6 – Damals …
Die Rauhnächte: dämonenreicher Zauber des Mittwinters. Zwölf Nächte außerhalb der Zeit, in denen die Grenzen zu anderen Welten fallen, Geister an Türen klopfen. Die Zeit der Wilden Jagd.
Hütet euch. Denn die Dämonen lauern in uns.
– Marians Chronik.
»Dein Bursche da, Rupp, er ist stark wie eine Eiche. Wie alt ist er jetzt? Neunzehn? Zeit für ne Frau, oder?«
Ihr Gastgeber stellte einen Becher dünnes Bier vor Nikolo, dessen Lippen einen verkniffenen Strich bildeten. Der Becher wirkte verwaist auf dem sonst blanken Tischtuch. Keinerlei Speisen, nicht einmal Gebäck, warteten zu Ehren des Gastes. Kein Gesinde harrte entlang der Wände wie in anderen Gehöften, um der Einkehr von Sankt Nikolaus beizuwohnen. Bis auf die Bauersfamilie schien das große, neue Haus leer. Die Geste, mit welcher der Hofherr Rupp einen eigenen Trinkbecher reichte, schien jedoch nicht unfreundlich.
»Wenn der Großhuber deinen Rupp hier sieht, muss er doch bedauern, ihn dir damals gegeben zu haben. Wobei du ihm in der Sache wohl nicht viel Wahl gelassen hast.«
Nikolos Stirnrunzeln vertiefte sich. »Wie hätte ich ihn wohl überreden können?«
»Der Mann, der die Kinder des Großhubers unterrichtet und ihm bei den Rechnungsbüchern hilft? Wüsste nicht, wie ein solcher Kerl etwas über einen anderen in Erfahrung bringen könnte.«
»Du spottest, aber glaub mir, Thomas, die Menschen tun Dinge, auch ohne dass man ihnen den Dolch auf die Brust setzt.«
In der Ecke des Raums versenkte die Bäuerin ihre Nadel in einem Berg Stoff. Anna war eine Nichte von Nikolos verstorbener Frau. Rupp hatte Männer ihre Schönheit rühmen hören, doch jetzt steckte Annas Haar unter einer strengen Haube, die Haut spannte sich über verhärteten Zügen. Auf ihrer Brust hob und senkte sich ein einfaches Silberkreuz über einem schwarzen Gewand. Letzten Monat war Annas jüngere Schwester am Fieber verstorben – nach Jahren in Leibeigenschaft, weil die Familie beim Tod des Vaters den Erbteil nicht hatte leisten können. Anna selbst war damals der Leibeigenschaft nur durch die Heirat mit Thomas entgangen.
Auf dem Schranktisch neben dem Stuhl der Bäuerin lag ein gedrucktes Buch, das Rupp sofort erkannte. Eine Flugschrift steckte darin. Als Anna Rupps Neugier bemerkte, schob sie das Papier tiefer zwischen die Seiten und starrte ihn feindselig an.
Thomas musterte noch immer Rupp. »Ist heutzutage nicht leicht für einen Knecht, für ein Weib zu sorgen. Die Oberen, sie machen es einem immer schwerer, selbst einem so starken Burschen wie dir, der gut arbeiten kann.«
Rupp wusste nicht, was der Bauer von ihm hören wollte, aber er brauchte auch nicht zu antworten, denn Nikolo kam ihm zuvor.
»Rupp stellt keinen Mägden nach.«
»Wenn es Mägde sind, die er begehrt«, zischte die Bäuerin aus ihrer Ecke. Blut quoll aus einem Nadelstich in ihrem Daumen, so aufgebracht hatte sie den Stoff traktiert.
Nikolo knallte seinen Becher auf den Tisch. »Hast du mir die Tür geöffnet, weil du dich um meinen Knecht sorgst, Thomas?«
»Wir haben uns schon gefragt, wann du mal wieder bei uns anklopfst. Hast dich lange nicht blicken lassen.«
»Ich bin gekommen, weil ich annahm, euer Haus könnte ein wenig Freude und Segen vertragen.«
Thomas barg den blutenden Daumen seiner Frau in seiner Faust. Die Eheleute wechselten einen Blick. Anna seufzte.
Thomas murmelte: »Jedes Haus kann Freude und Segen vertragen.«
Nikolo sank besänftigt zurück. »Wo sind eure Kinder?«
»In der Küche.« Anna erhob sich. »Ich hole sie.«
Thomas hielt sie zurück. »Wir haben gehört, dass du die Befragung der Kinder mittlerweile oft deinem Knecht überlässt, Nikolo. Er soll gut mit ihnen können. Es wäre uns recht, wenn Rupp sich von unseren Kindern ein Gebet aufsagen ließe.«
Rupp war froh, in die Küche zu entkommen. Drei Jungen lümmelten dort auf Boden und Holzbank. Der Älteste schürte gerade das Feuer, die beiden Kleineren lutschten an honigverklebten Fingern.
»Thomas, Michael, Martin, der Mann hier möchte hören, ob ihr eure Gebete kennt.« Die Hausherrin war Rupp gefolgt.
Der älteste Junge kratzte sich mit dem Ende des Schürhakens am Fußrücken. Sein Blick flackerte listig Rupps Körper hinauf, wandelte sich jedoch zu widerwillig eingeschüchtert, weil er seinen Kopf dabei immer weiter in den Nacken legen musste.
»Wir kennen viel mehr Gebete als die anderen Kinder«, platzte es aus ihm heraus. »Vater liest uns die Bibel vor.«
Die Bibel in deutscher Sprache, von Martin Luther übersetzt, das Buch auf dem Schranktisch. Buchhändler verkauften sie auf den Marktplätzen, Lesekundige trugen sie jenen vor, die der Schrift nicht mächtig waren. Nikolo besaß ebenfalls eine. Den Mann und seine ketzerischen Lehren mochte er ablehnen, seine Bibelübersetzung faszinierte ihn jedoch.
»Welche Stellen liest euer Vater denn so vor?«, fragte Rupp die Jungen.
»Wie Jesus Gutes tut«, piepste der Kleinste. »Und wieso man keinen Stein schmeißen darf.«
»Jesus ist nicht der einzige, der den Menschen Gutes getan hat. Hat euch euer Vater denn auch von den Wundern von Sankt Nikolaus erzählt?«
»Vater sagt, wir sollen keine Heiligen anbeten«, schnappte der Älteste und reckte das Kinn, bevor seine Mutter einschreiten konnte. »Nur Jesus Christus steht zwischen uns und Gott – und niemand sonst.«
»Er ist Anhänger Luthers!«
»Deshalb hättest du ihn noch lange nicht beim Schultheiß anschwärzen müssen!« Rupp scherte sich nicht darum, ob sich andere Kirchgänger in Hörweite befanden. Die Glocken läuteten laut genug, um seinen Ausbruch zu übertönen.
Rupp und Nikolo hatten dem Hochamt nicht in ihrer Dorfkirche beigewohnt, sondern waren bereits im Morgengrauen aufgebrochen, um die Heilige Messe in der Klosterkirche zu feiern. Hier versammelten sich der Grundherr, die Reichen und Amtsträger am Morgen eines jeden fünfundzwanzigsten Dezembers, und Nikolo zog es zu den Mächtigen.
Nach ihren Besuchen am Nikolaustag setzte er sich Abend für Abend an sein Schreibpult und tauchte die Feder in Tinte. Nikolos Notizen drängten sich auf eng beschriebenen Seiten, Namen, Verbindungen, Ereignisse. Nicht alles nur Neuigkeiten, die er am sechsten Dezember erfuhr, sondern genauso Gerüchte, welche er das Jahr über anhäufte. Nikolo sammelte jederzeit, überall. Wie ein Bienchen, nur dass im Winter seine große Zeit kam. Dann öffneten sich ihm die Seelen der Menschen, weil sie dem Heiligen Nikolaus vertrauten.
»Ich habe mit dem Schultheiß ein paar Worte gewechselt, und wir kamen auf Thomas zu sprechen, das ist alles.« Nikolo reckte den Hals, um über die Köpfe der Anwesenden hin Ausschau zu halten.
Am liebsten hätte Rupp ihn geschüttelt. Jegliche Weihnachtsstimmung war ihm gründlich vergangen. »Erpresst du den Schultheiß eigentlich immer noch mit seinen Bankerten?«
»Ich erpresse nicht!», fauchte Nikolo. »Außerdem teilt der Schultheiß unser Interesse, wer sich mit Luthers Anhängern verbrüdert.«
»Thomas ist ein guter Mann, kein Verbrecher! Was ist, wenn sie glauben, er hätte Aufständische unterstützt?«
»Woher willst du wissen, dass er das nicht getan hat?«
Die Kirchbesucher strömten in Richtung der Ortschaft unterhalb des Klosters, farbenfroh in faltenreichen Mänteln unter üppig geschmückten Krägen und Kopfbedeckungen. Für den Grundherrn sowie die Kaufleute, Handwerker, freien Bauern und Würdenträger von auswärts standen an der Straße Wägen bereit. Ein paar Bettler drängten den Herrschaften entgegen.
Rupp war größer als alle anderen, deshalb konnte er gut die Menge überblicken und beobachten, wie der Schultheiß an den Grundherrn herantrat und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Einen Moment später richteten sich beider Augen auf Nikolo. Der Grundherr tippte sich an den Hut.
Nikolo strahlte. »Siehst du? Das wird mir noch viel nutzen.«
Rupp war schlecht. Er zerrte Nikolo um die Ecke der Klostermauer, wo ein Zaun aus Weidengeflecht winterkahle Obstbäume umfriedete.
Nikolo fegte Rupps Hand von seinem Arm. »Fass mich nie wieder so vor den Augen unseres Freiherrn an, Junge. Verstanden?«
»Was werden sie mit ihm tun? Thomas?«
»Ich weiß es nicht.«
»Verdammt, sie haben Leuten wie ihm die Augen ausgebrannt!«
»Es macht einen Unterschied, ob ein Mann seinen Kindern Luthers Lehren erzählt oder sich gegen die Obrigkeit erhebt. Ich habe ja nicht behauptet, dass Thomas zu ihren Mörderbanden gehört. Du brauchst dich nicht schuldig fühlen, Rupp.«
»Herrgott, was denn sonst? Wenn ich dir nicht erzählt hätte, was Thomas seinen Kindern beibringt … Wir müssen ihn warnen!«
»Du wirst nichts dergleichen tun, Rupp! Du wirst dich da schön raushalten. Die Bauernkriege sind vorbei, Thomas wird schon nicht viel passieren. Vielleicht ein Strafgeld, sollte er tatsächlich die Bauernrotten unterstützt haben. Das kann er zahlen.«
»Ihr wart miteinander verschwägert!«
»Ich war und bin mit keinem Ketzer verwandt.«
Rupp flehte: »Thomas, Bauern wie er, sie wollen doch nur ein besseres Leben.«
Nikolo umfasste Rupps Finger wie ein Gebetsbuch. »Darum geht es nicht. Du weißt, was Luther und die Seinen über unsere Heiligen predigen. Das setzt sie ins Unrecht. Nicht weil sie den Ablasshandel kritisieren oder die Gier unserer geistlichen Fürsten, nein, sondern weil sie glauben, der Mensch könne selbst mit Gott sprechen. Sie schaffen unsere Heiligen ab, Rupp. Sie vernichten Nikolaus.«
»Wir haben Thomas ans Kreuz genagelt.«
»Was für ein Unsinn!«
»Was soll ich seiner Frau sagen? Seinen Söhnen?« Rupp starrte auf seine Hände hinab, die Nikolo wieder freigegeben hatte, um seine eigenen in den Tiefen der festlichen Schaube zu wärmen. Die Glocken hatten zu schlagen aufgehört. »Ich dachte, das, was wir tun … es wäre etwas Gutes.«
»Das ist es auch, Junge. Kannst du denn nicht spüren, wie Gottes Hand uns bei unseren Besuchen lenkt? Gott will, dass wir die Menschen und ihre Herzen kennen. So wie wir ihnen dienen, dienen wir IHM.«
Rupp jedoch konnte keinerlei göttlichen Willen in Nikolos Verrat erkennen. Er fühlte nur Scham angesichts dessen, was er über Thomas und dessen Familie gebracht hatte.
Es ist nicht recht.
»Ich gehe und warne Thomas. Jetzt gleich.«
»Den Teufel wirst du tun, Rupp!«
Rupp drängte an Nikolo vorbei.
»Wenn du jetzt gehst, kannst du gleich bei Thomas und seinesgleichen bleiben!«, rief Nikolo ihm nach.
Rupp begann zu laufen.
Rupp spürte Blicke auf sich. Sie drangen durch Ritzen im Heuboden, lugten zwischen den Brettern des Taubenschlags hindurch. Die Tore der Getreidescheune waren verschlossen. Schaf- und Schweineställe lagen still, als schwiegen selbst die Tiere angesichts Rupps Verfehlungen. Aus dem Abzug des Hauptgebäudes stieg keinerlei Rauch in den Himmel. Anstatt ein weihnachtliches Festmahl vorzubereiten, verschanzten sich die Bewohner. Beobachteten ihn. Wussten, was er getan hatte.
Im nächsten Moment schalt er sich albern. Vielleicht feierte Thomas mit seiner Familie Weihnachten bei Verwandten oder besuchte den Friedhof. Das fehlende Leben auf dem Hof musste nichts bedeuten.
Auf dem Weg zu Thomas’ Hofstatt hatte Rupp einen Umweg nach Hause eingelegt, um sich nach der Fastenzeit etwas kalten Brei und Würste in den Mund zu stopfen. Sein feines Wams hatte er gegen ein gefüttertes aus dunklem Leder getauscht. Handschuhe baumelten am Gürtel neben einem Messer; sein Umhang hing über einer Schulter. Im schnellen Lauf war ihm warm geworden, erst jetzt fühlte er die Kälte der beginnenden Rauhnächte. Aber vielleicht war es auch der eisige Hauch, der ihm entgegenwehte, als Thomas’ Frau die Tür aufriss und ihm über die Schwelle entgegensprang.
»Er ist nicht hier!«, schrie sie. »Was willst du?«
Von der strengen Frisur der Bäuerin war nichts geblieben. Annas lockiges Haar flutete an ihrem Gesicht vorbei über Brust und Schultern, zerzaust, das Antlitz von Weinen geprägt, doch soviel bewegter und begehrenswerter als an dem unseligen Nikolausabend drei Wochen zuvor.
»Ich, ich wollte deinen Mann warnen«, stammelte Rupp, überrumpelt von ihrer Attacke ebenso wie von ihrer leidenschaftlichen Schönheit. »Der Schultheiß weiß –«
»Er weiß gar nichts! Aber das kümmert euch ja nie!« Anna hielt etwas in der Hand. Zu spät erkannte Rupp, was es war. Schon flogen gebackene Lehmklumpen mit Kieseln gemischt an seinem Gesicht vorbei. Rupp riss den Arm hoch, um sich vor dem Hagel zu schützen.
»Bitte, ich möchte mit ihm sprechen.«
»Er ist fort, hast du nicht gehört?« Sie wischte sich über die Augen. Ein Jungenkopf schob sich hinter ihr durch den Türspalt, der älteste Sohn. Anna trieb ihn mit wilden Schlägen in die Stube zurück und knallte die Tür vor dem Knaben zu.
»Aber heute ist Weihnachten«, wandte Rupp lahm ein.
»Ach ja? Hat das etwa deinen Meister geschert, als er mit dem Schultheiß gesprochen hat? Wir feiern die Geburt unseres Erlösers, aber wen von euch kümmert das noch? Ihr sprecht von Ketzerei und … « Sie brach ab.
»Bitte, lasst mich euch helfen.«
»Wir brauchen deine Hilfe nicht. Du hast schon genug getan.«
Ihre Augen irrlichterten über die zaunbegrenzte Flur, als ob sie erwartete, jeden Moment einen Trupp Landsknechte aus dem Wald hervorpreschen zu sehen, Weihnachten hin oder her.
»Wenn Thomas so hastig aufgebrochen ist, hat er bestimmt nichts mitnehmen können. Wenn er sich in den Wäldern versteckt, dann wird er Decken brauchen, warme Kleidung, Nahrung. Ich kenne mich aus im Wald, wirklich, ich kann ihn finden.« Rupp klammerte sich an den letzten Strohhalm, um irgendetwas richtig zu machen. »Ich bringe ihm alles, was ihr ihm schickt.«
Ein rundes Gesichtchen presste sich gegen das Glasfenster neben der Tür. Der jüngste Sohn, Martin, erinnerte sich Rupp. Wenn er Geld gehabt hätte, Rupp hätte seine ganze Schatztruhe vor Thomas’ Schwelle ausgeleert.
Anna starrte ihren Kleinsten durchs Fenster hindurch an. Der Junge legte seine Hände zum Gebet zusammen. In diesem Moment knickten die Beine der Hausherrin ein. Rupp sprang vor, um sie aufzufangen. Sie wehrte ihn ab, bevor er sie anfassen konnte. Keuchend stützte sie sich gegen die Hauswand.
»Bitte«, flehte Rupp, »lasst mich etwas tun.«
Erst dachte er, sie würde niemals antworten. Dann sagte sie: »Warte hier.«
Sie verschwand im Inneren. Eine Stimme begehrte auf, sicherlich die von Thomas, dem ältesten, nach seinem Vater benannten Sohn. Eine Hand klatschte gegen Haut, ein Aufschrei gefolgt von Stille. Kurz darauf schleppte Anna ein Bündel aus dem Haus. Sie schleuderte es Rupp entgegen, der den Beutel auffing, bevor er auf den festgetrampelten, von Rußflocken, Stroh und Holzstückchen gesprenkelten Schnee fallen konnte. Der Inhalt fühlte sich weich an – Decken, Kleidung –, doch Rupp spürte auch einen kleineren Beutel im Größeren, dieser mit festerem Inhalt: Schinken, womöglich ein Paar Schuhe. Das Bündel war unhandlich, jedoch nicht schwer. Rupp warf es sich über den Rücken.
»Sie sind zu viert«, murmelte die Bäuerin. »Thomas ist nicht allein. Gott sei Dank, er ist nicht allein.«
Rupp nickte. Jahre waren vergangen, seit wütende Bauernhaufen die Länder mit Krieg überzogen hatten, doch noch immer versteckten sich Geächtete in den Wäldern. Von Zeit zu Zeit entdeckte Rupp Spuren, die weder von Wilderern noch Jägern stammten. Manchmal glühten Feuer in aufgegebenen Burgen tief im Wald. Dann erzählten die Leute ihren Kindern Schauermärchen von Geistern und Schraten, derweil der Vogt Bewaffnete ausschickte, um die Gesetzlosen zu jagen.
»Es gibt eine Höhle.« Anna deutete nach Süden. »In der Nähe des Teufelstischs, wo der Bach zusammenfließt. Dort liegt eine Schlucht.«
»Sorgt euch nicht, ich werde ihn finden.«
Sie knabberte auf ihrem Daumen, zitterte. »Ich habe ihm gesagt, er solle euch nicht einlassen, dich und Nikolo. Vor allem Nikolo. Thomas, er meinte, wir huldigen zwar keinen Heiligen, aber unhöflich seien wir nicht.«
Speichel glänzte an ihrem Daumen. Sie spuckte Rupp vor die Füße. »Du wirst nie ein Mann werden wie mein Thomas. Es heißt, der größte Feind von einem Knecht ist ein anderer Knecht. Du, Rupp, du hast eine Knechtseele, verflucht sollst du sein!«
Rupp floh von dem Hof, als ob er vor einem Hagel Pfeile fliehen würde. Mit dem Bündel hoch über dem Rücken, wie um seinen Nacken zu schützen vor all dem Hass und der Verachtung von Thomas’ Familie. Erst als er in den Wald eintauchte, fand er wieder halbwegs zu Sinnen.
Rupp schwor sich, er würde alles wiedergutmachen.
Er wandte sich nach Süden. Schatten legten sich über ihn, aber es waren bloß Wolken, die das wechselhafte Spiel des Tages für sich entschieden und schwer beladen mit frischem Schnee von Westen heraufdräuten. Ihre Flocken würden Thomas’ Spuren auslöschen. Aber Rupp kannte den Teufelstisch, eine markante Felsansammlung am Rande eines dichten Waldgebiets mit steilen Hängen und finsteren Tälern, in denen der Winter harscher tobte denn irgendwo sonst.
Vor ein paar Jahren hatte Rupp dort Dienst für eine Jagdgesellschaft des Landesherrn leisten müssen. Tagelang war er dem Hochwild nachgestreift, hatte Spuren von Luchsen und Wölfen entdeckt, während die adeligen Herrschaften sich am Morgen für ein paar Stunden an den Waldrand begaben, um dort auf das Wild zu harren, welches die bäuerlichen Helfer ihnen zutrieben. Es war Erntezeit gewesen; die Bauern hatten die Adeligen verflucht. Sie verschwendeten ihre Zeit, sie riskierten ihre Ernte. Nur Rupp hatte sich nicht beklagt. Er hatte die Erlaubnis bekommen, für den Koch Niederwild zu jagen, ein Recht, das sonst nur Würdenträgern zustand. Niemand fragte bei solchen Gelegenheiten, woher sein Geschick im Wald rührte, seine Fähigkeit, Pfad und Richtung selbst bei Nacht oder Nebel zu bestimmen. Rupp seinerseits erzählte niemanden von seiner Kindheit am Rande des Waldes und dem geheimen Wissen seiner Mutter.
Der Schnee fiel in Flocken groß wie Pusteblumen. Die wenigen Menschen, denen Rupp auf der Straße begegnete, grüßten ihn frohgemut und empfahlen ihn Gott. Einmal bot ein Ehepaar an, ihn mit zu sich zu nehmen, Weihnachten in ihrer Stube zu verbringen, aber Rupp lehnte ab, behauptete, am Ende seines Wegs warte ein Feuer auf ihn mit Menschen, die ihm am Herzen lagen.
Er dachte an Thomas’ Buben. Wie der kleinste die geflickten Kleider der älteren Geschwister auftrug und an den Stolz des Ältesten. Sie hätten ihm vertrauen sollen, wie all die anderen. Sie waren gute Jungen, ehrlich, tapfer, sie trugen Sorge für einander. Sie hätten mit sauberen Fingern in den Sack mit den Geschenken greifen sollen. Stattdessen hassten sie ihn jetzt, und das Unrecht lag einzig bei ihm.
Knechtseele. Rupp war entschlossen, ihnen das Gegenteil zu beweisen.
Seine Fußspitzen pflügten durch mehliges Weiß. Je weiter er nach Süden kam, desto heftiger schneite es. Unterhalb der Anhöhe mit dem Teufelstisch wich Rupp von der Straße ab, um einem Pfad an einer Jagdhütte vorbei bachaufwärts zu folgen. Die hellen Bruchstellen frisch geknickter Zweige zeugten davon, dass er an diesem Tag nicht als erster diesen versteckten Weg nahm.
Die Dämmerung warf ihr Zwielicht, doch Rupp fiel es nicht ein, anzuhalten oder gar umzudrehen. Die Nacht schreckte ihn nicht, hatte sie noch nie. Nachtblind wurde nur der, dem die Angst einen Schleier bastelte, und der Wald war Rupps Zuhause.
Er erreichte den Zusammenfluss zweier Bäche und folgte dem Verlauf des schmaleren Zubringers stetig bergauf. Der Pfad endete, Wildwechsel begleiteten das zugeschneite Bachbett tiefer hinein in das Reich von Hirsch und Luchs. Die Landschaft wuchs zu steileren Bergen mit engen, der Wintersonne entzogenen Talböden. In schattigen Senken häufte sich vom Wind verblasener Schnee.
Der Bach schlängelte sich an Waldhängen mit vereinzelten Felstürmen vorbei. Rupp folgte einer Perlenschnur an hufgroßen Kuhlen das Bachbett entlang: Eis, das unter Pferdehufen gebrochen war. Ein Stück weiter bachaufwärts zweigte ein weiteres Rinnsal ab. Es führte hinein in eine Kluft, in der immerwährende Düsternis herrschte und ein Wasserfall zu eisigen Treppenstufen gefroren war.
Es hörte zu schneien auf. Kurz darauf entdeckte Rupp den Unterschlupf der Geächteten.
Ein Hund bellte eine Warnung, noch bevor Flammenschein die Lage der Höhle verriet, aber da hatte Rupp das Feuer bereits gerochen. Er blieb in einiger Entfernung stehen, rief laut seinen Namen, dass Thomas’ Frau ihn schicke. Er habe Decken, Kleider, Essen bei sich. Erst spät fiel ihm ein, dass die Männer ihn genauso gut erschießen mochten. Bestimmt hatten sie Armbrüste, vielleicht sogar Büchsen. Wer sagte eigentlich, dass die anderen Gesetzlosen auf Thomas hören würden? Falls Thomas überhaupt für Rupp sprechen würde.
Der Hund wurde schnell zum Schweigen gebracht. Zunächst antwortete niemand auf Rupps Rufen. Dann huschte ein Schemen schräg über ihm an der Felswand entlang. Der Mann trat Steine unter dem Schnee los, die in die Schlucht kullerten. Hinter einem Baumstamm kauerte er nieder. Glut glomm auf. Der Lauf einer Hakenbüchse richtete sich auf Rupp.
»Auf mein Wort hin zündet er die Lunte und knallt dich ab.«
Thomas stand unterhalb eines überhängenden Felsens, der ihre Höhle verbarg. Es war zu dunkel, um mehr als seine Umrisse auszumachen, dennoch ahnte Rupp, dass es besser wäre, an Ort und Stelle stehenzubleiben. Er hob das Bündel von seinem Rücken hoch über den Kopf, bevor er es betont langsam zu seinen Füßen ablegte.
»Deine Frau schickt dir das.«
»Wieso sollte Anna ausgerechnet dich schicken?«
»Weil ich etwas gutzumachen habe.«
»Das hast du allerdings. Jetzt hau ab.«
»Nikolo hat dir Unrecht getan, und ich werde es ihm beweisen!«
»Nikolo kümmert mich nicht. Du verschwendest meine Zeit, Knecht.«
»Ich habe mir überlegt …« Rupp kaute auf den Lippen. Er hatte sich gar nichts überlegt. Er war auf dem ganzen Weg mit seinem schlechten Gewissen beschäftigt gewesen, seinem Groll gegen Nikolo und dem, was die Bäuerin ihm an den Kopf geworfen hatte.
»Ich könnte für euch jagen«, bot er an. »Ich kann Wild jagen, ohne dass jemand meine Spuren findet. Ich kenne die Wälder.«
Er malte sich aus, wie er ein Wildschwein zu Thomas und seinen Freunden schleppte. Wie ihre ausgezehrten Gesichter aufleuchteten, und Thomas’ Frau nicht um ihren Mann fürchten musste, weil er selbst im erbittertsten Winter genug zu essen bekam und auf einem Berg Felle schlief.
Der Schatten mit der Büchse höhnte: »Vielleicht kann der Grünschnabel ja auch Garn um Schneckenhäuser wickeln.«
Ein dritter Mann reichte Thomas einen brennenden Kienspan. Thomas kam auf Rupp zu. Er trug noch sein Sonntagshemd, darüber ein Wams mit verzierten Knöpfen und eine Schaube, die sich in der Kirche gut machte, aber nicht in einer Höhle im Dezemberwald.
Thomas bückte sich nach dem Bündel seiner Frau. Strich über die Oberfläche des Sacks, befühlte das Innere, atmete den am Stoff haftenden Geruch nach Schinken, Heim und warmer Stube ein.
»Ich kann mehr für euch besorgen, wenn ihr wollt. Essen, Kleider, Decken«, sagte Rupp.
Thomas schlang sich den Riemen über die Schultern und wandte sich ab.
»Geh nach Hause, Junge. Hier braucht dich keiner.«
Rupp stolperte durch die Nacht. Ziellos, richtungslos.
Sie brauchten ihn also nicht. Sie hielten ihn für nutzlos.
Seit sein Vater gestorben war, hatte Rupp keine solche Ohnmacht mehr gefühlt. Bitterkeit und Selbstverachtung warfen ihren Mantel über ihn, bis er kaum mehr seine Umgebung wahrnahm.
Dich braucht keiner. Geh nach Hause, Knecht.
Rupp stöhnte auf. Er hieb gegen einen Ast und entlud dabei eine Ladung Schnee in seinen Nacken. Selbst der Wald versagte ihm seinen Trost. War der Schnee auf dem Hinweg sein Freund gewesen, legte er sich nun wie ein Gewicht um Rupps Füße. Schneebällchen klumpten an Wollfäden, krochen in wadenhohe Stiefelschäfte. Immer wieder brach er bis zu den Oberschenkeln ein, und sein Drang, sich in der Winternacht zu verlieren, wurde mit jedem Stolpern, jedem Herauswühlen aus einem weiteren Schneeloch größer.
Die Nacht schritt fort, aber es kümmerte Rupp wenig. Nikolo würde ihn kaum vermissen. Rupps Meinung bedeutete ihm nichts. Nichts an ihm bedeutete irgendwem irgendetwas.
Unbeachtet von Rupp riss die Wolkendecke auf. Handschuhe überfroren, Hosenbeine schabten über Stiefelriemen, deren Leder versteifte. Gefangen in Selbstmitleid bemerkte Rupp nicht, wie der Schnee sich in zunehmender Kälte umzuwandeln begann. Kristalle wuchsen, bildeten kantigere Formen. Sie raschelten unter Rupps Schritten, wisperten eisigen Spott.
Er wühlte sich hangaufwärts. Flüchtete sich in die Anstrengung, das unwegsamste Gelände zu bezwingen, dort zu wandeln, wo sich niemand anderes hinwagte. Auf der Kuppe erstreckte sich einsamer Winterwald in alle Richtungen. Er könnte schreien, toben, all seinen Zorn hinausbrüllen, nur die Tiere würden ihn hören und sich wundern.
Am jenseitigen Hang jagte Rupp in weiten Sätzen hinab, immer schneller und halsbrecherischer, bis sich sein Fuß an einem Ast unter der Schneedecke verfing. Er überschlug sich und prallte mit dem Schädel gegen einen Stamm.
Der Schlag brachte ihn zur Besinnung. Seine Zehen in den Stiefeln fühlten sich steif an, die Wolken waren verflogen. Mondlicht enthüllte einen Pelz aus Reif auf seinen Handschuhen. Der Wald lag eingefroren, als hätte sich die Zeit dem Winter ergeben.
Diese Gegend hatte er nie erkundet. Ein enger Streifen Talgrund, umgeben von abweisenden Hängen. Rupps Spur pflügte eine Narbe in die Schneeflanke hinter ihm. Am gegenüberliegenden Hang brach sich der Mond auf eisüberkrusteten Felsen. Dazwischen schimmerte es heller, wo sich der Wald zu einer Lichtung öffnete.
Dann schnaubte ein Pferd.
Rupp richtete sich so langsam auf, als schaffe er sich neu aus Erde und Nacht. Nicht ängstlich, doch wachsam, denn wer sollte sich in einer Rauhnacht wie dieser so tief in den Wald verirren? Wildfrevler jagten vor dem Schneefall, damit der Schnee ihre Spuren verwischte. Oder versteckten sich in diesem Tal weitere Aufständische?
Rupps Sinne suchten die Einheit mit dem Wald, erspähten eine Linie zwischen den Bäumen hindurch. Auf einmal fanden seine Füße wieder zuverlässigen Tritt, setzten eine Fährte, wie sie auch ein Wildtier in den Schnee zeichnen würde: schmal und von gleichmäßiger Tiefe.
Am Rande der Waldlichtung schufen tiefhängende Fichtenäste ein Zelt aus Tann, Schnee und weiß bekleckstem Nadelgrund. Rupp bog zwei Äste auseinander, so sachte, dass selbst ein geübtes Auge die Bewegung in der Nacht kaum hätte wahrnehmen können. Auf der freien Fläche vor ihm durchbrachen sturmgeknickte Baumstümpfe den glitzernden Winterteppich.
In der Mitte der Lichtung riss der Teufel an den Zügeln seines Rosses.
Der Mond stand schräg gegenüber, weshalb der Schatten des Leibhaftigen seine Hörner in Rupps Richtung zu stoßen schien. Das lederne Gesicht richtete sich gen Nachthimmel, stieß ein gutturales Brüllen aus, das Rupp in Grausen auf die Knie riss. Beinahe hätte er vor Furcht selbst aufgeschrien.
Auf das teuflische Gebrüll folgte ein Fluch. Satansvieh!, glaubte Rupp durch das Rauschen in seinen Ohren zu verstehen.
Der Teufel zerrte erneut am Zaumzeug. Das Schlachtross stieg und warf seinen Schädel den Zügeln entgegen, doch der Höllenfürst zwang es zurück auf alle Viere. Bei dem Ruck hatten sich jedoch seine Hörner gelöst. Sie purzelten über den Rücken des Leibhaftigen und die Flanke des Pferdes hinab, bis sie sich schließlich mit den Spitzen voran in den Schnee bohrten.
Aus Rupps Mund entwich der Atem mit einem Zischen. Der Reiter vernahm das Geräusch bloß deshalb nicht, weil er noch immer mit seinem Hengst kämpfte. Mit einer Hand versuchte er, den Destrier zu zügeln, während die andere an der verrutschten Maske zerrte. Unterdessen glitt vor ihm auf dem Sattel eine Last zur Seite: lange Beine, Hufe, ein schlanker Hals und stierende Augen. Ein totes Reh.
Und noch immer wurde es kälter.
Frostwind seufzte über die Lichtung, wirbelte Schneekristalle auf, die rund um Pferd und Reiter tanzten. Bäume knarzten in seinem Echo, und auf Rupps Lippen gefror der Speichel. Hätte er den Blick gewandt, hätte er beobachten können, wie rund um die Lichtung Raureif auf Zweigen und Nadeln wuchs. Aber Rupp konnte an nichts denken, außer dass er vielleicht doch nicht verdammt war, auf nichts anderes achten denn auf den jetzt eindeutig menschlichen Reiter und dessen störrisches Ross aus Fleisch und Blut.
Bis die Frau auf die Lichtung glitt.
Es war ihr Lachen, das sie ankündigte. Klar wie Eiszapfen, die gegen das Glas eines Kirchenfensters klirrten. Einen Herzschlag später trat sie zwischen den Bäumen hervor. Hochgewachsen, mit schattenbeflecktem Haar im Mondlicht so silbrig hell, dass Rupp nicht sagen konnte, ob es weiß war oder blond, ob die Frau alt war oder jung. Eine Vogelmaske bedeckte ihr Gesicht bis zur Hälfte: braun-weiße Federn, ein gebogener Schnabel. Uhu.
Bei ihrem Anblick scheute das Pferd erneut. Sein Reiter schleuderte der Frau einen Fluch entgegen, den sie mit Heiterkeit erwiderte. Sie sagte etwas, was Rupp über die Entfernung nicht verstand, wohl jedoch die Antwort des Mannes – eine Verwünschung so schamlos, dass sie Rupp die Röte in die Wangen trieb.
Ein noch helleres Lachen, bei dem Schneekristalle von den Bäumen rieselten, dann drehte sich die Frau um. Eine schmale, langgliedrige Hand hob sich zum Gruß über die Schulter. Leichtfüßig schritt sie zurück in den Winterwald, als wöge sie nicht mehr als ein Fuchs, und der sonst so arglistige Schnee versagte sich, ihre Tritte zu narren. Einen Atemzug später war sie fort, und die Welt wurde erneut eine Schattierung dunkler.
Der Reiter brachte sein Ross unter Kontrolle. Ungestüm trieb er es zu einem Satz über die nächste Schneewehe. Sporen blitzten, die Vorderhufe wirbelten Flocken auf. Dann brach der rechte Lauf bis zur Brust ein. Knochen knackte. Schrill wiehernd kippte das Pferd zur Seite und begrub seinen Reiter unter sich.
Bevor Rupp sich versah, trat er hinaus in die Offenheit der Lichtung. Das Mondlicht badete seine Gestalt und klebte ihm einen Schatten an die Fersen, während er zu dem gefallenen Schlachtross eilte.
Schaum sprühte vor dem verdrehten Maul; wild rollende Augen entblößten das Weiß. Der Hengst bäumte sich ihm entgegen. Rupp drückte seinen Hals zurück, murmelte beruhigende Worte. Schweiß bedeckte das Fell. Der rechte Vorderlauf des Rappen stak in einem unnatürlichen Winkel im Schnee. Wahrscheinlich war er unter einen umgestürzten Baum oder in ein Loch geraten und gebrochen. Stolz und Stärke gefällt von einem einzigen falschen Tritt.
Der Reiter, halb verschwunden unter Schnee und Pferd, war nur wenige Jahre älter als Rupp. Im Mondhell graue Augen traten vor Anstrengung aus den Höhlen, da er versuchte, sich von der Last des Pferdes zu befreien. Das Tier klemmte sein Bein ein. Es schrie noch immer und versuchte, sich aufzurichten. Rupp hielt es unten, denn der Fremde brüllte vor Schmerz oder aus Furcht, das Tier würde weiter über ihn rollen und ihn im Schnee ersticken. Schon jetzt schnappte er nach Luft und ruderte wie ein Ertrinkender.
Rupp versuchte, den anderen am Arm herauszuziehen, doch vergebens. Der Schnee, den sie bei ihren Bemühungen aufwühlten, begann nach Metall zu schmecken. Blut. Ein offener Bruch. Dem Destrier konnte niemand mehr helfen.
Rupp zog seine Fäustlinge aus und trat an den Hals des Hengstes heran. Er hob das Messer, damit der andere seine Absicht erkennen konnte. Die Schneide schimmerte im Mondschein wie Wasser. Der Reiter grunzte seine Erlaubnis.
Rupp durchtrennte die Halsschlagader des Pferdes. Schnee färbte sich dunkel, schmolz rasend schnell unter dem Blutschwall. Die Hufe zuckten, dann lag das Tier still. Der Nachthimmel in seinen Pupillen erlosch. Vor Erleichterung erschlaffte auch der Reiter.
»Ich geh einen Hebel holen«, sagte Rupp. »Hast du Schmerzen?«
Der Bursche mit dem lehmfarbenen Haar schüttelte den Kopf. »Beeil dich trotzdem!«
Rupp lief zurück in den Wald. Am Hang, wo der Boden im Sommer weniger Wasser band, reihten sich junge Buchen. Rupp fällte eine, entfernte grob die Äste und eilte mit dem Stamm zurück zur Lichtung, wo Blutgeruch der Nacht jeglichen Zauber raubte.
Der Reiter hatte den Schnee um seinen Oberkörper herum aufgeworfen wie ein Maulwurf die Erde um seinen Bau. Doch es nutzte nichts, noch immer klemmte sein Bein unter dem Schlachtross fest. Er mühte sich, zur Seite zu rutschen, damit Rupp die Stange weit unter die Pferdebrust schieben konnte.
»Jetzt!«, japste der Fremde. Rupps Beine bohrten sich tief in den Schnee. Muskeln spannten gegen Kleider, als Rupp keuchend den Pfosten wuchtete. Der Pferdeleib hob sich ein Stück. Der Reiter strampelte und griff nach Rupps Beinen, um sich an ihm herauszuziehen. Noch im Aufrappeln betastete er seinen Unterschenkel.
»Hol mich die Pest, das hätte bös enden können.« Er taumelte zu einem Baumstumpf und sackte dagegen.
Die beiden jungen Männer beäugten sich. Dem Fremden musste es scheinen, als trachtete die Nacht danach, all ihre Schwärze an Rupp anzuhaften, denn er bemerkte: »Da hat mir der Herr heut aber seinen düstersten Engel geschickt.«
Rupp grinste. Übermut folgte auf Furcht.
»Ich hab dich erst für den Teufel gehalten. Hab mir fast in die Hosen gemacht.«
»Den Teufel, was – achso, die vermaledeiten Hörner. Wo sind die eigentlich gelandet?«
Rupp zog den Kopfschmuck aus dem Schnee. Die gekrümmten Widderhörner saßen auf einer Holzschale mit Löchern für die Riemen. Er klopfte sie ab und hielt sie dem anderen hin.
»Ich heiße Rupp.«
»Krampus.« Der jetzt rosslose Reiter stülpte sich die Kopfbedeckung probehalber über. Die Hörner warfen dolchförmige Schatten auf Rupps Gesicht, der sich fragte, wie er den Kerl jemals für den Leibhaftigen selbst hatte halten können.
»Schau dir diese Lumpenarbeit an. Ich muss jemanden finden, der mir was bastelt, damit das Ding besser hält. Sonst endet Schrecken im schrecklichen Gelächter.«
Rupp hatte bei dem dämonischen Namen, mit dem sich der andere vorgestellt hatte, zu grinsen begonnen, aber jetzt klappte er den Mund wieder zu. »Wozu trägst du sie?«
»Sag ich doch: um Schrecken zu verbreiten. Siehst ja, wie’s geklappt hat. Mit dem Ding kann ich mich gleich Hans Worst nennen. Verdammte Pfuscher!«
Krampus öffnete den Bauchgurt seines Rappen und zerrte den Sattel unter dem toten Tier hervor. Ein Bündel hing daran: ein Überrock mit einem unregelmäßigen Kragen, wo eine Pelzverbrämung abgeschnitten worden war. Darin eingewickelt lag eine Armbrust. Krampus warf sich die Schaube über, die Armbrust hängte er sich an einem Riemen über den Rücken. In seinem Gürtel steckte ein Dolch mit silbertauschiertem Griff.
Krampus schien kein Interesse daran zu haben, das Zaumzeug abzunehmen, obwohl es aus gutem Leder war. Daher zog Rupp dem Pferd die Riemen über den Kopf. Er hätte Krampus gerne gefragt, woher dieser Destrier mit der stolzen Stirn und einem Temperament für Schlachten und Turniere stammte. Doch die Frage hätte Krampus in die Ecke eines Verbrechers gestellt. – Was er auch war, wenn er in diesen Wäldern wilderte.
Krampus folgte Rupps Blick zu dem erlegten Reh. »Ich hätte gleich das Pferd schlachten sollen. Kann niemand behaupten, diese Satansbrut hätte nicht gekriegt, was sie verdient.«
Ihm schien eine Idee zu kommen. Ein zweites Mal musterte er seinen Retter, wie er wohl auch einst das Pferd gemustert hatte. »Du bist stark, Rupp, eh? Du hast mir einen guten Dienst erwiesen. Hilf mir noch ein zweites Mal und trag mir das Reh zu unsrem Lager.«
»Ihr habt ein Lager? Du und diese Frau?«
»Also hast du sie gesehen. Naja, ich kann’s dir nicht übelnehmen, weil du dich versteckt hast. Teufelsweib. Die Schlimmste von uns allen. Völlig irre.«
»Ihr seid mehrere?«
»Vier. Die vier Schrecken der Wälder.«
»Wilderer?«
Krampus’ Grinsen entblößte einen schiefen Eckzahn. »Besser. Die Wilde Jagd.«
Rupp hatte sich niedergekniet, um sein Messer im Schnee zu reinigen, doch bei Krampus’ Antwort vergaß er die Klinge.
Die Wilde Jagd. Erst letzte Woche hatte der Pfaffe von falschen Götzen gezetert, die in manch verstecktem Weiler überdauerten. Von Heidentum, das sich in sündigen Erinnerungen der Großeltern verbarg. Die Jungen sollten sich hüten, denn der Teufel lauere hinter vielgesichtigen Masken, in einem scheinbar harmlosen Kreis aus Holunderblüten, den ein Mütterchen um seine Stube zog, oder in der Schüssel Hirsebrei, die sie in den Rauhnächten vor die Tür stellte.
Rupp selbst erinnerte sich an all diese Dinge – Zauber, kleine Gaben an Kobolde und alte Gottheiten – von früher. Seine Mutter hatte zu Beginn der Rauhnächte ihr Spinn- und Webzeug beiseite geräumt und ihr Heim vorbereitet: nicht nur auf das Fest der Geburt von Jesus Christus, sondern ebenso auf die Ankunft der Geister aus Alter Zeit. Wenn der Sturm Eiskörner durch die Türritzen blies, hatte sie ihren Sohn vor dem Wüten der Wilden Jagd gewarnt, dem Geisterzug, der jene Seelen mit sich riss, die sich zur falschen Zeit draußen aufhielten.
Schau niemals hin, Sohn, wenn das Dämonenheer vorbeizieht. Sonst kommen sie dich holen.
»Was denn, so erschrocken, Ruppilein? Ich dachte, du wärst aus härterem Holz geschnitzt. Tja, im Antlitz des Abenteuers trennt sich die Spreu vom Weizen«, spottete Krampus, da Rupps Reglosigkeit andauerte.
»Nun denn, hab dank und leb wohl! Das Reh kannst du behalten.«
Krampus schwang sich seinen Sattel über die Schulter, verbeugte sich schwungvoll vor Rupp, dann machte er sich pfeifend mit seinen Teufelshörnern unter dem Arm auf in die Richtung, in welche die silberne Frau verschwunden war.
Kurz darauf kniete Rupp allein auf der Lichtung. Sorgfältig reinigte er sein Messer im Schnee. Die Klinge fing das Mondlicht ein, ohne es zu spiegeln. Nichts gab es darin zu lesen, keine Geschichten, keine besonderen Taten. Einfaches Eisen und nicht einmal besonders gutes. Ein Bauernmesser, ganz anders als der Dolch an Krampus’ Gürtel.
Rupp prüfte die Schneide. Sie begann abzustumpfen. Dieses Messer, es war wie er.
Rupp erhob sich und warf sich das tote Reh über die Schultern. Der Armbrustbolzen stak noch in der Brust; Krampus musste unterhalb des Tiers gestanden haben, als er es erlegt hatte. Rupp packte Vorder- und Hinterläufe, damit die Hufe ihm nicht gegen den Bauch baumelten, und lief los.
Er holte Krampus am Bachufer ein.
»Scheint, als hätte ich mein Pferd gegen einen Knecht getauscht«, lachte Krampus und klopfte Rupp auf die Schenkel. »Von der Kraft scheint’s keinen Unterschied zu machen, aber vielleicht von der Sturheit.«
»Deine Hörner. Ein Kinnriemen allein reicht nicht. Du brauchst einen Stirnriemen dazu.«
Rupp ging in die Hocke. Er zeichnete Linien in den Schnee, die einen sich zu einem Dreieck öffnenden Satz Riemen darstellen sollten. »Du kannst ihn aus dem Zaumzeug schneiden, wenn du es eh nicht mehr brauchst.«
Krampus warf einen Blick auf den Entwurf. Sein Gesicht war feingliedrig wie Nikolos, deshalb redete seine gehobene Augenbraue ebenso deutlich wie ein Buch. Es war alle Anerkennung, die Rupp brauchte. Befriedigt verwischte er seine Zeichnung mit dem Fuß. Seite an Seite liefen sie weiter.
Unter einer Eisschicht gurgelte Wasser. Krampus nahm Anlauf und setzte über den Bach. Am anderen Ufer wanderte er auf und ab wie ein Dachshund auf einer Fährte.
»Keine Spur von dem vermaledeiten Weib.«
»Wer ist sie?«
»Die hätt mich hier krepieren lassen. Hast du gehört, wie sie mich ausgelacht hat? Ha, schau! Da drüben bin ich hergeritten. In einer viertel Stunde sind wir beim Lager, dann gibt’s was zu beißen.«
Sie folgten Krampus’ Spur in entgegengesetzter Richtung. Der eine mit Teufelshörnern unter dem Arm, der andere mit einem Reh um den Nacken. Sie sprachen nicht viel, für Rupp war es jedoch ein kameradschaftliches Schweigen. Der Tag mit seinen Demütigungen, der Beginn der Nacht mit Thomas’ Ablehnung rückten in weite Ferne, da Rupp in Gedanken vorauseilte zu dem Lagerfeuer, das Krampus versprochen hatte, zu Wärme, einer guten Geschichte geteilt mit Krampus’ Gefährten und saftigem Fleisch. Er hungerte nach allem.
Sie näherten sich einer vom Frühjahrswasser ausgewaschenen Mulde, wo Feuerschein auf Nadeln tanzte. Dort erhob sich unter ihnen die geschmeidige Gestalt der Frau, die Rupp zuvor auf der Lichtung erblickt hatte. Mit Haaren jetzt im Flammenlicht golden statt silbern, die Züge jung und scharf. Bei ihrem Anblick verkroch sich Rupps Hunger hinter sein plötzlich heftig hämmerndes Herz.
Sie glänzte. Wie Bergkristall oder die Mittagssonne auf einem Vogelschnabel. Schnee auf den Gipfeln im Frühjahr. Die Tropfen eines Wasserfalls, die der Wind zum Himmel tanzen ließ. Dann flackerte das Feuer, und ihr Gesicht mit seinem Mantel aus Feenhaar fiel zurück in Schatten.
In Bann geschlagen stolperte Rupp einen Schritt vorwärts. Er wäre wahrscheinlich mit einem Klumpen bröckelnder Erde über den Rand der Senke gestürzt, wäre nicht im selben Moment aus dem Boden vor ihm der zweite Teufel dieser Nacht hervorgefahren.
Schwarzes Fell, lodernde Augen. Reißzähne, entblößt im bestialischen Knurren. Die gekräuselte Schnauze witterte Blut. Eine Pfote schob sich vor, tastend im Schnee kurz vor dem Absprung. Rupp riss die Arme hoch, um sich zu schützen. Dieses Tier schien aus den Kohlen der Hölle selbst geboren zu sein, bereit, sich auf ihn zu stürzen, seine Fänge in Rupps Kehle zu bohren.
»Lass dich nicht ins Bockshorn jagen, das Vieh ist gefärbt.« Krampus schob sich an Rupp vorbei. »Teufel nochmal, Perchta, du hast mich schon meinen Gaul gekostet. Jetzt pfeif deinen Köter zurück, bevor er unserem Knecht hier ans Bein pisst!«