem Knüppel aus und hieb auf seinen immer noch auf dem Boden liegenden Bruder ein. Der Knüppel traf Jan seitlich am Brustkorb, und das Knacken der Rippen war grässlich anzuhören. Der Müller schrie vor Schmerz auf und streckte in einer hilflosen Geste seine Hände aus. Erneut holte Alois aus, Schaum stand vor seinem Mund, und er schrie: »Das hättest du nicht tun dürfen! Das wirst du mir büßen!«

Mit einem Mal ging alles ganz schnell und unerwartet. Statt des Knüppels landete der leblose Körper des Bauern auf dem Müller, und dahinter stand Elisabeth, sie umklammerte mit beiden Händen ein großes schmiedeeisernes Kruzifix, mit dem sie gerade auf ihren Gatten eingeschlagen hatte. Sie bot einen grausigen Anblick, wie eine Irre schaute sie abwechselnd auf die beiden Männer am Boden und das Kreuz in ihren Händen und schien gar nicht zu verstehen, was soeben geschehen war. Schließlich warf sie das Kruzifix fort und sackte schluchzend in sich zusammen.

Der Müller schob den massigen Körper seines Bruders zur Seite und setzte sich ächzend auf. Er hielt sich die schmerzenden Rippen und schüttelte den Kopf, als fiele es ihm schwer zu begreifen, was vorgefallen war. Er betrachtete verwirrt seinen auf dem Bauch liegenden Bruder und schien immer noch nicht zu verstehen, warum er dort reglos neben ihm auf dem Boden lag. Am Hinterkopf des Bauern war keinerlei Wunde zu sehen, kein Blut war geflossen, aber im Nacken waren die Folgen des Schlages klar zu erkennen, und auch die verdrehte und unnatürliche Lage des Kopfes deutete darauf hin, dass Lisbeth ihrem Mann das Genick gebrochen hatte.

»O Gott!«, entfuhr es dem Müller.

»Ist er …?«, hörte er die Stimme der Moorbäuerin.

»Ja«, antwortete er nickend, »Alois ist tot.«

»O nein!«, schluchzte sie. »Was machen wir denn jetzt? Wir müssen doch etwas tun!« Sie stürzte sich geradezu auf Jan und setzte hinzu: »Was soll denn jetzt geschehen? Sag, was machen wir nun?!« Und vor lauter Aufregung verfiel sie wieder in ihre holländische Muttersprache: »Zeg, Jan, wat moet dat? Wat beteekend dat? Ik word bang.«

Der Müller sah sie nur ratlos an und zuckte mit den Schultern.

Plötzlich sprang sie auf, warf das Nachtkleid aufs Bett und begann, sich in Windeseile und wie von Sinnen anzukleiden. »Wir müssen zum Schulzen«, rief sie, nachdem sie angezogen war und den fragenden Blick des Müllers gesehen hatte. »Wir müssen ihm erklären, was passiert ist. Jawohl, das müssen wir! Es war doch Notwehr, mir blieb doch gar nichts anderes übrig. Was hätte ich denn machen sollen? Was denn? Ich hatte doch keine Wahl. Sag doch, Jan, es war doch Notwehr?« Immer fahriger und hektischer wurden ihre Bewegungen, die Worte sprudelten in immer rascherem Tempo aus ihr heraus. Sie schien die Nerven zu verlieren und stand kurz vor einem Zusammenbruch. »Ich werde alles erklären, ja … alles. Sie werden es schon verstehen. Immerhin war es … nein … natürlich nicht …« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie einen unlieben Gedanken verscheuchen. »Nein!«, rief sie schließlich. »Sie werden mich verstehen. Sie müssen einfach …«

»Wir werden beide im Zuchthaus landen!«, entgegnete der Müller und versuchte, seine Schwägerin zu beruhigen, indem er sie in den Arm nahm. »Wir können nicht zum Schulzen gehen, Liebste. Glaubst du allen Ernstes, sie werden es verstehen? Es gibt Paragraphen und Gesetze, und hinter denen werden sie sich verstecken. Wie willst du denn all das hier erklären? Sie werden uns verteufeln und gar nicht anhören wollen. Versteh doch! Möchtest du den Rest deines Lebens hinter Gittern sitzen? Möchtest du das?! Und denk doch auch an mich! Willst du uns beide ins Unglück stürzen?!«

»Aber er ist doch tot«, wisperte Elisabeth, und die Tränen liefen in Strömen über ihr Gesicht. »Wir können ihn doch nicht wieder lebendig machen.« Ein heftiges Schluchzen durchfuhr sie, sie krallte sich an dem Müller fest und wiederholte auf holländisch: »Hij is dood! Ik heb hem toch … ja … zeker…!«

Jan hielt sie fest im Arm und strich ihr sanft über den Kopf.

Plötzlich jedoch hielt sie inne und stieß ihren Geliebten von sich. Sie starrte ihn entgeistert an und sagte: »Nein, er ist nicht tot. Natürlich! Ja, genau!« Sie lachte und setzte hinzu: »Er ist spurlos verschwunden!«

Der Müller schaute sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

»Begreifst du denn nicht?«, fuhr sie unbeirrt fort. »Alois ist nie zurückgekehrt. Er war auf dem Weg nach Deventer und ist einfach nicht nach Hause gekommen.« Sie sprang auf und deutete auf die Leiche ihres Mannes. »Wir müssen ihn wegschaffen! Wir verscharren seinen Körper. Wir lassen ihn verschwinden. Wir bringen ihn ins Moor! Ja, das machen wir.«

»Nein«, erwiderte Jan und schüttelte mitleidig den Kopf. »Wir wissen doch gar nicht, ob Hermann nicht mit ihm zurückgekommen ist. Vielleicht hat Alois irgendjemanden unterwegs getroffen, oder es hat ihn einer auf dem Weg zum Kotten gesehen. Sie werden dann nach ihm suchen und nicht ruhen, bis sie ihn finden. Und im Moor werden sie zuerst nachsehen. Nein! Wenn wir ihn erst einmal vergraben haben, dann werden wir schwerlich behaupten können, uns nur unserer eigenen Haut gewehrt zu haben.« Er seufzte leise, schüttelte erneut den Kopf und wiederholte: »Nein, wir können ihn nicht verschwinden lassen. Wir würden keine Ruhe mehr finden und den Rest unseres Lebens befürchten, dass seine Leiche wieder auftaucht und sei es nur durch einen dummen Zufall. Nein, Lisbeth, wir müssen uns etwas anderes überlegen!«

Abermals vollzog sich ein merkwürdiger und abrupter Wechsel im Verhalten der Moorbäuerin. Bei den letzten Worten ihres Geliebten stahl sich ein seltsames Lächeln auf ihre Lippen, sie beugte sich über den toten Alois und betrachtete mit sonderlichem Interesse die Stelle, an der das Kruzifix das Genick getroffen hatte. Schließlich wandte sie sich an Jan und sagte: »Du hast recht! Wir werden ihn nicht verschwinden lassen, ganz im Gegenteil, wir werden ihn allen Leuten zeigen, damit niemand nach ihm suchen muss.«

Der Müller sah sie erstaunt an, und im gleichen Augenblick verstand er.

»Ihr habt die Leiche Eures Bruders auf dem Dachboden aufgeknüpft, damit es so aussah, als hätte er sich selbst erhängt?«, zog ich die logische und doch so ungeheuerliche Schlussfolgerung. »Ist es das, was meine Mutter meinte?«

Der Müller nickte und starrte zu Boden, seine Mundwinkel zuckten merklich, als er nach einer Weile hinzusetzte: »Ich weiß nicht, ob der Plan tatsächlich aufgegangen wäre, aber es war zumindest eine Möglichkeit, und in der damaligen Situation war eine winzige Chance besser als gar keine. Vielleicht hätte man Zweifel an dem Selbstmord gehabt, ich weiß es nicht, aber es wäre zumindest schwergefallen, das Gegenteil zu beweisen und uns eines Verbrechens anzuklagen. Wir haben gar nicht lange über das Für und Wider gestritten, sondern getan, was uns damals als einziger Ausweg erschien.«

Eine scharfe und entrüstete Entgegnung lag mir auf der Zunge, aber ich brachte sie nicht über die Lippen. Ich hätte schockiert sein oder die Schändlichkeit ihres Tuns anprangern müssen, aber dies war mir nicht möglich. Nicht mehr möglich. Und so sagte ich stattdessen: »Ich verstehe.«

Der Müller sah verwundert zu mir auf, schnaufte ungläubig und fragte: »Tatsächlich?«

Ich antwortete mit einem stummen Nicken.

Er sah mich lange mit durchdringendem Blick an, zuckte schließlich mit den Schultern und fuhr dann seltsam betonungslos und wie in einem Selbstgespräch fort: »Von der Wohnstube aus führte eine kleine Treppe durch eine Luke zum Speicher. Wir mussten sehr leise sein, damit unten auf der Tenne niemand geweckt wurde. Während nämlich die meisten Mägde und Knechte im Gesindehaus schliefen, hatten die Kuckels ihre Schlafplätze auf der Diele des Bauernhauses, und ich hatte mich ohnehin schon gewundert, dass sie vom Krach in der Schlafkammer nicht wach geworden waren. Lisbeth besorgte einen langen Strick und ging mit der Kerze voran auf den Dachboden. Alois war sehr schwer, und meine Rippen schmerzten entsetzlich, dennoch gelang es mir mit Lisbeths Hilfe, ihn auf den Balken zu schaffen, ohne irgendjemanden aus dem Schlaf zu reißen. Das gleichmäßige Schnarchen der alten Gertrud drang laut und deutlich durch die Luke über der Lucht nach oben, und auch von Hermine waren lediglich die unregelmäßigen und stoßweisen Atemzüge einer fiebrig Schlummernden zu hören. Sie lag unruhig auf ihrem Bett und wand sich von einer Seite auf die andere, aber das Fieber verhinderte, dass sie irgendetwas um sich herum wahrnahm.

Auf dem Dachboden klappte alles erstaunlich reibungslos und ging geschwind vonstatten. Wir legten meinem Bruder die Schlinge um den Hals, zogen sie fest, warfen den Strick über eine Querstrebe des Dachstuhls und hievten den Körper in die Höhe. Lisbeth hatte die Kerze auf dem Boden abgestellt und hielt Alois an den Füßen, damit ich ins Gebälk steigen und das Seil an dem Balken befestigen konnte. Mir wird heute noch ganz mulmig, wenn ich daran denke. Es war fürchterlich, und ich weiß nicht, wie Lisbeth das alles durchstehen konnte, ohne die Fassung zu verlieren. Aber wir schafften es. Alois hing nach wenigen Sekunden am Strick, und nichts deutete darauf hin, dass er nicht Selbstmord begangen hatte. Wir dachten sogar daran, einen hohen Schemel unter den baumelnden Körper zu legen, damit es so aussah, als hätte er sich von diesem in den Tod gestürzt. Wir hatten es wahrhaftig beinahe geschafft.« Der Müller lachte plötzlich laut und verächtlich auf und zischte bitter: »Und dennoch war alles umsonst!«

Ich stutzte und dachte an die zahlreichen Erzählungen, die mir von dem Brand des Moorhofes zu Ohren gekommen waren. So abenteuerlich und unterschiedlich sie auch gewesen waren, eine Gemeinsamkeit hatten sie alle besessen, die in dem Bericht des Müllers bislang fehlte. Und plötzlich wusste ich, worauf seine seltsamen Worte anspielten. »Rex!«, rief ich und sah ihn unverwandt an. »Der Hund kam Euch in die Quere!«

»Du sagst es, mein Junge«, erwiderte der Müller, nun wieder ganz ruhig und gefasst. »Der verdammte Köter!«

Und er erzählte, wie es zu dem Brand des Hofes gekommen war.

6

Es war ein gespenstischer Anblick. Der Vennekötter hing baumelnd am Strick, seine Augen traten aus den Höhlen, der Unterkiefer war heruntergeklappt, und die Zunge hing ihm aus dem offen stehenden Mund. Die ganze Zeit hatte Elisabeth eine bewundernswerte Selbstbeherrschung gezeigt, sie hatte nicht geklagt, nicht geweint, keinen Ton von sich gegeben, aber dies war ihr nur möglich gewesen, weil sie es vermieden hatte, ihren toten Gatten anzuschauen. Jetzt aber, da er sicher am Seil hing, machte sie den Fehler, zu ihm hinaufzusehen, und plötzlich begann sie zu schluchzen, und die Tränen liefen ihr in Strömen über die Wangen. Der Müller nahm sie in den Arm und versuchte, ihr Mut zuzusprechen und sie zu beruhigen, aber es half alles nichts. Die Anspannung der letzten Stunde war zu viel für sie gewesen und machte sich nun bemerkbar, es brach regelrecht aus ihr heraus, immer heftiger schluchzte sie, sie hielt sich die Hände vors Gesicht und wiederholte ein ums andere Mal: »Mein Gott, was haben wir getan?«

Der Müller erkannte, dass er seine Liebste nicht ohne Weiteres beruhigen konnte und er sie deshalb unter allen Umständen vom Dachboden und aus der Sichtweite des Moorbauern entfernen musste, und die einzige Möglichkeit, dies zu erreichen, bestand darin, ihr einen Auftrag zu geben und sie durch konkretes Handeln abzulenken. »Nimm die Kerze!«, sagte er also streng. »Wir haben noch einiges zu tun. Los, Lisbeth, geh hinunter in die Stube und schaff alles beiseite, was uns verraten könnte, den Holzknüppel beispielsweise. Mach schon, worauf wartest du noch?«

Tatsächlich griff Elisabeth ganz automatisch und wie in Trance zur Kerze, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und wollte sich aufmachen, den Befehlen des Müllers Folge zu leisten, als sie plötzlich zusammenzuckte, die Augen weit aufriss und vor Schreck die Kerze fallen ließ.

Jan fuhr herum, und im gleichen Augenblick sah er, was die Moorbäuerin so entsetzt hatte. Unter der Leiche des Alois saß dessen treuer Hund Rex, er hatte den Blick starr auf sein Herrchen gerichtet, hob die Schnauze in die Höhe und begann im selben Moment zu jaulen. Wie der Hund auf den Dachboden gelangt war und wieso er nicht wie üblich vor dem Haus angekettet war, ist nicht mehr genau zu sagen. Vielleicht hatte der Vennekötter selbst den Hund von der Leine gelassen, womöglich hatte Rex Geräusche gehört oder die Witterung seines Herrn aufgenommen und sich losgerissen, in jedem Fall war er die Treppe auf der Tenne hinaufgelaufen, saß nun reglos auf den Hinterbeinen und heulte den Moorbauern an. Es klang elend und jammernd, wie ein Totengesang für den Verstorbenen. Der Müller wollte sich auf den Hund stürzen und dessen Jaulen unterbinden, doch der Hund fletschte die Zähne und begann nun wild und laut zu kläffen. Im gleichen Moment hörte Jan die Stimme der Moorbäuerin hinter sich:

»Feuer!«, rief sie. »O Gott, es brennt!«

Als Elisabeth beim unerwarteten Anblick des Hundes die Kerze aus der Hand hatte fallen lassen, war diese im Stroh gelandet, das natürlich sofort lichterloh und wie Zunder brannte. Binnen weniger Sekunden standen mehrere Garben in Flammen, und auch das Kleid der Bäuerin hatte Feuer gefangen. Panisch versuchte sie, die Flammen mit den bloßen Händen zu löschen, was ihr bei ihrem Kleid auch gelang. Das Strohfeuer allerdings breitete sich in Windeseile auf dem Dachboden aus.

Der Müller wusste nun gar nicht mehr, was zu tun war. Hinter ihm loderte das Feuer, vor ihm kläffte der Hund und veranstaltete einen Heidenlärm. Ohne lange darüber nachzudenken, ergriff er den auf dem Boden liegenden Schemel und schlug damit auf den Hund ein. Wie in Raserei ließ er den Schemel ein ums andere Mal auf den Kopf des armen Tieres niedersausen und drosch sogar noch auf den Hund ein, als dieser längst keinen Ton mehr von sich gab. Schließlich ließ er von dem toten Tier ab und wandte sich dem Feuer zu. Beim ersten Blick bereits war ihm klar, dass alles zu spät war. Die Flammen hatten sich in alle Richtungen ausgebreitet, und vom Stroh war das Feuer längst auf den Dachstuhl übergegangen. Das Bauernhaus war nicht mehr zu retten, jetzt konnte es nur noch darum gehen, das eigene Leben in Sicherheit zu bringen.

»Hallo?!«, meldete sich mit einem Mal eine verschlafene und verstörte Mädchenstimme von unten. »Ist da jemand? Was ist denn da oben los? Wo kommt denn der ganze Qualm her? Heda!«

»Hermine!«, rief die Moorbäuerin, die als erste ihre Geistesgegenwart wiederfand und zur Treppe lief. »Hermine, es brennt! Schaff deine Mutter aus dem Haus und weck die anderen! Wir brauchen Wasser aus dem Brunnen. Los, beeil dich, warum stehst du da wie eine Ölgötze?«

Hermine war die Treppe heraufgekommen, sah das prasselnde Feuer ringsum und stierte die Bäuerin fassungslos an. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, als hielte sie das alles für einen Fiebertraum, und schlug, als sie schließlich das ganze Ausmaß der Katastrophe erkannt hatte, die Hände vor dem Gesicht zusammen. »Jesus, Maria und Josef!«, rief sie. »Woher kommt denn das Feuer?!« Und dann erst sah sie den Körper des Bauern am Dachstuhl baumeln und begann hysterisch zu kreischen.

Der Müller hatte die ganze Zeit wie versteinert neben dem toten Hund gestanden und war unfähig gewesen, sich vom Fleck zu rühren. Erst das Schreien der Magd brachte ihn wieder zu sich. Er wachte wie aus einem Traum auf, sah die Frauen an der Treppe, fuhr zusammen und nahm im gleichen Augenblick Reißaus, indem er auf dem Fuße kehrtmachte und durch das Feuer zur Giebeltür rannte.

»Was ist denn … wer ist da?«, hörte er Hermine noch aufgeregt stammeln, bevor er die Tür aufstieß und hinunter auf den Hof sprang.

»Ihr habt meine Mutter im Stich gelassen?!«, fuhr ich den Müller an. »Ihr habt sie allein im Feuer zurückgelassen und Euch aus dem Staub gemacht? Wie konntet Ihr das tun?«

»Was hätte ich denn machen sollen?«, erwiderte er kleinlaut und gesenkten Blickes. »Wie hätte ich wohl meine Anwesenheit auf dem Dachboden erklären sollen? Kannst du mir das vielleicht sagen?«

»Ihr hättet einfach die Wahrheit sagen können.«

»Ich hatte Angst«, entgegnete er und blickte mich schuldbewusst an. »Und ich war feige und wollte nur noch meine eigene Haut retten. Ich weiß selbst nicht genau, warum ich weggerannt bin, aber ich konnte in dem Moment nicht anders.« Plötzlich richtete er sich auf, soweit dies jedenfalls trotz der Fesseln möglich war, und schaute mich herausfordernd an. »Glaubst du etwa, ich bin stolz darauf? Denkst du vielleicht, ich bilde mir etwas auf meine Feigheit ein?! Das tue ich bestimmt nicht. Aber so ist es nun einmal geschehen. Ich kann es nicht mehr ändern. Weiß Gott, das kann ich nicht!«

»Was habt Ihr anschließend getan?«

»Ich bin, so schnell ich nur konnte, zurück zur Mühle gerannt und habe mich zu meiner Frau ins Bett gelegt. Sie schlief noch fest und hatte gar nicht bemerkt, dass ich das Zimmer in der Zwischenzeit verlassen hatte. Nur wenige Minuten später waren bereits die Brandglocken zu hören und beinahe im gleichen Moment hämmerte jemand gegen unsere Tür, um uns zu wecken. Als ich schließlich auf dem Moorhof ankam, war das Feuer bereits auf die Scheune übergegangen. Es war windig in dieser Nacht, und die Flammen waren kaum unter Kontrolle zu halten. Sämtliches Gesinde und auch die Bewohner des Schulzenhofes schleppten Wasser aus dem Brunnen zum Brandherd, aber es war zwecklos, und alle wussten es. Trotzdem versuchten wir zu retten, was nicht mehr zu retten war. Erst in den frühen Morgenstunden war der Brand gelöscht, aber der Hof war verloren.«

»Was ist aus meiner Mutter geworden? Habt Ihr sie in dieser Nacht noch einmal gesehen?«

»Lisbeth hat wie alle anderen tapfer gegen die Flammen gekämpft, bis sie vor lauter Erschöpfung zusammenbrach und zum Schulzenhof gebracht werden musste. Die Leiche meines Bruders war zu diesem Zeitpunkt längst gefunden worden, aber in der allgegenwärtigen Hektik und in dem ersten Entsetzen war niemand in der Lage, sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen, wieso Alois sich umgebracht haben könnte und wie es überhaupt zu dem Feuer gekommen war. Alle arbeiteten bis an den Rand des Möglichen und Menschlichen, und als der Brand endlich gelöscht war, herrschte ringsum Ratlosigkeit und eine düstere und betretene Stimmung, die nur schwerlich zu beschreiben ist. Allen war zum Heulen zumute, und dennoch versuchte jeder krampfhaft, die Fassung zu bewahren.«

»Was ist mit Hermine geschehen?«, hakte ich nach. »Hat sie berichtet, was sie auf dem Dachboden gesehen hat?«

»In der Brandnacht bestand dazu kaum die Möglichkeit«, sagte der Müller und schüttelte den Kopf. »Natürlich hat sie während der Löscharbeiten einige Andeutungen fallenlassen, aber niemand hatte die Muße, ihr eingehend zuzuhören. Zunächst galt es, den Brand in Schach zu halten, und erst danach konnte es darum gehen, die Hintergründe des Ganzen zu erforschen. Für Hermine kam dieses ›danach‹ allerdings zu spät. Die Anstrengungen und die Aufregung waren zu viel für sie gewesen, sie war ja im achten Monat schwanger und ihre körperliche Verfassung war schon vorher nicht die beste gewesen. Sie hatte leichtes Fieber und bekam fürchterliche Schmerzen im Bauch, und ich ließ sie zur Mühle bringen, damit sie sich hinlegen und ausruhen konnte. Als der Schulze sie am nächsten Tage sprechen wollte, um sie über den Brand und die Geschehnisse der letzten Nacht zu befragen, hatten ihre Wehen bereits eingesetzt und sie konnte nur noch zusammenhangslos daherstammeln. Sie nannte immer wieder Lisbeths Namen und den des Vennekötters, um sich gleich anschließend zu bekreuzigen. Er habe am Seil gebaumelt, wiederholte sie ein ums andere Mal. Gebaumelt wie am Galgen. Und ein Mann sei dabei gewesen, ein Mann auf dem Dachboden, ein Mann im Feuer. Ja, wie der Teufel sei er vom Feuer geschluckt worden. Wie der Teufel, jawohl! Mehr war aus dem armen Mädchen nicht herauszubringen, sie bekam bald hohes Fieber und verlor eine Menge Blut, und als die Geburt anstand, war sie schon fast nicht mehr bei Besinnung. Na ja, du kennst ja vermutlich die Geschichte.«

Ich nickte und sagte: »Sie ist am Nervenfieber gestorben.«

»Als Hermann aus Deventer zurückkam, lag sie bereits mit hoher Temperatur und Schüttelfrost im Bett und brachte kein vernünftiges Wort mehr heraus. Wochenlang hat sie mit dem Tod gerungen, immer wieder erholte sie sich, um dann nur noch schlimmer zu erkranken. Ihr Leib war schließlich ganz aufgedunsen und die Haut fleckig. Der Arzt hat sie mehrmals zur Ader gelassen, aber eine Besserung wollte nicht eintreten.« Er starrte lange schweigend zur Decke, ließ schließlich einen tiefen Seufzer vernehmen, blickte mich traurig an und sagte: »Ich habe mich oft gefragt, ob Hermine überlebt hätte oder ob Alwin als gesundes Kind auf die Welt gekommen wäre, wenn diese Sache nicht geschehen wäre. Aber ich werde wohl nie eine Antwort darauf erhalten. Hermines leichenblasses Gesicht verfolgt mich auch heute noch in meinen Alpträumen.«

»Wenn es das Nervenfieber war, dann muss sie sich schon viel früher angesteckt haben«, wandte ich ein und erinnerte mich an die Worte des Flesseners, der davon gesprochen hatte, dass Hermine das Fieber vermutlich überlebt hätte, wenn sie nicht durch die Schwangerschaft geschwächt gewesen wäre. »Der Brand war ja nicht die Ursache für die Krankheit«, setzte ich hinzu, »es war doch nur ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen.«

»Das mag schon sein«, erwiderte er und seufzte, als könnte ihm dieser Gedanken keinen rechten Trost bieten. »Es hieß zudem, der Knabe habe falsch herum im Mutterleib gelegen und die Komplikationen wären auch aufgetreten, wenn die Geburt zur rechten Zeit erfolgt und die Hebamme sogleich zur Stelle gewesen wäre. Aber wer will das schon mit Gewissheit sagen? Kuckels Gertrud jedenfalls schien sich sicher zu sein, dass ihre Schwiegertochter nicht erkrankt wäre, wenn Lisbeth und der geheimnisvolle Mann im Feuer nicht gewesen wären. Und sie hat keinen Hehl aus ihrer Meinung gemacht, überall hat sie herumposaunt, die buhlerische Vennekötterin habe meinen Bruder auf dem Gewissen und sei auch für Hermines Nervenfieber verantwortlich.«

»Was hat Lisbeth denn vor dem Schulzen ausgesagt?«

»Dass sie ein Geräusch auf der Tenne gehört und die Leiche ihres Mannes auf dem Dachboden gefunden habe. Vor Schreck sei ihr die Kerze aus der Hand gefallen und schon habe der ganze Dachstuhl in Flammen gestanden. Ich weiß nicht, ob der Schulze zu diesem Zeitpunkt bereits einen Verdacht hegte, aber zumindest kam ihm diese Aussage nicht ganz frei von Widersprüchen vor. Weder gab es eine Erklärung für die unerwartete Rückkehr des Bauern noch für den Fund der Hundeleiche. Und spätestens als er Hermines wirre Worte von dem mysteriösen Mann auf dem Dachboden hörte, muss ihm ein Licht aufgegangen sein. Er stellte Lisbeth, die immer noch auf seinem Hof weilte, ein zweites Mal zur Rede und berichtete ihr, was die Magd von sich gegeben hatte. Lisbeth hat zunächst verzweifelt geleugnet, dann herzergreifend geschluchzt und um Nachsicht gefleht, und schließlich ist sie zusammengebrochen und hat alles gestanden. Sie hat Lanvermann die ganze Geschichte erzählt, sie hat nichts ausgelassen und ihm auch meinen Namen genannt.«

»Der Schulze wusste die Wahrheit?«, rief ich überrascht. »Er wusste Bescheid und hat trotzdem die Angelegenheit vertuscht und das Ganze in seinem Bericht als Selbstmord dargestellt?«

»Der alte Lanvermann hatte schon lange ein Auge auf den Moorhof geworfen«, erwiderte er und lachte bitter. »Der Kotten meines Bruders lag wie eine Insel im Gebiet des Schulzen, rundherum nur die holländische Grenze und das Land des Großbauern. Bereits mehrmals hatte der Schulze Alois ein Angebot für das Anwesen gemacht, aber mein Bruder war ein starrsinniger Kerl und hat den Hof nicht verkauft, obwohl der gebotene Preis weit über dem tatsächlichen Wert lag. Nun jedenfalls erkannte Lanvermann die Gelegenheit, sich den Kotten unter den Nagel zu reißen, ohne auch nur einen Heller dafür zu bezahlen.«

»Wie das?«

»An jenem Samstagabend wurde ich zum Schulzen bestellt«, fuhr der Müller fort, und immer noch lag ein verächtliches Grinsen auf seinen Lippen. »Der alte Lanvermann hat nicht lange um den heißen Brei herumgeredet und mich vor die Wahl gestellt, entweder als Ehebrecher, Mörder und Brandschatzer samt meiner Liebsten vor Gericht gestellt zu werden oder als freier und unbehelligter Mann wie bislang meinen Geschäften nachgehen zu können. Letzterer Fall trete aber nur dann ein, wenn ich ihm unentgeltlich den Moorhof überschrieb und jeglichen Anspruch auf die Ländereien meines Bruders aufgab. Voraussetzung dieses Handels war allerdings, dass Lisbeth auf der Stelle das Land verließ und niemals wieder nach Ahlbeck zurückkehrte. Es gab noch eine letzte in Twente verbliebene Tante, eine Schwester des verstorbenen Juden Zeebonk, und der Schulze würde dafür Sorge tragen, dass die Moorbäuerin unversehens und wohlbehalten dort ankäme. Auch Lisbeth solle, wenn sie sich denn mit der Abmachung einverstanden erklärte, nicht weiter von der deutschen Justiz behelligt werden. Sie könne in ihrer alten Heimat ein neues Leben beginnen und brauche sich keine Sorgen wegen der Vergangenheit zu machen. Der Schulze werde sich darum kümmern, dass sie vor jedweden Nachstellungen und etwaigen Beschuldigungen sicher sei.«

»Mein Gott, wie erbärmlich!«, entfuhr es mir.

»Was regst du dich so auf? Schulze Lanvermann hat die ganze Angelegenheit lediglich als profitables Geschäft betrachtet. Eine Art Tauschhandel, wenn du so willst. Lisbeth und ich bekamen unsere Freiheit, und der Schulze den Moorhof. Beiden Seiten war gedient, und vor allem der Schulze konnte sich zufrieden die Hände reiben. Als er sah, dass ich immer noch zögerte und mich nicht durchringen konnte, auf seinen Vorschlag einzugehen, gab er mir sozusagen noch einen Bonus obendrein. Er versprach mir, sich beim zuständigen Amt für die Schanklizenz einzusetzen, um die ich mich seit Jahren vergeblich bemüht hatte. ›Du kannst deine Schenke an der Mühle eröffnen‹, sagte er gönnerhaft, ›und brauchst mir noch nicht einmal dankbar zu sein.‹ Er lachte, hielt mir die Hand hin und sagte: ›Sei nicht dumm, Jan. Denk an deine Familie!‹ Ich wusste, dass er recht hatte oder doch zumindest am längeren Hebel saß, und das Geschäft wurde durch Handschlag besiegelt. Auch Lisbeth willigte ein, ihr blieb auch gar nichts anderes übrig. Bernhard, der in alles eingeweiht war, hat sie noch in der gleichen Nacht nach Holland geschafft und bei der Tante abgeliefert, und ich habe Lisbeth seit diesem Samstagabend nicht wiedergesehen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was mit ihr seitdem geschehen ist.« Er schaute mich nachdenklich an und setzte hinzu: »Und von dir habe ich auch nichts gewusst. Ich hatte zwar gehört, dass die Magisterbäuerin unerwartet und auf nicht ganz natürliche Weise Nachwuchs erhalten hatte, aber was es mit diesem Kind tatsächlich auf sich hatte, davon fehlte mir jede Kenntnis.«

»Was geschah weiter?«

»Nach dem Brand?« Der Müller räusperte sich und fuhr fort: »Als Hermann Kuckel am folgenden Tag von der Reise nach Deventer zurückkehrte, war der Bericht des Schulzen über das Feuer längst abgefasst. Darin hieß es, der Vennekötter habe den eigenen Hof angezündet und sich anschließend erhängt. Der Grund für den Selbstmord sei nicht eindeutig auszumachen, wahrscheinlich sei aber, dass der Freitod mit dem mysteriösen Verschwinden der Moorbäuerin zusammenhänge. Die Aussage des Knechtes in Bezug auf die seltsamen Worte, die der Vennekötter am Mittag vor dem Unglück hatte fallen lassen, wurde in das amtliche Dokument aufgenommen, weil es den Verdacht des Selbstmordes zusätzlich erhärtete. Die Wahrheit jedoch wurde wissentlich unter den Teppich gekehrt, und bis auf ein paar vage Gerüchte gab es nichts, was die offizielle Version in Frage gestellt hätte.«

»Und die Familie Kuckel? Bernhard Lanvermann hat mir erzählt, dass er sie aus Mitleid als Gesinde auf den Schulzenhof geholt hat.«

»Aus Mitleid?«, rief der Müller zugleich belustigt und verärgert. »Das glaubst auch nur du! Ich weiß nicht, ob es tatsächlich Bernhards Idee war, aber sicher ist, dass Lanvermann sie nur bei sich aufgenommen hat, um sie ruhigzustellen. Gertrud hatte ja unentwegt auf Lisbeth geschimpft und sie vor allen Leuten eine Mörderin genannt. Und Hermann hat mit der Zeit ähnliche Vorwürfe erhoben, das Unglück seiner Frau und das seines Kindes haben den armen Kerl so mitgenommen, dass er beinahe den Verstand verlor. Je schwächer und hinfälliger Hermine wurde, desto mehr schien er den Worten seiner Mutter Glauben zu schenken. Nein, mein Junge, aus Mitgefühl sind die Kuckels nicht auf den Schulzenhof geholt worden, damit wurde schlicht und einfach ihr Schweigen erkauft. Gertrud musste feierlich schwören, niemals wieder Anschuldigungen gegen die Moorbäuerin auszusprechen, und nur unter dieser Bedingung wurden sie und Hermann als Magd und Knecht akzeptiert. Die kranke Hermine und das schwachsinnige Kind wurden lediglich auf den Schulzenhof gebracht und dort gepflegt, weil Gertrud fortan schwieg. Eine Hand wäscht eben die andere. Soweit ich weiß, hat sie nie wieder den Namen Lisbeth in den Mund genommen. Und nachdem Hermann verschwunden war und man ihn des Diebstahls bezichtigte, war sie mehr denn je auf das Wohlwollen des Schulzen angewiesen. Selbst nach dem Tod des alten Lanvermann hat Gertrud ihren Schwur nicht gebrochen. Gerade so, als könnte er sie noch aus dem Jenseits zur Rechenschaft ziehen.«

»Stattdessen schimpft sie nun ganz allgemein auf die Juden. Sie nennt sie allesamt Räuber und Mordbrenner und behauptet, das jüdische Rotgesindel hätte ihren Herrn und ihre Schwiegertochter auf dem Gewissen!«

»Wie alle anderen hat auch sie sich ihre ganz eigene Wahrheit zusammengeschustert«, sagte der Müller. »Dabei sollte sie es eigentlich besser wissen.«

»Und Kuckels Hermann? Wisst Ihr, warum er plötzlich verschwand und jahrelang wie vom Erdboden verschluckt war? Glaubt Ihr, dass er ein Dieb ist?«

Jan schüttelte den Kopf und sagte: »Ich weiß darüber nicht mehr als du. Kurz nach Hermines Tod war Hermann mit einem Mal verschwunden, wohin und wieso, kann ich dir nicht sagen. Es hieß, es fehle Geld aus einer Schatulle, aber wirklich gesucht hat kein Mensch nach ihm. Nicht einmal ein Steckbrief wurde ausgehängt. Gerade so, als wären alle froh, dass Hermann sich in Luft aufgelöst hatte. Was weiter geschehen ist, darfst du mich allerdings nicht fragen. Ich weiß nichts mehr.« Er starrte hinüber zu der bis auf einen Zoll heruntergebrannten Kerze und setzte hinzu: »In einer halben Stunde wird es wieder dunkel sein.« Dann lächelte er eigenartig und schloss die Augen.

Ich war immer noch ganz verwirrt und durcheinander, die Worte des Müllers jagten unaufhörlich durch mein Hirn, dass mir der Schädel brummte. Und zum ersten Mal seit Stunden nahm ich meine Umgebung wieder wahr, ich starrte hinauf zu den Kammrädern, die in nutzloser Unrast im Kreis herumfuhren. Ich blickte hinüber zu Jan und versuchte, ihn mir als jungen Kerl vorzustellen, als Geliebten meiner Mutter, als Mann, der seine Lisbeth glücklich gemacht und dann ins Unglück gestürzt hatte. Die Erzählung des Müllers war so unglaublich, so unerhört gewesen, dass ich beinahe geneigt war, sie als dumme Phantasterei abzutun. Ich wollte es einfach nicht glauben. Und dennoch war ich überzeugt, dass jedes seiner Worte der Wahrheit entsprach oder zumindest dem, was er dafür hielt. Aber jede Antwort, die er geliefert hatte, warf lediglich eine neue Frage auf. Jede Lüge, die aufgedeckt wurde, brachte eine weitere Unstimmigkeit zu Tage, und niemand schien sich daran zu stören, alle nahmen es wie gottgegeben hin.

Ich senkte den Blick und schaute auf das Medaillon auf meiner Brust. Es hatte einst dem Müller gehört, er hatte es seiner Geliebten als Andenken geschenkt, und es war zugleich die einzige Mitgift der unglücklichen Mutter an ihr neugeborenes Kind gewesen. Plötzlich fiel mir das Bildnis der Moorbäuerin ein und der Koffer mit ihren Habseligkeiten, den ich auf dem Dachboden des Gesindehauses gefunden hatte.

»Könnt Ihr mir sagen, auf welche Weise Lisbeths Sachen auf den Speicher des Gesindehauses kamen?«, rief ich aus und schreckte den Müller aus seinen Gedanken auf. »Wie ist der Koffer dort hingekommen?«

»Welcher Koffer?«

»Der Lederkoffer, von dem ich Euch erzählt habe! Wie war es möglich, dass das Bild, das ihr von Lisbeth gemalt habt, in die Hütte auf dem Moorhof gelangte? Nach dem Brand ist sie auf den Schulzenhof gebracht worden und von dort direkt nach Holland. Was also hat der Koffer auf dem Dachboden zu suchen? Und wer hat ihn dort verstaut?«

Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an und schüttelte heftig den Kopf. »Ich weiß es nicht!«, rief er. »Verdammt noch mal, ich weiß es wahrhaftig nicht! Vielleicht ist er nach dem Brand im Haus gefunden worden, und weil Lisbeth verschwunden war, hat man ihn auf dem Speicher verstaut.« Plötzlich schlug er mehrmals mit dem Hinterkopf gegen den Eichenpfosten und fuhr mich an: »Warum quälst du mich so? Habe ich dir nicht schon genug gebeichtet? Was willst du denn noch hören?« Erneut stieß er mit dem Schädel gegen das Holz und stemmte sich mit unglaublicher Macht dagegen. Abermals zitterte das Gebälk, das Holz knirschte, und die Mehlrutsche über seinem Kopf wackelte hin und her.

»Der Pfosten sitzt lose!«, rief ich ihm zu.

Aber er hatte es bereits selbst bemerkt und versuchte nun, den Kopf soweit nach hinten zu drehen, dass er an dem Pfosten hochschauen konnte. Erneut stemmte er sich mit seinem ganzen Körper gegen den Balken, und abermals erzitterte das Holz.

»Das Scharnier scheint nachzugeben!«, rief er frohlockend und sah mich mit strahlendem Gesicht an. »Vielleicht kommen wir doch noch aus diesem Grab heraus.« Er nahm allen Mut und alle Kraft zusammen, suchte auf dem Boden irgendeinen Halt, gegen den er seine Füße stemmen konnte, und drückte wie von Sinnen gegen den Pfahl. Die Mehlrutsche erbebte merklich und zusehends, und erst jetzt bemerkte ich, dass sie außer durch den Eichenpfosten, der sie von unten stützte, lediglich durch zwei dünne Streben an der Decke befestigt war.

»Das Holz ist morsch!«, rief der Müller keuchend, er war schon ganz aus der Puste, und die Adern an seinem Hals traten deutlich hervor. »Noch eine Winzigkeit, und der Pfosten kracht aus der Verankerung.« Er holte tief Luft, nickte mir aufmunternd zu und stemmte sich gegen den Balken.

Es lautes Krachen ertönte. Der Pfosten brach direkt unter der Mehlrutsche aus dem Scharnier, und der Müller fiel rücklings zu Boden.

»Geschafft!«, rief er, schüttelte sich und versuchte, sich aufzusetzen, was nicht einfach war, da er nach wie vor von Kopf bis Fuß gefesselt war.

Im gleichen Augenblick ertönte ein weiteres Knirschen, und als der Müller nach oben schaute, erkannte er, woher dieses Geräusch kam. Die kleinen Streben, die nun allein das Gewicht der eichenen Mehlrutsche tragen mussten, gaben nach. Das Holz splitterte, die Streben krachten, und die massive Rutsche sackte nach unten.

Der Müller versuchte noch, im letzten Moment aus dem Weg zu kriechen, aber es war bereits zu spät. Die Mehlrutsche schoss nach unten, landete direkt auf seinem Kopf, riss ihn zur Seite und begrub den Müller unter sich.

»Jan!«, rief ich entsetzt. »Sagt doch etwas! Hört Ihr mich?!«

Doch es kam keine Antwort. Der Müller blieb stumm.

Ich schaute hinauf zu dem Loch in der Decke und konnte nun direkt auf den unteren der Mühlsteine sehen. Und im gleichen Augenblick lösten sich weitere Bretter aus der Decke. Eines fiel senkrecht herunter, verfehlte meine Beine nur um Haaresbreite, kippte dann langsam zur Seite und landete gleich neben der Kerze, die nur unweit des Müllers auf dem Boden stand. Die Kerze fiel um, und es wurde plötzlich stockfinster.

»Hilfe!«, rief ich außer mir. »Hört mich denn keiner?! Zu Hilfe!« Ich hatte das Gefühl, einer Ohnmacht nahe zu sein, schrie mir die Seele aus dem Leib und wusste zugleich, wie unsinnig dies war.

Und dann bemerkte ich, dass der Docht der Kerze keineswegs gelöscht war. Es war zunächst nur ein winziger rötlicher Schimmer unter den heruntergefallenen Brettern zu sehen, doch dann konnte ich die Flammen erkennen, die sich langsam, aber beharrlich an dem Strohsack hochfraßen, auf dem vor einigen Stunden der Flessener gesessen hatte.

Ich schaute flehentlich zum Müller hinüber, doch er lag nach wie vor reglos am Boden und gab kein Lebenszeichen von sich.

Alles wiederholt sich, schoss es mir durch den Kopf. Nichts geschieht nur einmal!

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739427065
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (August)
Schlagworte
Münsterland Moor Historisch Abenteuer Krimi Westfalen Trilogie Reise

Autoren

  • Mani Beckmann (Autor:in)

  • Tom Finnek (Autor:in)

Mani Beckmann wurde 1965 in Alstätte/Westfalen geboren. Nach Abitur und Zivildienst zog er 1986 nach Berlin und studierte Filmwissenschaft und Publizistik. Seit 1988 arbeitet er als Journalist und Filmkritiker und seit 1994 als Drehbuchlektor des WDR. Im Jahr 1994 erschien sein erster Kriminalroman, seitdem arbeitet er als Autor von Krimis und historischen Romanen. Mani Beckmann ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.
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Titel: Die Moor-Chroniken