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Die Kette

Ein Berlin-Krimi

von Mani Beckmann (Autor:in)
200 Seiten
Reihe: Die Berlin-Krimis, Band 1

Zusammenfassung

Gerade mal bis zum Kommissar hat es Hartmut Hilkenbach gebracht; sein ehemaliger Kommilitone Egener immerhin zum Professor und zu einer hübschen kleinen Villa in Berlin-Dahlem. Und deshalb beneidet Hilkenbach ihn, als er ihn nach Jahren wiedersieht, obwohl Egener doch wahrlich in keiner beneidenswerten Lage ist. Er ist nämlich tot. Das Opfer eines Raubüberfalls? So scheint es auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick bemerkt der Kommissar einen Kettenbrief, dem er intuitiv Bedeutung beimisst. Und seinem Instinkt darf er vertrauen - meistens, aber eben nicht immer, was ihn in diesem Fall einiges mehr als nur den Schlaf kostet. "Eine spannende, gut gebaute Geschichte mit höchst überraschendem Ende. Der Autor führt eine flotte Feder, auf bildhafte Formulierungen bedacht. Mani Beckmann ist mit seinem ersten Kriminalroman ein imponierender Auftritt gelungen." - Neues Deutschland

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorbemerkung

Der Kriminalroman »Die Kette« erschien erstmals 1994 in der Reihe DIE-Krimis im Verlag Das Neue Berlin. Die vorliegende Ausgabe ist vollständig überarbeitet und entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.

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Erster Teil

»Ich schätze Männer, die gut sind, aber nicht zu gut – denn die guten sterben früh, und ich hasse tote Männer.«

Mae West

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1. Der Professor

Hilkenbach stand, hin und wieder zaghaft an seiner Zigarette ziehend, am Fenster und blickte hinaus auf den gepflegten Rasen. Eine lange, hagere Gestalt, ein dürrer Schatten vor einer riesigen, gläsernen Verandatür. Aus der Ferne betrachtet, erinnerte seine Figur an eine ausgedörrte Yucca-Palme. Aus der Nähe auch.

Sein Gesicht war eingefallen und grau. Und knittrig wie ein ungemachtes Bett. Seine spitze Nase beschattete einen schmalen Schnurrbart und ein farbloses, zusammengekniffenes Paar Lippen. Seine Augen waren katzenhaft, seltsam lidlos, mit winzigen Pupillen. Sie starrten fasziniert nach draußen und sahen einen Garten, der beinahe einem Park glich. Gewundene Wege, mit Kieselsteinen bestreut, ein künstlich angelegter Fischteich, hohe und wahrscheinlich sehr alte Bäume. Hilkenbach überlegte, ob es wohl Buchen seien. Buchen sollst du suchen. Eichen sollst du weichen. Wahrscheinlich waren es Eichen.

Mitten auf dem fast übertrieben grünen, frisch geschnittenen Rasen plätscherte ein Springbrunnen. Umringt von steinernen Amoretten.

Egener hatte es wirklich geschafft, dachte Hilkenbach. Eine herrliche Parkanlage, eine schnuckelige kleine Villa in Dahlem, Fischerhüttenstraße, direkt an der Krummen Lanke, beinahe mit Aussicht auf die nackt badenden Studenten der nahe gelegenen Universität, von denen es jetzt, im Februar, eher wenige gab.

Ja, Egener hatte es zu etwas gebracht. Alles recht hübsch und stilvoll. Und ungemein teuer. Und obwohl Egener kaum zwei Meter von ihm entfernt in einer inzwischen angetrockneten Blutlache auf einem großen, sehr wertvollen Perserteppich lag, beneidete Hilkenbach ihn.

»Morgen«, hörte der Kommissar plötzlich eine ihm nicht ganz unbekannte Stimme hinter sich sagen. Gleich würde ihn das Gesicht eines Teddybären angrinsen.

»Sieht nach Raubmord aus, was?«, fuhr die Stimme fort. »Ausgerechnet am Wochenende. Warum können die Leute sich nicht an den Werktagen die Köpfe einschlagen?«

Hilkenbach drehte sich um.

»Ach, Wigger, Sie sind’s«, murmelte er in Gedanken versunken und sah durch seinen Assistenten hindurch. Asche fiel von der Zigarette auf seine Schuhspitzen.

»Na ja, wer soll’s auch sonst sein, Chef?«, sagte Wigger mit seiner hohen, fast singenden Stimme. Er grinste munter hinter seiner Brille und betrachtete ungläubig die Asche auf Hilkenbachs Schuhen. »Sie sind wohl noch nicht ganz wach, wie?«

Er fuhr sich mit seinen erstaunlich schmalen, zierlichen Fingern über seinen rotblonden Struwwelkopf. Er wartete nicht wirklich auf eine Antwort, das Warten hatte er bei Hilkenbach vermutlich längst aufgegeben.

Der Kommissar schien seinen Assistenten auch gar nicht zu beachten, sein Blick schweifte durch das prunkvolle Arbeitszimmer: Eiche-Natur. Alles in diesem Raum war massiv und schwergewichtig; ein wuchtiger Schreibtisch stand schräg in der Ecke neben der Verandatür; an allen vier Wänden hohe, in die Vertäfelung eingelassene Regale; darin unzählige Bücher, viele davon antiquiert und, den Lederrücken nach zu urteilen, nicht gerade wertlos. Nicht die billigen Bücherclub- oder Lesering-Ausgaben, die Hilkenbach zu Hause in den Regalen hatte. Aber das meiste war eh keine Belletristik, sondern Fachliteratur.

Auf dem dunkel gebeizten Parkettfußboden orientalische Teppiche und hier und da ein kleines Messing- oder Holztischchen, mit Fachzeitschriften beladen. »Psychologie heute«, las der Kommissar. Das ganze Arbeitszimmer sollte offenbar ausdrücken, welch schwerwiegende Arbeit darin verrichtet wurde.

Direkt neben dem Schreibtisch, unweit der Tür zum Flur, stand ein kleines, dunkelbraunes Vertiko mit Vitrinenaufsatz. Das Glas der Vitrine war zerschlagen, die Schubladen des Zierschrankes aufgebrochen und durchwühlt.

Staunend und ein wenig widerwillig kreiste Hilkenbachs Blick durch das Zimmer, diesen hölzernen Sarkophag, und wurde immer wieder, wie von einem Magneten, von der Leiche Egeners angezogen.

Egener lag, die zerbrochene Lesebrille noch auf der Nase, halb mit dem Gesicht auf den Boden und präsentierte an seinem schwarz gelockten Hinterkopf eine hässliche, klaffende Wunde. Direkt daneben lag ein schwerer, silberner Kerzenständer. Beides, Kopf wie Kerzenständer, war in mittlerweile rostbraun angetrocknetem Blut getränkt.

Egener trug ein schlichtes, weißes Baumwollhemd und blaue Jeans. Freizeitkleidung für zu Hause. Zum Lesen oder Fernsehen. Ein Morgenmantel hätte besser gepasst. Mit Seidenschal. Hilkenbach war beinahe enttäuscht.

Egeners Füße steckten in uralten, ausgelatschten, fleckig-braunen Kordpantoffeln. Wohl das einzige in diesem Raum, vielleicht im ganzen Haus, das eine persönliche Note besaß. Wahrscheinlich hatte er diese Latschen schon als Student getragen.

Hilkenbach schaute wie gebannt auf Egeners weit aufgerissenes linkes Auge und den sprachlos offen stehenden Mund. Eine nicht mehr gestellte Frage schien auf den Lippen zu liegen.

Schon als der Kommissar in die Einfahrt zum Grundstück Egeners eingebogen war, hatte er ein mulmiges Gefühl gehabt. Der Name an der Tür war dann wie ein Schlag in die Magengrube gewesen. Als sie ihn aus dem warmen Bett geworfen hatten, hatten sie ihm lediglich die Adresse und ein ironisches »Viel Spaß« mit auf den Weg gegeben. In der Villa war Hilkenbach schnurstracks zur Leiche gelaufen, hatte nicht auf seine fleißigen Kollegen geachtet, auch nicht auf seinen Assistenten Wigger, der in der Küche einige Leute befragte. Hilkenbach hatte Gewißheit gebraucht. Und die hatte er jetzt.

»Ich hab ihn gekannt«, murmelte Hilkenbach undeutlich, er wandte seinen Blick ab und betrachtete die eingeschlagene Scheibe der Schiebetür und die Scherben zu seinen Füßen. »Ich hab Friedhelm Egener gekannt«, sagte er nun lauter und seinem Assistenten zugewandt. »Ist verdammt lange her, in den Siebzigern. Das war noch zu meiner Studienzeit.«

»Sagen Sie bloß, Sie sind ’n Studierter. Das hätt ich nun wirklich nicht gedacht.«

Hilkenbach sah seinen Kollegen misstrauisch an, in Wiggers rundem, stets rotbackigem Sommersprossengesicht war jedoch kein ironisches Grinsen zu entdecken. Noch schlimmer, dachte der Kommissar, ließ sich aber nichts anmerken.

»Ja, ich habe ein paar Semester studiert«, er redete nicht wirklich mit Wigger, sondern sinnierte abwesend. »Philosophie und Geschichte. Aber irgendwie war das nichts für mich.«

»Philosophie … interessant.« Wigger presste die Lippen aufeinander, kniff das rechte Auge zu und nickte vielsagend. »Na, der hier«, sagte er schließlich und wies mit einer Kopfbewegung auf den Toten, »scheint ja dabeigeblieben zu sein. Jedenfalls war er Professor an der Uni. Soziologe, glaube ich.«

Wigger spitzte die Lippen und kratzte sich hinter dem Ohr, ein untrügliches Zeichen dafür, dass gleich ein kluger Spruch folgen würde.

»Chef, seien Sie nur froh, dass Sie zur Polizei gegangen sind. Egener wird jedenfalls seine Pension nicht mehr in Empfang nehmen können.«

O Gott, dachte Hilkenbach, warum hatte man diesen Idioten nicht in Westfalen lassen können. Er kannte zwar nur wenige Münsterländer, aber die reichten ihm schon. Hilkenbach war seit langem klar, warum man nach diesem Menschenschlag lediglich eine Hunderasse benannt hatte.

Der Kommissar ging hinüber zum Schreibtisch und betrachtete das Chaos, das darauf herrschte. Er nahm ein Buch, das obenauf lag, in die Hand und las den Titel: »Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschiedes.« Warum mussten Sozialwissenschaftler ihren Abhandlungen immer solche Titel geben, die den Lesern jede Lust verboten, sie überhaupt zu lesen? Hilkenbach legte das Buch beiseite und kramte weiter. Aktenordner, weitere Fachbücher, wild und bunt mit Anmerkungen und Unterstreichungen versehen, nur wenige Briefe, zumeist mit Universitätsstempel oder an die Uni adressiert, lose Blätter und Papiere lagen verstreut umher. Außerdem Urlaubsfotos, Landschaften in Griechenland, so schien es. Keine Porträts, nur unpersönliche und menschenleere Postkartenansichten, sehr schön und sehr langweilig. Schönheit war immer langweilig, jedenfalls für Hilkenbach.

»War die Spurensicherung schon da?«, fragte er, obwohl offensichtlich war, dass seine Fährten lesenden Kollegen längst alles bepinselt und auf den Kopf gestellt hatten.

»Natürlich«, antwortete Wigger gereizt, »wir sind nämlich heute schon sehr früh aufgestanden. Sie sollten sich allmählich daran gewöhnt haben, dass die Drecksarbeit immer schon getan ist, wenn Sie auftauchen.«

»In meinem Alter ist man eben nicht mehr so schnell.«

»Sicher«, meinte der Assistent. »Ich versteh das. Die Haare fallen aus, die Prostata ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Und dann das Rheuma, das macht einem schon zu schaffen.«

»Na, dann schießen Sie mal los, Wigger«, sagte der Kommissar, während er in den Papieren Egeners herumkramte und sich hin und wieder mit dem Zeigefinger über seinen Haaransatz fuhr. Da oben war es tatsächlich ziemlich licht, viel zu kraulen gab’s jedenfalls nicht.

»Also«, begann Wigger und zündete sich eine Zigarette an, »Egener wurde heute morgen, so gegen sieben, von seiner Haushälterin gefunden … Die müsste eigentlich noch im Haus sein, wenn Sie sie noch mal sprechen wollen, eine gewisse Frau Mölk.«

Der Kommissar winkte ab.

»Auch besser so«, flachste Wigger, »ein schrecklich geschwätziges Weib. Nachdem ich sie verhört hatte, hat sie mich doch tatsächlich zu einem Stück Erdbeerkuchen mit Sahne eingeladen. Bei ihr zu Hause, versteht sich. Dabei ist die Frau mindestens sechzig Jahre alt … Ich stehe eigentlich auf jüngeres Fleisch.« Er lachte dröhnend und fuhr dann fort, dem Kommissar aus seinen Notizen vorzulesen.

Hilkenbach hörte gar nicht mehr zu, er hatte etwas entdeckt, was ihn sichtlich stutzig machte. Während Wigger seine Litanei aufsagte beziehungsweise seine Plauderei fortsetzte, betrachtete der Kommissar sehr genau ein Papier, kniff dabei die Augen zusammen und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Unterlippe.

»Wie die Mölk sagt, war Egener alleinstehend, seit ein paar Jahren Witwer, keine Kinder, keine Freundin, keine neue Frau Egener in Sicht. ›Ein herzensguter, grundsolider Mann‹, sagt sie. Ich schätze ja, dass das direkt mit dem ›alleinstehend‹ zu tun hat …«

Bei dem Papier handelte es sich um einen Kettenbrief, um einen scheinbar ganz gewöhnlichen Kettenbrief, wie ihn jeder wahrscheinlich schon einmal geschrieben oder erhalten hatte.

Der Brief begann: »Küsse jemanden, den Du liebst, wenn Du diesen Brief erhältst, und mache den Zauber mit. Dieses Papier wurde an Dich gesandt, damit Du Glück bekommst. Das Original befindet sich in New England. Es ist bereits elfmal um die Welt gegangen. Nun wurde das Glück an Dich geschickt. Du wirst innerhalb weniger Tage nach Erhalt dieses Briefes Glück haben. Vorausgesetzt, Du sendest ihn weiter. Dies ist kein Spaß! …«

Humbug, dachte Hilkenbach und musste etwas unangebracht grinsen. Egener schien den Brief nicht weitergesendet zu haben. Jedenfalls sah seine Leiche nicht gerade glücklich aus.

Wieder versenkte sich der Kommissar in das Papier, irgend etwas an diesem Brief irritierte ihn, er konnte nicht sagen, was es war.

»Soweit wir bislang wissen«, fuhr Wigger indes unbeirrt fort, »gab es keine Zeugen. Wie die Haushälterin weiter aussagt, fehlen einige wertvolle Gegenstände, vor allem Schmuck aus der Vitrine. Scheint sich da ziemlich genau auszukennen, die gute Frau, konnte uns sogar eine genaue Liste der Klunker geben. Wahrscheinlich hat sie hin und wieder mal probiert, ob sie ihr auch stehen …«

»Ja, ja, schon gut«, unterbrach der Kommissar seinen Assistenten abrupt, »ich kann das ja alles in Ihrem Bericht nachlesen.«

»Ich werde mich bemühen, ihn unterhaltsam und spannend zu schreiben.« Wigger bleckte die Zähne und setzte ein übertriebenes, provokantes Grinsen auf.

Hilkenbach ignorierte das völlig. Er grübelte.

»Haben Sie das hier gesehen?«, fragte er jetzt seinen Assistenten und hielt ihm das Papier vor die Nase.

»Ist ein Kettenbrief, nicht wahr?«, antwortete Wigger nach einiger Zeit, hatte aber keinen blassen Schimmer, was der Chef jetzt wieder vorhatte.

»Und? Ist Ihnen an diesem Brief nichts aufgefallen?«

Wigger nahm das Blatt und studierte es. Zu Beginn des Briefes, nach dem einleitenden Geschwätz von Glück und Schicksal, waren die Spielregeln erklärt. Das Prinzip der Kette und die Instruktionen für die Mitspieler wurden erläutert: »Dieser Brief könnte Dein Glück bedeuten. Auf ganz simple und völlig legale Art und Weise kannst Du durch ihn zu einer bedeutenden Menge Geld gelangen …« Es ging darum, Geld an den ersten Namen in einer Liste zu überweisen, diesen Namen dann durchzustreichen und seinen eigenen Namen an die letzte Stelle der Liste zu setzen. Der Brief sollte daraufhin fotokopiert und an fünf Freunde oder Bekannte geschickt werden. Ein üblicher Kettenbrief eben. Der Einsatz betrug 50 Mark.

Wigger konnte nichts Seltsames daran entdecken, er sah Hilkenbach hilflos an, dieser schaute streng zurück. Wigger las weiter.

Nach den Spielregeln folgten die bei solchen Briefen üblichen Verwünschungen und Drohungen, um die Angeschriebenen einzuschüchtern und ein Unterbrechen der Kette zu verhindern. Anschließend, wie um die Ernsthaftigkeit zu belegen, wurden Beispiele von Leuten genannt, die angeblich von Unglücksfällen heimgesucht worden waren, weil sie sich an dem Kettenbrief nicht beteiligt hatten. Als Wigger an dieser Stelle angekommen war, pfiff er leise und fragte: »Meinen Sie die Unglücksfälle?«

Weil Hilkenbach offensichtlich nicht verstand, las Wigger vor: »›Unterbrich auf keinen Fall diese Kette, es würde großes Unglück auf Dich herabbeschwören. Arno Hillar aus Hamburg erhielt diesen Brief, vergaß ihn und starb nur eine Woche später an einem Herzinfarkt. Dieter Kannenberg aus Duisburg unterbrach ebenfalls die Kette und verunglückte bei einem Autounfall tödlich …‹« Wigger sah den Kommissar fragend an und meinte: »In dem Stil geht das weiter, lauter Unfälle und sogar Morde. Ganz schön starker Tobak, nicht wahr?«

»Mag schon sein«, meinte Hilkenbach, »aber diese Kettenbriefe sind doch alle so geschrieben. Den Leuten soll Angst gemacht werden, damit sie den Brief nicht einfach in den Mülleimer werfen.«

»Hm …«, grunzte Wigger beleidigt, »Sie müssen es ja wissen!«

»Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?«, fragte sein Chef.

Wigger überlegte erneut einige Sekunden. »Ja, doch«, sagte er schließlich, »es fehlt die Namensliste, die Liste der Mitspieler. Wie soll man sich in eine Liste eintragen, wenn es die gar nicht gibt?«

Aber natürlich, dachte Hilkenbach, die Namensliste, das war’s! Das hatte ihn die ganze Zeit irritiert, das hatte ihn stutzig gemacht. Und er war nicht darauf gekommen. Da musste er sich von so einem dahergelaufenen Dorftrottel auf die Sprünge helfen lassen.

»Na, sehen Sie! Und das gibt Ihnen nicht zu denken?« Hilkenbach war sauer, er zog die Augenbrauen hoch.

»Nee, warum auch?«, antwortete Wigger knapp und schüttelte innerlich den Kopf über seinen Chef. »Für mich sieht das hier eher nach Raubmord und weniger nach illegalem Glücksspiel aus«, sagte er und deutete dabei auf die Leiche zu seinen Füßen.

»Hm …«, machte diesmal der Kommissar, »Sie müssen es ja wissen!«

»Ah, da ist ja endlich die Kutsche mit den Aasgeiern«, sagte Wigger plötzlich erleichtert. Er war froh, dass er das Thema wechseln konnte.

»Was für eine Kutsche?«

»Der Leichenwagen. Hat ja auch lang genug gedauert.«

Der Kommissar und sein Kollege verließen gemeinsam das Zimmer, sie begutachteten die restlichen Räume des Erdgeschosses. Alles war blank gescheuert und gewienert und, wenn auch auf andere Art, ebenso leblos wie das Arbeitszimmer.

Sie gingen hinauf in den ersten Stock und warfen einen Blick in das Schlafzimmer. Der Boden war weiß gefliest, die Möbel in einem einheitlichen, pastellfarbenen Hellblau gehalten. Als luxuriöses Hotelzimmer konnte der Kommissar sich diesen Raum sehr gut vorstellen, als Privatgemach kaum.

Das mindestens zwei Meter breite Bett war unberührt, auf der Bettdecke lag Egeners Pyjama, hübsch akkurat gefaltet. Mit Liebe von der Mölk, dachte Hilkenbach.

Auch im Keller, den sie anschließend begutachteten, war es nicht wohnlicher. In der kleinen Bar direkt neben der Treppe war es trotz bemühter Plüsch- und Rustikalromantik etwa so gemütlich wie auf dem Warschauer Flughafen, vielleicht nicht ganz so geräumig. Hilkenbach besah sich die Flaschen. Nur die feinsten Marken. Teurer Malzwhisky, russischer Wodka, guter kubanischer Rum. Kein Fusel, kein Verschnitt. Die Flaschen waren fast alle voll. Die Gläser in Reih und Glied. Neonbestrahlt.

Im Fitnessraum gleich nebenan gab es außer weißen Wänden, einem Trimmfahrrad und ein paar Hanteln nur ein Tischtennisbrett, an dem die eine Seite hochgeklappt war. Auf der heruntergelassenen Seite lag ein einzelner Schläger, etwas Staub hatte sich auf ihm abgesetzt. Der ganze Raum sprach es aus: Egener musste ein schrecklich einsamer Mensch gewesen sein.

Eigentlich verwunderlich. Er war ein gut aussehender Mann gewesen, ein Frauentyp. Erfolgreich in seinem Beruf, finanzielle Probleme hatte er allem Anschein nach nicht gehabt. Und als introvertierten, schüchternen Mann hatte Hilkenbach ihn auch nicht in Erinnerung. Ganz im Gegenteil. Egener war ein Schürzenjäger gewesen. Nur ungern gestand der Kommissar sich ein, dass er schon damals neidisch gewesen war. Egener, der Glückspilz. »Dieses Papier wurde an Dich gesandt, damit Du Glück bekommst.«

Die beiden Kriminalisten gingen wieder hinauf und zur Vordertür hinaus. Als Hilkenbach die für seinen Geschmack etwas zu protzige Treppe zur Auffahrt hinunterstieg, hielt er noch immer den Kettenbrief in seiner rechten Hand. Er grüßte mürrisch einige Kollegen, die in den Anlagen und Beeten nach weiteren Spuren suchten, und stieg in seinen Dienstwagen, auf den Beifahrersitz. Er ließ Wigger fahren.

Hilkenbachs Laune war eindeutig im Eimer, schon am Morgen hatte er geahnt, dass dieser Tag fürchterlich werden würde.

»Wie wär’s mit ’nem starken Kaffee, bevor wir uns ein wenig an der Uni umsehen?«, fragte er seinen erstaunt blickenden Kollegen. »Ich könnte einen vertragen.«

»Von mir aus, gerne. An der U-Bahn gibt’s einen Kiosk.«

»Wigger, Sie sind pervers! Nur ein paar Straßen weiter bekommt man den besten Espresso in ganz Dahlem, und Sie wollen zu einer Fritten-Bude. Kulturloser Banause!«

»Oho! Jetzt hab ich’s«, rief Wigger vergnügt. »Sie haben ’nen Kater! Dass ich das noch mal erleben darf!«

Hilkenbach versuchte, diese blöde Bemerkung zu überhören. Es fiel ihm nicht schwer. Übungssache.

Den Espresso beim Italiener an der U-Bahnstation Dahlem-Dorf konnte Hilkenbach nicht recht genießen. Zum einen, weil Wigger glaubte, ihm seine Erlebnisse der letzten Nacht erzählen zu müssen. Zum anderen, weil er wieder Egeners Gesicht vor sich sah, ein ehemals schönes, jetzt nur noch bleiches, überrascht wirkendes Gesicht mit einem verständnislosen Blick.

Wissenschaft war die Suche nach Erkenntnis, so hieß es wohl. Professor Egener hatte diese nicht mehr erhalten. Oder wenn, dann fürchterlich spät.

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2. Der Freund

Hilkenbach sah müde und abgespannt aus, als er sich an diesem Samstagabend mit seinem Beinahe-Freund und Exkollegen Gerd Stahl zum wöchentlichen Billard-Spiel traf. Stahl war nicht unbedingt das, was man einen Busenfreund nannte, über Privates oder Intimes hätte Hilkenbach sich niemals mit ihm unterhalten, über Privatangelegenheiten sprach er eigentlich nie mit irgend jemandem. Aber Gerd Stahl war der einzige, mit dem er sich außerdienstlich auf ein Bier oder ein Billard- oder Schachspiel traf. Ein einziges Mal hatte der Kommissar seinen Assistenten Wigger auf ein Feierabend-Bier eingeladen, er hatte es anschließend schwer bereut. Der Abend war ein Fiasko gewesen.

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Im Fall Egener gab es leider nichts Neues. Die Schnüffelei an der Uni hatte sich als zwecklos erwiesen. Am Wochenende traf man dort nur den altersschwachen Pförtner, der nicht nur akustisch verständnislos war, ein paar polnische oder jugoslawische Putzfrauen und die üblichen übereifrigen Betriebswirtschafts- und Jurastudenten, die ihr unscheinbares Aussehen durch das Tragen einer Krawattennadel und eines Aktenkoffers wettmachen wollten.

Im Institut für Soziologie schließlich hatten sie überhaupt niemanden mehr angetroffen. Hilkenbach hatte vor dem Schwarzen Brett gestanden und in Info-Broschüren geblättert: »Soziologie befasst sich mit allgemeinen sozio-ökonomischen Theorien, mit Theorien sozialen Wandels, mit Sozialisationstheorien, mit Kommunikationstheorien sowie mit Theorien sozialen Verhaltens überhaupt …«

»Theorien hatten Egener auch nicht geholfen«, hatte Hilkenbach laut gedacht.

»Aber eine Theorie würde uns helfen«, hatte Wigger gesagt.

Immerhin hatten sie herausgefunden, dass Egener eine Schwester in Berlin hatte. Anna Egener, ledig, wohnhaft in Schöneberg. Diese Schwester hatte die Haushälterin mit keinem Wort erwähnt.

Hilkenbach hatte sie telefonisch vom Tod ihres Bruders unterrichtet, mit Vorsicht und Anteilnahme. Doch Hilkenbachs »Mein Beileid, Frau Egener« war unnötig gewesen, sie schien nicht sonderlich berührt. Ihre Antwort war Schweigen gewesen und anschließend der schnippische Satz: »Da wollen Sie mich sicherlich sprechen. Aber nicht heute, heute geht’s nicht. Kommen Sie morgen, morgen ist Sonntag. Von mir aus morgen. Aber rufen Sie vorher an.«

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Familien sind auch nicht mehr das, was sie mal waren, dachte Hilkenbach, als er nun in der Steglitzer Billardkneipe mit seinem Freund Stahl saß und sich wünschte, zu Hause vor dem Fernseher geblieben zu sein.

Er wirkte abwesend, seine schmalen Augen starrten ins Nichts, er versteckte sich hinter seinem Bier, das er mit beiden Händen fest umklammerte. Seine übergroßen Tränensäcke unter den Augen kamen durch die dunklen Ränder erst recht zur Geltung, sie wirkten, als wollten sie dieses knochige Gesicht aus den Fugen sprengen. Mit einem widerwilligen Grunzen begleitete Hilkenbach einen Schluck von dem schal schmeckenden Bier, es war schon abgestanden aus dem Hahn gekommen.

Stahl, ein ehemaliger Drogenfahnder, der schon seit einigen Jahren nicht mehr bei der Polizei war, weil er es mit Gesetzen und Dienstvorschriften nicht immer allzu ernst genommen hatte, stand breitbeinig am Billardtisch, hielt seinen dicken Bauch über dem grünen Tuch in der Schwebe und vollbrachte wahre Wunderdinge mit dem Queue, das in seinen Händen wie ein Zahnstocher aussah.

»Gesehen?«, fragte er stolz in Richtung Ecktisch, an dem Hilkenbach mehr kauerte als saß. Der Kommissar hatte natürlich überhaupt nichts mitbekommen, klopfte aber ganz automatisch anerkennend auf den Tisch. Diesmal war es Stahl, der ein Grunzen vernehmen ließ, es klang ein wenig beleidigt. Mit dem nächsten, unkonzentrierten Stoß versenkte er die weiße Kugel.

»Du bist dran.«

»Hm? … Ach so, ja.« Schwerfällig, als würde er Tonnen mit sich herumschleppen, erhob sich Hilkenbach und nahm das Queue, das Stahl ihm reichte. »Was hab ich, die Halben?«

»Offensichtlich!«

Das war es tatsächlich. Abgesehen von der schwarzen Kugel lagen nur noch Halbe auf dem Tisch, sieben Stück, um genau zu sein. Hilkenbach entschied sich für die grüngestreifte.

»Hinten rechts.«

Die weiße Kugel traf die gewählte viel zu stark, die grün gestreifte Kugel ging einige Zentimeter an der Tasche vorbei, traf aber die schwarze Kugel und beförderte sie in die Nachbartasche.

»Ich würde eher sagen: die schwarze, hinten links.« Stahl nahm seinem Freund das Queue aus der Hand und beförderte Hilkenbachs Kugeln nach und nach gekonnt in die Taschen.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Hilkenbach, »es scheint heute nicht mein Tag zu sein. Lass uns aufhören und noch eins von diesen kohlensäurefreien Bieren trinken.«

»Einverstanden«, meinte Stahl und bestellte noch zwei Gläser Engelhardt. »Wenn dir’s Bier im Arsche knarrt, dann war’s bestimmt von Engelhardt.«

»Au!« Hilkenbach zog eine schmerzverzerrte Miene, er fuhr sich mit Zeige- und Mittelfinger über seinen akkurat gestutzten, sehr britisch wirkenden Schnurrbart und meinte: »Der Spruch kommt aber auch nicht von dir.«

»Nee«, gab Stahl zu, »hab ich in ’nem Krimi gelesen.«

»Au!« Wieder ein Stöhnen bei Hilkenbach, diesmal heftiger.

»Was denn?« Er lachte. »Jetzt, wo ich nicht mehr live dabei bin, muss ich mich doch wenigstens aus zweiter Hand informieren. Ich seh mir auch immer Reality TV auf RTL an.«

Hilkenbach schüttelte ungeduldig den Kopf, es wirkte beinahe angeekelt. »Gerd, du enttäuscht mich. Hast du denn bei der BVG nicht genug Abwechslung?«

»Ach wo«, Stahl grinste, »sogar mein Rottweiler, Bodo heißt der, schläft dauernd ein.«

Nachdem er bei der Drogenfahndung vom Dienst suspendiert worden war, weil er die Verdienstmöglichkeiten des Drogengeschäfts entdeckt, sich dabei aber etwas ungeschickt angestellt hatte, war Stahl zum Wachschutz gewechselt. Die IHS, die Industrie- und Handelsschutz GmbH, hatte ihn natürlich mit Kusshand genommen, bei seiner imponierend schwergewichtigen Erscheinung hatte er gar keinen Wachhund nötig, um auf den Berliner U-Bahnhöfen für Ordnung zu sorgen.

»Kannst du dir das vorstellen? Ein scharfer, gefährlicher Rottweiler mit dem Namen Bodo? Zorro oder Rex oder Killer, das wären angemessene Namen.« Sein Lachen wirkte Furcht einflößend. War Wigger ein Teddybär, so war Stahl ein Grizzly. Alles an ihm war wuchtig und massiv, sein Gesicht ein Holzklotz, ebenso hart und ebenso runzlig, seine Nase ein knolliger Fleischberg, die Ohren gewaltig. Stahl hatte die Schenkel eines Eisschnellläufers, den Hintern eines Finanzbeamten, den Bauch eines Wochenendsäufers und die Arme eines Maurers. Eine Gestalt wie aus einem Fellini-Film, wäre er zehn Zentimeter kleiner gewesen, hätte man ihn auf Rhodos aufstellen können.

Der Wachschutzmann wollte gerade ein nettes Anekdötchen zum besten geben, eine niedliche Geschichte vom alltäglichen Vietnamesenjagen auf Ost-Berliner S-Bahnhöfen, als er bemerkte, dass sein Gegenüber ihm gar nicht zuhörte, sondern lustlos mit einer Salzstange in seinem Bier herumpanschte.

»Hey, Hartmut, bist du noch da?« Er wedelte mit der Hand vor Hilkenbachs Augen herum. »Erde ruft Wolke sieben, bitte kommen!«

»Entschuldige.« Die Salzstange war abgebrochen und schwamm nun im Bier, angewidert stellte Hilkenbach das Glas beiseite.

»Ist dir ’ne Laus über die Leber gekrochen?«

»Ich bearbeite gerade den Mord an einem alten Bekannten. Macht mir ein wenig zu schaffen. Tut mir leid.«

»Was tut dir leid? Dass es dein Bekannter war oder dass es dir zu schaffen macht?« Stahl zwinkerte ganz beiläufig der Kellnerin zu und bestellte per Handzeichen weitere zwei Biere.

»Ein ehemaliger Studienkollege von mir ist gestern Abend umgebracht worden. Ich weiß selbst nicht, warum mich das so mitnimmt, ich hatte ihn fast zwanzig Jahre nicht gesehen.« Hilkenbach stutzte. »Hab nicht mal gewusst, dass er noch in der Stadt lebte.«

»Ihr wart mal Freunde?«, fragte Stahl so mitfühlend es ihm möglich war.

»Ja und nein«, antwortete Hilkenbach zögernd, »wir hatten so eine Art Studentenclique damals. Ein eingeschworenes Quartett. Friedhelm Egener war einer davon.«

»Ist das der Ermordete?«

Hilkenbach nickte.

»Wir nannten uns ›die vier Musketiere‹«, sagte er nach einer Weile, »dabei war eine von uns eine Frau. Ein Mädchen.« Hilkenbach lächelte nachdenklich und wurde rot im Gesicht, nur ganz leicht.

Stahl merkte es, grinste und meinte: »Eine Frau, drei Verehrer, wie?«

Erneut nickte Hilkenbach. Allmählich wich die Farbe aus seinem Gesicht, und er sagte: »Manchmal hasse ich meinen Job!« Wieder machte er eine Pause, eine sehr lange. Seine Gedanken schweiften ab. »Irgendwie geht mir das alles gegen den Strich …«

»Alles?« Stahl wusste ganz genau, dass Hilkenbach etwas ganz Bestimmtes meinte, sein Unmut war keineswegs so allgemein, wie er vorgab. »Du willst mir doch hoffentlich jetzt nicht erzählen, dass du amtsmüde bist, dass du Meisterdetektiv keine Lust mehr hast, dass dein Job dir keinen Spaß mehr macht. Bist du etwa in der Midlife-Crisis?! Oder unglücklich verliebt?«

»Quatsch! Dieser Fall schmeckt mir nicht, diese Raubmord-Version will mir nicht gefallen. Ich hab das im Urin.«

Stahl sah den Kommissar auffordernd an. »Details, wenn ich bitten darf. Oder soll das ein Selbstgespräch werden?«

Die Kellnerin brachte das Bier und stellte die Gläser mit gezierter Handbewegung auf den klebrigen Tisch. Als sie sich dabei ein wenig bückte, gaffte Stahl ihr auf die stolz geschwellten Brüste.

Stahl grinste die Kellnerin dämlich an, sie grinste noch dämlicher zurück. Hilkenbach war dieses Kneipengebalze sichtlich peinlich, er wartete nur darauf, dass sein Freund ihr einen Klaps auf den Hintern geben würde. Er wäre dann aufgestanden und gegangen. Vielleicht.

»Also, Egener …« Hilkenbach räusperte sich und wartete bis Stahl sich ihm wieder zuwandte. Als der lüsterne Blick aus seinem Gesicht verschwunden war, fuhr der Kommissar fort: »Egener wurde heute morgen von seiner Haushälterin neben dem Schreibtisch gefunden, mit eingeschlagenem Hinterkopf. Er war angezogen und das Bett unberührt. Eine Glastür in dem Zimmer war von außen zertrümmert, eine Vitrine eingeschlagen, ein Schränkchen aufgebrochen, der Schreibtisch ein wenig durchwühlt. Schmuck von beträchtlichem Wert gestohlen, Egener war Sammler oder so was. Na, was machst du daraus?«

»Scheint einfach.« Stahl kratzte sich hinter seinem großen, fleischigen linken Ohr. »Einbruch am Abend, Einbrecher vom Hausherrn überrascht, Totschlag. Was spricht dagegen?«

»Wenig. Nur sagte die Haushälterin aus, am Morgen sei das ganze Haus hell erleuchtet gewesen. Gesetzt den Fall, das war es schon am Abend zuvor, so war das wohl kaum eine Einladung für einen Einbrecher.«

»Vielleicht hat der ja selbst die Lichter eingeschaltet.«

»Abgesehen davon, dass das natürlich nicht sonderlich vorsichtig wäre, wieso hat er dann nicht ein einziges der erleuchteten Zimmer betreten? Nicht eine einzige Schublade herausgezogen, nicht einen einzigen Schrank geöffnet? Außer dem Arbeitszimmer ist das ganze Haus jungfräulich und unberührt. Würdest du als Einbrecher, der gerade einem Kerl den Schädel eingeschlagen hat, ganz gemütlich durchs Haus wandern und dir die Zimmer ansehen?«

»Kaum.« Stahl kniff die Augen zusammen und zog einen Mundwinkel nach oben, er war verwirrt. Es sah ulkig aus. »Vielleicht hat Egener das Licht angeschaltet, als er etwas Verdächtiges im Haus hörte.«

»Natürlich.« Hilkenbach schaute seinen Freund spöttisch an. »Er hört unten im Arbeitszimmer Geräusche und macht erst einmal im Schlafzimmer, dann im oberen Flur, auf der Treppe, im unteren Flur, schließlich in der Küche und zuletzt im Arbeitszimmer das Licht an. Ich möchte den Einbrecher sehen, der dann noch da ist, um vom Hausherrn überrascht zu werden.«

»Was meinst du denn?«, fragte Stahl und begutachtete skeptisch sein Bier. Die Schaumkrone hatte sich in Windeseile verflüchtigt. Wenn überhaupt eine dagewesen war. Er prostete seinem Gegenüber zu und nahm einen mächtigen Schluck.

»Für Wigger ist der Fall klar.« Hilkenbach rührte sein Bier nicht an und musste unwillkürlich grinsen, ein wenig geringschätzig, ein wenig mitleidig.

»Wigger? Ist das dein Assistenten-Clown?«

»Genau der.« Das Grinsen war verschwunden, Hilkenbach steckte sich eine Zigarette an und spielte mit dem Feuerzeug herum. »Für Wigger steht fest, dass der Einbrecher sich von hinten durch den Garten angeschlichen, die Scheibe eingeschlagen und die Vitrine aufgebrochen hat und dann von Egener überrascht wurde. Trotz Flutlichtbeleuchtung. Wie hat Wigger sich ausgedrückt? … ›Er zieht dem Professor einen Scheitel, rafft zusammen, was er in die Hände bekommt, und macht die Flatter.‹« Hilkenbach betrachtete andächtig seine Zigarette, schwieg einige Sekunden und schüttelte dann energisch den Kopf. »Mir gefällt diese Version nicht.«

»Und welche würde dir gefallen?« Noch ein kräftiger Schluck, und Stahls Bierglas war leer.

»Keine Ahnung. Ich hab wirklich keinen Schimmer.« Hilkenbach schüttelte sich, als wollte er seine Gedanken verscheuchen.

Stahl konnte sich schon vorstellen, woran Hilkenbach jetzt dachte. Es waren ja immer die gleichen Gedanken, die gleichen Wünsche. Die ewigen Sehnsüchte, das Lechzen nach einem Jahrhundertfall. Stahl wusste nur zu gut, hatte schon oft über sich ergehen lassen müssen, dass der Kommissar sich zu Höherem berufen fühlte.

Hilkenbach hasste Routinearbeit, er sah sich als kriminalistischer Querdenker. Seit Jahren wartete er nun schon auf seinen Fall. Einen Fall, wie er von einem Krimischriftsteller nicht besser erdacht werden könnte. Er wollte es allen beweisen, nicht zuletzt sich selbst, dass er der Beste war. Ein Logiker, ein Kombinierer, mit messerscharfem Verstand und unbeirrbarem Willen, kurzum, ein Kommissar, wie er in Büchern stand. In jenen Büchern, die er doch angeblich so hasste.

Leider war Hilkenbachs Chef, Kriminalrat Brutzinger, mit dieser Art und Arbeitsweise alles andere als einverstanden. Stahl wusste das, er kannte den Kriminalrat flüchtig. Brutzinger wünschte sich Papiertiger, die Formulare ausfüllten und sich an Vorschriften hielten, und keine Spürhunde, die sich allein auf ihre Nase verließen. Vor allem hatte Brutzinger etwas gegen Untergebene, die ihn in aller Öffentlichkeit kritisierten und bloßstellten. Hilkenbach hatte dies mehrfach getan.

»Was sagt dein Häuptling zu dem Fall?«, fragte Stahl vorsichtig.

»Brutzinger?«, entgegnete der Kommissar. »Der interessiert mich nicht.«

»Das sollte er aber! Was meinst du, wer dafür verantwortlich ist, dass du seit Jahren nicht befördert worden bist? Du solltest diesen Glatzkopf ernst nehmen.« Stahl grinste und meinte: »Denk doch an deine Pension.«

Hilkenbach entgegnete nichts und drückte die Zigarette, an der er kaum gezogen hatte, aus.

»Wollen wir noch ein Bier trinken?« Stahls Frage klang nicht gerade wie eine Aufforderung. Er glotzte ungläubig auf Hilkenbachs volles Glas. »Oder sollen wir gehen?«

»Ich möchte gern nach Hause.« Hilkenbach war schon ein wenig betrunken, er vertrug keinen Alkohol, und der allwöchentliche Billardtermin war der einzige Abend der Woche, an dem er welchen zu sich nahm. »Bringst du mich mit dem Auto?«

»Klar.« Die beiden Männer standen auf, bezahlten und verließen das Lokal. Der eine groß und schmächtig, der andere größer und gewaltig und umfangreich. Pat und Patachon. Nein, David und Goliath.

Die Kellnerin hinterm Tresen schaute ihnen zweifelnd nach, sie zog ihre Nase kraus. Von Koketterie nichts mehr zu spüren. In der Hand hielt sie das Trinkgeld, 30 Pfennige.

Kopfschüttelnd warf sie die Groschen in ein Whiskyglas, auf dem zu lesen war: »Danke!«

Als sie sich wieder ihren Gästen zuwandte, war in ihrem Gesicht wieder der geschäftsmäßig blöde Blick, auf den Typen wie Stahl so standen. Wahrscheinlich hatte sie diesen Blick vorm Spiegel geübt, sie beherrschte ihn perfekt.

-

Eine halbe Stunde später war Hilkenbach in seiner 2-Zimmer-Wohnung in der Schlangenbader Straße. Hilkenbach wohnte (im wahrsten Sinne des Wortes) über der Autobahn. Ein seltsamer Gebäudekomplex war das, wie aus einem schlechten Sciene-Fiction-Film. Ein riesiger, unförmiger Kasten, der durch seine Terrassenbauweise an eine durch die Mangel gedrehte Pyramide erinnerte. Ein schlechter Architektenwitz. Ein Haus über der Autobahn errichtet; da wo andere Leute ihre Kohlen lagerten, fuhren bei Hilkenbach Autos mit Höchstgeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern auf der A 104.

Der Kommissar ging ins Wohnzimmer, es war wie immer nicht aufgeräumt. Für wen auch. In der Mitte des Raumes stand ein überdimensionaler ovaler Esstisch, auf den darauf ausgebreiteten Zeitungen der vergangenen Woche lagen abgenagte Äpfel und vertrocknete Pfirsichkerne, Taufliegen tänzelten darum herum. Die Drosophila, die kleine Essigfliege; Hilkenbach kannte sie noch aus dem Biologieunterricht. Das einzige, was er nach all den Jahren behalten hatte. Dass es Februar war, war den Fliegen egal, sie schienen in der Wohnung zu überwintern. Hilkenbach hatte keine Ahnung, weshalb. Im Backofen hätte er die Antwort gefunden.

Die Tasse mit dem Kaffee vom Morgen war noch fast voll, auf dem Frühstücksteller lag ein Salamibrot, nicht angerührt. Hilkenbach brachte das Geschirr in die Küche, um es in die Spülmaschine zu stecken. Keine Chance, sie war bis obenhin voll. Beim Öffnen der Maschine kam ihm ein schimmliger Geruch entgegen. Wie um den Gestank zu übertünchen, stellte er das Radio an. Er ging zurück ins Zimmer, zum Schreibtisch, und entleerte seine Jackentaschen. Immer steckte er irgendwelchen Krimskrams ein, beliebiges Zeug, das irgendwo herumlag. Diesmal waren es Stahls Benzinfeuerzeug, ein paar Knöpfe und Büroklammern und zwei Blatt Papier. Er faltete sie auseinander. Das eine war ein Infozettel aus der Universität, das andere der Kettenbrief von Egeners Schreibtisch.

»Seltsam«, sagte der Kommissar halblaut, schüttelte leicht den Kopf, legte den Brief auf seinen Schreibtisch und ging ins Schlafzimmer. Er vergaß, die Zähne zu putzen. Und das Radio auszuschalten.

-

3. Die Schwester

Wann war er das letzte Mal an einem Sonntag in Berlin spazieren gegangen? Vor allem im Winter, bei nasskaltem Wetter? Noch nie! Und er wusste nun auch, warum.

»Hier, halten Sie mal«, wurde Hilkenbach aus seinen Gedanken gerissen. Er bekam eine Leine in die Hand gedrückt und hatte plötzlich das zweifelhafte Vergnügen, einen zotteligen Köter Gassi durch den Nelly-Sachs-Park in Schöneberg zu führen. Hilkenbach hasste Hunde wie die Pest, aber das konnte Anna Egener natürlich nicht wissen. Der Hund jedoch, eine seltsam verwachsene Promenadenmischung mit krummen Dackelbeinen, eingedrückter Boxernase und heimtückischem Blick, schien das zu riechen. Er sah den Kommissar drohend an und knurrte leise. »Grrr«, machte der Hund. »Grrr«, machte Hilkenbach und zeigte seine Zähne. Der Hund zog verängstigt den Schwanz ein.

»Unangenehme Nachbarn haben Sie hier, Frau Egener«, sagte der Kommissar und dachte an das Gesindel, das er auf dem U-Bahnhof Kurfürstenstraße gesehen hatte. Prostituierte, die sich hier aufwärmten, wenn es ihnen auf dem Straßenstrich zu kalt wurde, und abgewrackte Junkies, die sich den nächsten Druck besorgten. Auf dem Weg zur Wohnung der Egener in der Steinmetzstraße hatte er ein gebrauchtes Fixerbesteck in einem Hauseingang gesehen. Er hatte es liegenlassen. Was sonst. »Ich denke an die Junkies von der Potse«, setzte der Kommissar erklärend hinzu.

»Ich weiß, woran Sie denken«, entgegnete Anna Egener finster, aber bestimmt. »Schließlich sind Sie Polizist. Aber lassen Sie sich gesagt sein: Nachbarn sind grundsätzlich unangenehm. Das liegt in ihrer Natur.«

Hilkenbach stimmte darin zwar mit ihr überein, er sagte ihr das auch, dennoch war er ein wenig überrascht von der Heftigkeit, mit der sie redete und ihre Worte wie Pfeile losschoss. Er kannte sie erst wenige Minuten, aber er hatte den bestimmten Eindruck, dass sie unter allen Umständen direkt sein oder zumindest so wirken wollte. Auf Hilkenbachs Beileidsfloskeln, mit denen er sie begrüßt hatte, hatte sie geantwortet: »Ach, lassen Sie doch diesen Schmus. Sie meinen es ja doch nicht so.«

Und sie hatte recht damit gehabt.

»Sie wundern sich wahrscheinlich, dass mir der Tod meines Bruders so wenig ausmacht«, sagte Frau Egener und bestätigte damit den Eindruck, den Hilkenbach hatte, »aber für mich ist Friedhelm schon seit einiger Zeit tot. Seit vier Jahren, um genau zu sein.«

Sie lächelte bitter und schnaufte krampfhaft.

Anna Egener war einige Jahre älter als ihr Bruder Friedhelm, Mitte Fünfzig, schätzte Hilkenbach. Ihr Haar war grau, sehr grau. Und es war sehr kurz geschnitten, so kurz, wie es grau war. Ihre Stimme klang blechern und krächzend, eine interessante, markante Reibeisenstimme, wie Zarah Leander in besseren Tagen. Ihr Gesicht war das einer Märchenhexe, fand der Kommissar. Die Nase adlerhaft hervorstehend, die Augen klein, funkelnd und tiefliegend. Leider fehlte die haarige Warze am Kinn. In Gedanken sah der Kommissar sie auf einem Besen sitzend, der dämliche Köter, den sie mit einem Zauberstab in eine schwarze Katze verwandelt hatte, auf ihrer Schulter. Auf zum Blocksberg.

»Ein wenig verwundert das schon, aber ...«, begann er.

»Nichts aber«, unterbrach sie ihn energisch. »Friedhelm und ich existierten nicht füreinander. Früher war das anders gewesen, früher haben wir uns wenigstens gehasst. Doch seit vier Jahren haben wir kein Wort mehr miteinander gesprochen. Und jetzt ist es dafür wohl zu spät.« Wieder ein bitteres Lächeln in ihrem Hexengesicht. »Wie trotzige Kinder. Und wir sind beide Trotzköpfe gewesen.«

»Sie kommen nicht zufällig aus Westfalen?«, fragte Hilkenbach und dachte an Wigger, der gestern auf die Frage des Kommissars, ob er mit zu Egener wolle, geantwortet hatte: »Es soll Menschen geben, die auch ein Privatleben haben. Sonntags gehöre ich dazu.« – »So werden Sie bei der Polizei aber keine Karriere machen«, hatte Hilkenbach erwidert. Und Wigger hatte daraufhin gelacht und gesagt: »Dann bin ich ja beruhigt.«

Hilkenbach kannte keine Wochenenden, keine Feierabende. Er war stets im Dienst. Aber Karriere hatte er deswegen nicht gemacht. Ein einfacher Kommissar war er, sehr viel jüngere Kollegen hatten schon ein Haupt- oder wenigstens ein Ober- vor ihrem Titel. Er nicht.

»Nein, ich bin Berlinerin, eine gebürtige sogar. So was gibt’s noch. Ich gehöre zur aussterbenden Rasse der Berliner in Berlin.«

Sie sah, dass der Kommissar mit dem Hund an der Leine nicht zurechtkam, er ließ sich von ihm führen und nicht umgekehrt. »Geben Sie ruhig wieder her.« Sie nahm die Leine an sich, zog sie straff und ließ die Promenadenmischung gehorsam neben sich her laufen. Wie auf dem Exerzierplatz. Der Hund warf sich, so schien es, triumphierend in die Brust. Blöder Kläffer, dachte Hilkenbach. Wird wieder hart an die Kandare genommen und freut sich noch darüber.

»Warum haben Sie Ihren Bruder gehasst?«

»Sie meinen früher?«

Der Kommissar nickte und folgte seiner Gesprächspartnerin in die nächste Runde über diesen winzigen Park. Die Bezeichnung Park war eine Beleidigung für jeden wirklichen. Ein besserer Vorgarten war das hier.

»Haben Sie Geschwister?«

Der Kommissar verneinte.

»Sie haben dann wahrscheinlich keine Ahnung, was es heißt, die ältere Schwester eines geliebten, verwöhnten, angehimmelten kleinen Bruders zu sein? Ich meine, als kleine Göre.«

»Kindliche Eifersucht?«

»Natürlich. Wir haben uns nicht ausstehen können, wir waren erbitterte Rivalen. Um die Gunst der Eltern, um Ansehen bei Verwandten und Freunden, um alles. Und immer hat er gewonnen.«

Hilkenbach stutzte und blieb stehen.

»Ich weiß, was Sie jetzt denken, Herr Kommissar. Kinderkram, denken Sie. Und Sie haben recht.« Auch sie blieb stehen und versetzte dem Hund, der dieses Manöver nicht verstand, einen Ruck mit der Leine. Beleidigt hockte sich der Hund auf sein Hinterteil.

»Aber Kinderkram prägt. Friedhelm wurde immer bevorzugt, ihm wurde alles in den Arsch geschoben, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, und was ich getrieben habe, hat keinen interessiert. So was kann ganz schön frustrieren. Friedhelm war der liebe Kleine, der süße, niedliche Bursche, und ich hatte die Vernünftige, die große Schwester zu spielen.« Sie sprach fürchterlich schnell, so als hätte sie ihren Text auswendig gelernt. Und ihn in Gedanken schon hundertmal heruntergerattert.

»Friedhelm war das Familiengenie, dem jeder auf die Schulter klopfte, und ich ...« Sie redete nicht weiter, setzte stattdessen ihren Rundgang fort.

»Das nennen Sie Hass? Das muss doch Jahrzehnte her sein. Als Erwachsener sieht man solche Dinge doch anders. Lacht darüber.«

»Mein Bruder ist nie erwachsen geworden, er war immer der putzige, verzogene Junge, der er schon mit sieben Jahren gewesen war. Nur dass er zudem großkotzig und angeberisch wurde. Ein Lackaffe. Er spielte den Macker und erwartete, dass alle nach seiner Pfeife tanzten. Und das taten auch alle.«

»Alle – bis auf seine Schwester.«

»Mag sein.«

Sie verließen nun den Park, eine dritte Runde hätte sie wahrscheinlich schwindelig werden lassen, und gingen auf der Dennewitzstraße in Richtung Norden, zur Hochbahn der Linie 1.

Anna Egener war eine seltsame Frau, entschied der Kommissar. Sie wirkte so streng, so ernsthaft, ein wenig traurig, ein wenig verbittert. Sie machte den Eindruck einer starken Persönlichkeit, eines Menschen, der weiß, was er will und was er nicht will. Und nun erzählte sie ihm diesen ausgesuchten Blödsinn aus der Kindheit, dieses pubertäre Geschwätz. Es war offensichtlich, dass sie Theater spielte. Fragte sich nur, wem sie etwas vorspielen oder etwas beweisen wollte.

»Haben Sie Ihren Bruder beneidet, weil er so viel Erfolg hatte?«

»Nein.« Sie merkte, dass ihre Antwort etwas kurz war und zu schnell, zu gepresst herauskam. Und sie fügte hinzu: »Nicht wirklich. Nur wie er sich darin suhlte, konnte ich nicht ertragen.«

»Ihr Bruder war ein sehr einsamer Mann, Frau Egener.«

»Friedhelm?!« Sie prustete beinahe los. »Das wäre mir neu. Er scharte immer genügend Jünger um sich, die ihn anhimmelten. Vielleicht hatte er keine Freunde, das mag sein, aber er hatte jede Menge Bewunderer in seiner Nähe. Die standen bei ihm Schlange, um einmal zu einer seiner berühmt-berüchtigten Cocktailparties eingeladen zu werden. Um den großen, eloquenten, geistreichen Professor Egener live zu erleben.«

»Woher wollen Sie wissen, dass er nicht einsam war? Sie haben ihn doch seit vier Jahren nicht gesehen?«

Sie schwieg nachdenklich, spielte an ihrem Ohrring herum und meinte dann: »Bei Frauen hatte er jedenfalls immer großen Erfolg.« Beinahe flüsternd setzte sie hinzu: »Er war ein hübscher Kerl.«

»Warum haben Sie beide sich überworfen?«

»Wegen einer seiner Geliebten. Sie war ein billiges Flittchen, und ich habe ihm das gesagt. Und er hat mich vor die Tür gesetzt.« Wieder schwieg sie eine lange Weile. Und spielte mit dem Ohrring.

»Wer war diese Geliebte?«, wagte Hilkenbach, in die Stille zu fragen.

»Maria Kock. Eine schreckliche Person. Aufdringlich, affektiert, unecht. Nackt in einem Playboy-Kalender hätte die sich gut gemacht. Aber angezogen und womöglich redend war sie unerträglich. Für Friedhelm war sie die große Liebe. Überhäuft hat er sie mit allem Erdenklichen. Er wollte sie sogar heiraten. Das war der Grund für unseren Streit. Ich hab ihm gesagt, dass sie eine Schlampe ist. Und sonst nichts. Und er hat gesagt, ich soll aus seinem Leben verschwinden. Und das hab ich gemacht. Zack.« Sie schnippte mit den Fingern. »Und tschüs.«

Hilkenbach fühlte sich unwohl in seiner Haut. Dieser Ausbruch der Egener kam etwas überraschend für ihn. Außerdem merkte er, dass sie nur die halbe Wahrheit erzählte. Vielleicht hatte es etwas mit dieser Maria Kock zu tun. Vielleicht aber auch überhaupt nichts. Und wahrscheinlich war das alles eh nicht von Belang.

Sie kamen nun unter der Hochbahn an, direkt an der Stelle zwischen den Bahnhöfen Gleisdreieck und Kurfürstenstraße, wo die Hochbahn unterirdisch wird.

»Ich hab ja davon gelesen«, rief der Kommissar gegen den Lärm einer U-Bahn an, »hab es aber nicht wirklich geglaubt. Die Bahn fährt tatsächlich direkt in ein Wohnhaus rein. Wenn ich mir die Gardinen an den Fenstern ansehe, wohnen da ja direkt über dem Bahntunnel Menschen. Unglaublich!« Wie ein kleines Kind stand der Kommissar vor dieser architektonischen Merkwürdigkeit, die in jedem Reiseführer erwähnt wird und die kaum noch einen Touristen interessiert. Plötzlich hörte er ein Schluchzen hinter sich. Er drehte sich um. Tränen liefen Anna Egener über die Wangen, dicke Tränen, schwere Tränen. Es schüttelte sie am ganzen Körper, sie hatte die Leine losgelassen, und der Hund hatte überglücklich die Chance genutzt, freudig kläffend um seine Herrin herumzutollen. Diese stand bibbernd, aber bewegungslos am Fleck und hatte die Fäuste geballt, sie presste sie ganz fest zusammen, sodass die Finger weiß wurden. Sie blickte durch Hilkenbach hindurch ins Nichts. Ins Nirgendwo.

Der Kommissar war froh, dass er nicht sehen musste, was sich gerade vor Anna Egeners innerem Auge abspielte. Er ging auf sie zu und versuchte, sie festzuhalten. Sie fing an, hysterisch zu schreien, wachte aber im gleichen Augenblick wieder auf. Sie sah Hilkenbach unendlich müde an.

»Soll ich Sie nach Hause bringen?«, fragte der Kommissar.

»Nein, nicht nötig«, sagte sie und weinte leise weiter.

»Doch, doch, keine Widerrede.«

»Nein!« Sie sagte dies entschieden, und ihre Augen waren es ebenfalls. »Bitte lassen Sie mich. Ich möchte gern allein sein.«

Hilkenbach stand eine Weile unentschlossen da und ging schließlich. Er drehte sich noch einige Male um, sie bewegte sich die ganze Zeit nicht von der Stelle. Ein seltsames Bild, eine traurig starre Person und ein Hund, der sie lustig besprang.

-

4. Die Haushälterin

»Wigger, haben Sie die gute Dame schon angerufen?« Hilkenbach flog förmlich zur Tür hinein. Vital und kernig, aber bärbeißig, so wie man ihn kannte, brachte der Kommissar eine Geschäftigkeit mit ins Büro, die seinem Assistenten gar nicht schmeckte, weil sie ihm einem Montagmorgen kaum angemessen erschien. Vor allem hasste Kriminalhauptmeister Wigger es, wenn jemand es nicht für nötig erachtete zu grüßen. Er schnaufte abfällig.

»Guten Morgen, Herr Wigger … Guten Morgen, Herr Hilkenbach … Na, wie steht’s? … Na ja, geht so. Und selbst? … Ach, muss ja … So könnte es doch auch sein, nicht wahr?« Wigger grinste abwartend.

Hilkenbach ging nicht auf seine Bemerkung ein und fragte gereizt: »Und die Antwort auf meine Frage?«

»Ja, ich hab uns bei der Mölk angemeldet. Sie freut sich, hat sie gesagt. Der Kuchen wäre aber noch tiefgefroren.«

»Gut. Ist Brutzinger schon da?« Hilkenbach deutete mit einer Kopfbewegung nach rechts, zur Tür, an der ein Messingschildchen mit der hässlich geschnörkelten Aufschrift »Martin Brutzinger · Kriminalrat« prangte. Das Schildchen hatte der Chef zu seinem Dienstjubiläum geschenkt bekommen. Aus purer Bosheit, wie Wigger gleich mutmaßte. Brutzinger sah das anders, er hatte sich gefreut.

»Keine Ahnung«, antwortete Wigger gelangweilt, »gesehen hab ich ihn jedenfalls noch nicht.« Er lächelte spöttisch, seine Backen strahlten rötlich wie ein amerikanischer Sonnenuntergang. »Was eigentlich den Schluss nahelegt, dass er nicht da ist. Übersehen kann man ihn ja kaum.«

»Dann lassen Sie uns schnell gehen, ich möchte ihm heute morgen auch nicht unbedingt über den Weg laufen.«

»Schlecht gelaunt?«

»Ganz im Gegenteil.« Hilkenbach log. »Aber ich möchte meine gute Laune auch behalten.«

Wigger schaute sich nach seiner Lederjacke und den Zigaretten um. Die Jacke fand er, die Zigaretten nicht. Hektisch kramte er in und auf seinem Schreibtisch herum. Schließlich fand er sie, in der Jacke. Er atmete erleichtert auf.

»Was man nicht im Kopf hat, muss man in der Jacke haben.« Wigger sah Hilkenbach entnervt den Kopf schütteln, den missbilligenden Blick dazu kannte er. Er ignorierte ihn.

Die beiden Polizisten wollten gerade das Büro verlassen, als sie im Vorzimmer den leicht schwäbelnden Tonfall Brutzingers vernahmen.

»Grüß Gott, Sabine. Oder soll ich ›Frau Hellwig‹ sagen? Ha, ha!«

Hilkenbach seufzte, und Wigger stimmte mit ein.

»Augen zu und durch«, sagte Hilkenbach und versuchte, an seinem Vorgesetzten vorbeizuhechten, doch er prallte im Türrahmen mit ihm zusammen. Es gab kein Entrinnen. »Morgen, Chef. Entschuldigen Sie.«

»Ach, guten Morgen, die Herren. Schönen Sonntag gehabt?« Brutzinger zerdehnte die Worte und kaute auf jedem einzelnen so lange herum, bis sie in einem fast geflüsterten Singsang herauskamen. Er merkte, dass weder Hilkenbach noch Wigger willig waren, ihre Wochenenderlebnisse preiszugeben, und meinte: »Hilkenbach, kann ich Sie einen Moment sprechen?«

»Tut mir leid, ich muss ganz dringend weg.« Der Kommissar drängte sich ächzend am Kriminalrat vorbei und verschwand wieselflink. Brutzinger schaute Wigger mit einem gekränkt verständnislosen Blick an.

»Er hat nun mal eine schwache Blase.« Wigger zuckte die Achseln, grinste (er grinste eigentlich ständig) und verschwand. Brutzinger blieb allein im Büro zurück. Im Vorraum hörte er die Sekretärin schallend lachen. »Nicht doch, du Schelm, Finger weg!«

-

Wigger schaltete in den dritten Gang zurück, unter lautem Heulen drosselte die Motorbremse des BMW die Geschwindigkeit auf knapp 80 Stundenkilometer herunter. Sie fuhren durch Wohngebiet.

»Meine Güte, was ist denn das? Das ist ja scheußlich.« Der Wagen brauste auf der Wiesbadener Straße in Richtung Westen, Richtung Schmargendorf, und Wigger begutachtete mit Widerwillen die Überbauung der A 104, ebenjenes Gebäude, in dem Hilkenbach wohnte. »Manche Architekten sollte man wirklich erschießen!«

Hilkenbach schwieg.

»Wissen Sie, warum man das Ding in Terrassenform gebaut hat?« Da diese Frage offensichtlich rhetorisch gemeint war, bekam Wigger keine Antwort und lieferte sie selbst: »Damit sich die depressiv gewordenen Bewohner nicht reihenweise in den Tod stürzen können. Sie landen eh nur auf der Terrasse des unteren Nachbarn.«

Wigger hätte bestimmt schallend über seine eigene Bemerkung gelacht, hätte Hilkenbach nicht gesagt: »Ich wohne dort.«

»Im Ernst?« Es klang entsetzt.

Hilkenbach nickte, und Wigger meinte Anteil nehmend: »Tut mir leid. Ehrlich.« Was ihm leid tat, seine Bemerkung oder die Tatsache, dass Hilkenbach dort wohnte, blieb offen.

»Da sind wir auch schon. Breite Straße. Die Mölk wohnt ja fast in Ihrer Nachbarschaft.«

Wigger parkte auf dem Bürgersteig vor einer Kirche, gleich nebenan war der Friedhof Schmargendorf.

»Ich mag Friedhöfe«, meinte der Assistent. »Sie sind so ruhig.«

»Ich nicht!«, sagte der Kommissar. »Sie sind so ruhig.«

Hilkenbach klingelte im Parterre der Nummer 35. Auf der Klingel stand: Mölk, Eberhard.

»Noch ’ne Frage, Chef. Haben Sie einen bestimmten Grund, die Haushälterin erneut zu interviewen? Nur der Kuchen allein kann’s doch nicht sein.«

Das Türschloss summte, Hilkenbach öffnete und ließ Wigger vorbei.

»Frauen sind neugierig, alte Frauen sind neugieriger, und Haushälterinnen sind die Neugier in Person.« Hilkenbach blieb todernst, seine Bemerkung war keineswegs witzig gemeint. »Und geschwätzig sind sie sowieso.«

»Guten Tag, junger Mann. Ich hab leider Ihren Namen vergessen.« Eleonore Mölk stand in der Wohnungstür und begrüßte Wigger überschwänglich, wollte seine Hand gar nicht wieder loslassen. »Ihnen auch einen guten Tag.« Jetzt strahlte sie den Kommissar an. »Kommen Sie doch herein, der Kaffee ist schon fertig.«

Sie war eine zierliche, kleine Frau, etwa 65 Jahre alt, mit schneeweißem Haar, einer Schmirgelpapierhaut im Gesicht und extrem knochigen, blau geäderten und von riesigen Sommersprossen übersäten Händen. Das erste, was bei ihr auffiel, wenn man ihr ins Gesicht sah, war ihr Gebiss. Es sah aus, als passte es nicht ganz, die oberen Schneidezähne waren zu lang. Man konnte ihre Zähne sehen, selbst wenn sie den Mund geschlossen hatte. In der ersten halben Stunde, die Hilkenbach und Wigger in der Wohnung waren, kam dies eh nicht vor. Sie führte die Polizisten ins Wohnzimmer und servierte ihnen Kaffee und Kuchen.

»Ich hoffe, er ist Ihnen nicht zu stark. Ich nehme nämlich nur den besten Kaffee.«

»Den mit dem Verwöhn-Aroma?«, fragte Wigger.

Das Gesicht der Mölk verwandelte sich in ein Fragezeichen, sie zog die Augenbrauen zusammen und dachte nach. Erfolglos. Als sich ihre Gesichtszüge wieder geglättet hatten, soweit sich Sandpapier eben glätten lässt, meinte sie: »Der Kuchen ist vielleicht noch ein wenig kalt. Aber selbst gemacht!«

Hilkenbach schaute sich in dem Zimmer um und schluckte. Sicherlich befand sich eine Tapete an den Wänden, nur sah man davon kaum etwas. Alles war zugehängt und zugestellt. Bilderrahmen stieß an Bilderrahmen. Familienporträts neben Heiligenbildchen, Dürers »Betende Hände« fehlten ebenso wenig wie irgendeine abgeschmackte Kitschversion des »Letzten Abendmahls«. Eingerahmte Zeitungsausschnitte hingen neben getrockneten Blumen hinter Glas. Nippes noch und nöcher, überall Engelchen, Kerzchen und Deckchen. Je winziger, desto besser. Hier Staub zu wischen musste eine Heidenarbeit sein.

Eleonore Mölk schwätzte und plapperte unterdessen munter drauflos. Als hätte sie die letzten Jahre auf einer einsamen Insel verbracht und mit niemandem reden können. Vom Wetter, von der Preisentwicklung bei Bolle im Speziellen bis zu ihrem erbarmungswürdigen Witwendasein im Allgemeinen, nichts ließ sie aus. Nur Egener kam erstaunlicherweise nicht zur Sprache.

Noch nicht.

»Sie sind Witwe«, sagte Hilkenbach. »Auf dem Namensschild an der Tür steht aber: Eberhard Mölk?«

»Ja, so hieß mein Mann. Nach seinem Tod konnte ich es nicht übers Herz bringen, seinen Namen abzumontieren.«

»Wann ist Ihr Mann gestorben?«

»Vor beinahe zwanzig Jahren.« Die Mölk seufzte.

Wigger, der (mal wieder) grienend am Fenster stand und auf den in Sichtweite liegenden Friedhof Schmargendorf blickte, meinte: »Wenigstens ist er in der Nachbarschaft geblieben.«

Die Haushälterin, die so tat, als hätte sie nichts gehört, strafte in der Folgezeit Hilkenbachs Assistenten mit Nichtachtung. Weder redete noch sah sie ihn an, er bekam auch keinen Kaffee mehr, geschweige denn Kuchen. Wigger sollte es nur recht sein. Auch für Hilkenbach freute es ihn, wurde dem doch jetzt zuteil, was er immer wollte: ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Liebe Frau Mölk«, begann Hilkenbach etwas umständlich, »wir sind hierhergekommen, um von Ihnen ein wenig mehr über Ihren Arbeitgeber, äh … Ihren verstorbenen Arbeitgeber zu erfahren.« Es entstand eine kleine Pause. »Was war Egener eigentlich für ein Mensch?«

»Ein überaus korrekter Mensch, sehr solide, ein anständiger Mann.«

»Er lebte wohl in letzter Zeit sehr zurückgezogen.«

»Das kann man so sagen. Es war fast nie Besuch da. Eigentlich gab es in dem ganzen Haus kaum etwas für mich zu tun. Es war ja niemand da, der Unordnung hineinbringen konnte. Professor Egener war ein sehr ordentlicher Mensch …« Tränen standen ihr in den Augen. Sie schlürfte ihren Kaffee und schluchzte. Ganz leise.

»War das schon immer so? Ich meine, seine Zurückgezogenheit.«

»Nein, früher war das einmal ganz anders. Ich bin nämlich schon seit über acht Jahren bei Herrn Egener. Das heißt, ich war es.«

»Was war früher?«, fragte Hilkenbach direkt. Die Haushälterin beim Thema zu halten, war etwa so einfach, wie einen jungen Hund bei Glatteis bei Fuß gehen zu lassen.

»Als Frau Kock noch lebte, war der Professor sehr viel munterer gewesen. Ein richtiger Charmeur. Ein Trubel war damals im Haus. Ständig Feste und Feiern. Er hat damals oft und viel gelacht. Und er hatte ein schönes Lachen«, setzte sie schwärmend hinzu, wurde aber gleich wieder todernst. »Frau Kock ist an Krebs gestorben. Vor vier Jahren. Unterleib. Sie hatten das beide schon lange gewusst, schrecklich, nicht wahr? Eine sehr nette Frau, ein bisschen überdreht vielleicht, aber sehr schick. Ich meine Mode und Schmuck und so. Und sehr schöne, lange blonde Haare hatte sie.«

»Seine Freundin?«

»Seine Verlobte!« Sie sagte das mit Nachdruck. Es schien wichtig für sie zu sein. »Sie wollten heiraten, aber dann …«

»Und seitdem? Vier Jahre sind eine lange Zeit.«

»Professor Egener war manchmal wie ein Kind. Wie ein lieber, kleiner Junge. Ein einsamer Junge. Und so gutmütig …« Sie stockte, sah den Kommissar, der auffordernd die verwegen anmutenden Augenbrauen hob, verlegen an und fügte hinzu: »Vielleicht zu gutmütig.« Die Mölk setzte eine feierliche Miene auf und versank in Schweigen. Sie presste die Lippen aufeinander (ihre Zähne waren trotzdem noch zu sehen) und schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Was meinen Sie mit ›zu gutmütig‹?«

»Nun ja …« Pause. »Ich will ja nichts gesagt haben …« Wieder Pause. »Ich meine nur … mit Frauen. Sie verstehen?«

Hilkenbach verstand (noch) nicht, nickte aber trotzdem.

»Er hatte also doch eine Freundin?«

»Ähm … eigentlich nicht.« Die Mölk rührte umständlich in ihrem Kaffee herum und sah dann misstrauisch zu Wigger hinüber, der plötzlich ganz Ohr war und sein gewecktes Interesse kaum verbergen konnte. »Freundin ist wohl das falsche Wort.«

»Er hatte ein Verhältnis.« Es platzte geradezu aus Wigger heraus.

»Das hab ich nicht gesagt!« Die Mölk wirkte völlig verstört, sie schien gleich losweinen zu wollen. »Herr Egener war immer so gut zu mir.«

Aber vermutlich nicht gut genug, dachte Wigger. Etwas Ähnliches hatte Hilkenbach auch im Kopf, als er fragte: »Hat Herr Egener sich vielleicht in der letzten Zeit verändert? Ihnen gegenüber?« Und um eine Hilfe zu geben, setzte er hinzu: »Hatte er vielleicht Probleme?«

Nach diesem Köder schnappte die Haushälterin begierig. »Ich möchte natürlich nichts gegen Fräulein Vera sagen. Aber sie hat ihn ganz schön ausgenutzt. Der arme Mann. Als hätte ich’s geahnt …«

Hilkenbach und Wigger sahen sich vielsagend an, dem Kommissar war nur zu deutlich anzumerken, dass er Blut geleckt hatte.

»Es geht hier nicht darum, irgend jemanden anzuschwärzen. Es geht um die Aufklärung eines Mordes, und dieses Fräulein Vera könnte uns vielleicht eine sehr große Hilfe sein.« Mit einem beinahe intimen Augenschlag fügte Hilkenbach hinzu: »Möglicherweise sogar eine ähnlich große Hilfe, wie Sie es bereits für uns waren.«

Die Mölk strahlte, ihr schlechtes Gewissen war beruhigt. Die beiden Kriminalbeamten wussten, dass nun ein detaillierter, unter Umständen sehr aufschlussreicher Bericht folgen würde.

»Ich kenn mich ja mit Diplomarbeiten nicht aus und wie so eine Betreuung aussieht, aber Herr Egener hat sich schon ziemlich für Fräulein Witte engagiert. Mir kam es manchmal so vor, als müsste er die Arbeit schreiben.«

»Vera Witte war Diplomandin bei Professor Egener?«

»Ja, so nennt man das wohl.« Sie fuhr sich nervös mit den Händen über ihre Schürze, die sie die ganze Zeit anbehalten hatte.

»Und was war das Besondere an dieser Frau Witte?«

»Normalerweise kommen die Studenten zu den Sprechstunden in die Universität. Herr Egener hatte, soviel ich weiß, sogar extra Sprechzeiten für Examenskandidaten. Fräulein Witte war die einzige, die er in seinem Haus empfing. Und das sehr häufig.«

»Sie brauchte wahrscheinlich eine etwas intimere Betreuung.«

Für diese Bemerkung kassierte Wigger missbilligende Blicke von der Mölk, aber auch von Hilkenbach. Wenn Wigger sich anstrengte, konnte er richtig zurückhaltend sein. Er war dann etwa so unaufdringlich wie ein Schulbus voller lärmender Kinder.

»Ich weiß natürlich nichts Genaues, hab auch nichts gehört oder gesehen … aber auffällig war das schon.«

»Was, bitte schön?« Hilkenbach hätte es gern gesehen, wenn die Haushälterin endlich auf den Punkt gekommen wäre.

»Er war immer so anders, wenn sie im Haus war oder sich angemeldet hatte.« Die Mölk räusperte sich verlegen. »Er hat sich sogar parfümiert, Moschus, glaube ich. Viel zu aufdringlich, wenn Sie mich fragen. Manchmal hat er sich sogar extra umgezogen.« Zögernd setzte sie hinzu: »Früher hatte er kein Parfüm nötig gehabt. Aber es gibt Frauen, die so was wollen.«

»Er betrachtete diese Arbeitsgespräche wohl eher als Rendezvous.«

»Ja.« Ihre Stimme klang nun beinahe traurig. »Ich glaube fast, Professor Egener war verliebt.« Sie stockte. »Dabei hatte sie doch einen Freund.«

»Aha?!«

»Einmal hat der draußen auf sie gewartet, und als sie herauskam, hat er ihr eine Szene gemacht. Ich hab natürlich nicht verstanden, was er gesagt hat, was gehen mich fremde Leute an? Ich hab das nur zufällig vom Küchenfenster aus gesehen. Aber das Wort ›Flittchen‹ hab ich doch verstanden.«

»Sie haben vorhin gesagt, Frau Witte hätte Herrn Egener ausgenutzt. Wie meinten sie das?«

»Nun ja, ich hatte eigentlich nicht den Eindruck, dass sie … wie soll ich sagen … ehrliche Absichten hatte.«

»Ehrliche Absichten?« Wigger hielt dieses ewige Drumherumgerede nicht mehr aus. »Sie wollen sagen, dass sie ihm nur den Kopf verdreht hat, um ’ne gute Note zu kassieren. Und er als verliebter Geck hat ihr wahrscheinlich auch eine hübsche Eins gegeben.«

»Sie war doch noch gar nicht fertig mit der Arbeit.« Die Mölk warf dem Assistenten einen hasserfüllten Blick zu. »Jedenfalls war sie vergangene Woche noch beim Herrn Professor.«

»Sie wissen nicht zufällig, wo diese Vera Witte wohnt?« Hilkenbach hatte genug gehört und stand auf, um zu gehen. Er wollte diese muffige Museumsbude verlassen, bevor es zwischen Wigger und der Mölk zu Handgreiflichkeiten kam.

»Die Adresse kenne ich natürlich nicht. Ich weiß nur, dass sie irgendwo in Moabit wohnt. Aber Sie werden das schon herausfinden.« Ein Blitzen war in ihren Augen zu erkennen. »Immerhin sind Sie doch bei der Polizei, nicht?«

Sie machte keine Anstalten, die beiden Männer am Verlassen der Wohnung zu hindern, sagte lediglich: »Sie wollen schon gehen?«, stand aber gleichzeitig auf, um die Beamten zur Wohnungstür zu geleiten.

»Ich hoffe, ich konnte Ihnen ein wenig behilflich sein.«

»Durchaus. Ich danke Ihnen.«

Die alte Dame schloss die Tür, murmelte leise: »Auf Wiedersehen« und war froh, wieder allein in ihrer Wohnung zu sein. Sie wünschte, sie hätte nicht so viel erzählt. Und es tat ihr um den Kuchen leid, den sie extra aufgetaut und von dem die beiden kaum etwas gegessen hatten.

-

Als Hilkenbach im Auto saß, fuhr er seinen Assistenten heftig an. »Wigger, Sie sind ein Idiot!«

»Danke, Chef.« Er unterdrückte ein »Gleichfalls!« und meinte: »Aus Ihrem Mund klingt das beinahe wie ein Kompliment.« Er startete den Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen los.

»Was halten Sie von der Geschichte?«, sagte Hilkenbach, blickte Wigger bei der Frage nicht an und zog an seiner Gauloise.

»Ich weiß genau, worauf Sie aus sind, Chef. Sie versuchen da ein hübsches Eifersuchtsdrama oder sonst was zusammenzubasteln. Aber für mich ist die einzige Eifersüchtige diese geschwätzige und neugierige Mölk. Die sieht doch Gespenster.«

»Glauben Sie wirklich?«

Wigger antwortete nicht, fing aber plötzlich an zu lachen.

»Wissen Sie, was mir durch den Kopf gegangen ist, als die Mölk mir Milch in den Kaffee schütten wollte?«

»Was?«

»Die Mölk macht’s!«

»Wigger, Sie sind ein hoffnungsloser Fall!«

»Sehen Sie denn keine Werbung?« Wigger glaubte, der Kommissar habe sein Wortspiel nicht verstanden.

Bis sie im Büro in der Keithstraße waren, sprach keiner der beiden mehr ein Wort.

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5. Die Studentin

Der Dienstagmorgen war ein unangenehmer Morgen. Feuchtigkeit hing in der Luft wie Spinnweben aus Zuckerguss. Neblig, kalt und klamm. Und klebrig. Die Sonne musste irgendwo sein, das war klar, nur sehen konnte man sie nicht, nicht einmal erahnen. Den Himmel grau zu nennen, war schon geschmeichelt. Ein Wetter, das jede Lust verbot, Lust auf alles.

Als Hilkenbach aufgewacht war, hatte er den Eindruck gehabt, der Nebel sei bis vor sein Bett vorgedrungen. Selten hatte er solche Mühe gehabt, seine Daunenbettdecke zurückzuschlagen und sich zum Waschbecken vorzukämpfen. Es war ihm vorgekommen, als müsste er ins Badezimmer schwimmen.

Auch jetzt, zwei Stunden später, in seinem Dienstwagen sitzend, die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht, um die Nässe zu erwärmen, fühlte er sich etwa so wohl wie ein Aal in Aspik.

Die Gegend, durch die er fuhr, konnte ihn ebenso wenig erheitern. Invalidenstraße, passender Name. Rechts der ehemalige Übergang, hier war die Mauer als erstes löchrig geworden. Von der damaligen Freude über die ersten Trabis im Westen war wenig übrig geblieben. Nur Trostlosigkeit. Und ein Trabi am Straßenrand. Von dem war auch wenig übrig geblieben. Linker Hand der Lehrter Stadtbahnhof. Gleich musste Hilkenbach rechts abbiegen. Lehrter Straße.

Er hätte nicht ins Büro fahren dürfen, das wusste er nun. Zu spät. Bei schlechtem Wetter musste man das Büro meiden, und wenn Hilkenbach schlechte Laune hatte, musste er alle Kollegen meiden. Bei schlechtem Wetter hatte Hilkenbach immer schlechte Laune.

Dabei hätte er sich eigentlich über Wiggers Nachricht freuen sollen: Ein gewisser Baschny, ein Nachbar Egeners, der übers Wochenende nach Westdeutschland gefahren war (Nordsee, St. Peter Ording, ausgerechnet!), hatte sich gemeldet und einen Einbruch in seiner Villa angezeigt. Er wohnte in dem Prunkbau gleich neben dem Haus des Professors. Etwas Bargeld sei entwendet worden, lächerliche zwei-, dreitausend Mark etwa. Außerdem ein paar goldene Uhren (zum Glück keine Erbstücke, die lägen im Banksafe, verstehe sich), ein wenig Schmuck und Tafelsilber. Nichts wirklich Wertvolles. Kleinkram eben.

Am frühen Freitagabend sei er losgefahren, mit Frau und Hund (ein Dackel), und erst am Montagabend zurückgekommen. Von dem Tod seines Nachbarn habe er aus der Zeitung erfahren. Schlimme Sache eigentlich. Und so nah, gleich nebenan. Wie bedrohlich. Gekannt hätten sie sich ja kaum, höchstens mal »Guten Tag« gesagt. Aber Nachbarn seien sie doch immerhin gewesen. Das gäbe zu denken. Er selbst könne ja froh sein, nicht zu Hause gewesen zu sein. Wenn man bedenke …

Eigentlich waren dies gute Neuigkeiten, jede weitere Spur war gut. Dennoch verschlechterte sich Hilkenbachs Laune auffallend, es schien ihm nicht in den Kram zu passen. Vielleicht lag es aber auch an Wiggers kaum verhohlener Schadenfreude, an seiner herausfordernd triumphalen Miene, die er bei dem Bericht allzu offensichtlich aufsetzte.

Hilkenbach hatte das alles schweigend hingenommen, ihm war nicht nach Reden zumute gewesen. Auch Brutzingers ausdrücklichen Befehl, sich in der Nachbarschaft der Fischerhüttenstraße umzuhören und sich den Großkotz Baschny nochmals vorzunehmen, hatte er kommentarlos über sich ergehen lassen. Anschließend hatte er lediglich zu seinem Assistenten gesagt: »Ja, dann machen Sie mal!« Er selbst hatte sich in seinen Wagen gesetzt und aus dem Staub gemacht. In Richtung Moabit.

-

Dass die Lehrter Straße lang war, hatte Hilkenbach auf dem Stadtplan gesehen, langweilig war sie allerdings nicht. Dafür war sie zu hässlich. Zunächst fuhr der Kommissar an geschmacklosen Nicht-ganz-Neubauten vorbei, Wiederaufbauprogramm der 50er Jahre. Dann konnte er auf der rechten Seite ein wenig vom ehemaligen Hamburg-Lehrter-Güterbahnhof erhaschen. Links der ehemalige Frauen-Knast, ein riesiges, unförmiges schwarzrotes Klinkerungetüm. Und gleich dahinter das Poststadion, hier hatten die Herthaner einst ihre Heimspiele ausgetragen. Als sie noch Amateure waren. Vielleicht würden sie es ja bald wieder sein.

Hilkenbach parkte gegenüber vom Frauengefängnis zwischen Dutzenden Lkw, die irgendwelche Speditionen und Autovermietungen hier abgestellt hatten. Pkw waren kaum zu sehen. Die Straße wirkte, als könnte man hier gar nicht wohnen, höchstens mal gewohnt haben. Alles hier war ehemalig. Wigger hatte das gesagt. Eine ehemalige Freundin von ihm hatte hier gewohnt.

»Gemütlich wie ein Niemandsland.« Wigger hatte recht gehabt.

Die Nummer 49 war am anderen Ende der Straße. Hilkenbach musste noch etliche heruntergekommene Häuser passieren und einigen Pitbull-Terriern aus dem Weg gehen, bis er da war.

Die Fassade des Vorderhauses war nicht besonders vielversprechend, aber Vera Witte wohnte im Hinterhaus. Der Hof versprach jedoch kaum mehr, vor allem kein Licht. Davon gab es im Treppenhaus ebenso wenig, jedenfalls kein elektrisches. Auch besser so, sah man doch wenigstens so die ungehobelten, provisorisch zusammengehämmerten Holzbohlen nicht, die wohl ein Treppengeländer darstellen sollten.

Der Kommissar musste tief durchatmen, als er an der Wohnungstür klopfte. (An der Klingel hing ein Zettel mit der Aufschrift: »Geht nich wegen is nich!«) So viel Unansehnlichkeit raubte Hilkenbach die Luft. Schon einmal hatte ihn etwas so angewidert, in München: das Hofbräuhaus. Das war 1974 gewesen.

Er hörte Schritte hinter der Tür, stampfende Schritte. Die Tür wurde aufgerissen, und Hilkenbach blickte in das unrasierte, finster und mürrisch aussehende Gesicht eines kleinen, aber muskulösen jungen Mannes. »Ja?«, hörte der Kommissar eine Stimme fragen, das Gesicht zu der Stimme hatte keine Miene verzogen. Ein Bauchredner. So sah es aus, und so klang es auch.

»Wohnt hier eine Vera Witte?«

»Und wie heißt der?«

»Wer, bitte schön?«

»Der das wissen will!«

Hilkenbach zückte seine Polizeimarke. »Kommissar Hilkenbach. Kriminalpolizei.« Und um es noch wichtiger erscheinen zu lassen, setzte er hinzu: »Mordkommission.«

»So so…« Der sympathische junge Mann drehte sich um und schrie in die Wohnung: »Vera! Die Bullen wollen dich verhaften.«

Aus dem Hintergrund ertönte schallendes Lachen. »Das passt mir aber gar nicht.« Die Stimme war die eines Singvogels, eine nette Stimme. »Ich muss nämlich gleich weg.« Die Besitzerin der flötenhaften Stimme war in der Tür erschienen, hatte ihren Türsteher mit einer Kopfbewegung weggeschickt und lächelte nun Hilkenbach an.

Der Kommissar schmolz dahin. Im Nu hatte er alles um sich herum vergessen und starrte wie paralysiert in das ihn fragend anlächelnde Gesicht. Ein hübsches Gesicht, ein äußerst hübsches sogar. Mit zwei blauen Scheinwerfern als Augen und einer sommersprossigen Stupsnase über den zierlichen, etwas blassen Lippen. Niedlich. Hilkenbach verstand nun Egener. Und wieder beneidete er ihn. Und er verstand die Eifersucht der Mölk.

»Mein Name ist Hilkenbach.« Er hielt ihr seine Hundemarke hin. »Dürfte ich mich einen Moment mit Ihnen unterhalten?«

»Sie kommen wegen Herrn Egener?«

Hilkenbach war ein wenig erstaunt, nickte aber nur und bekam den Weg in die Küche gewiesen. Er wünschte, er wäre zu einem privaten Besuch hierhergekommen. Auch wenn er dann nicht gewusst hätte, worüber er mit ihr hätte reden sollen.

In der Küche saß der Türsteher am Tisch und goss sich Kaffee ein. Er bekam von seiner Mitbewohnerin, wahrscheinlich seiner Freundin, einen Kopfwink, wie schon vorhin an der Tür, und schlich, andächtig den Kaffee schlürfend, aus dem Zimmer. Vera Witte hatte ihren Muskelprotz unter Kontrolle. Hilkenbach verstand das. Wahrscheinlich fraßen ihr alle Männer wie harmlose Spatzen aus der Hand. Egener wohl auch.

»Ihr Freund?«, fragte der Kommissar und setzte sich an den Tisch. Er starrte aus dem Fenster in den düsteren Hinterhof. Gegenüber, im Vorderhaus, entleerte gerade jemand einen Aschenbecher in den Hof.

»Mein Mann«, antwortete sie und grinste.

»Aha …« Es klang enttäuscht. Hilkenbach schaute auf ihre Finger. Kein Ring. Er senkte den Blick.

»Ja, ganz frisch vermählt.« Sie lachte, fuhr sich mit der linken Hand durch das dichte, schulterlange, dunkelblonde Haar und meinte: »Sie dürfen gratulieren.«

»Hm…« Er würde darüber nachdenken. Er vermied es, sie anzuschauen, und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, dass er nicht wegen ihres Ehemannes, sondern wegen ihres vermeintlichen Liebhabers hergekommen war. »Wie Sie schon richtig vermutet haben, komme ich wegen des Mordes an Professor Egener zu Ihnen, Frau Witte. Oder wie heißen Sie mittlerweile?«

»Ich hab jetzt einen Doppelnamen. Rainer, mein Mann, heißt mit Nachnamen Nau.«

Dem Kommissar fiel beinahe die Zigarette, die er sich gerade anstecken wollte, aus der Hand.

»Also heißen Sie Witte-Nau? Wie die S-Bahn-Station?«

Das Lächeln in ihrem Gesicht verdorrte, ihre kleinen, ganz leicht abstehenden Ohren überzogen sich mit einem wütenden Rot. Ihre Augen wurden zu Maschinengewehren.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, hier nicht zu rauchen?«, fragte sie sehr bestimmt. »Dies ist eine Nichtraucherwohnung.«

Hilkenbach steckte die Zigarette zurück in die Schachtel und betrachtete den vor ihm stehenden Aschenbecher. Zwei Kippen lagen darin. Er hatte bei ihr also verspielt. Nun denn.

»Frau Wittenau«, er bemühte sich, den Namen ohne Bindestrich auszusprechen, »Sie haben von Egeners Tod erfahren?«

»Hin und wieder lese ich auch mal Zeitung.« Sie steckte ihre Hände in die Hosentaschen und lehnte sich an den Küchenschrank. Ihre Jeanshose war sehr eng, eines von diesen Stretchdingern, bei denen sich jeder Mitesser abzeichnet. Hilkenbach konnte die Umrisse ihres Slips erkennen. Er ärgerte sich darüber, dass es ihn erregte. Als sie sich jetzt bückte, um irgend etwas aus der untersten Schublade des Schrankes herauszukramen, hielt sie ihm ihren Po vors Gesicht, er berührte beinahe seine Nase. Sie machte das mit Absicht, dieses Luder. Nur nicht ablenken lassen.

»Sie scheinen meinen Besuch erwartet zu haben?«, fragte er ihr Hinterteil, das sich jetzt auch noch aufreizend hin und her bewegte. Er verspürte Lust, es anzufassen.

»In der Zeitung stand, dass die Polizei im Dunkeln tappt«, meinte sie, ohne sich dem Kommissar zuzuwenden, »da war’s doch gar nicht so abwegig anzunehmen, dass so jemand wie Sie auch bei mir auftaucht.«

Hilkenbach versuchte, abfällig zu grinsen. Es misslang.

»Frau Mölk, Egeners Haushälterin, hat Ihren Namen erwähnt.«

»Alte Schnepfe!«, entfuhr es ihr.

»Sie mögen sie nicht?«

Vera Witte hielt es nicht für nötig, auf die Frage zu antworten.

»Macht nichts«, meinte Hilkenbach nachsichtig, »sie mag Sie auch nicht.« Er kramte ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und trompetete hinein. Er war nicht verschnupft, er liebte rhetorische Pausen. »Kannten Sie Herrn Egener gut?«

Sie stand jetzt wieder aufrecht und hielt eine Tasse mit Kaffee in der Hand. Sie bot dem Kommissar keinen Kaffee an und sagte betont gelangweilt: »Wie man Professoren eben so kennt.«

Hilkenbach wusste genau, wie Wigger jetzt reagiert hätte. Er verkniff es sich und fragte stattdessen: »Worüber schreiben Sie eigentlich Ihre Diplomarbeit?«

»Über Herbert Blumer und den Symbolischen Interaktionismus. Aber das wird Ihnen vermutlich nichts sagen.«

»Was einem die Chicagoer Schule eben so sagt.«

Ihre untere Gesichtshälfte fiel herunter. Sie sah jetzt gar nicht mehr so hübsch aus, fand Hilkenbach.

»Was wird nun aus der Arbeit? Sind Sie schon fertig?«

»Nein.« Vera Witte stand noch immer mit dem Rücken an den Küchenschrank gelehnt und machte keine Anstalten, sich zu setzen. Sie schien es zu mögen, wenn Männer zu ihr aufschauten.

»Egeners Tod kommt Ihnen wahrscheinlich sehr ungelegen.«

»Ich muss halt jetzt ein wenig umdisponieren. Aber ich werde mein Diplom schon noch erhalten.«

»Die Betreuung durch Herrn Egener war, wie ich hörte, sehr …« Er verstaute das Taschentuch wieder in der Hose, er brauchte lange dafür. »… sehr, nun ja, intensiv.«

Sie beobachtete den Kommissar aus den Augenwinkeln, sie war sehr vorsichtig, machte keine Bewegung und schwieg.

»War sie …« Hilkenbach räusperte sich ungeschickt. »War sie … verstehen Sie mich bitte nicht falsch … vielleicht ein wenig mehr als nur intensiv. Intim womöglich?«

»Ich verstehe Sie völlig richtig. Und Sie sind ein Schwein!«

»Ich werde dafür bezahlt, ein Schwein zu sein.«

Sie lachte. Entweder war es echt oder sehr gut geschauspielert.

»Ist Ihr Mann eigentlich sehr eifersüchtig?« Hilkenbach wollte nicht lockerlassen und setzte hinzu: »Auf Egener?«

»Mittlerweile wohl kaum mehr«, antwortete sie bissig. Ihr Gesicht war steinern, todernst, aber sehr würdevoll.

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht länger Gesellschaft leisten kann«, sagte sie plötzlich mit spöttischer Miene und ging zur Tür, »aber wie ich vorhin bereits erwähnte, muss ich gehen. Zur Uni.«

»Ich könnte Sie mit dem Auto hinbringen«, rief Hilkenbach ihr in den Flur hinterher. »Ich fahre eh in die Richtung.«

»Nein, danke. Als Frau sollte man nicht mit fremden Männern im Auto fahren.« Sie stand nun mit einer Lederjacke in Händen in der Tür und grinste ihn triumphierend an. Zu viele Leute setzten heute diese Miene auf, wenn sie mit Hilkenbach sprachen.

Er stand auf, um ihr in die Jacke zu helfen, als ihr kleinwüchsiger, bodybuildender Gemahl hinter ihr auftauchte. Übertrieben lächelnd hielt sie plötzlich dem Kommissar die Jacke hin. »Wären Sie wohl so freundlich?«

Hilkenbach schaute in Naus Gesicht, es sah etwa so amüsiert aus wie das einer Viper. Und genauso bewegungslos.

»Vielleicht ein andermal, Herr Hilkenbach. Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739402758
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Dezember)
Schlagworte
Thriller Berlin Krimi Spannung Kettenbrief

Autor

  • Mani Beckmann (Autor:in)

Mani Beckmann wurde 1965 in Alstätte/Westfalen geboren. Nach Abitur und Zivildienst zog er 1986 nach Berlin und studierte Filmwissenschaft und Publizistik. Seit 1988 arbeitet er als Journalist und Filmkritiker und seit 1994 als Drehbuchlektor des WDR. Im Jahr 1994 erschien sein erster Kriminalroman, seitdem arbeitet er als Autor von Krimis und historischen Romanen. Mani Beckmann ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.
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Titel: Die Kette