Als Kirsten und Jonas am nächsten Morgen in der Lobby erschienen, stand Fredrik mit einer Frau an der Rezeption. Sie war in Kirstens Alter und hatte flachsblondes, kurzes Haar. Fredrik stellte sie als Oda vor. Sie war die Chefin der Agentur, die das Geburtstagsprogramm veranstaltete. Oda lebte seit sechs Jahren auf Spitzbergen. Ihr Deutsch war fließend und ein wenig atemlos. Sie würde nächste Woche das Damenprogramm begleiten, während einer ihrer Mitarbeiter, ein Schweizer, die Herrentour führen würde.
»Das war einer der Gründe, weshalb Kristoffer diese Agentur ausgesucht hat«, erklärte Fredrik, bevor Kirsten fragen konnte, was denn geplant sei. »Damit die liebe Verwandtschaft im Urlaub Deutsch sprechen kann.« Fredrik selbst sprach neben Norwegisch und Deutsch fließend Englisch und Französisch. Das Ergebnis Jahre mitternächtlichen Lernens.
»Es tut mir sehr leid wegen deines Mannes«, sagte Oda, während sie Kirsten die Hand schüttelte. Sie hatte einen festen, warmen Griff. »Er war ein wunderbarer Mensch. Sein Tod hat uns sehr bestürzt.«
Kirsten fragte, ob sie Fredrik und Oda unterbrochen habe.
»Überhaupt nicht«, sagte Fredrik. »Wir haben nur über das Wetter geredet. Die Vorhersage ist nicht gut, um die null Grad und am Nachmittag Niederschlag. Sieht so aus, als würde ich meinen Plan für heute ändern müssen, aber eure Tour findet trotzdem statt.«
Kirsten fand, Temperaturen um den Gefrierpunkt klängen gar nicht schlecht. Sie hätte nicht gedacht, dass es so warm werden würde, Golfstrom hin oder her. Der Wind hatte auf Südwest gedreht und blies warme Luft nach Spitzbergen, aber das konnte sich schnell wieder ändern. »Spitzbergen ist für seine extremen Wetterwechsel berüchtigt«, bemerkte Fredrik. Kirsten sah ihn stumm an. Das wusste sie. Sie hatten einen toten Ehemann, um das zu bezeugen.
Sie verließen Longyearbyen in Odas Kombi. Die Agentur hatte ihren Sitz in Adventdalen, einige Kilometer außerhalb. In der Stadt war es verboten, Hunde im Freien zu halten. Und selbst wenn dem nicht so wäre, erklärte Oda gut gelaunt, käme nur ein Verrückter auf die Idee, mit sechzig Hunden in die Stadt zu ziehen.
»Sechzig Hunde«, wiederholte Kirsten, während sie an Jonas’ Mütze herumzupfte. »Das sind mehr Hunde als Kinder in deinem Kindergarten.«
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Kirsten. Ich habe die Agentur von einem Ehepaar übernommen, das selbst kleine Kinder hatte. Die Hunde sind an Kinder gewöhnt. Außerdem wird Jonas bei mir im Schlitten mitfahren, da kann nichts passieren.«
»Ich habe keine Angst vor Hunden«, verkündete Jonas ein bisschen beleidigt. »Nicht mal vor großen.«
»Das ist gut, denn kleine Hunde gibt es bei uns nicht.« Oda lachte; sie schien überhaupt viel zu lachen. Sie hatte einen breiten, schön geschwungenen Mund und ein Lächeln wie Julia Roberts. Kristoffer war ein großer Fan der Schauspielerin gewesen.
Sie passierten ein Eisbären-Warnschild und fuhren in schnellem Tempo eine von Plastikstangen markierte Straße entlang. Vereinzelte Schneeflocken tanzten vom wolkenverhangenen Himmel zu Boden, dennoch reichte die Sicht bis auf die andere Seite des Tals und die Hänge der dortigen Eintausender. Nach wenigen Kilometern bog Oda nach rechts auf eine Zufahrt ein. Sie parkten bei einem Haus, vor dem ein weißer Schlittenhund aus einer Hundehütte lugte. Beim Öffnen der Autotüren erhob er sich, streckte sich und bewegte seine Rute sachte von einer Seite zur anderen.
Die Agentur bestand aus zwei Gebäuden, um die sich die Hundezwinger gruppierten. Vier weitere Gäste – zwei Iren, ein Schwede und ein Franzose – waren bereits eingetroffen und probierten Hosen, Stiefel und Jacken an. Kirsten fühlte sich in den Kleidern, die Oda für sie bereitlegte, wie das Michelin-Männchen, aber Oda bestand auf die Größe. Die Oberbekleidung dürfe nicht zu eng sitzen, damit man mehrere Schichten darunter ziehen könne. Heute sei es warm, aber während des Geburtstagsprogramms würde sie Tage mit ganz anderen Temperaturen erleben. Auf Kirstens Frage, was Fredrik überhaupt geplant habe, legte Oda ihren Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte lächelnd den Kopf.
Jonas brauchte Hilfe beim Anziehen. Als Kirsten sich bückte, um ihm die Schuhe zuzubinden, lief an der Tür ein junger Mann vorbei. Er nickte verhalten, doch bevor Kirsten auf den Gruß reagieren konnte, war er im Nebenraum verschwunden.
Das Lager, in dem sie sich umgezogen hatten, grenzte an eine Werkstatt und von dort ging es hinaus in den Innenhof. Kaum traten sie durch die Tür, begrüßte eine Kakophonie aus Bellen und Heulen die Besucher. Jonas hielt sich eng an Kirstens Beine, während sie den Zwingerhof durchquerten. Oda hatte nicht übertrieben: Etliche Hunde waren so groß, dass sie auf den Hinterbeinen stehend sogar Kirsten bis zur Nase reichten. Ein Drittel der Tiere trug grönländisches Blut in sich, erklärte Oda, alle waren Mischlinge verschiedener Hundeschlittenrassen.
»Hier schau mal!« Oda winkte Jonas zu einem großen braun-schwarzen Rüden, der sich soeben noch aufgeregt gegen seine Kette geworfen hatte und nun an Oda hochzuspringen versuchte. »Das ist Bridgestone. Willst du ihn streicheln?«
Jonas trat tapfer vor und streckte Bridgestone seine Hand entgegen. Der Hund schnupperte daran; er stand mit einem Mal still.
»Tiere wissen, was sie bei wem machen können. Bridgestone ist mein Leithund. Er zieht bei jedem Erwachsenen wild an der Leine, aber bei einem Kind läuft er brav wie ein alter Dackel.«
Sie ließen das Zwingerareal hinter sich und traten nach draußen, wo die Schlitten standen. Oda erklärte, wie diese funktionierten, zeigte ihnen die krallenbesetzte Hartbremse, die Matte zum weicheren Bremsen auf abschüssigen Hängen und wie sie die Anker setzen mussten, wenn sie anhielten. Die Hunde liefen immer dem Vordermann hinterher, erläuterte sie, sie müssten also nicht lenken, sondern sollten sich darauf konzentrieren, rechtzeitig zu bremsen, damit die Hunde nicht auf den Vordermann aufliefen oder ihn gar überholten. Oda selbst würde an der Spitze fahren, mit Jonas bei sich auf dem Schlitten, dahinter Kirsten, dann die zweite Frau der Gruppe und die drei Männer am Schluss.
Kurz darauf begann das Hundeeinschirren. Mit Leinen bewaffnet zogen die Erwachsenen los und brachten einen Hund nach dem anderen zum Schlitten. Kirsten brauchte mehrere Anläufe, bis sie mit dem Geschirr zurechtkam, aber die Hunde bewiesen Geduld. Als sie einem Husky zum dritten Mal die Pfote anhob, um sie durch das richtige Band zu stecken, nutzte der Hund die Gelegenheit und gab ihr einen feuchten Kuss auf die Wange. Jonas fiel fast um vor Lachen. Er kicherte noch mehr, als der Hund auch seine hingestreckten Finger ausgiebig abschlabberte. Unterdessen begann es heftiger zu schneien, große, unförmige Eiskristalle, die im Wind wirbelten und auf Kleidung und Hundehaaren schmolzen.
»Hat Papa dir mal die Bilder von seiner Hundeschlittentour gezeigt?«, fragte Kirsten Jonas.
»Papa war Hundeschlittenfahren?«
»Ja, hier auf Spitzbergen. Das ist ein paar Jahre her, deshalb erinnerst du dich nicht daran.«
»Ist Papa mit Bridgestone gefahren?« Er stolperte ein wenig über den Namen.
»Das weiß ich nicht. Aber es wäre möglich.«
»Wieso hat Papa keinen Hund gehabt?«
Kirsten kraulte ihren Leithund hinter den Ohren. Vega, die zweite Leithündin, drängte sich dazwischen und wollte ebenfalls gestreichelt werden. Wenn Kirsten die Finger in das Fell mit der dicken Unterwolle grub, die es den Hunden erlaubte, bei jedem Wetter im Freien zu bleiben, konnte sie die Wärme des Körpers darunter spüren. Jonas wiederholte seine Frage, und diesmal verstand Kirsten, was er hatte sagen wollen: Mit einem Hund an seiner Seite wäre Kristoffer noch da. Schließlich gingen so die Geschichten in den Kinderbüchern aus. Kirsten dachte, mit einem Hund wäre Kristoffer zumindest nicht allein gestorben. Und vielleicht, vielleicht nur, hätte die Wärme eines lebendigen Wesens ausgereicht, um ihn einige Stunden länger am Leben zu halten.
Sie starrte hinunter ins Tal, wo ein einzelner Langläufer in Richtung Stadt unterwegs war. Trotz des Gewehrs auf dem Rücken wirkte die Gestalt zerbrechlich, ein aus Stecken zusammengesetztes, fellloses Männchen, von der Natur mit nichts ausgestattet, was ihm in diesen Breitengraden das Überleben ermöglichte, außer einem genialen Gehirn. Wie wenig nötig war, um das gefährlichste Tier der Erde zur Strecke zu bringen. Es reichte, ihm seine Kleider zu nehmen. Es alleine zu lassen. Es für einen Tag zu vergessen.
In der Zwischenzeit waren alle Teams eingeschirrt. Jeder Schlitten wurde von sechs Hunden gezogen, nur vor Odas reihten sich paarweise zehn Huskys. Die Agenturchefin steckte allen Mushern, wie man die Hundeführer nannte, einen Zettel mit den Namen ihrer Hunde zu, dann gab sie das Zeichen zum Aufbruch. Jonas kletterte in den roten Sack auf Odas Schlitten und winkte in Kirstens auf ihn gerichtete Kamera. Oda packte den Jungen mit zwei Decken ein, bis von ihm nicht mehr zu sehen war außer die runden Augen hinter der Skibrille. Kirsten gefiel die aufgeregte Atmosphäre; sie erinnerte sie an die Zeit, als sie noch Rennen geritten war. Die Hunde warfen sich in das Geschirr, wild darauf loszulegen. Die Schlitten, von zwei Ankern gehalten, ruckten unter der geballten Kraft, mit denen sich die Tiere nach vorne katapultierten, und dann war das vorderste Team mit Oda und Jonas auch schon fort. Kirsten, an zweiter Position, sprang ebenfalls auf. Der Ruck, mit dem der Schlitten sich in Bewegung setzte, hätte sie beinahe abgeworfen, noch ehe sie die Anker mit ihren scharfen Krallen sicher verstaut hatte. Danach jedoch entpuppte sich das Hundeschlittenfahren als erstaunlich einfach: Es gab keine engen Kurven und – ein Vorteil Spitzbergens – keine Bäume, an denen man hängen bleiben konnte. Die Hunde liefen automatisch Odas Gespann hinterher. Nach einiger Zeit ließ Kirstens Anspannung nach, und sie konnte sich auf andere Dinge außer auf den Schlitten, das Bremsen und die fliegenden Pfoten der Hunde konzentrieren. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sich die Sicht verschlechtert hatte. Pappiger Schnee wirbelte in riesigen Flocken, die auf Jacke und Mütze schmolzen, dahin. Alles war nass, von ihren Handschuhen bis zur Nasenspitze und den Augenbrauen, ihre Gesichtshaut prickelte und spannte. Bei der ersten Pause nutzte Kirsten die Gelegenheit, sich Schneebrille und Gesichtsmaske überzustülpen.
Im Schneetreiben war es schwer, ein Gefühl für Zeit und Geschwindigkeit zu bewahren, von Orientierung ganz zu schweigen. Sie hätte es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt, wenn sie im Kreis gefahren wären. Irgendwann wurden sie von einem Schneemobil überholt und stoppten, damit Oda mit dem Fahrer sprechen konnte. Danach fuhr der Motorschlitten voraus und verschwand im Gestöber. Das Wetter wurde von Minute zu Minute ungemütlicher. Ohne ihre beschichteten Jacken wäre die Feuchtigkeit durch ihre Kleider gesickert; so war die Nässe zwar unangenehm, doch im Kern blieben die Musher warm. Auf Kirstens Schultern, Armen und Handschuhen hatte sich eine Decke Schnee gebildet, der haften blieb, wenn sie sich bewegte. Ein Blick zu den anderen Mitgliedern der Gruppe zeigte ihr eine Ameisenstraße aus Menschen und Hunden, die sich von Minute zu Minute mehr in Yetis verwandelten.
Sie fuhren eine weitere Viertelstunde bergauf, bis ihnen erneut das Schneemobil entgegenkam. Der Fahrer und Oda wechselten abermals ein paar Worte, woraufhin der Motorschlitten einen Bogen beschrieb und hinter dem letzten Gespann zum Halten kam. Der Fahrer stieg ab, folgte der eigenen Spur bis zu Odas Leithunden und begann, Bridgestone hinter sich herzuziehen, bis das Team der gespurten Wendekurve folgte. Kirsten und die anderen schlossen auf. Während das Schneemobil weiterbrauste, verließ Oda ihren Schlitten und lief die Teams ab. »Weiter oben ist kein Durchkommen mehr. Tim hat gerade schon einen anderen Fahrer aus dem Schnee gezogen. Wir müssen umdrehen. Das war’s für heute.«
So gerne Kirsten das Ziel ihrer Tour, die Eishöhle, erreicht hätte, die Nässe und die schlechte Sicht hatten ihrer anfänglichen Euphorie einen Dämpfer verpasst. Dabei fror sie nicht einmal. Sie spürte nicht die in die Knochen dringende Kälte, die Kristoffer gefühlt haben musste, bevor er starb. An jenem Tag waren ebenfalls solche nassen, schweren Flocken gefallen, es hatten dieselben Temperaturen geherrscht. Nur war Kristoffer alleine unterwegs gewesen und ohne Winterausrüstung, der klammen Kälte ungeschützt ausgesetzt. Mehr noch, in dem Bericht über die Auffindung seiner Leiche stand, die Suchmannschaft habe ihn ohne seine Jacke gefunden.
Kirsten war nach Spitzbergen gekommen, um zu verstehen, wie ihr Mann gestorben war. Alles, was sie jetzt tun musste, war, ihre Jacke auszuziehen. Sie zögerte. Dann schlug sie die Kapuze zurück, nahm Schneebrille und Gesichtsmaske ab und reckte ihr ungeschütztes Gesicht in Fahrtrichtung.
Den Rückweg legten sie ohne Pausen zurück.
In der Agentur hängten sie die nassen Kleider vor den Kamin und wärmten sich mit Tee und Kaffee. Oda hatte einen Blick auf Kirstens fleckiges Gesicht und ihr feuchtes Haar geworfen und sie mit Jonas sofort hineingeschickt. Im Schränkchen unter dem Waschbecken im Bad sei ein Föhn. Sie und die anderen würden sich um Kirstens Team kümmern und die Hunde ausschirren. Oda hatte keine weiteren Fragen gestellt, was Kirsten nur recht war. Ihr albernes Experiment hatte ihr außer schmerzenden Ohren keine Erkenntnisse über Kristoffers Tod beschert.
Der Wetterbericht hatte rasch fallende Temperaturen und für den kommenden Tag blauen Himmel gemeldet, was bei einem Blick aus dem Fenster unvorstellbar schien. Jonas bettelte, er wolle morgen wieder mit den Hunden fahren, doch Kirsten hatte einen Termin mit dem Gouverneur von Svalbard, den sie nicht absagen würde. Fünf Monate lang hatte sie darauf gewartet, endlich nachvollziehen zu können, wie und warum Kristoffer gestorben war – Fragen, die kein förmlicher Schriftverkehr beantworten konnte.
Im Laufe des Nachmittags hörte es auf zu schneien. Während sich Oda in die Küche begab, folgten die Gäste einer Mitarbeiterin in die Zwinger, wo die Hunde auf ihr Fressen warteten. Jonas war entzückt, bei der Fütterung dabei sein zu dürfen, aber Kirsten verspürte den Drang, sich zu bewegen, und wollte lieber eine Runde um die Gebäude drehen. Jonas hatte keine Lust, sich ihr anzuschließen, ebenso keiner der anderen Gäste. So trat sie allein durch eine Tür im Maschendrahtzaun nach draußen in das schwächer werdende Licht des fortgeschrittenen Tages.
Der Wetterbericht schien recht zu behalten: Die Brise in ihrem Gesicht fühlte sich deutlich kühler an als am Mittag, und im Osten klarte es auf. Kirsten folgte dem Verlauf der Zwingeranlage den Hang hinauf. Oberhalb der Gebäude blieb sie stehen, um sich zu orientieren und mit allen Sinnen die Landschaft auf sich wirken zu lassen. Bei ihrer Ankunft war sie auf das Stadtbild konzentriert gewesen: Schneemobile, Langläufer und Fußgänger mit Gewehren auf dem Rücken, wegen des Permafrostbodens auf Stelzen errichtete Gebäude und Rohre entlang nicht geräumter Straßen. Die düsteren Ruinen der Minenindustrie an den steilen Bergflanken, die Münder der Grubeneingänge, die Seilbahnen mit ihren hölzernen Stützen und Reste von alten Kohlesilos. Am Abend auf dem Weg zum Restaurant hatten die durch Schneeverwirbelungen verwaschenen Bergflanken ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen, Farben, Silhouetten, welche kein Foto einzufangen vermochte. Jetzt gewahrte sie die unendliche Weite um sich herum. Das breite Tal stieß auf der anderen Seite an steile Berge mit waagrecht verlaufenden Gipfelplateaus. Horizontal gelagerte Gesteinsschichten unterteilten die überzuckerten Hänge in Streifen, ein Wechselspiel von Hell und Dunkel, das die karge Schönheit von Fels und Gestein unterstrich.
Präsenz, dachte Kirsten, das war das Wort, mit dem sie die Wirkung der Inselgruppe auf sich beschrieb. Das Land war ständig präsent, selbst wenn es hinter Schneetreiben verborgen lag, selbst in den Straßen Longyearbyens blieb es allgegenwärtig. Schon im Flugzeug, ja sogar während der Reisevorbereitungen in Deutschland, hatte es nach ihr gegriffen. Svalbard, die Kalte Küste. Sie hatte geglaubt, ihre Besessenheit sei mit Kristoffers Tod zu erklären, aber vielleicht nahm Spitzbergen einen Teil im Kopf eines jeden Reisenden ein, mehr als andere Destinationen und lange bevor die Reise überhaupt begann. Der Ruf des Endes der Welt, wo die eigene Sterblichkeit nackt stand angesichts der Selbstverständlichkeit einer Naturgewalt.
Kirsten stieg höher, um ein Foto von den Zwingern vor der Berg- und Talkulisse zu machen. Das Hundebellen, welches die Fütterung begleitet hatte, war verklungen, ein Auto kurvte den Hang hinauf zur Agentur. Kirsten stellte den Fotoapparat auf Videomodus und drehte sich während der Aufnahme einmal um dreihundertsechzig Grad. Vier Punkte erschienen im Fokus des Displays: Rentiere, keine zweihundert Meter von den Gebäuden des Nachbarn entfernt. Kirsten bedauerte sofort, dass sie nicht die Spiegelreflexkamera mit dem Teleobjektiv bei sich trug. Sie schaute sich um, wollte Jonas herbeirufen, doch die Gruppe war wieder nach drinnen gegangen. Selber schuld. Kirsten trabte los, den festgefahrenen Spuren des Schneemobil- und Hundeschlittentrails folgend. Die Rentiere trotteten mit gesenkten Köpfen in Richtung Straße. Immer wieder blieben sie stehen, um am Boden nach Essbarem zu suchen. Kirsten schloss zügig zu ihnen auf. Beim nächsten Blick auf das Fotodisplay konnte sie bereits Kopf und Beine unterscheiden. Mit der Kamera vor der Brust lief sie weiter.
Kurz darauf hob eines der Rentiere seinen geweihlosen Schädel. Es schien Witterung aufgenommen zu haben, jedoch nicht von Kirsten, sondern in Richtung einer Stelle rechts von ihr. Ein wunderbares Motiv, als ob das Tier extra für sie posierte. Kirsten drehte an den Einstellungen des Fotoapparats, doch bevor sie weitere Aufnahmen machen konnte, verfielen alle vier Rentiere in einen aufgeschreckten Trab. Enttäuscht ließ Kirsten ihre Kamera sinken.
Sekunden später schlugen die Hunde an. Kirsten sah nach rechts.
»O Scheiße«, flüsterte sie.
Der Eisbär trottete direkt auf sie zu. Er war über einem Hügel erschienen, oberhalb der weit verstreuten Gebäude. Das Haus von Odas Nachbarn lag links von Kirsten, die Agentur hinter ihr. Der Eisbär war ihr näher als sie den rettenden Häusern. Von den Zwingern her kam ein Mann auf sie zu, sie hatte ihn zuvor im Flur des Agenturgebäudes gesehen, später auf dem Schneemobil mit einem Gewehr auf dem Rücken. Jetzt trug er keinen Helm mehr, dafür eine graue Wollmütze, unter der dunkelblonde Haare hervorspitzten. In der Rechten hielt er einen klobigen Gegenstand. Er streckte beide Hände zu ihr aus, als ob er ihr ein Stoppzeichen geben wollte, dann zog er die Handflächen bedachtsam auf seine Brust zu.
Zurückgehen. Langsam.
Im Zoo war sie Eisbären näher gekommen. Aber Wände, Käfige, Gräben schufen dort eine unverhältnismäßige Distanz. Hier, auf dem Hügel, wirkte das Raubtier größer als jedes Zooexemplar. Seine schwarze Schnauze ruckte nach links – es hatte sie wahrgenommen. Der Bär hielt inne. Der Kopf hob sich, witternd, die linke Vorderpfote, groß wie ein Teller, baumelte in der Luft.
Kirsten schaute panisch in Richtung Agentur. Sie war wie erstarrt. Der Abstand zwischen ihr und ihrem Retter schien sich kaum zu verringern, seine Schritte irritierend ruhig und gleichmäßig.
Sie zwang ihre Beine loszugehen. Langsam, wie ihr signalisiert worden war, den Blick schräg nach hinten auf den Eisbären gerichtet. Das verrückte Bellen der Hunde schwoll an. Jetzt trat ein weiterer Mann aus dem Nachbargebäude, erfasste die Situation und verschwand sofort wieder im Inneren.
Der Eisbär kam näher. Fünfzig Meter.
Kirsten vergaß, dass sie langsam gehen sollte. Ihre Schritte wurden hektischer, fast schon Sätze, ihr Atem keuchte in Wolken über die Lippen. Der Schnee unter ihren Füßen gab nach. Sie brach bis zum Knie ein, ruderte mit den Armen und stürzte zur Seite. Schnee drang zwischen Handschuhen und Ärmel an ihre Haut. Sie rappelte sich auf, machte einen Satz nach vorne, kämpfte sich verzweifelt mit schaufelnden Bewegungen durch den Schnee. Sie hatte den Trail verloren. Wie blöd konnte man sein? Nun steckte sie im Tiefschnee fest, während der Bär …
Ein fester Griff um ihren Arm, sie wurde hochgezogen. Im selben Moment hatte sie wieder Boden unter den Füßen, eine Autozufahrt. Odas Mitarbeiter schob sie hinter sich, es ploppte, dann der Feuerschweif eines Leuchtkörpers, gefolgt von einem scharfen Knall, als die Signalpatrone wenige Meter vor dem Eisbären zündete. Das Tier fuhr herum und trabte davon. Der Mann lud eine weitere Patrone nach. Ein Gewehr hing wie zuvor über seiner Schulter, jetzt jedoch von der Hülle befreit. Schießbereit.
»Wenn sie so nahe sind, muss man aufpassen, dass man nicht aus Versehen über den Bären hinwegschießt«, sagte er, ohne das Tier aus den Augen zu lassen, das seinen Lauf verlangsamt hatte, aber keine Anstalten machte zurückzukommen. »Wenn der Knall hinter dem Bären zündet, treibt ihn das bloß auf einen zu, und das möchte man ja gerne vermeiden, oder?«
Er sprach mit einem angenehm beruhigenden Schweizer Akzent. Der Nachbar, mittlerweile ebenfalls bewaffnet, schloss zu ihnen auf, die beiden Männer wechselten ein paar Worte. Danach blieb der andere zurück und verfolgte den Abgang des Bären. In der Tür zum Agenturgebäude erschien Oda. Sie hielt sich ein Handy ans Ohr und sprach rasch, ein Fernglas in der anderen Hand.
»Oda telefoniert mit dem Büro des Gouverneurs«, erklärte der Schweizer. »Sie werden diesen Bären beobachten und sicherstellen, dass er sich von den Häusern fernhält, also kein Grund zur Besorgnis.«
Kirsten hatte noch nicht ihre Sprache wiedergefunden. Die übrigen Gäste drängten nach draußen, jeder mit mindestens einer Kamera bewaffnet, zwischen ihnen schob sich Jonas hindurch. Völlig aus dem Häuschen wollte er wissen, ob Kirsten den Eisbären gesehen habe. Dort, er fuchtelte in den Himmel, vom Fenster aus habe er ihn gesehen.
»Ja, ja, ich habe ihn auch gesehen.« Sie ließ sich auf die Stufen zur Eingangstür fallen. »Ganz nah.«
»Das ist gemein!« Jonas stampfte mit dem Fuß in den Schnee. »Ich will ihn auch nah sehen!«
»Du siehst bestimmt noch viele Eisbären.« Kirstens Retter streifte sie mit einem amüsierten Blick und streckte ihr die Hand hin. »Ich bin übrigens Tim.«
»Kirsten. Und das kleine Monster hier ist Jonas.«
»Hallo, Jonas.«
»Hallo. Hast du geschossen? Ist das eine echte Pistole?«
»Ich glaube, wir essen erst einmal.« Oda hatte ihr Telefonat beendet. »Der Lachs ist wahrscheinlich angebrannt, aber das Gemüse sollte noch genießbar sein.« Sie drückte Kirstens Schulter. »Willkommen auf Svalbard, Kirsten.«