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Ins Eis

von Karen Nieberg (Autor:in)
304 Seiten

Zusammenfassung

Es sieht aus wie ein tödlicher Unfall im Eis Spitzbergens … Kristoffer Stolt starb während einer Wandertour einen einsamen Tod im arktischen Spitzbergen. Unterkühlung, stellt die Polizei fest. Doch seiner Witwe Kirsten fällt es schwer, an einen Unfall zu glauben. Als ihr Schwiegervater, Oberhaupt einer reichen Bankiersfamilie, zu seinem Geburtstag nach Spitzbergen einlädt, kehrt Kirsten zurück an den Ort des Geschehens. Dort, in den eisigen Weiten, lauern Geheimnisse und Verrat, die Kirstens schlimmste Vermutungen in den Schatten stellen. Dann löst sich auf einmal ein Schuss aus einem zur Eisbärenabwehr gedachten Gewehr. Hat Spitzbergen ein weiteres Opfer gefordert? Ein zweiter Unfall, den Gefahren dieser lebensfeindlichen Insel geschuldet? Oder war es womöglich Mord in einer Familie, in der jeder ein Motiv hat? Kirsten will endlich Antworten auf die Geheimnisse der Familie Stolt. Antworten, die sie und ihren Sohn in Lebensgefahr bringen …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch

Es sieht aus wie ein tödlicher Unfall im Eis Spitzbergens …

Kristoffer Stolt starb während einer Wandertour einen einsamen Tod im arktischen Spitzbergen. Unterkühlung, stellt die Polizei fest. Doch seiner Witwe Kirsten fällt es schwer, an einen Unfall zu glauben. Als ihr Schwiegervater, Oberhaupt einer reichen Bankiersfamilie, zu seinem Geburtstag nach Spitzbergen einlädt, kehrt Kirsten zurück an den Ort des Geschehens. Dort, in den eisigen Weiten, lauern Geheimnisse und Verrat, die Kirstens schlimmste Vermutungen in den Schatten stellen. Dann löst sich auf einmal ein Schuss aus einem zur Eisbärenabwehr gedachten Gewehr. Hat Spitzbergen ein weiteres Opfer gefordert? Ein zweiter Unfall, den Gefahren dieser lebensfeindlichen Insel geschuldet? Oder war es womöglich Mord in einer Familie, in der jeder ein Motiv hat?

Kirsten will endlich Antworten auf die Geheimnisse der Familie Stolt. Antworten, die sie und ihren Sohn in Lebensgefahr bringen …

Über die Autorin

Karen Nieberg ist ein Pseudonym der Bestsellerautorin Birgit Jaeckel. Sie hat in Skandinavien gelebt und die nordischen Länder intensiv bereist – mit Hundeschlitten, Segelschiff, per Kajak und zu Fuß. Neben dem Schreiben arbeitet sie als Kommunikationsberaterin und Story Coach. Sie ist unter anderem die Autorin von »Das Erbe der Rauhnacht« und »Die Druidin«, welche sich mehr als eine viertel Million Mal verkauft hat. Mehr über die Autorin und ihre Romane auf: https://birgitjaeckel.com

Prolog

78° nördliche Breite, 15° östliche Länge:


Kein Gras. Kein Strauch. Kein Laub. Nur Steine und Wasser und Schnee und gefrorene Erde. Und Wind. Vor allem Wind. Die Faust Svalbards. Sie alle sind seine Vollstrecker.

Wieso hat er die Jacke ausgezogen?

Seine rechte Hand ist aufgeschürft. Schneeflocken vermischen sich mit Blut. Er fummelt am Reißverschluss seines Fleecepullovers. Das Stück Stoff am Griff gleitet zwischen den tauben Fingern hindurch. Er zerrt an dem Kleidungsstück, greift erneut nach dem Verschluss am Kragen, aber bekommt ihn nicht zu fassen.

Die Berge beiderseits des Tals, durch das der Sturm Anlauf nimmt, verstecken sich hinter dem wechselhaften Antlitz des arktischen Wetters. Manchmal sieht er auf der einen Seite einen Höhenrücken wie einen gestrandeten Wal aufragen. Er hofft auf einen Überhang, eine Höhle, in der er Schutz finden könnte, aber nein: Es gibt keine Höhlen. Nur eine in den Permafrost versenkte Kuhle, in die er sich wie ein Hund einkringeln wird, um warm an Kälte zu sterben.

Ein Schluchzen sitzt ihm in der Kehle. Er kann nicht klar denken, sein Kopf ein nutzloser Kühlturm des Körpers über dem vergebens heizenden Herzen. Der Wind presst die nassen Kleider an die Haut, unter der die Muskeln nicht zu zittern aufhören. Die Böen suchen sich ihren Weg durch den Stoff hindurch, schlagen zu, wo der Kragen zu kurz ist, die Ärmel enden oder der Saum im Stolpern hochrutscht, ein Stück entblößtes Fleisch, das die Erinnerung an das letzte frostige Streicheln bis zum Ende bewahrt.

Er ist so müde. Er wird schlafen, sobald er zuhause ist.

Er bleibt stehen. Dreht sich um, immer wieder. Er schreit. Ein Schemen bewegt sich im Schneetreiben hinter ihm, oder nicht? Er kneift die Augen zusammen, beugt sich vor, ganz Wachsamkeit. Der Wind schlägt ihm frontal ins Gesicht. Schleim läuft ihm aus der Nase über den Mund. Er will die Finger an die Oberlippe bringen, um ihn fortzuwischen, doch die Hand klatscht in einem trägen Bogen gegen die Wange. Als er versucht, sein Taschentuch aus der Hose zu zerren, nimmt der Wind es ihm fort. Eine Schneeflocke schmilzt auf seinen Wimpern, eine zweite auf den blauen Lippen. Ein Kuss. Freundlicher, bleibender als sein letzter.

Er macht einen Schritt rückwärts, noch einen, stolpert und stürzt auf dem losen Geröll. Wasser rinnt über seine Finger. Sein Oberkörper zittert so stark, dass der Tremor die Knie ergreift.

Wieso hat er die Jacke ausgezogen? Die Gedanken dehnen sich. Einzelne Wörter verhaken, wiederholen sich, bis er vergisst, was er denken wollte. Was er tun wollte. So viel …

Das Tal entlang, der Wind treibt ihn vorwärts. Das Tal wird ihn nach Hause bringen.

Er rennt davon. Schon seit Stunden rennt er, vielleicht seit Tagen, aber manchmal ist er zu erschöpft, und dann bleibt er stehen. Er wirft einen Blick auf sein Handgelenk. Verwundert starrt er auf das Ziffernblatt, schlägt auf die bedeutungslose Uhr ein, deren Zeiger reglos tanzen. Seine Faust trifft ins Leere. Und der Wind lacht und bedeckt ihn mit Schnee.

Er sieht über die Schulter zurück. Oder nach vorne? Das Treiben verdichtet sich, gräuliches Weiß schließt sich enger um ihn, ein Mantel. Es wird wärmer. Er zittert nicht mehr.

Er stolpert weiter, hinein in das Nichts des keine Vergebung kennenden Endes der Welt.

1

Kirstens Kopf kippte ein Stück zur Seite gegen die kühle Scheibe des Kabinenfensters. Die Vibration des Flugzeugs übertrug sich vom Plexiglas auf ihren Schädel, ein Dröhnen, das sich bis in die Zähne bohrte. Sie zog den Kopf zurück, schob mit der Schulter Jonas’ Jacke, die sie sich für ein Nickerchen schräg in den Nacken gestopft hatte, ein Stück höher und spürte mit geschlossenen Augen den waagrechten Falten auf ihrer Stirn nach. Neben ihr schnatterte ihr Sohn auf seinen Sitznachbarn ein, während seine rastlosen kleinen Füße immer wieder gegen die Rückenlehne des Vordersitzes stießen. Kirsten war es egal; sollte die Frau sich doch beschweren, wenn Jonas’ Tretattacken sie störten.

Es kostete mehr Mühe als gewöhnlich, die Stirn bewusst zu entspannen. Sie hatte wieder von Kristoffers Tod geträumt. Ein kurzes Einnicken bloß, irgendwo über der norwegisch-schwedischen Grenze, und schon hatte sie ihn gesehen, wie er durch Schnee und Wind stolperte, ein dunkler Schatten in heller, sturmdurchtoster Einsamkeit. In ihrem Traum jedoch war er nicht allein gewesen. Sie selbst hatte schräg über ihm geschwebt, ein körperloser Geist, so machtlos wie unsichtbar. Trotzdem hatte Kristoffer innegehalten und sich umgedreht. Er hatte gewusst, dass sie da war. Er hatte geschrien, aber der Wind hatte ihren Namen genommen und von seinen Lippen gerissen. Da war er weitergestolpert, mit zähen, schwerfälligen Schritten hinein in die leere, menschenfeindliche Ödnis Spitzbergens.

Das Flugzeug begann zu ruckeln. Jonas’ Schnattern verstummte, aber der nette ältere Herr neben ihm beruhigte ihn, solche kleinen Turbulenzen seien völlig normal. Er begann, von einem anderen Flug zu erzählen, bei dem der Sturm den Flieger nicht bloß durchgerüttelt, sondern mit der Hand eines Riesen hin und her geschmettert hatte. Wie ein Tennisschläger einen Ball, und – patsch! – klatschte seine Handfläche gegen die Faust der anderen Hand. Der Fremde war ein guter Erzähler, doch Kirsten hörte nicht weiter zu. Sie war immer noch müde nach der Stop-over-Nacht in einem sterilen Hotel mit viel zu weichen Matratzen am Flughafen von Oslo. Nichts hätte sie lieber getan, als sich dem Schlaf hinzugeben, allerdings lauerte Kristoffers Tod nach wie vor auf der Innenseite ihrer Lider. Erschreckend reale Traumbilder, sodass sie nachts manchmal aufwachte und meinte, vom Heulen des Polarwindes geweckt worden zu sein.

Abermals ruckelte das Flugzeug, länger diesmal. Das Anschnallzeichen ertönte, gefolgt von einer Durchsage. Sie flogen durch ein Gebiet mit Turbulenzen, die Passagiere sollten sich bitte anschnallen. Es schlossen sich weitere Fluginformationen an. Sie waren von Oslo die Grenze zu Schweden entlang nach Norden geflogen und würden in Kürze nach Westen in Richtung Tromsø schwenken. Die Passagiere auf der rechten Seite konnten unter sich den schwedischen Sarek-Nationalpark liegen sehen. Das Wetter in Tromsø erwartete sie mit Temperaturen um minus vier Grad Celsius.

Kirsten öffnete die Augen und blinzelte hinab auf die Weite Skandinaviens. Als Jugendliche hatte sie einmal in Lappland Urlaub gemacht und den nördlichen Teil des Kungsleden erwandert, knapp zweihundert Kilometer Fernwanderweg von Abisko nach Kvikkjokk. Das letzte Stück hatte durch den Sarek-Nationalpark geführt, mückenbelastete Wälder nach Tagen baumloser Majestätik. Dort, wo sie jetzt hinflogen, würde es ebenfalls keine Wälder geben. Noch nicht einmal einzelne Bäume, hatte Kristoffer ihr nach seinen Besuchen vorgeschwärmt. Das, was an Gehölzarten wuchs, Zwergbirken, Polarweiden, schmiegte sich an den Boden und wurde nirgends höher als einige Zentimeter. Gräser, Moose und Flechten erkämpften sich ihren Platz in einer Erde, die im kurzen Sommer lediglich an der Oberfläche auftaute; jenseits davon war alles Permafrost, Eis und Stein. Dennoch hatten die Farben diesen Landes Kristoffer in ihren Bann gezogen: die weißen Blüten des Heidekrauts im Sommer, die Blauschattierungen der endlosen Dämmerung, wenn die Mitternachtssonne dem Herbst gewichen war, das Polarlicht klarer Nächte, das Rosa des frühen Lichtwinters. Kirsten hatte seine Fotos gesehen. Sie hatte sogar überlegt, sie als Vorlagen zu nehmen, zu malen, was Kristoffer so gerne beschrieb. Aber es waren nicht ihre Bilder, und sie konnte nichts malen, was sie nicht selbst erlebt hatte.

»Ich und Mama fahren nach Spitzbergen, um Papa zu finden.«

Jonas’ Unterhaltung mit seinem Sitznachbarn drang durch die Farben aus Kristoffers Erzählungen. Alles kindliche Selbstverständnis dieser Welt lag in seiner Erklärung. Kirsten zuckte hoch. Jonas’ zusammengeknüllte Jacke rutschte ihr von der Schulter hinab in den Schoß.

»Willst du ans Fenster, Schatz?«, fragte sie, einer möglichen Nachfrage des Herrn auf dem Gangplatz zuvorkommend. »Schau mal, du kannst richtig weit sehen.«

Natürlich wollte er. Kirsten schnallte sie beide ab. Zwischen Jonas’ Fingern klebte das Foto seines Vaters. Er musste es aus ihrer Tasche genommen haben, um es dem älteren Herrn zu zeigen. Es war bei Kristoffers vorletzter Reise nach Spitzbergen aufgenommen worden, im Juni, zwei Monate vor seinem Tod. Kristoffer stand auf einem gleißenden Schneefeld vor hellblauem Gletschereis, dahinter ragten die Gipfel der umliegenden Berge in den azurfarbenen Himmel. Ein Gewehr lag neben seinen Füßen, die Gletscherbrille hatte er sich auf die Stirn geschoben, die Funktionsjacke nachlässig geöffnet. Ein Eispickel steckte links von ihm im Schnee; er sah aus wie ein moderner Edmund Hillary. Kristoffer hatte Jonas und Kirsten damals am Telefon von dem Ausflug erzählt, und wie ihm bei einem Bild mit Selbstauslöser die Kamera beinahe in ein Schmelzwasserloch gefallen wäre. Er hatte den Rucksack als Auflage für die Kamera benutzt, den Selbstauslöser eingestellt und war dann einige Meter zurückgerannt, hatte sich umgedreht, nur um zu beobachten, wie die Kamera ins Rutschen kam, vom Rucksack fiel, weiterglitt über eine eisige Fläche immer näher auf ein Schmelzwasserloch zu. Lediglich ein gewagter Hechtsprung hatte die Kamera im letzten Moment retten können. Kristoffers lebhafte Beschreibung hatte Kirsten und Jonas zum Lachen gebracht; sie hatten ihn am Telefon solange genervt, ihnen das schwer erkämpfte Selbstbildnis zu schicken, bis er versprochen hatte, es noch am selben Abend per E-Mail zu senden.

Jonas’ Daumen mit den Keksbröseln unter dem Nagelrand klebte knapp neben dem lachenden Antlitz seines Vaters. Kirsten nahm ihm das Foto ab. Fast schon automatisch suchte sie ein Taschentuch, um die fettigen Fingerabdrücke fortzuwischen. Sie hätte es einschweißen lassen sollen, dachte sie, während sie und Jonas die Plätze tauschten. Kaum wieder angeschnallt, deutete der Junge mit dem Finger auf einen Fluggast, der sich den Gang entlang in Richtung Toilette schob. Der Mann war groß und breit gebaut, die Hände, die sich im Laufen von Sitzlehne zu Sitzlehne streckten, gewaltige, schwielige Pranken. Seine Gestalt schien das halbe Flugzeug auszufüllen. Als sein Arm versehentlich gegen den Kopf eines Sitzenden stieß, entschuldigte er sich nicht.

»Schau mal Mama, der Riese da, der kann gar nicht aufrecht gehen.« Kirsten drückte Jonas’ Hand nach unten und sagte, es sei unhöflich, mit dem Finger auf Fremde zu zeigen. Beleidigt wandte sich Jonas dem Fenster zu. Das Licht in der Kabine verdunkelte sich einen Moment lang, da sich der Hüne an ihrer Sitzreihe vorbeizwängte.

»Arbeitet Ihr Mann in Longyear-Stadt?«, erkundigte sich Kirstens Nachbar, nachdem sie sich endlich auf ihrem neuen Sitzplatz eingerichtet hatte.

Kirsten starrte einen Moment lang auf Jonas’ Rücken. Ihre Fingerspitzen zausten seine Haare, bevor sie sich dem Herrn zuwandte und leise erklärte: »Mein Mann ist vor ein paar Monaten bei einer Tour auf Spitzbergen gestorben.«

Mit der Betroffenheit, die ihre Worte hervorriefen, war Kirsten mittlerweile vertraut: große Augen, in die Höhe wachsende Brauen, zu einem O geformte Lippen, die unbewusste Verkleinerung der Körperhöhe durch sich senkende Schultern, die stets ähnlich lautenden Kondolenzbekundungen. Dazu der schnelle Blick zu dem armen Kind, dem vaterlosen Buben. Ihr fahriges Drehen am Ehering, was sie sonst nie tat, nur in diesen Momenten des automatisierten Mitleids. Ein Tick der jungen Witwe.

»Darf ich fragen, was geschehen ist?«

Kirsten steckte das Foto sorgfältig zurück in die Tasche. Ihr Daumen strich im Verborgenen sacht über Kristoffers Gesicht, wie er früher oft über seine Lippen gewandert war.

»Man nennt es Hypothermie. Ein Absinken der Kerntemperatur des Körpers«, zitierte sie. »Unterkühlung auf Deutsch.«

»Er ist verunglückt?«

»Ja, im August, ein Tag, an dem das Wetter rasch wechselte. Ein Kälteeinbruch. Mein Mann ist von einer Wanderung nicht zurückgekehrt. Die Rettungsmannschaft hat ihn zu spät gefunden.«

»Wie schrecklich!«, entfuhr es dem Herrn, flüsternd zwar, doch so teilnahmsvoll, dass Kirsten sich genötigt fühlte hinzuzufügen: »Man hat mir gesagt, es sei wie ein sanftes Einschlafen. Der Körper hört irgendwann auf zu frieren.« Aber vielleicht waren das alles Lügen, dachte sie im Stillen, und wieso endeten solche Gespräche immer auf dieselbe Art? Als ob man dem Sterben unbedingt ein positives Ende abringen müsste, den Frieden im Tod. Wenn da wirklich Frieden wäre, wieso träumte sie dann nicht von rieselnden Kristallen und einer Decke aus Schnee über einem im letzten heiteren Lächeln erstarrten Gesicht?

Sie schienen die Turbulenzen hinter sich gelassen zu haben. Kirsten beugte sich zum Fenster, um eine Wolkenformation zu bewundern, die Jonas ihr zeigen wollte: ein Gebirge mit einem Turm darauf und vor dem Turmeingang eine Schildkröte. Es dauerte eine Zeit lang, bis Kirsten sah, was er sah. Unterdessen gingen die Flugbegleiter durch die Reihen und begannen, die benutzten Plastikbecher und sonstigen Abfall einzusammeln. Jonas’ Füße stießen erneut gegen den Vordersitz, Kirsten bat ihn halbherzig, das zu unterlassen. Um ihn abzulenken, reichte sie ihm seinen Lerncomputer.

»Darf ich fragen, weshalb Sie jetzt nach Spitzbergen fliegen?«, fragte der Herr nach einiger Zeit. Sie hatten die Reisehöhe verlassen; bis zur Zwischenlandung in Tromsø würde es nicht mehr lange dauern. Die Passagiere wurden aufgefordert, sich anzuschnallen. »Ich meine, was bringt Sie jetzt im Winter dazu, den Ort aufzusuchen, an dem dieses tragische Unglück geschah?«

»Mein Schwiegervater feiert seinen Geburtstag auf Spitzbergen. Er und mein Mann hatten das lange vorbereitet, und mein Schwiegervater möchte gerne seinen Enkel bei sich haben.«

»Verständlich. Trotzdem, verzeihen Sie meine Neugierde: Macht Ihnen das nichts aus?«

»Nein«, Kirsten blickte über Jonas’ Scheitel hinweg aus dem Fenster, »im Gegenteil, ich wollte es so.«

Kristoffer war ein erfahrener Alpinist gewesen. Es fiel ihr schwer sich vorzustellen, dass er an so etwas Banalem wie Unterkühlung hatte sterben müssen; immerhin war es August gewesen, kein arktischer Winter. In der ersten Zeit nach Kristoffers Tod waren alle noch genauso ungläubig gewesen wie sie. Doch dann, nach der Beerdigung, nach den Besuchen bei Versicherungen und Behörden, nach etlichen Wochen der gerne zitierten ›Anpassung an die Umstände› hatte sich der Tonfall geändert. Sie solle Kristoffers Tod akzeptieren, hieß es seitdem, es sei eben ein tragischer Unfall, daran ließe sich nichts ändern. Es brachte doch nichts, über diesen fernen Flecken Land nachzugrübeln, in Spitzbergen seien schon viele Reisende erfroren. Kirsten jedoch blieb bei ihrem Wie und Warum. Sie verstand Kristoffers Tod nicht. Wie konnte sie ihn denn auch verstehen, auf einer Couch in Mitteleuropa sitzend, unter der die Fußbodenheizung die Zehen wärmte, während die Zeitungen über Klimaerwärmung schrieben?

»Dann kennen Sie also Spitzbergen?«

»Nein, mein Mann ist immer ohne uns dorthin gefahren.«

»Wollten Sie ihn nicht begleiten?«

»Es waren sich immer alle einig, dass Spitzbergen kein Ort für Mütter und kleine Kinder wäre.«

»So denken die meisten in Deutschland, nehme ich an.«

»Mag sein, aber mein Schwiegervater ist der Meinung, an seinem Geburtstag gehört die Familie zusammen.«

»Und nach dem Unglück hat er es sich nicht anders überlegt und die Feier abgesagt?«

»Das hätte den Tod meines Mannes doch nur noch sinnloser erscheinen lassen«, entgegnete Kirsten müde und so leise, dass ihr Gesprächspartner sich ein wenig zu ihr hinneigen musste, um sie zu verstehen. Sie schätzte ihn auf Mitte fünfzig, sein Atem roch leicht nach Kaffee.

»Mein Mann war im August nach Spitzbergen geflogen, um das Geburtstagsprogramm vorzubereiten. Er hätte nicht gewollt, dass alles abgeblasen wird. Es ist das erste Mal seit dreißig Jahren, dass mein Schwiegervater nach Spitzbergen zurückkehrt. Er wird fünfundsiebzig.«

»Dann hat Ihr Mann seine Faszination für Spitzbergen wohl von seinem Vater geerbt?«

»Geerbt würde ich nicht sagen. Er hat Spitzbergen eher später im Leben …« – Kirsten suchte nach einem passenden Ausdruck – »nun, er hat es sich irgendwann eigenständig angeeignet.«

»Wie das manchmal so ist zwischen Vätern und Söhnen.«

Sie musste lächeln, was ihr eine unverhohlene Musterung durch ihren Nachbarn eintrug. »Haben Sie sich die Haare nach dem Tod Ihres Mannes abgeschnitten?«

Verblüfft zuckten Kirstens Finger zu ihrem Ohr. Ihre knapp kinnlangen Haare fielen in einem sanften Bogen, unterhalb des Ohrläppchens wölbten sich die Spitzen nach vorne. Sie trug einen Pagenschnitt, seit sie dreiundzwanzig war.

»Verzeihen Sie die Frage, es war nur so ein Gedanke. Es steht Ihnen sehr gut. Tut mir leid, wenn ich indiskret war.«

»Was treibt Sie denn nach Spitzbergen?«, wechselte Kirsten das Thema.

»Gar nichts. Ich steige in Tromsø aus. Ich bin Meeresbiologe und deswegen regelmäßig hier oben.«

Der Flieger legte sich in eine Linkskurve. Kirsten lehnte sich über Jonas und schaute auf das tiefe Blau eines norwegischen Fjords, das an einer Stelle ins Türkise wechselte. Sie wunderte sich über das leuchtende Blau-Grün, eine Farbe, die man eher in südlichen Meeren erwartet hätte, dort, wo Riffe wuchsen. Ihr Sitznachbar lachte, als sie den Gedanken aussprach.

»Sie unterschätzen die kalten Meere, meine Liebe. Vor der norwegischen Küste befinden sich riesige Wälder aus Kelp. Das sind meterhoch wachsende Algen. Das Leben brummt überall, man muss sich nur die Mühe machen, es zu finden.«

Kirsten lauschte den Ausführungen des Biologen, während das Flugzeug immer tiefer ging. Unter ihnen breiteten sich die ersten Straßen und Häuser von Tromsø aus. Gateway to the Arctic nannte sich die Stadt selbst. Das Tor zur Arktis. Nach einer Stunde Aufenthalt würden sie mit derselben Maschine weiter nach Longyearbyen, dem Hauptort auf Spitzbergen, fliegen.

Jonas wandte Kirsten sein zum Greinen verzogenes Gesicht zu. Einen Moment lang glaubte sie, er hätte ihrem Gespräch gelauscht und plötzlich begriffen, dass sein Vater tot war, und was der Tod in seiner Endgültigkeit bedeutete. Aber dann war es doch nur der Druckausgleich, der ihm zu schaffen machte, und sie war die nächsten Minuten damit beschäftigt, ihn dazu zu bringen, sich die Nase zuzuhalten und Luft hineinzupressen, bis die Ohren knackten.

Sie fuhren nach Spitzbergen, um Papa zu finden. Das war Jonas’ Verständnis, in dessen Welt es kein »für immer« gab. Sie hatte Jonas gesagt, sie würden seinen Papa auf Spitzbergen nicht finden, aber dafür einen Teil von ihm, der dortgeblieben war. Und sobald sie diesen verlorenen Teil fänden, erklärte sie ihm, würde er sie mit nach Hause begleiten.

Ihre Mutter hatte Kirsten für verrückt befunden, weil sie Jonas mitnahm. Ein Fünfjähriger auf Spitzbergen, auf einer Inselgruppe zwischen Europäischem Nordmeer und Arktischem Ozean, jenseits des Polarkreises. Näher konnte ein normaler Linienflug-Tourist dem Nordpol gar nicht kommen. Ein Land, zur Hälfte von Eis bedeckt, wo zweitausendfünfhundert Menschen lebten und dreitausend Eisbären. Kirstens Argument, in Longyear-Stadt gebe es immerhin Kindergärten und eine Schule, hatte ihre Mutter nicht gelten lassen. Den armen Jungen in das Land zu bringen, wo sein Vater verunglückt war! Kirsten verstand das Gezeter nicht. Für Jonas, so glaubte sie, wäre es besser, eine Vorstellung von seinem Vater in der schneebedeckten Weite Spitzbergens zu bewahren als im Angesicht des Horrors eines grauen Steins auf einem Friedhof, den sein Vater zu Lebzeiten niemals betreten hatte.

Unter Kristoffers Sachen im Hotel in Longyear-Stadt hatten sich zwei Tüten mit Kinderwinterkleidung befunden, Ausrüstung für Jonas. Kristoffer musste sie mit Blick auf die Geburtstagsfeierlichkeiten im Februar gekauft haben. Erland, Kirstens Schwager, hatte ihr die Kleidungsstücke mitgebracht, als er nach Kristoffers Tod nach Spitzbergen geflogen war, um die Formalitäten zu erledigen. Mit Ausnahme der Wertsachen hatte Erland die Besitztümer seines Bruders damals zurückgelassen, einzig die Geschenke für Jonas hatte er mitgenommen: eine Hose mit breiten Trägern, einen Daunenparka mit Kapuze, ein Paar speziell gefütterter Stiefel, dazu Schuhe aus Rentierfell, in der Tradition der Samen Lapplands an den Spitzen nach oben gezogen, und eine Mütze mit Kaninchenfell. Kirstens Ausrüstung war bis wenige Tage vor Abreise im Vergleich dazu eher dürftig gewesen, hatte sie doch ursprünglich geplant, lediglich ihre Skisachen mitzunehmen. Schließlich lag Spitzbergen im Einflussbereich des Golfstroms, der dafür sorgte, dass auf der Inselgruppe längst nicht die dem Breitengrad entsprechenden Tiefsttemperaturen erreicht wurden. Kälter als minus fünfundzwanzig Grad sollte es laut Reiseführer selten werden, das galt selbst für die frostigsten Monate Februar und März. Erst als sie drei Tage vor Abflug auf einer Website las, dass es aktuell in Longyearbyen minus neunundzwanzig Grad kalt war, war sie in den nächsten Outdoorladen gerannt und vier Stunden später mit zwei Tüten und um eineinhalbtausend Euro ärmer wieder herausmarschiert. Am Ende hatte es sich ihr Schwiegervater nicht nehmen lassen, ihr die Summe zu erstatten, so sehr sie sich auch dagegen gewehrt hatte.

Mit Fredrik Stolt diskutierte man höchstens über das Geld anderer Leute, niemals über sein eigenes.

Kirstens Kinn schwebte ein weiteres Mal über dem Scheitel ihres Sohnes, während sie beide aus dem Fenster auf das Schauspiel zehn Kilometer unter ihnen spähten. Der Flieger war pünktlich in Tromsø abgehoben; der letzte Abschnitt ihrer Reise in die Arktis hatte begonnen. Sie hatten den Punkt überschritten, der auf vielen Weltkarten fehlte – eine Beschränkung, die das Lebensfeindliche mit Nichtachtung strafte. Eine Zeit lang hatte sich unter ihnen im Dunst nur dunkles Meerblau erstreckt, während der Airbus immer weiter gen Norden strebte. Dann waren sie plötzlich über helles Grau geflogen. Wolken, hatte Kirsten im ersten Moment vermutet, bis ihr dämmerte, dass sie auf das arktische Packeis blickten. Unter ihnen trieben Schollen, an den Rändern dunkel umrahmt, losgerissen von der sich nach Norden hin verdichtenden Eisdecke. Aus zehn Kilometern Höhe war es schwer, ihre Größe zu schätzen. Etliche waren von Rissen durchzogen, andere bereits auseinandergebrochen, ihre geometrischen Bruchflächen drehten sich im Spiel der Strömungen von einander fort. Ein Puzzle aus Packeis, mittendrin eine Wasserstraße, an den Rändern gezackt wie ein auseinandergerissener Reißverschluss. Eine Flugminute später tauchten die ersten Gipfel Spitzbergens unter der Tragfläche auf.

Svalbard – Kühle Küste, so lautete der norwegische Name der Inselgruppe. Ein von Schnee und Gletschern bedecktes Netz aus Bergen, nirgends unterbrochen von Straßen, Häusern oder den Lichtern der Zivilisation. Die menschlichen Siedlungen ließen sich an einer Hand abzählen; Longyearbyen, im Westen der Hauptinsel gelegen, war mit zweitausend Einwohnern die größte unter ihnen.

Die Wolken hatten sich verdichtet, versperrten die Aussicht über den Archipel. Sie gingen tiefer, um die Wolkendecke zu durchstoßen und den Anflug auf den Flughafen zu beginnen. Der Pilot meldete minus acht Grad in Longyearbyen. Das klang gar nicht schlimm, kaum kälter als Frankfurt, das Kirsten und Jonas am gestrigen Tag hinter sich gelassen hatten. Kurz darauf tauchte die Stadt auf. Sie näherten sich ihr in einem weiten Bogen über den Fjord. Die Landebahn des Flughafens sah aus wie ein in die Schneelandschaft gestempeltes Band, neben dem die Straße zur Stadt zur Bedeutungslosigkeit verkümmerte. Einige wenige Autos fuhren sie entlang. Auf dem Bergplateau über dem Flughafen tarnten sich die weißen Kuppeln einer Satellitenanlage in dem ebenso hellen Schnee. Longyearbyen selbst schmiegte sich im Norden an einen Fjord, im Süden zogen sich die Gebäude zwischen steilen Bergen hinein ins Talinnere. Wohnhäuser in satten Tönen, rot, gelblich und grün, gruppierten sich zu versetzten Reihen. Masten überragten die Gebäude; aus einem Schlot am Ortsausgang stieg Dampf in den Himmel. Fünfzig Kilometer Straßen gab es in und um Longyearbyen, hatte Kirsten gelesen. Jenseits davon endete jegliche Infrastruktur, erstreckten sich zahllose, einzig von den Lebensadern der Flüsse durchschnittene Täler, in die im Sommer nur die eigenen Füße führten.

Dort, in einem dieser Täler, hatte Kristoffer sich niedergelegt, frierend und allein, um nie wieder aufzustehen.

2

Ein ausgestopfter Eisbär überragte das Gepäckband, auf dem sich die ersten Taschen drehten; die Touristen zückten ihre Kameras. Kirsten hatte nicht mit Fredrik verabredet, dass er sie und Jonas abholen würde, aber es überraschte sie keineswegs, ihn auf sie zukommen zu sehen. Er hatte sich den Mantel über den Arm geworfen und winkte mit der freien Hand. Kirsten lenkte Jonas’ Aufmerksamkeit von dem ausgestopften Eisbären auf seinen Großvater. Während der Junge auf Fredrik zurannte, hochgehoben und in die Luft geworfen wurde, folgte Kirsten mit den Jacken und dem Handgepäck.

»Deine Nachricht, dass ihr eine Woche früher anreisen würdet, kam recht überraschend«, bemerkte Fredrik, während er sich zu Kirsten hinabbeugte, um ihr zwei Küsse auf die Wangen zu drücken. »Ich bin selbst erst seit vorgestern hier.«

»Tut mir leid, dass wir dich so überfallen.«

»Nicht doch, ich freue mich. Ihr seid die beste Unterhaltung, die ich mir wünschen könnte.«

»Bist du denn alleine hier? Was ist mit deiner Frau?«

»Elisabeth kommt nächste Woche zusammen mit den anderen.«

Kirsten zeigte auf ihre Gepäckstücke auf dem Band: zwei große Taschen und einen Koffer. Schwungvoll hob Fredrik sie herunter. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Mann in einer Woche fünfundsiebzig werden würde. Von Elisabeth wusste Kirsten, dass Fredrik jeden Morgen eine Stunde schwamm. Runde für Runde im hauseigenen zehn Meter langen Becken, je zwanzig Minuten Brust, Kraul und Rücken, jeden Tag ohne Ausnahme, selbst an Weihnachten. Genauso roch Fredrik auch immer: frisch gebadet.

Auf dem Weg zum Ausgang überholte sie der Hüne aus dem Flieger. Außerhalb des engen Flugzeuggangs wirkte seine Gestalt nicht minder massig; er überragte Kirsten um zwei Haupteslängen. Graue Strähnen mischten sich in sein nackenlanges Haar, der Bart wucherte vom Hals bis zu den Wangenknochen. Sein Blick glitt über Kirsten hinweg und blieb an Fredrik hängen. Die beiden Männer hielten zeitgleich inne. Fredrik stellte die Taschen ab.

»Lennart«, grüßte er.

»Fredrik.« Die Stimme des Hünen schepperte wie ein Bündel rostiger Konserven, es klang nicht freundlich. Ein Junge blieb neben ihm stehen. Er war keine sechszehn, aber schon größer als Fredrik.

Die beiden Männer wechselten ein paar Worte auf Norwegisch. Die sonst so melodische nordische Sprache klang auf einmal hart. Jonas versteckte sich hinter seinem Großvater.

»Das ist mein Enkel Jonas und dies meine Schwiegertochter Kirsten«, stellte Fredrik sie auf Englisch vor.

Der Hüne zeigte mit dem Daumen auf den Teenager an seiner Seite. »Mein Jüngster«, sagte er, sparte sich jedoch dessen Namen zu nennen. Mit dem Zeigefinger auf Kirsten deutend fragte er in abgehacktem Englisch: »Die Frau deines toten Jungen?«

Fredrik rückte den Riemen der Tasche über seiner Schulter zurecht. »Du hast von dem Unglück gehört?«

»Jeder hat davon gehört. Es stand in der Zeitung.« Der Mann legte seinem Sohn eine Pranke auf die Schulter. »Deine Schuld, Fredrik. Du hättest deine Jungs damals hierher bringen sollen. Damit sie keine Dummheiten begehen. Kälte und Dunkelheit muss man lernen. Du hast es nicht gelernt. Du warst feige. Du hast deinen Jungs ein schlechtes Beispiel gegeben.«

»Ich nehme dein Mitgefühl für den Tod meines Sohnes zur Kenntnis, Lennart.«

Eine kleine Gruppe aufgeregter Briten rempelte an ihnen vorbei, auf dem Weg zum Bus, der sie nach Longyearbyen hinein bringen würde. Der Hüne sah ihnen nach und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Es gibt zu viele. Touristen. Idioten. Als was bist du zurückgekehrt, Fredrik? Ich habe gehört, du bist reich.«

»Das habe ich auch gehört.« Fredriks Miene war regungslos geblieben. Jetzt streckte er dem anderen eine Hand zum Abschied entgegen. »Immerhin scheint sich hier nicht alles geändert zu haben. Das ist gut zu wissen.«

Der Hüne schien einen Moment zu zögern, schüttelte dann die angebotene Hand fast widerwillig, bevor er mit seinem Sohn davonging.

»Ein alter Bekannter aus meiner Zeit beim Kohlebergbau«, erklärte Fredrik, während er erneut nach den Taschen griff. »Ein guter Mechaniker.«

»Offenbar kein Freund.«

»Lennart war schon immer so. Er mag keine Fremden. Und keine Veränderungen.«

»Mit solchen Leuten bin ich nie zurechtgekommen.«

»Das kann man lernen. Du musst ihnen Grund geben, dich zu respektieren. Dazu musst du sie verstehen, nachvollziehen, wie sie denken und welchem Wertekanon sie folgen. Heute verbrennen wir Kohle, damit es uns warm wird, aber früher wurde Kohle verbrannt, um Eisen zu schmieden.«

»Ich fand, er hat einfach nur Aggressivität ausgestrahlt.«

Fredrik lachte. »Ach nein«, sagte er. »Bloß verbrannte Kohle.«

Draußen auf dem Parkplatz machte Fredrik ein Foto von Jonas vor einem überdimensionalen Wegweiser, dessen Pfeile auf Orte in der ganzen Welt verwiesen. 1309 Kilometer waren es bis zum Nordpol, 18692 Kilometer bis zum Südpol. Es war fast windstill, der Himmel bedeckt, doch es zog sich zu. Kirsten kramte in ihrer Tasche nach Jonas’ Fäustlingen. Sie waren um halb drei Uhr nachmittags gelandet, und zu ihrem Erstaunen war es immer noch hell. Fredrik meinte, es würde erst in einer Stunde dunkel werden. Um diese Jahreszeit, in der zweiten Februarhälfte, kämpfte sich das Tageslicht zurück, wo vorher über drei Monate arktische Nacht geherrscht hatte. Jeder Tag brachte zwanzig Minuten länger Licht. »Aber lass dich nicht täuschen«, fügte er hinzu. »Die Sonne schleicht sich zurück, doch es beginnt die kälteste Zeit des Jahres. Da steigt das Thermometer manchmal wochenlang nicht über minus zwanzig Grad.« Er drehte die Heizung im Mietwagen eine Stufe höher.

Sie fuhren die Straße am Fjord entlang in Richtung Stadt. Fredrik gab den Reiseführer, selbst wenn es außer Berg und Fjord wenig zu sehen gab. Er wies sie auf den Arctic Seed Vault, einen in den Permafrost gebauten Kältetresor für Saatgut aus der ganzen Welt, oberhalb des Flughafens hin und nannte einzelne Berge bei ihren Namen. In just diesen Tagen, erzählte er, schaffe es die Sonne zum ersten Mal über den Horizont. Zwar erreichten ihre Strahlen nicht vor dem achten März den Talgrund oder die Stadt, doch tauchten sie die Berggipfel bereits für mehrere Stunden am Tag in ein liebliches Rosa. Ein besonderes Licht, Kirsten würde es lieben. Kurz darauf bremste er ab. Vor ihnen am Straßenrand stand das berühmteste Verkehrszeichen Spitzbergens: ein rotes Dreieck mit einem Eisbären auf schwarzem Grund, dazu der Text: Gjelder hele Svalbard – gilt überall auf Svalbard. Fredrik knipste ein Foto mit Jonas vor dem Eisbären-Warnschild.

»Der Junge sieht genauso aus wie Kristoffer in dem Alter«, sagte er leise, um dann strenger hinzuzufügen: »Jedenfalls bis auf diese unmögliche Frisur. Man sieht ja nicht einmal mehr die Ohren unter all dem Kraut. Meinst du nicht, du solltest diese Woche noch mit ihm zum Friseur?«

Jonas legte den Kopf in den Nacken und sah ängstlich zu seiner Mutter auf. Kirsten wuschelte ihm durch die hellbraunen Haare, die über dem Stirnband wild in alle Richtungen ragten. Jonas mit einer Schere zu Leibe zu rücken, war in etwa so schwierig wie das Fangen eines Fischs mit bloßen Händen. »Was meinst du?«, fragte sie. »Willst du dir Opa zuliebe die Haare schneiden?«

Jonas schüttelte sich wortlos, traute sich allerdings nicht, seinem Großvater in die Augen zu sehen.

»Da hast du deine Antwort«, sagte Kirsten, während sie wieder ins Auto stiegen.

»Was Eltern heutzutage alles ihre Kinder entscheiden lassen. Das hat es früher nicht gegeben.«

»Wikingerblut, Fredrik. Wikingerblut und -haare.«

»Zotteln gehören sicherlich nicht zum Erbe der Stolts.«

»Ja, klar. Weil Sturheit an der Kopfhaut endet.« Sie tippte mit ihrem Zeigefinger gegen Fredriks von kurz geschnittenem, dichtem weißem Haar bedeckten Schädel und brachte ihn damit zum Lachen.

Ihr selbst war nicht zum Lachen zu Mute. Sie dachte an die merkwürdige Begegnung im Flughafengebäude zurück. Von Kälte und Dunkelheit hatte der Hüne gesprochen. Eine Anschuldigung hatte in seinen Worten gelegen und ihre Neugierde geweckt.

»Sag mal, was hat dieser Lennart gemeint mit der Kälte und Dunkelheit? Mit dem schlechten Beispiel?«

»Nichts. Er hat nichts damit gemeint.«

»Es klang irgendwie seltsam, wie er es gesagt hat. Warum sollst du feige gewesen sein? Weil du damals aus Spitzbergen weggegangen bist? Für mich klang es, als ob er etwas anderes sagen wollte.«

»Sein Englisch ist so schlecht wie seine Manieren. Vergiss ihn.«

Kirsten blickte aus dem Autofenster. Wenn Fredrik ein Thema für beendet erklärte, hatte Nachbohren wenig Sinn. Aber Neugierde ließ sich von einem Basta nicht stillen. Was für eine Geschichte verbarg sich dahinter? Fredrik hatte stets den Eindruck erweckt, alle Rechnungen in Svalbard beglichen zu haben, als er fortgegangen war. Was nicht bedeuten musste, dass andere das so sahen; immerhin war Fredrik ein Meister darin, sich jeglichen Gepäcks zu entledigen. Eine Eigenschaft, die einst zur Entfremdung von seinen beiden Söhnen, von Erland, aber vor allem von Kristoffer, beigetragen hatte. »Er will einen gar nicht beherrschen. Er bestimmt einfach über einen hinweg, als ob Newton ein Naturgesetz direkt für ihn formuliert hätte«, hatte Kristoffer einmal über seinen Vater gesagt, ohne große Bitterkeit, nur voller Erstaunen über diesen Mann, der seine Söhne einst aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen hatte und mit ihnen nach Deutschland gegangen war, ohne sie zu fragen, was sie darüber dachten. Damals hatte Fredrik von einem Tag zum nächsten aufgehört, mit Kristoffer und Erland Norwegisch zu sprechen, sie sollten die neue Sprache so rasch wie möglich lernen. Das Internat war am Ende ihre Idee gewesen, die Rettung vor der offenen, zum Scheitern verdammten Rebellion. Sie waren an der Grenze zum Erwachsensein. Teenager wollten gefragt werden. Sie mochten es nicht, ihre Geschichte zu verlieren. Sie hatten zu wenig davon.

Einige Sekunden lang herrschte im Auto Stille, bis Jonas aufgeregt die Hände gegen das Autofenster klatschte: »Da sind Motorräder!«

»Das sind keine Motorräder, Jonas«, verbesserte Fredrik, »sondern Schneemobile. Spitzbergens wichtigstes Verkehrsmittel im Winter.«

Die Schneemobile kreuzten vor ihnen die Straße und bogen auf eine extra ausgeschilderte Loipe ein. Die Fahrer trugen schwere Montur und Helme, sie saßen nicht auf den Sitzen, sondern standen in der Hocke leicht vornübergebeugt. Das Dröhnen ihrer Motoren passte wenig zu Kirstens romantischer Vorstellung von arktischer Stille. Unterdessen versprach Fredrik seinem begeisterten Enkel, er würde in den kommenden Tagen selbst mit so einem Motorschlitten fahren dürfen.

Sie hatten den Hafen und die ersten industriellen Gebäudekomplexe passiert. Fredrik schlug vor, mit dem Auto eine kurze Runde durch Longyearbyen zu drehen, damit sie sich ein wenig orientieren konnten, danach würde er sie zum Hotel bringen. Schon das erste Gebäude, auf das er Kirsten hinwies, stand ganz oben auf ihrer Liste: Es war der Sitz des Gouverneurs von Svalbard. Mit seinen Schrägen, der gelblichen Front und der Konstruktion aus Zinkverkleidung, Stahl, Holz und Glas mutete es sehr modern an. Hier war Kristoffers Tod untersucht worden, und hier, hoffte Kirsten, würde sie in den nächsten Tagen ein paar Antworten bekommen.

Sie passierten die Kirche, hinter der sich, auf Stelzen gebaut, ein gräulicher Komplex erhob. »Ihr findet in der ganzen Gegend Zeugnisse des Kohlebergbaus«, erklärte Fredrik. »Das dort vorne ist eine alte Seilbahnstation, die zum Kohletransport gebraucht wurde. Ihr Kreischen hat einen früher in den Wahnsinn getrieben. Oben am Hang liegt die Grube 1a, aber sie ist schon lange außer Betrieb, wie überhaupt alle Minen um Longyearbyen herum bis auf eine, die Grube 7. Dort wird noch Kohle abgebaut. Natürlich nicht wie früher per Hand; heutzutage läuft das alles anders, mit Maschinen.« Fredrik richtete den Blick auf seine Hände, die das Lenkrad umfasst hielten. Einst waren sie schwarz gewesen, eingerissen und von schwerer Arbeit gezeichnet. Jetzt waren es die Hände eines Bankdirektors, noch immer kräftig, mit wenigen blassen Altersflecken als einzige ausdruckslose Male eines langen Lebens.

Einen Moment lang glaubte Kirsten, Fredrik würde sich in Details des Bergbaus und seines ersten Lebens verlieren, aber dann fuhr er weiter, vorbei an den Überresten des im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen zerstörten ältesten Teils der Stadt, von dem nur noch aus dem Boden ragende Pfähle zeugten. Wie Fredrik erklärte, stand alles auf Spitzbergen, was vor 1946 datierte, als Kulturdenkmal unter strengem Schutz. Selbst wenn es offen in der Landschaft herumlag, durfte man es nicht verändern, geschweige denn an sich nehmen.

»Longyearbyen hat sich unglaublich verändert. Früher, in meiner Jugend, hat die Kohle alles dominiert. Jetzt gibt es Forschungseinrichtungen, die Universität, Satellitenanlagen wie EISCAT und SvalSat. Ein Glasfaserkabel verbindet Spitzbergen mit dem Kontinent, und es gibt tägliche Flüge. Der Tourismus hat sehr viel bewegt. Dort drüben, siehst du dieses Gebäude? Gästehaus 102, das war früher eine Unterkunft für Bergleute. Als ich ein junger Mann war, haben wir es Millionärsheim genannt, weil es über Doppelzimmer mit eigenen Waschbecken verfügte und die Besserverdienenden beherbergte. Jetzt ist es ein Gästehaus für Touristen.«

»Aber dort werden wir nicht übernachten?«

»Kristoffer hat ein paar Mal dort übernachtet. Das Haus hat noch etwas von seinem alten Flair bewahrt mit Zimmern, die nach wie vor weder über Toilette noch Dusche verfügen. Aber glaubst du, Elisabeth könnte auch nur einen Tag ohne eigene Dusche überleben?«

Kirsten versuchte sich Fredriks achtundzwanzig Jahre jüngere, stets wie aus dem Ei gepellte Ehefrau dabei vorzustellen, wie sie aus einer Gemeinschaftsdusche trat, vor der schon ein seit einer Woche nicht geduschter Trapper wartete, und kicherte. »Also doch ein Wellnessurlaub am Ende der Welt?«

»Oh, bestimmt nicht. Da ist schon noch etwas Spannenderes geplant. Euch beiden jedenfalls wird es gefallen.« Es schien ihn nicht weiter zu bekümmern, dass in seinen Worten die Erwartung mitschwang, dass sein Geburtstagsprogramm nicht alle Familienmitglieder restlos beglücken würde.

Sie hatten den Stadtrand erreicht und fuhren auf der anderen Seite des Tals zurück in Richtung Zentrum. Linker Hand begleiteten dicke Rohre die Straße; rechts überholten sie einen Mann auf Skiern. Ein Geländewagen kam ihnen entgegen. Als sie auf gleicher Höhe waren, erkannte Kirsten den Hünen vom Flughafen auf dem Beifahrersitz. Der Fahrer, ein Mann im selben Alter, starrte sie im Vorbeifahren an. Kirsten drehte sich auf ihrem Sitz, bis sie zum Heckfenster hinausschauen konnte. Im Rückspiegel des anderen Fahrzeugs meinte sie zu sehen, wie sich ihre Blicke kreuzten.

»Hast du gesehen? Das war dieser unfreundliche Typ vom Flughafen!«

Fredrik hob die Schultern. »In Longyearbyen begegnet man sich ständig. Zu wenig Leute und immer dieselben. Hier ist jeder des anderen Schatten.«

»Er hatte ein Gewehr auf dem Schoß!«

»Wegen der Eisbären. Du wirst viele Waffenschränke in der Stadt sehen, sogar in der Kirche gibt es einen.«

Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Erst als sie vor dem Hotel das Gepäck ausluden, wurde Fredrik wieder gesprächiger.

»Die Agentur, die nächste Woche das Geburtstagsprogramm arrangieren wird, hätte morgen noch Plätze auf einer Hundeschlittentour zu einer Eishöhle frei. Wenn ihr wollt, könnt ihr daran teilnehmen. Dann kommt ihr mal raus aus Longyearbyen und seht was vom Land.«

»Ich hatte eigentlich nicht vor, nur zwischen unserem Hotelzimmer und der nächsten Kneipe zu pendeln.«

Fredrik griff nach ihrem Arm. »Kirsten, ihr könnt euch nicht alleine außerhalb der Stadt aufhalten, das ist zu gefährlich. Bei Longyearbyen treiben sich immer wieder Eisbären herum, erst in den letzten Tagen sind zwei Bären bis in die Siedlung gekommen. Einer von ihnen hat einen Hund getötet, den zweiten haben sie mit einem Helikopter vertreiben müssen. Hier in der Stadt musst du dir keine Sorgen machen, hier könnt ihr euch frei bewegen, auch nachts. Aber nur dass dir bewusst ist: keine Ausflüge jenseits der Stadtgrenze auf eigene Faust.«

Jonas hatte kreisrunde Augen bekommen. Sein kleiner Kinderrucksack baumelte vergessen in seinen Händen. »Hundeschlitten fahren?«, bettelte er und zerrte an Kirstens Arm. »Eisbären sehen?«

Damit war ihr Programm für den nächsten Tag beschlossen.

Fredrik erledigte die Check-in-Formalitäten an der Rezeption, gab dem Tourenanbieter Bescheid und ließ es sich nicht nehmen, die Taschen aufs Zimmer zu tragen. »Mein Zimmer ist gleich den Gang runter«, sagte er, während Kirsten die Tür aufschloss. »Das vorletzte vor dem Notausgang. Damit ihr wisst, wo ihr klopfen müsst, wenn ihr etwas braucht.«

»Opa«, krähte es vom Flur her. »Deine Tür hat Buchstaben!«

Sie traten zurück in den Gang. Jonas stand vor dem Zimmer, das Fredrik beschrieben hatte, und deutete nach oben. Jemand hatte mit violetter Kreide etwas auf Norwegisch an die Tür geschrieben. Fredrik schnaubte empört.

»Jonas, hol ein wenig Toilettenpapier aus dem Bad und mach es nass. Wir werden das wegwischen, da hat sich jemand einen Scherz erlaubt.«

»Was für einen Scherz?«, fragte Kirsten, während Jonas davonstob. »Was steht da?«

»Das ist dumm und unangemessen. Nicht der Rede wert.«

Aber Kirsten hatte nicht vor, sich diesmal durch Fredriks Tonfall beeindrucken zu lassen. Sie trat vor und tippte mit der Fingerspitze auf das letzte Wort. »Fredrik, ich will wissen, was da steht. Ich kenne dieses Wort; es stand in der Kopie des Berichts über Kristoffers Tod. Dieses Wort dort bedeutet ›sterben‹. Also, was steht da?«

Fredrik begann, mit dem Daumen über den ersten Buchstaben zu reiben. Er sah verärgert aus. »Da steht:

Bist du hier, um zu sterben?

3

Kirstens Schwiegervater war 1936 als Fredrik Kristoffer Stolt in einem ärmlichen Viertel am Rande Oslos geboren worden. Sein Vater starb sieben Jahre später im Widerstand gegen die deutschen Besatzer; sein älterer Bruder verschwand im letzten Kriegsjahr spurlos. Die Schwester heiratete mit siebzehn einen Engländer, den sie nur zweimal gesehen hatte, und schrieb danach seltene Briefe aus Manchester. Die Mutter arbeitete hart, damit Fredrik möglichst lange auf der Schule bleiben konnte; doch mit fünfzehn schuftete der Junge bereits dreißig Stunden die Woche im Osloer Hafen, wo er Kähne be- und entlud. Er war neunzehn, als er, angeheuert von Store Norske Spitsbergen Kulkompani, nach Longyearbyen kam. Er verbrachte drei Winter dort, ein einfacher Arbeiter in den Kohlegruben. Nach Weihnachten 1957 erhielt er einen letzten Brief von seiner Schwester aus Manchester, in dem sie ihm mitteilte, dass die Mutter an einer Blinddarmentzündung gestorben war. Seine Mutter hinterließ Fredrik nichts außer einem Briefumschlag mit einhundertundsiebzig Norwegischen Kronen. Mithilfe seiner Ersparnisse aus der Minenarbeit finanzierte Fredrik in den sechziger Jahren ein Ingenieurstudium, heiratete ein Mädchen aus Bergen und zog mit seiner Ehefrau in die Dachgeschosswohnung im Haus der gut situierten Schwiegereltern. In Bergen machte der junge Ingenieur, ehrgeizig, diszipliniert und mit guten Manieren und einem gewinnenden Äußeren ausgestattet, schnell Karriere. Es folgten die Geburten seiner beiden Söhne, Erland und Kristoffer. 1975 kam er einem Angebot seines alten Arbeitgebers Store Norske nach und kehrte nach Spitzbergen zurück. Er war jetzt kein gewöhnlicher Arbeiter mehr, sondern leitender Ingenieur. Seine Familie sah er in dieser Zeit oft monatelang überhaupt nicht. Als Fredrik 1981 Store Norske und Spitzbergen endgültig verließ, war Erland, sein ältester Sohn, sechzehn Jahre alt.

In Bergen übernahm Fredrik die Verkaufsleitung in der Firma seiner Schwiegerfamilie; eine Arbeit, für die er sich in langen Nächten am Schreibtisch weitgehende Kenntnisse in Finanzen, Buchführung und Handelsgesetzen aneignete. Ein Jahr später starb seine Frau an einer Lungenembolie. Fredriks Schwager, dessen Wunsch es war, die Firma einmal in die Hände seiner eigenen Söhne zu geben, kaufte dem jungen Witwer die geerbten Firmenanteile ab. Üppig ausbezahlt, zwei widerstrebende Söhne im Schlepptau, emigrierte Fredrik 1983 nach Deutschland, wo ihm im Ruhrgebiet eine leitende Stelle im Kohlebergbau angeboten worden war. Zwei Jahre später saß Fredrik im Vorstand des Unternehmens. Auf der Geburtstagsfeier eines Aufsichtsrats lernte er Elisabeth Sophie Franziska Warthenberg kennen. Sie war dreiundzwanzig, als sie heirateten. Elisabeth entstammte einer alteingesessenen Bankiersfamilie; ihr Vater, zehn Jahre älter als Fredrik, sorgte noch vor der Hochzeit dafür, dass sein vielversprechender Schwiegersohn in die Familienbank wechselte. Der Börsencrash im Oktober 1989 wurde zu Fredriks großer Stunde: Seine Begabung im Umgang mit Menschen – Kunden, Gläubigern aber vor allem mit Mitarbeitern – ließ diese weiter an die Leistungsfähigkeit der ins Wanken gekommenen Bank glauben. Dank Fredriks Energie und Überzeugungskraft blieben alle Angestellten und Gesellschafter im Boot bis auf zwei Abteilungsleiter, deren Ausscheiden Fredrik forcierte. Ihr Abgang sollte seinen Weg in der Bank endgültig freimachen. In einem zweiten Coup übernahm Fredrik Anteile eines institutionellen Gesellschafters, später ließ sich Elisabeths Vater von ihm überreden, sich in Zukunft auf die Vermögensverwaltung und das Kerngeschäft mit institutionellen Kunden und großen Privatkunden zu spezialisieren, sich eine eigene Researchabteilung zu leisten und mit dieser verstärkt ins Investmentgeschäft einzusteigen. Fredrik selbst, der in der Krise sein eigenes Vermögen in die Waagschale geworfen hatte, sollte für seinen Mut fürstlich belohnt werden: Vier Jahre nach jenem stürmischen Herbst rückte er als persönlich haftender Gesellschafter in die Leitungsebene der Bank auf; wenig später stockte er seine eigenen Anteile am Bankhaus Warthenberg auf, indem er das Anteilspaket von Elisabeths Tante übernahm. Ende des Jahrtausends, nachdem sich sein Schwiegervater aus dem Geschäftsleben zurückgezogen hatte, besetzte Fredrik den obersten Posten des Sprechers der Gesellschafter. Seit vierzehn Jahren thronte er nun nicht nur über der Privatbank, deren Geschicke er leitete und die er durch alle Finanz- und Wirtschaftskrisen des neuen Jahrtausends steuerte, sondern ebenso unangefochten an der Spitze der Familien Warthenberg und Stolt. Ein Patriarch alter Schule.

… und dessen Geschichte, als Kirsten abends im Bett so darüber nachdachte, doch die ein oder andere Lücke aufwies. Es fehlten die Schnittstellen, die Übergänge von einem Lebenskapitel zum nächsten. Dabei transportierten diese doch die eigentlichen Informationen über das Wesen eines Menschen, die Motivation hinter Taten, Entscheidungen und Brüchen. Fredriks Lebenslauf hingegen blieb ein Stakkato.

Wahrscheinlich war Kristoffer das ebenfalls aufgefallen, als er begonnen hatte, sich mit dem Lebensweg seines Vaters auseinanderzusetzen. Er hatte gespürt, wie ihm die Puzzlesteine zwischen den Fingern hindurchglitten, Stationen eines Lebens, die eine Liste aber keine Geschichte ergaben. Zum 75. Geburtstag seines Vaters hatte er sich deshalb etwas Besonderes überlegt: ein Album mit den Spuren von Fredriks Leben. Um dafür zu recherchieren, war Kristoffer im August nach Spitzbergen geflogen. Berichte von früher, Zeitungsausschnitte, vielleicht sogar alte Fotos oder gar Weggefährten von einst – er hatte nicht gewusst, was er finden würde. Es war ihm dabei auch um mehr als nur um ein Geschenk gegangen: Nach Jahren der sorgfältig gepflegten Distanz war Kristoffer nach Jonas’ Geburt wieder auf seinen Vater zugegangen. Das Album sollte der letzte Schritt sein.

Kirsten hatte nicht vor, Fredrik zu erzählen, wonach sein Sohn auf seinen letzten Reisen nach Spitzbergen gesucht hatte. Denn wem, so dachte sie, während sie über Jonas’ Haar strich, der friedlich an ihrer Seite schlief, wem nutzte es schon, wenn sie Kristoffers Unfall mit seinem Wunsch, den eigenen Vater zu verstehen, verband? Die Tragik zur Schau stellte, als ob sie einen Schuldigen suchte für ein Unglück, das sie nicht verstand.

4

Als Kirsten und Jonas am nächsten Morgen in der Lobby erschienen, stand Fredrik mit einer Frau an der Rezeption. Sie war in Kirstens Alter und hatte flachsblondes, kurzes Haar. Fredrik stellte sie als Oda vor. Sie war die Chefin der Agentur, die das Geburtstagsprogramm veranstaltete. Oda lebte seit sechs Jahren auf Spitzbergen. Ihr Deutsch war fließend und ein wenig atemlos. Sie würde nächste Woche das Damenprogramm begleiten, während einer ihrer Mitarbeiter, ein Schweizer, die Herrentour führen würde.

»Das war einer der Gründe, weshalb Kristoffer diese Agentur ausgesucht hat«, erklärte Fredrik, bevor Kirsten fragen konnte, was denn geplant sei. »Damit die liebe Verwandtschaft im Urlaub Deutsch sprechen kann.« Fredrik selbst sprach neben Norwegisch und Deutsch fließend Englisch und Französisch. Das Ergebnis Jahre mitternächtlichen Lernens.

»Es tut mir sehr leid wegen deines Mannes«, sagte Oda, während sie Kirsten die Hand schüttelte. Sie hatte einen festen, warmen Griff. »Er war ein wunderbarer Mensch. Sein Tod hat uns sehr bestürzt.«

Kirsten fragte, ob sie Fredrik und Oda unterbrochen habe.

»Überhaupt nicht«, sagte Fredrik. »Wir haben nur über das Wetter geredet. Die Vorhersage ist nicht gut, um die null Grad und am Nachmittag Niederschlag. Sieht so aus, als würde ich meinen Plan für heute ändern müssen, aber eure Tour findet trotzdem statt.«

Kirsten fand, Temperaturen um den Gefrierpunkt klängen gar nicht schlecht. Sie hätte nicht gedacht, dass es so warm werden würde, Golfstrom hin oder her. Der Wind hatte auf Südwest gedreht und blies warme Luft nach Spitzbergen, aber das konnte sich schnell wieder ändern. »Spitzbergen ist für seine extremen Wetterwechsel berüchtigt«, bemerkte Fredrik. Kirsten sah ihn stumm an. Das wusste sie. Sie hatten einen toten Ehemann, um das zu bezeugen.

Sie verließen Longyearbyen in Odas Kombi. Die Agentur hatte ihren Sitz in Adventdalen, einige Kilometer außerhalb. In der Stadt war es verboten, Hunde im Freien zu halten. Und selbst wenn dem nicht so wäre, erklärte Oda gut gelaunt, käme nur ein Verrückter auf die Idee, mit sechzig Hunden in die Stadt zu ziehen.

»Sechzig Hunde«, wiederholte Kirsten, während sie an Jonas’ Mütze herumzupfte. »Das sind mehr Hunde als Kinder in deinem Kindergarten.«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Kirsten. Ich habe die Agentur von einem Ehepaar übernommen, das selbst kleine Kinder hatte. Die Hunde sind an Kinder gewöhnt. Außerdem wird Jonas bei mir im Schlitten mitfahren, da kann nichts passieren.«

»Ich habe keine Angst vor Hunden«, verkündete Jonas ein bisschen beleidigt. »Nicht mal vor großen.«

»Das ist gut, denn kleine Hunde gibt es bei uns nicht.« Oda lachte; sie schien überhaupt viel zu lachen. Sie hatte einen breiten, schön geschwungenen Mund und ein Lächeln wie Julia Roberts. Kristoffer war ein großer Fan der Schauspielerin gewesen.

Sie passierten ein Eisbären-Warnschild und fuhren in schnellem Tempo eine von Plastikstangen markierte Straße entlang. Vereinzelte Schneeflocken tanzten vom wolkenverhangenen Himmel zu Boden, dennoch reichte die Sicht bis auf die andere Seite des Tals und die Hänge der dortigen Eintausender. Nach wenigen Kilometern bog Oda nach rechts auf eine Zufahrt ein. Sie parkten bei einem Haus, vor dem ein weißer Schlittenhund aus einer Hundehütte lugte. Beim Öffnen der Autotüren erhob er sich, streckte sich und bewegte seine Rute sachte von einer Seite zur anderen.

Die Agentur bestand aus zwei Gebäuden, um die sich die Hundezwinger gruppierten. Vier weitere Gäste – zwei Iren, ein Schwede und ein Franzose – waren bereits eingetroffen und probierten Hosen, Stiefel und Jacken an. Kirsten fühlte sich in den Kleidern, die Oda für sie bereitlegte, wie das Michelin-Männchen, aber Oda bestand auf die Größe. Die Oberbekleidung dürfe nicht zu eng sitzen, damit man mehrere Schichten darunter ziehen könne. Heute sei es warm, aber während des Geburtstagsprogramms würde sie Tage mit ganz anderen Temperaturen erleben. Auf Kirstens Frage, was Fredrik überhaupt geplant habe, legte Oda ihren Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte lächelnd den Kopf.

Jonas brauchte Hilfe beim Anziehen. Als Kirsten sich bückte, um ihm die Schuhe zuzubinden, lief an der Tür ein junger Mann vorbei. Er nickte verhalten, doch bevor Kirsten auf den Gruß reagieren konnte, war er im Nebenraum verschwunden.

Das Lager, in dem sie sich umgezogen hatten, grenzte an eine Werkstatt und von dort ging es hinaus in den Innenhof. Kaum traten sie durch die Tür, begrüßte eine Kakophonie aus Bellen und Heulen die Besucher. Jonas hielt sich eng an Kirstens Beine, während sie den Zwingerhof durchquerten. Oda hatte nicht übertrieben: Etliche Hunde waren so groß, dass sie auf den Hinterbeinen stehend sogar Kirsten bis zur Nase reichten. Ein Drittel der Tiere trug grönländisches Blut in sich, erklärte Oda, alle waren Mischlinge verschiedener Hundeschlittenrassen.

»Hier schau mal!« Oda winkte Jonas zu einem großen braun-schwarzen Rüden, der sich soeben noch aufgeregt gegen seine Kette geworfen hatte und nun an Oda hochzuspringen versuchte. »Das ist Bridgestone. Willst du ihn streicheln?«

Jonas trat tapfer vor und streckte Bridgestone seine Hand entgegen. Der Hund schnupperte daran; er stand mit einem Mal still.

»Tiere wissen, was sie bei wem machen können. Bridgestone ist mein Leithund. Er zieht bei jedem Erwachsenen wild an der Leine, aber bei einem Kind läuft er brav wie ein alter Dackel.«

Sie ließen das Zwingerareal hinter sich und traten nach draußen, wo die Schlitten standen. Oda erklärte, wie diese funktionierten, zeigte ihnen die krallenbesetzte Hartbremse, die Matte zum weicheren Bremsen auf abschüssigen Hängen und wie sie die Anker setzen mussten, wenn sie anhielten. Die Hunde liefen immer dem Vordermann hinterher, erläuterte sie, sie müssten also nicht lenken, sondern sollten sich darauf konzentrieren, rechtzeitig zu bremsen, damit die Hunde nicht auf den Vordermann aufliefen oder ihn gar überholten. Oda selbst würde an der Spitze fahren, mit Jonas bei sich auf dem Schlitten, dahinter Kirsten, dann die zweite Frau der Gruppe und die drei Männer am Schluss.

Kurz darauf begann das Hundeeinschirren. Mit Leinen bewaffnet zogen die Erwachsenen los und brachten einen Hund nach dem anderen zum Schlitten. Kirsten brauchte mehrere Anläufe, bis sie mit dem Geschirr zurechtkam, aber die Hunde bewiesen Geduld. Als sie einem Husky zum dritten Mal die Pfote anhob, um sie durch das richtige Band zu stecken, nutzte der Hund die Gelegenheit und gab ihr einen feuchten Kuss auf die Wange. Jonas fiel fast um vor Lachen. Er kicherte noch mehr, als der Hund auch seine hingestreckten Finger ausgiebig abschlabberte. Unterdessen begann es heftiger zu schneien, große, unförmige Eiskristalle, die im Wind wirbelten und auf Kleidung und Hundehaaren schmolzen.

»Hat Papa dir mal die Bilder von seiner Hundeschlittentour gezeigt?«, fragte Kirsten Jonas.

»Papa war Hundeschlittenfahren?«

»Ja, hier auf Spitzbergen. Das ist ein paar Jahre her, deshalb erinnerst du dich nicht daran.«

»Ist Papa mit Bridgestone gefahren?« Er stolperte ein wenig über den Namen.

»Das weiß ich nicht. Aber es wäre möglich.«

»Wieso hat Papa keinen Hund gehabt?«

Kirsten kraulte ihren Leithund hinter den Ohren. Vega, die zweite Leithündin, drängte sich dazwischen und wollte ebenfalls gestreichelt werden. Wenn Kirsten die Finger in das Fell mit der dicken Unterwolle grub, die es den Hunden erlaubte, bei jedem Wetter im Freien zu bleiben, konnte sie die Wärme des Körpers darunter spüren. Jonas wiederholte seine Frage, und diesmal verstand Kirsten, was er hatte sagen wollen: Mit einem Hund an seiner Seite wäre Kristoffer noch da. Schließlich gingen so die Geschichten in den Kinderbüchern aus. Kirsten dachte, mit einem Hund wäre Kristoffer zumindest nicht allein gestorben. Und vielleicht, vielleicht nur, hätte die Wärme eines lebendigen Wesens ausgereicht, um ihn einige Stunden länger am Leben zu halten.

Sie starrte hinunter ins Tal, wo ein einzelner Langläufer in Richtung Stadt unterwegs war. Trotz des Gewehrs auf dem Rücken wirkte die Gestalt zerbrechlich, ein aus Stecken zusammengesetztes, fellloses Männchen, von der Natur mit nichts ausgestattet, was ihm in diesen Breitengraden das Überleben ermöglichte, außer einem genialen Gehirn. Wie wenig nötig war, um das gefährlichste Tier der Erde zur Strecke zu bringen. Es reichte, ihm seine Kleider zu nehmen. Es alleine zu lassen. Es für einen Tag zu vergessen.

In der Zwischenzeit waren alle Teams eingeschirrt. Jeder Schlitten wurde von sechs Hunden gezogen, nur vor Odas reihten sich paarweise zehn Huskys. Die Agenturchefin steckte allen Mushern, wie man die Hundeführer nannte, einen Zettel mit den Namen ihrer Hunde zu, dann gab sie das Zeichen zum Aufbruch. Jonas kletterte in den roten Sack auf Odas Schlitten und winkte in Kirstens auf ihn gerichtete Kamera. Oda packte den Jungen mit zwei Decken ein, bis von ihm nicht mehr zu sehen war außer die runden Augen hinter der Skibrille. Kirsten gefiel die aufgeregte Atmosphäre; sie erinnerte sie an die Zeit, als sie noch Rennen geritten war. Die Hunde warfen sich in das Geschirr, wild darauf loszulegen. Die Schlitten, von zwei Ankern gehalten, ruckten unter der geballten Kraft, mit denen sich die Tiere nach vorne katapultierten, und dann war das vorderste Team mit Oda und Jonas auch schon fort. Kirsten, an zweiter Position, sprang ebenfalls auf. Der Ruck, mit dem der Schlitten sich in Bewegung setzte, hätte sie beinahe abgeworfen, noch ehe sie die Anker mit ihren scharfen Krallen sicher verstaut hatte. Danach jedoch entpuppte sich das Hundeschlittenfahren als erstaunlich einfach: Es gab keine engen Kurven und – ein Vorteil Spitzbergens – keine Bäume, an denen man hängen bleiben konnte. Die Hunde liefen automatisch Odas Gespann hinterher. Nach einiger Zeit ließ Kirstens Anspannung nach, und sie konnte sich auf andere Dinge außer auf den Schlitten, das Bremsen und die fliegenden Pfoten der Hunde konzentrieren. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sich die Sicht verschlechtert hatte. Pappiger Schnee wirbelte in riesigen Flocken, die auf Jacke und Mütze schmolzen, dahin. Alles war nass, von ihren Handschuhen bis zur Nasenspitze und den Augenbrauen, ihre Gesichtshaut prickelte und spannte. Bei der ersten Pause nutzte Kirsten die Gelegenheit, sich Schneebrille und Gesichtsmaske überzustülpen.

Im Schneetreiben war es schwer, ein Gefühl für Zeit und Geschwindigkeit zu bewahren, von Orientierung ganz zu schweigen. Sie hätte es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt, wenn sie im Kreis gefahren wären. Irgendwann wurden sie von einem Schneemobil überholt und stoppten, damit Oda mit dem Fahrer sprechen konnte. Danach fuhr der Motorschlitten voraus und verschwand im Gestöber. Das Wetter wurde von Minute zu Minute ungemütlicher. Ohne ihre beschichteten Jacken wäre die Feuchtigkeit durch ihre Kleider gesickert; so war die Nässe zwar unangenehm, doch im Kern blieben die Musher warm. Auf Kirstens Schultern, Armen und Handschuhen hatte sich eine Decke Schnee gebildet, der haften blieb, wenn sie sich bewegte. Ein Blick zu den anderen Mitgliedern der Gruppe zeigte ihr eine Ameisenstraße aus Menschen und Hunden, die sich von Minute zu Minute mehr in Yetis verwandelten.

Sie fuhren eine weitere Viertelstunde bergauf, bis ihnen erneut das Schneemobil entgegenkam. Der Fahrer und Oda wechselten abermals ein paar Worte, woraufhin der Motorschlitten einen Bogen beschrieb und hinter dem letzten Gespann zum Halten kam. Der Fahrer stieg ab, folgte der eigenen Spur bis zu Odas Leithunden und begann, Bridgestone hinter sich herzuziehen, bis das Team der gespurten Wendekurve folgte. Kirsten und die anderen schlossen auf. Während das Schneemobil weiterbrauste, verließ Oda ihren Schlitten und lief die Teams ab. »Weiter oben ist kein Durchkommen mehr. Tim hat gerade schon einen anderen Fahrer aus dem Schnee gezogen. Wir müssen umdrehen. Das war’s für heute.«

So gerne Kirsten das Ziel ihrer Tour, die Eishöhle, erreicht hätte, die Nässe und die schlechte Sicht hatten ihrer anfänglichen Euphorie einen Dämpfer verpasst. Dabei fror sie nicht einmal. Sie spürte nicht die in die Knochen dringende Kälte, die Kristoffer gefühlt haben musste, bevor er starb. An jenem Tag waren ebenfalls solche nassen, schweren Flocken gefallen, es hatten dieselben Temperaturen geherrscht. Nur war Kristoffer alleine unterwegs gewesen und ohne Winterausrüstung, der klammen Kälte ungeschützt ausgesetzt. Mehr noch, in dem Bericht über die Auffindung seiner Leiche stand, die Suchmannschaft habe ihn ohne seine Jacke gefunden.

Kirsten war nach Spitzbergen gekommen, um zu verstehen, wie ihr Mann gestorben war. Alles, was sie jetzt tun musste, war, ihre Jacke auszuziehen. Sie zögerte. Dann schlug sie die Kapuze zurück, nahm Schneebrille und Gesichtsmaske ab und reckte ihr ungeschütztes Gesicht in Fahrtrichtung.

Den Rückweg legten sie ohne Pausen zurück.

In der Agentur hängten sie die nassen Kleider vor den Kamin und wärmten sich mit Tee und Kaffee. Oda hatte einen Blick auf Kirstens fleckiges Gesicht und ihr feuchtes Haar geworfen und sie mit Jonas sofort hineingeschickt. Im Schränkchen unter dem Waschbecken im Bad sei ein Föhn. Sie und die anderen würden sich um Kirstens Team kümmern und die Hunde ausschirren. Oda hatte keine weiteren Fragen gestellt, was Kirsten nur recht war. Ihr albernes Experiment hatte ihr außer schmerzenden Ohren keine Erkenntnisse über Kristoffers Tod beschert.

Der Wetterbericht hatte rasch fallende Temperaturen und für den kommenden Tag blauen Himmel gemeldet, was bei einem Blick aus dem Fenster unvorstellbar schien. Jonas bettelte, er wolle morgen wieder mit den Hunden fahren, doch Kirsten hatte einen Termin mit dem Gouverneur von Svalbard, den sie nicht absagen würde. Fünf Monate lang hatte sie darauf gewartet, endlich nachvollziehen zu können, wie und warum Kristoffer gestorben war – Fragen, die kein förmlicher Schriftverkehr beantworten konnte.

Im Laufe des Nachmittags hörte es auf zu schneien. Während sich Oda in die Küche begab, folgten die Gäste einer Mitarbeiterin in die Zwinger, wo die Hunde auf ihr Fressen warteten. Jonas war entzückt, bei der Fütterung dabei sein zu dürfen, aber Kirsten verspürte den Drang, sich zu bewegen, und wollte lieber eine Runde um die Gebäude drehen. Jonas hatte keine Lust, sich ihr anzuschließen, ebenso keiner der anderen Gäste. So trat sie allein durch eine Tür im Maschendrahtzaun nach draußen in das schwächer werdende Licht des fortgeschrittenen Tages.

Der Wetterbericht schien recht zu behalten: Die Brise in ihrem Gesicht fühlte sich deutlich kühler an als am Mittag, und im Osten klarte es auf. Kirsten folgte dem Verlauf der Zwingeranlage den Hang hinauf. Oberhalb der Gebäude blieb sie stehen, um sich zu orientieren und mit allen Sinnen die Landschaft auf sich wirken zu lassen. Bei ihrer Ankunft war sie auf das Stadtbild konzentriert gewesen: Schneemobile, Langläufer und Fußgänger mit Gewehren auf dem Rücken, wegen des Permafrostbodens auf Stelzen errichtete Gebäude und Rohre entlang nicht geräumter Straßen. Die düsteren Ruinen der Minenindustrie an den steilen Bergflanken, die Münder der Grubeneingänge, die Seilbahnen mit ihren hölzernen Stützen und Reste von alten Kohlesilos. Am Abend auf dem Weg zum Restaurant hatten die durch Schneeverwirbelungen verwaschenen Bergflanken ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen, Farben, Silhouetten, welche kein Foto einzufangen vermochte. Jetzt gewahrte sie die unendliche Weite um sich herum. Das breite Tal stieß auf der anderen Seite an steile Berge mit waagrecht verlaufenden Gipfelplateaus. Horizontal gelagerte Gesteinsschichten unterteilten die überzuckerten Hänge in Streifen, ein Wechselspiel von Hell und Dunkel, das die karge Schönheit von Fels und Gestein unterstrich.

Präsenz, dachte Kirsten, das war das Wort, mit dem sie die Wirkung der Inselgruppe auf sich beschrieb. Das Land war ständig präsent, selbst wenn es hinter Schneetreiben verborgen lag, selbst in den Straßen Longyearbyens blieb es allgegenwärtig. Schon im Flugzeug, ja sogar während der Reisevorbereitungen in Deutschland, hatte es nach ihr gegriffen. Svalbard, die Kalte Küste. Sie hatte geglaubt, ihre Besessenheit sei mit Kristoffers Tod zu erklären, aber vielleicht nahm Spitzbergen einen Teil im Kopf eines jeden Reisenden ein, mehr als andere Destinationen und lange bevor die Reise überhaupt begann. Der Ruf des Endes der Welt, wo die eigene Sterblichkeit nackt stand angesichts der Selbstverständlichkeit einer Naturgewalt.

Kirsten stieg höher, um ein Foto von den Zwingern vor der Berg- und Talkulisse zu machen. Das Hundebellen, welches die Fütterung begleitet hatte, war verklungen, ein Auto kurvte den Hang hinauf zur Agentur. Kirsten stellte den Fotoapparat auf Videomodus und drehte sich während der Aufnahme einmal um dreihundertsechzig Grad. Vier Punkte erschienen im Fokus des Displays: Rentiere, keine zweihundert Meter von den Gebäuden des Nachbarn entfernt. Kirsten bedauerte sofort, dass sie nicht die Spiegelreflexkamera mit dem Teleobjektiv bei sich trug. Sie schaute sich um, wollte Jonas herbeirufen, doch die Gruppe war wieder nach drinnen gegangen. Selber schuld. Kirsten trabte los, den festgefahrenen Spuren des Schneemobil- und Hundeschlittentrails folgend. Die Rentiere trotteten mit gesenkten Köpfen in Richtung Straße. Immer wieder blieben sie stehen, um am Boden nach Essbarem zu suchen. Kirsten schloss zügig zu ihnen auf. Beim nächsten Blick auf das Fotodisplay konnte sie bereits Kopf und Beine unterscheiden. Mit der Kamera vor der Brust lief sie weiter.

Kurz darauf hob eines der Rentiere seinen geweihlosen Schädel. Es schien Witterung aufgenommen zu haben, jedoch nicht von Kirsten, sondern in Richtung einer Stelle rechts von ihr. Ein wunderbares Motiv, als ob das Tier extra für sie posierte. Kirsten drehte an den Einstellungen des Fotoapparats, doch bevor sie weitere Aufnahmen machen konnte, verfielen alle vier Rentiere in einen aufgeschreckten Trab. Enttäuscht ließ Kirsten ihre Kamera sinken.

Sekunden später schlugen die Hunde an. Kirsten sah nach rechts.

»O Scheiße«, flüsterte sie.

Der Eisbär trottete direkt auf sie zu. Er war über einem Hügel erschienen, oberhalb der weit verstreuten Gebäude. Das Haus von Odas Nachbarn lag links von Kirsten, die Agentur hinter ihr. Der Eisbär war ihr näher als sie den rettenden Häusern. Von den Zwingern her kam ein Mann auf sie zu, sie hatte ihn zuvor im Flur des Agenturgebäudes gesehen, später auf dem Schneemobil mit einem Gewehr auf dem Rücken. Jetzt trug er keinen Helm mehr, dafür eine graue Wollmütze, unter der dunkelblonde Haare hervorspitzten. In der Rechten hielt er einen klobigen Gegenstand. Er streckte beide Hände zu ihr aus, als ob er ihr ein Stoppzeichen geben wollte, dann zog er die Handflächen bedachtsam auf seine Brust zu.

Zurückgehen. Langsam.

Im Zoo war sie Eisbären näher gekommen. Aber Wände, Käfige, Gräben schufen dort eine unverhältnismäßige Distanz. Hier, auf dem Hügel, wirkte das Raubtier größer als jedes Zooexemplar. Seine schwarze Schnauze ruckte nach links – es hatte sie wahrgenommen. Der Bär hielt inne. Der Kopf hob sich, witternd, die linke Vorderpfote, groß wie ein Teller, baumelte in der Luft.

Kirsten schaute panisch in Richtung Agentur. Sie war wie erstarrt. Der Abstand zwischen ihr und ihrem Retter schien sich kaum zu verringern, seine Schritte irritierend ruhig und gleichmäßig.

Sie zwang ihre Beine loszugehen. Langsam, wie ihr signalisiert worden war, den Blick schräg nach hinten auf den Eisbären gerichtet. Das verrückte Bellen der Hunde schwoll an. Jetzt trat ein weiterer Mann aus dem Nachbargebäude, erfasste die Situation und verschwand sofort wieder im Inneren.

Der Eisbär kam näher. Fünfzig Meter.

Kirsten vergaß, dass sie langsam gehen sollte. Ihre Schritte wurden hektischer, fast schon Sätze, ihr Atem keuchte in Wolken über die Lippen. Der Schnee unter ihren Füßen gab nach. Sie brach bis zum Knie ein, ruderte mit den Armen und stürzte zur Seite. Schnee drang zwischen Handschuhen und Ärmel an ihre Haut. Sie rappelte sich auf, machte einen Satz nach vorne, kämpfte sich verzweifelt mit schaufelnden Bewegungen durch den Schnee. Sie hatte den Trail verloren. Wie blöd konnte man sein? Nun steckte sie im Tiefschnee fest, während der Bär …

Ein fester Griff um ihren Arm, sie wurde hochgezogen. Im selben Moment hatte sie wieder Boden unter den Füßen, eine Autozufahrt. Odas Mitarbeiter schob sie hinter sich, es ploppte, dann der Feuerschweif eines Leuchtkörpers, gefolgt von einem scharfen Knall, als die Signalpatrone wenige Meter vor dem Eisbären zündete. Das Tier fuhr herum und trabte davon. Der Mann lud eine weitere Patrone nach. Ein Gewehr hing wie zuvor über seiner Schulter, jetzt jedoch von der Hülle befreit. Schießbereit.

»Wenn sie so nahe sind, muss man aufpassen, dass man nicht aus Versehen über den Bären hinwegschießt«, sagte er, ohne das Tier aus den Augen zu lassen, das seinen Lauf verlangsamt hatte, aber keine Anstalten machte zurückzukommen. »Wenn der Knall hinter dem Bären zündet, treibt ihn das bloß auf einen zu, und das möchte man ja gerne vermeiden, oder?«

Er sprach mit einem angenehm beruhigenden Schweizer Akzent. Der Nachbar, mittlerweile ebenfalls bewaffnet, schloss zu ihnen auf, die beiden Männer wechselten ein paar Worte. Danach blieb der andere zurück und verfolgte den Abgang des Bären. In der Tür zum Agenturgebäude erschien Oda. Sie hielt sich ein Handy ans Ohr und sprach rasch, ein Fernglas in der anderen Hand.

»Oda telefoniert mit dem Büro des Gouverneurs«, erklärte der Schweizer. »Sie werden diesen Bären beobachten und sicherstellen, dass er sich von den Häusern fernhält, also kein Grund zur Besorgnis.«

Kirsten hatte noch nicht ihre Sprache wiedergefunden. Die übrigen Gäste drängten nach draußen, jeder mit mindestens einer Kamera bewaffnet, zwischen ihnen schob sich Jonas hindurch. Völlig aus dem Häuschen wollte er wissen, ob Kirsten den Eisbären gesehen habe. Dort, er fuchtelte in den Himmel, vom Fenster aus habe er ihn gesehen.

»Ja, ja, ich habe ihn auch gesehen.« Sie ließ sich auf die Stufen zur Eingangstür fallen. »Ganz nah.«

»Das ist gemein!« Jonas stampfte mit dem Fuß in den Schnee. »Ich will ihn auch nah sehen!«

»Du siehst bestimmt noch viele Eisbären.« Kirstens Retter streifte sie mit einem amüsierten Blick und streckte ihr die Hand hin. »Ich bin übrigens Tim.«

»Kirsten. Und das kleine Monster hier ist Jonas.«

»Hallo, Jonas.«

»Hallo. Hast du geschossen? Ist das eine echte Pistole?«

»Ich glaube, wir essen erst einmal.« Oda hatte ihr Telefonat beendet. »Der Lachs ist wahrscheinlich angebrannt, aber das Gemüse sollte noch genießbar sein.« Sie drückte Kirstens Schulter. »Willkommen auf Svalbard, Kirsten.«

5

Bis zum Dessert hatte sich Kirsten gefangen. Tim saß neben Jonas, dessen Herz er sofort erobert hatte. Der Junge löcherte ihn mit Fragen; die meisten hatten mit Eisbären und Waffen zu tun. Tim war neunundzwanzig und damit drei Jahre jünger als Kirsten, was sie überraschte, denn sie hätte ihn älter geschätzt. Tim meinte, das liege am Bart, dabei hatte Kirsten es eher von den Fältchen um seine Augen abgeleitet, charakteristisch für einen Menschen, der viel Zeit im Freien verbrachte, jedoch selten eine Sonnenbrille trug. Er hatte eine zurückhaltende, scheue Art und ein lautloses Lachen. Als gelernter Mechaniker war er saisonal viel auf Montage im Ausland gewesen. Vor zwei Jahren hatte sein Chef pleite gemacht, seitdem arbeitete er hauptberuflich als Tourguide und Skilehrer. Die Zeit von Februar bis Anfang Mai und von Juni bis September verbrachte er auf Spitzbergen, im Dezember und Januar verdiente er sein Geld als Skilehrer in der Schweiz, und im Herbst organisierte er mit Freunden ein Fernwehfestival in St. Gallen. Auf Spitzbergen führte er Touren mit Schneemobil, Skiern sowie Hundeschlitten und im Sommer zu Fuß und per Kajak.

Ob Tim mit seinem Papa auf Tour gegangen sei, wollte Jonas wissen.

Tim blickte ratlos in die Runde.

»Kristoffer Stolt«, sprang Oda ein, ihr Gespräch mit den anderen Gästen unterbrechend. »Jonas ist sein Sohn, Kirsten seine Frau.«

»Ah, okay.« Tim hatte Zigarettenpapier mit Tabak gefüllt, jetzt spielten seine Finger mit den Enden des Papiers. »Ja, ich bin mit deinem Vater unterwegs gewesen. Einmal, auf einer Kajaktour. Das war eine gute Gruppe. Ich weiß das noch, weil wir damals stundenlang Walrosse beobachtet haben.«

»Was sind Walrosse?«

Tim stand auf, trat zu einem Bücherregal und zog ein Tierlexikon heraus, das er aufschlug und, auf ein Bild tippend, Jonas reichte. Dann ging er zum Rauchen nach draußen. Unterdessen packten die anderen Touristen ihre Sachen zusammen. Im Auto war nicht genügend Platz für Jonas und Kirsten, aber Kirsten sagte, es mache ihnen nichts aus, erst mit der zweiten Fuhre nach Hause gebracht zu werden. Zum Abschied gaben sich alle die Hand. Der Schwede, ein dünner älterer Herr mit Glatze, schien ihren Nachnamen beim vorherigen Gespräch aufgeschnappt zu haben, jedenfalls fragte er Kirsten, ob der Mann aus dem Artikel in der Zeitung ein Verwandter von ihr sei: Fredrik Stolt.

Kirsten wusste nichts von einem Artikel.

»Es ging um einen Mann, der seinen Geburtstag hier feiert. Es stand im Svalbardposten. Das ist die örtliche Zeitung, angeblich die nördlichste der Welt.« Er habe das Blatt im Café gelesen, erzählte er, als Schwede konnte er Norwegisch gut verstehen. Ein paar Tische weiter hätten Einheimische gesessen, die sich über den Artikel auf der letzten Seite unterhielten. Aber das interessiere sie womöglich nicht?

Kirsten wartete höflich ab. Der Schwede hielt noch immer ihre Hand. »Einer der Männer am Tisch ist wütend gewesen. Fredrik Stolt, der sei für den Tod von Menschen verantwortlich, und jetzt würde er zurückkommen und ein Tamtam aus seinem Geburtstag machen, weil er nicht den Anstand hatte, früher zu sterben.« Er sah Kirsten in die Augen. »Wissen Sie vielleicht, was er meinte?«

»Ich habe keine Ahnung.« Sie zog ihre Hand zurück, fast mit Gewalt. Sie war verärgert genug, um hinzuzufügen: »Gilt es hierzulande nicht als unhöflich, sich derart für anderer Leute Angelegenheiten zu interessieren?«

»Der Mann an dem Tisch hat fast geschrien, das konnte man nicht überhören.«

Sie schien dennoch einen wunden Punkt getroffen zu haben, denn der Schwede nuschelte danach einen knappen Abschiedsgruß und schob sich an ihr vorbei ins Freie.

Fünf Minuten später war Oda mit den Touristen fortgefahren. Jonas hatte sich ein weiteres Buch aus dem Regal gezogen, einen Bildband über die frühen Arktisreisenden. Während er die Seiten durchblätterte, kam Tim vom Rauchen zurück. Er rieb sich die Hände über dem Ofen, dann setzte er sich neben Jonas auf die Couch. Zusammen beugten sie sich über das Buch. Bei einem Bild rief Jonas plötzlich, das sehe aus wie ein Foto von seinem Papa, und Kirsten musste in ihrem Rucksack nach der Brieftasche kramen und das Foto von Kristoffer vor dem Gletscher präsentieren. Tim sagte, er wisse, wo das Bild aufgenommen worden sei, es handele sich um ein beliebtes Touristenziel. Die alte Aufnahme, die Jonas im Buch aufgefallen sei, sei allerdings nicht dort gemacht, sondern auf Grönland. Damals habe es einen regelrechten Wettlauf zum Nordpol gegeben. Jeder Abenteurer habe, angetrieben von der Aussicht auf Ruhm und Ehre, der Erste sein wollen. Die Frage, wer die Nase vorne gehabt hatte, sei bis heute nicht entschieden.

Während er sprach, reichte Tim Kirsten die Aufnahme ihres Mannes zurück. Wie immer, nachdem Jonas das Foto in den Fingern gehabt hatte, zierte ein fettiger Fingerabdruck Kristoffers Gestalt. Kirsten wühlte nach einem Brillenputztuch.

»Anhand des Sonnenstandes und der Schatten auf den Expeditionsfotos konnte man überprüfen, wie weit ein Mann tatsächlich nach Norden vorgestoßen war, oder ob er vielleicht gelogen hatte«, erklärte Tim weiter. »Denn zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sind Sonnenstand und Schatten ganz charakteristisch. Es lohnt sich also, die Beweisfotos von den Expeditionen genau anzuschauen. Denn sonst hätte jeder ein Foto auf einem beliebigen Schneefeld knipsen und behaupten können, er hätte den Nordpol erreicht oder wäre ihm näher gekommen als je ein lebender Mensch zuvor.«

Kirstens Finger mit dem Putztuch erstarrten über der Fotografie ihres Mannes.

Sie lehnte sich vor, bis der Lichtschein der Lampe direkt auf das Bild fiel.

Auf dem Foto fehlte ein Schatten. Der des Eispickels. Er hätte sich parallel zu Kristoffers Körperumriss nach hinten erstrecken müssen, selbst das liegende Gewehr brachte einen schmalen Schatten hervor. Stattdessen glänzte dort, wo sich der Schemen des Pickels auf den Schnee malen sollte, unberührtes Weiß. Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde fühlte Kirsten, wie ihr der Boden unter den Füßen entglitt.

Ihr Zeigefinger huschte wie an einem Marionettenfaden über das Foto, erst irrlichternd von einem Punkt zum anderen, dann systematisch von links nach rechts und rechts nach links entlang unsichtbarer Zeilen. Bis ihre Fingerkuppe zum zweiten Mal über dieselbe Struktur, eine wellenförmige Erhebung im Schnee, strich. Einmal rechts neben Kristoffer und dann noch einmal links von ihm auf Höhe seiner Brust. Stempeln nannte man bei der Bildbearbeitung diese Funktion. Ein nützliches Werkzeug, wenn man etwas aus einem Bild entfernen wollte, ohne dass es auffiel.

Kirstens Hände waren eiskalt.

Hör auf!, warnte eine Stimme in ihrem Kopf. Tu das nicht!

Aber es war zu spät. Ihr Zeigefinger folgte dem Verlauf von Kristoffers Körper. Das Bild war in schlechter Qualität aus dem Drucker gekommen, die Auflösung, die Kristoffer damals per E-Mail aus dem Urlaub geschickt hatte, hatte nicht für mehr gereicht. Trotzdem fiel ihr jetzt eine weitere Stelle an seinem linken Arm auf. Eine Unsauberkeit im Foto, die nichts mit Kristoffers Jacke zu tun hatte.

Kirsten fühlte sich wie in dem Augenblick, als sie den Eisbären auf sich hatte zukommen sehen. Hilflos. Sie hatte sich zu weit hinausgewagt. Dorthin, wo man plötzlich alleine steht, auf brechendem Eis.

Die Expeditionsreisenden des frühen zwanzigsten Jahrhunderts hatten kein Photoshop gekannt. Auf ihren Fotos kündeten die Schatten von der Wahrheit. Der Abzug unter Kirstens Fingern jedoch hatte einen Schatten verloren, und mit ihm eine Wahrheit. Da war etwas gewesen an Kristoffers Seite. Etwas so groß wie ein Mensch.

6

Kirsten saß auf dem Sessel unter dem Fenster in ihrem Hotelzimmer, eine Decke um die Füße geschlungen. Ihr Zimmer zeigte in Richtung Fjord. Sie blickte auf die Gebäude der Universität und des Museums, vor denen die Scheinwerfer zweier Schneemobile die Straße entlangtasteten, das Dröhnen der Motoren durch doppeltes Glas gedämpft. Jonas schlief im Bett neben dem Fenster. Schlafend sah er Kristoffer noch ähnlicher.

Kirsten drehte das Foto in den Händen, die retuschierte Wahrheit für Ehefrau und Sohn. Sie widerstand dem Drang, den Abzug in ihrer Faust zu zerknüllen, denn das hätte sie am nächsten Tag Jonas erklären müssen. So knallte sie lediglich die flache Hand mit Kristoffers Lächeln darin gegen die Wand unter dem Fenstersims. Ihre Handfläche erwachte zu prickelndem Schmerz. Das Foto rutschte die Wand hinab, fiel auf den Teppichboden und blieb dort liegen.

Sie und Jonas hatten Kristoffer damals genötigt, ihnen das Foto von seinem Ausflug zum Gletscher zu schicken. Wie sie über sein Missgeschick mit der fast im Schmelzwasser versenkten Kamera gelacht hatten! Sie hatten ihn genervt, bis er versprochen hatte, ihnen das Bild zu schicken.

Kirsten fiel nur ein Grund ein, weshalb ein Mann seiner Familie ein Foto schicken sollte, aus dem er etwas – jemanden – gelöscht hatte: eine andere Frau. Eine Frau an seiner Seite, die ihn vertraut, intim am Arm berührte, strahlend wie er selbst in der Freude des gemeinsamen Erlebnisses.

War er deswegen im August ein weiteres Mal nach Spitzbergen gereist? Wegen dieser Frau? War alles andere – die Geburtstagsvorbereitungen, das Album über Fredriks Leben – vorgeschoben gewesen? Und wenn ja: Wer war sie?

Und wer war Kristoffer Stolt?

Kirsten hatte gehofft, auf Spitzbergen das Bild dessen, wer Kristoffer gewesen war, schärfen zu können, damit sie Jonas später von ihm erzählen konnte. Doch jetzt war das Bild zersplittert, ein Mosaik aus Geröll und Eis wie das Chaos am Fuße jenes Gletschers, der die Kulisse für Kristoffers Verrat geliefert hatte.

Das Zimmertelefon klingelte. Eine unverbindlich freundliche Stimme von der Rezeption. »Frau Stolt, es gäbe morgen tatsächlich noch zwei freie Plätze im Flieger nach Oslo. Sollen wir sie in Ihrem Namen buchen?«

Kirsten lehnte die Stirn gegen die Wand. »Kann ich Ihnen in fünf Minuten Bescheid geben?«

»Sehr gerne.«

»Ich melde mich gleich.«

Sie legte auf. Jonas bewegte sich, schlief jedoch weiter.

Was machte sie hier? Morgen war der Termin beim Gouverneur. Er sollte ihr verstehen helfen, weshalb Kristoffer gestorben war. Die Frage, die sie die letzten Monate verfolgt hatte: Galt sie immer noch? Sie hatte den Tod ihres Mannes nicht nachvollziehen können, aber wie sie jetzt ahnen musste, galt seinem Leben der größere Zweifel.

Kirstens Blick fiel auf die Notiz und das aufgerissene Päckchen, das Fredrik für sie und Jonas an der Rezeption hinterlegt hatte.

Liebe Kirsten,

habt ihr trotz des Wetters einen schönen Tag gehabt? Ich bin morgen um 8.30 Uhr beim Frühstück – freue mich auf Jonas’ Bericht.

Der Kompass ist für ihn. Morgen zeige ich ihm, wie er funktioniert.

Dein Fredrik

Das Foto lag noch dort, wohin es gefallen war, auf dem Boden neben Jonas’ Seehund, der den Fingern seines schlafenden Besitzers entglitten war. Ein gefallenes Stofftier, zwei Menschen in diesem Zimmer und zwei Gespenster. Eines namenlos, gesichtslos, zu viel.

Sie wählte die Nummer der Rezeption. »Buchen Sie den Flug nicht, wir bleiben. Dürfte ich Sie bitten, nichts davon meinem Schwiegervater gegenüber zu erwähnen?«

»Selbstverständlich, Frau Stolt. Es freut uns, dass Sie bei uns bleiben. Gute Nacht, Frau Stolt.«

7

Kirsten saß einem Mann Anfang sechzig gegenüber, mit sich lichtendem Haaransatz und Brille über einem blassblau karierten Hemd. Der Gouverneur von Svalbard – Sysselmannen lautete sein offizieller Titel – war der oberste Repräsentant Norwegens auf Spitzbergen. Er verantwortete die Verwaltung, war zuständig für den Schutz der arktischen Umwelt und leitete die Polizeiarbeit. Von seinem Büro waren die Suche nach Kristoffer und danach die Untersuchung der Umstände seines Todes koordiniert worden. Der Gouverneur hielt die Hände vor sich auf dem Schreibtisch gefaltet, während er Kirsten berichtete, was er über Kristoffers Unfall wusste.

Es war an einem Mittwoch Ende August geschehen. Am Tag zuvor war eine Wetterverschlechterung für Mittwochabend vorhergesagt worden; am Mittwochmorgen hatte sich die Schlechtwetterwarnung bereits auf den Nachmittag bezogen, aber da war Kristoffer schon unterwegs gewesen. Vormittags hatte die Temperatur bei etwa fünf Grad plus gelegen, bei mäßigem Wind und leichter Bewölkung. Kristoffer war alleine gewandert, mit kompletter Ausrüstung: Peilsender, GPS, Signalpistole, Gewehr, wind- und wasserdichte Oberbekleidung, Biwaksack für Notübernachtungen im Freien sowie Erste-Hilfe-Ausrüstung. An den Tagen zuvor hatte es bei ungewöhnlich hohen Temperaturen immer wieder geregnet, von den Gletschern floss Schmelzwasser in großen Mengen ab. Gegen Mittag musste Kristoffer eine Stelle gefunden haben, von der aus es ihm sicher schien, den angeschwollenen Fluss zu überqueren. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Wetter gedreht: Die Temperatur war gesunken, der Wind hatte aufgefrischt. Schneeregen hatte eingesetzt.

Wahrscheinlich war Kristoffer bei der Flussquerung ausgerutscht. Die Strömung musste stark genug gewesen sein, um ihn ein Stück mitzureißen. Um nicht unter Wasser gedrückt zu werden, hatte er sich seines Rucksacks entledigt. Er hatte es geschafft, sich aus dem Fluss ans Ufer zu kämpfen, aber da war der Rucksack schon abgetrieben. Die Suchmannschaft hatte diesen später etliche Kilometer von dem Ort, an dem Kristoffers Leiche gelegen hatte, gefunden. Gewehr, GPS, Signalpistole, Handschuhe, Biwaksack, Mütze, Regenhose und ein weiteres Fleece – das alles war für ihn unerreichbar geworden. Schlimmer noch: Er selbst war durch den Sturz ins Wasser nass bis auf die Haut.

Zu diesem Zeitpunkt musste ihm die Bedrohlichkeit seiner Situation bewusst geworden sein. Vielleicht hatte er sogar versucht, an den Rucksack zu kommen, und war dabei noch nässer geworden. Jedenfalls hatte er sich auf den Weg gemacht, den Fluss entlang. Wahrscheinlich war er gerannt. Die fallenden Temperaturen hatten den Niederschlag in großflockigen Schnee verwandelt, gegen ein Uhr nachmittags war in Longyearbyen der Gefrierpunkt unterschritten. Der Wind hatte den Körper in den nassen Kleidern heruntergekühlt. Auf Zittern war Verwirrung gefolgt. Die zurückgelassene Jacke, die die Suchmannschaft zwischen der Stelle, wo er womöglich versucht hatte, den Fluss zu überqueren, und seinem Todesort gefunden hatte, deutete darauf hin.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Kirsten. Es war das erste Mal seit zehn Minuten, dass sie sprach. Jonas saß zu ihren Füßen und malte mit Buntstiften auf einem Papier. Da sie Englisch redeten, verstand er kein Wort.

»Am Anfang einer Unterkühlung zittert das Hypothermieopfer, weil es friert. Mit der Zeit wird dieses Zittern ein Schütteln, das Bewusstsein beginnt sich zu trüben. Schreitet die Unterkühlung fort, passiert es oft, dass die Opfer nicht mehr frieren, sondern gar glauben, es wäre ihnen heiß. Dann ziehen sie ihre Kleidung aus. In Kristoffers Fall war es die Jacke. Er hat sie ausgezogen und weggeworfen.«

»Mein Mann war ein erfahrener Bergsteiger. Ich möchte Ihnen nicht widersprechen, aber es ist schwer vorstellbar, dass er solche Fehler gemacht haben soll. Die Flussüberquerung, der verlorene Rucksack und dann die Jacke.«

»Glauben Sie mir, Ihr Mann war nicht der Erste, dem das passiert ist, und er wird leider auch nicht der Letzte sein. Erst vorige Woche war es ein Mann aus Nordschweden mit seinen zwei Söhnen. Sie haben das Wetter unterschätzt, haben ihr Schneemobil im Schnee festgefahren und weder Zeltausrüstung noch Biwaksäcke bei sich getragen. Wir mussten eine Rettungsaktion starten. Was ich damit sagen will, ist: Jeder kann einen Fehler machen, jeder kann Pech haben. Ihr Mann hätte den Notpeilsender bei der Flussquerung am Körper tragen sollen, aber dass er dabei den Rucksack verloren hat, war keine Dummheit. Bevor Sie einen Fluss überqueren, öffnen Sie immer Brust- und Hüftgurt, damit Sie sich im Zweifelsfall schnell befreien können. Richtig war auch, dass er seinen geplanten Tourverlauf im Hotelzimmer hinterlegt hat. Gewiss hätte er an dem Tag besser überhaupt nicht zu einer Tour aufbrechen sollen, aber das ist typisch für Touristen: Sie kommen hierher, und dann herrscht tagelang schlechtes Wetter. Kaum öffnet sich ein Fenster, wollen sie unbedingt die Gelegenheit nutzen. Manchmal ist es auch das Vertrauen in die Technik – Notpeilsender, GPS –, das die Menschen unvorsichtig werden lässt. Wenn etwas passiert, denken sie, drücken sie den Knopf, und dann wird alles gut.«

»Mein Mann war nicht so.«

Der Sysselmann zuckte die Achseln. »Glauben Sie mir, wir haben uns all diesen Fragen gestellt. Ihr Mann war im besten Alter und körperlich in guter Verfassung. Dort, wo er gefunden wurde, steht nicht weit entfernt eine alte Hütte, in der er Zuflucht vor dem Wind hätte suchen können. Tatsache ist jedoch auch, dass er völlig durchnässt war, die Temperaturen winterlich, der Wind eisig und die Sicht miserabel. Wer weiß, wie lange er versucht hat, an seinen Rucksack zu kommen, bevor er losgelaufen ist? Mit seinem Rucksack hat er auch die Karte verloren und konnte die Hütte bei schlechter Sicht nicht finden.« Er deutete hinter Kirsten. »Wir haben die Sachen Ihres Mannes, die Ihr Schwager damals nicht mitgenommen hat, zusammengesucht. In der linken Kiste sind die Gegenstände, die er bei seiner letzten Tour bei sich trug. Die rechte Kiste ist vom Hotel. Wir haben auch eine Inventarliste erstellt.«

Kristoffers Jacke, die er an jenem Tag getragen und von sich geworfen hatte, lag oben in der linken Kiste. Kirsten legte sie sich über den Arm, während sie langsam einen Gegenstand nach dem anderen berührte. Die Fleecemütze hatte er beim letzten Skiurlaub in Österreich erstanden; die abgegriffenen Handschuhe stammten aus seiner Studienzeit. Eine Plastikdose für Brote, eine Thermoskanne, beide leer. Der Rucksack mit dem Schlumpfanhänger an der Seite, ein Geschenk von Jonas. Der Anhänger war der einzige Gegenstand, den Kirsten sofort an sich nahm. Die Wertsachen – Geldbeutel, Kamera, GPS – hatte Erland, Kirstens Schwager, bereits kurz nach Kristoffers Tod nach Deutschland überführt. Vielleicht würde Fredrik ja die Funktionsjacke haben wollen, sie war neu gewesen. Kirsten zupfte fahrig an den zahlreichen Reißverschlüssen. Als sie in die Innentasche der Jacke griff, knisterte es unter ihren Fingerspitzen. Sie zog die Hand zurück. Es war ein Kondom.

Kirsten verhütete mit der Spirale. Sie und Kristoffer hatten seit Jahren kein Kondom mehr benutzt.

»Gab es einen Anhaltspunkt bei Ihrer Untersuchung, dass mein Mann auf Spitzbergen eine Geliebte hatte?«

Die Frage ließ den Gouverneur die Stirn runzeln. »Nein, davon weiß ich nichts. Verstehen Sie, der Tod Ihres Mannes war ein schrecklicher Unfall. Ich habe Verständnis für Ihren Kummer, dass es Ihnen schwerfällt, seinen Tod zu akzeptieren, aber es war ein Unfall, wie er immer wieder geschieht. Es gibt keinen Hinweis auf Fremdeinwirkung oder die Anwesenheit eines anderen Menschen bei seinem Tod. Er ist zweifelsfrei an Hypothermie gestorben. Hätten wir Zweifel gehabt, wäre seine Leiche für weitere Untersuchungen zum Festland geschickt worden.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Dann bin ich für das, was Sie vielleicht meinen, nicht zuständig. Wenn Sie hier länger bleiben, werden Sie nachvollziehen, wie schnell die Natur Fehler bestraft. Ich kann Ihnen anbieten, dass wir Sie zu der Stelle bringen, an der Ihr Mann starb. Jetzt ist Winter, das Tal ist von Schnee bedeckt, doch vielleicht hilft es Ihnen. Sie können außerdem gerne mit der Ärztin sprechen, die die Leiche Ihres Mannes untersucht und die Todesursache bestätigt hat; sie wird Ihnen mehr über Hypothermie erzählen können. Aber ich fürchte, bei allem anderen, was Ihnen auf der Seele liegt, kann ich nicht weiterhelfen.«

Kirsten hasste es, für hysterisch gehalten zu werden. Das retuschierte Foto, das Kondom – verdammt, was sollte sie denn anderes vermuten? Sie wollte sich die Augen reiben, erinnerte sich im letzten Moment daran, dass sie nach der durchwachten Nacht mehr Make-up als üblich aufgelegt hatte, und klemmte sich stattdessen eine Haarsträhne hinter die Ohren.

»Ja«, sagte sie langsam, während sie die Jacke in die Kiste zurücklegte, das Kondom in ihrer Faust verborgen. »Ja, das wäre gut. Beides, meine ich: Wenn ich mit der Ärztin sprechen dürfte, und wenn Jonas und ich die Stelle sehen könnten, wo Kristoffer starb.«

»Warten Sie kurz.« Der Sysselmann verließ sein Büro und sprach in der Tür mit einer Mitarbeiterin, die daraufhin ein Telefonat führte. »Sie haben Glück: Ingrid Solberg, die Ärztin, hat heute Dienst. Fragen Sie im Krankenhaus nach ihr und sagen Sie ihr, dass Sie von mir kommen. Wegen des Unglücksortes: Ihr Schwiegervater lässt sein Programm von Spitsbergen Polar Adventures durchführen, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, wie die Agentur heißt. Die Chefin heißt Oda, ich habe sie gestern kennengelernt.«

»Das ist sie.«

»Sie sind gut informiert.«

»Das ist unser Job hier. Außerdem ist ein Jubiläumsprogramm wie das Ihres Schwiegervaters nicht alltäglich, schon gar nicht vor einem solchen Hintergrund.«

»Welchen Hintergrund meinen Sie? Den Tod seines Sohnes?«

»Ich meinte, dass Fredrik Stolt ein beeindruckender Mann ist, an den sich einige hier noch erinnern. Ich habe gehört, Store Norske war damals nicht glücklich über seine Kündigung; er war einer ihrer besten Ingenieure und Manager. Sie haben ihm ein für damalige Verhältnisse astronomisches Gehalt geboten, wenn er bliebe, aber er wollte nicht. Wahrscheinlich war das Angebot der Deutschen einfach besser.«

»Fredrik ist damals nicht direkt nach Deutschland ausgewandert. Er hat zunächst in Bergen in der Firma seiner Schwiegerfamilie gearbeitet.«

»Tatsächlich? Da habe ich wohl etwas falsch verstanden.«

»Sie haben ihn getroffen?«

»Ja, als er ankam.« Der Gouverneur verschwand abermals im Nebenzimmer. Diesmal dauerte es ein paar Minuten. Danach verkündete er, einer von Odas Mitarbeitern würde sie morgen mit dem Schneemobil zu der Stelle bringen, wo Kristoffer gestorben war. Die Agentur wisse, wo das sei, aber er würde ihnen zur Sicherheit die GPS-Koordinaten faxen. Kirsten dankte ihm.

»Ich lasse Sie zum Hotel fahren, die Kisten können Sie ja eh nicht tragen. Sie wissen, wo das Krankenhaus ist?«

»Nun, viele Gebäude stehen nicht zur Auswahl.«

»Ja, es ist überschaubar hier. Rufen Sie uns an, falls Sie weitere Fragen haben.«

8

Kirsten stand vor dem Eingang des Krankenhauses und rieb sich die in viel zu dünnen Lederhandschuhen steckenden Finger. Wenn sie tief durch die Nase atmete, fühlte es sich an, als ob ihre Nasenwände aneinanderklebten. Seit gestern Mittag war die Temperatur um erstaunliche 25 Grad gefallen. Dafür hatte sie jetzt, in der klaren, trockenen Luft, einen wunderschönen Blick auf die umliegenden Berge. Sie hatte nicht drinnen warten wollen, sie mochte die Farben von Krankenhäusern nicht. Dabei wirkte das Gebäude von außen durchs Fenster betrachtet einladend, mit einer Spielecke für Kinder und dem für Spitzbergen obligatorischen ausgestopften Eisbären.

Der Regen des vergangenen Tages hatte die Straßen Longyearbyens in Eisbahnen verwandelt. Kirsten beobachtete Touristen, die mit wild rudernden Armen über die Wege schlitterten. Einem Fahrradfahrer, der in Richtung Universität unterwegs war, rutschte das Vorderrad weg, und mit einem Scheppern stürzte das Rad auf den Asphalt. Kleine dunkle Splitsteinchen sprenkelten die Wege, mehr Kosmetik denn Schutz.

Fredrik war mit Jonas zu einer Besichtigungstour der in der Stadt verteilten Kohlebaudenkmäler aufgebrochen. Er hatte nicht gefragt, wie sie ihren Nachmittag zu verbringen gedachte, und sie war froh gewesen, es ihm nicht erklären zu müssen.

Sie spürte einen Lufthauch im Nacken. Sie drehte sich um. Hinter ihr war nichts außer der Wand des Krankenhauses. Sie lugte um die Ecke. Am Ende des Gebäudes sah sie eine Gestalt verschwinden, den Zipfel eines Mantels, eine stiefelbewehrte Ferse. Den Saum einer Kapuze, Modell Dame.

Kirstens Handy klingelte. Auf dem Display leuchtete der Name ihrer Schwägerin, sie hob ab.

»Na, wie ist es im Norden?« Mit ihrer herzlichen Art gelang es Monika, das Quecksilber ein paar Grad nach oben zu schrauben und Kirstens Unruhe für einen Moment zu verdrängen. »Hast du noch alle Zehen, oder sind sie dir schon abgefroren?«

»Noch nicht, aber wenn dieses Telefonat länger als zwei Minuten dauert, kannst du es live miterleben.«

»Was treibt mein Patenkind?«

»Vergnügt sich mit seinem Großvater. Kriechen in irgendwelchen Minenschächten herum. Ich fürchte, das blüht uns auch noch.«

Monika lachte. »Ich bin ja so gespannt. Ich habe sogar schon gepackt. Erland ist los, um von Elisabeth einen Koffer abzuholen. Aber eigentlich rufe ich wegen etwas anderem an: Hat Fredrik mit dir über seine Pläne für die Bank gesprochen?«

»Nein, sollte er das?«

»Ich weiß nicht. Elisabeth hat, als sie eben wegen des Koffers angerufen hat, so komisch gefragt. Weshalb du dermaßen früh nach Spitzbergen geflogen wärst. Du bist eben ein spontaner Mensch, hab ich ihr gesagt, aber das scheint sie nicht überzeugt zu haben. Sie wollte wissen, ob du mit Fredrik etwas unter vier Augen zu besprechen hättest.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739487519
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Rache Winter Longyearbyen Norwegen Thriller Hundeschlitten Reiseroman Krimi Skandinavien Spitzbergen Roman Abenteuer

Autor

  • Karen Nieberg (Autor:in)

Karen Nieberg hat in Deutschland, Norwegen und Schweden gelebt und und die nordischen Länder intensiv bereist – mit Hundeschlitten, Segelschiff, per Kajak und zu Fuß. Karen Nieberg ist ein Pseudonym von Birgit Jaeckel, unter dem die Autorin ihre Skandinavienromane veröffentlicht. Ihre Bücher wurden ausgezeichnet und haben sich über 300.000 Mal verkauft.
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Titel: Ins Eis