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Das Erbe der Rauhnacht

Roman

von Birgit Jaeckel (Autor:in)
304 Seiten

Zusammenfassung

In den Rauhnächten öffnen sich die Grenzen zwischen den Welten.

Im 16. Jahrhundert sucht die Wilde Jagd in den Rauhnächten Dörfer und Klöster heim. Trotz der Gefahr, als Verbrecher verfolgt zu werden, schließt sich der junge Knecht Rupp der Bande um Krampus an. Doch die wahre Anführerin der Wilden Jagd ist Perchta – geheimnisvoll, widersprüchlich, unnahbar. Rupp setzt alles daran, die Anerkennung seiner Gefährten und Perchtas Gunst zu gewinnen. Dabei stammen sie aus Welten, die weiter voneinander entfernt nicht sein könnten, und ihre Gegner sind mächtig ...

Die Geschichte eines Knechts, der eine Göttin liebte und zur Legende wurde. Historische Fantasy zwischen Gestern und Heute.

AUSGEZEICHNET MIT DEM SERAPH 2019!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Buch


Der sechste Dezember. Ein düsterer Fremder schleppt sich zu einem versteckten Bauernhof im Wald. Trotz ihrer Angst pflegt Sophie den alten Wanderer. Er nennt sich Ruprecht, und er erzählt ihr vom Beginn einer Legende:

Im 16. Jahrhundert sucht die Wilde Jagd in den Rauhnächten Dörfer und Klöster heim: ein letztes Aufbäumen alter heidnischer Bräuche. Gegen den Willen seines Meisters Nikolo und trotz der Gefahr, als Verbrecher verfolgt zu werden, schließt sich der junge Knecht Rupp der Bande um Krampus an. Die wahre Anführerin der Wilden Jagd ist jedoch Perchta – geheimnisvoll, widersprüchlich, unnahbar. Rupp setzt alles daran, die Anerkennung seiner Gefährten sowie Perchtas Liebe zu gewinnen. Doch sie stammen aus Welten, die weiter voneinander entfernt nicht sein könnten, und ihre Gegner sind mächtig.

Im Heute neigt sich Ruprechts Zeit ihrem Ende zu. Auch für Sophie mit ihrem dunklen Geheimnis entscheidet sich an Weihnachten Leben und Tod. Denn in den Rauhnächten öffnen sich die Grenzen zwischen den Welten ...

In Alter Zeit begleiteten düstere Gesellen Sankt Nikolaus. Sie trugen viele Namen an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeiten: Krampus, Pelznickel, Hans Muff, Schmutzli, Zvarte Piet und …

Knecht Ruprecht.


Haben Deine Eltern Dir von Knecht Ruprecht erzählt? Hast Du nach ihm Ausschau gehalten zwischen den Bäumen in winterlicher Nacht?

Fürchte ihn nicht, solange Dein Werk gerecht war. Bange hingegen, sofern Du Unrecht tatst. Wenn Du Dich verbargst, da andere schafften. Dich geizig zeigtest, wo andere Sorge trugen.


Denn wisse:

Knecht Ruprecht dient den Gerechten.

Und er kommt nicht allein.

– Marians Chronik.

1 – Heute …


Er kommt aus dem Wald. Düster und hünenhaft wie ein gebeugter grauer Bär, den das Tann auf die Lichtung spuckt. Sophie hatte sein Nahen nicht bemerkt, bis das Rascheln des Reisigs am Übergang von Wald zu Wiese sie erstarren ließ.

Zum Glück hat sie den Hund im Haus gelassen, sonst hätte der sie bereits verraten. Auch sonst deutet nichts auf Leben hin: Die Lichter sind ausgeschaltet bis auf eine Lampe im Wohnzimmer, aber deren Schein ist zu schwach, um durch die Ritzen des Fensterladens in die junge Dämmerung zu entwischen. Im Kamin glimmt nur noch Glut. Das Haus ruht still – ein einsames Gehöft umgeben von Wiese, wo das Gras vom Sommer stehengeblieben ist und sich unter der Last der Jahreszeit beugt.

Das Gras …

Mit hämmerndem Herzen verfolgt Sophie ihre Spuren von der Veranda über den zugewucherten Fahrweg bis zu ihrem Versteck hinter dem Apfelbaum. Immerhin ist sie nicht in die grasige Mitte getreten, bloß auf die festgetrampelte Fahrrille. Nur ein geübtes Auge würde die millimetergroßen Ränder erkennen, wo Sophies Gewicht Steine verschoben hat. Das lässt sie hoffen – bis ihr Blick auf die Tür fällt, vor der zwei alte Stiefel stehen.

Beinahe geben ihre Knie nach. Sie hätte die Stiefel nicht rausstellen sollen.

In der Mitte der Wiese hält der Fremde inne. Er richtet sich auf. Die Kapuze seines Mantels fällt zurück und enthüllt eine Mähne, in der sich die Schlacht von Schwarz und Grau bereits entschieden hat. Die Haare sind am Ansatz feucht, nicht vom Nebel, sondern von Schweiß. Düstere Augen fixieren das aufgeschichtete Holz zwischen den Apfelbäumen, hinter denen Sophie kauert. Sein Husten ist so modrig wie das Gras.

Sophies Herzschlag dröhnt in ihren Ohren. Ein Wunder, dass der Fremde das Hämmern nicht hört.

Der Fremde rückt das Bündel auf seinen Schultern zurecht, greift seinen Wanderstab fester und schleppt sich weiter in Richtung Haus. Sein schwerfälliger Gang pflügt eine Schneise durch die Wiese. An den Apfelbaum gepresst betet Sophie: Lass bloß den Hund still bleiben. Lass kein Geräusch aus dem Inneren des Hauses sie verraten. Lass diesen düsteren Alten verschwinden, bevor er die Stiefel bemerkt, die trocken und sauber auf Bescherung harren.

Als Sophie das nächste Mal zwischen Stamm und Brennholzstapel hindurchlinst, hat der Alte die Eingangstür erreicht und beugt sich über die Stiefel. Das Bündel auf seiner Schulter verrutscht. Er versucht, es aufzufangen, taumelt und fällt auf den Wanderstab, der unter ihm zerbricht.

Der Sack schabt über die morschen Verandabohlen. Der Mann zieht ihn zu sich, versucht, sich hochzudrücken. Er winkelt die Beine unter den Körper, tastet nach der Wand. Die Nacht strömt herbei und löscht seine Konturen aus. Haare, Mantel und Sack verschwimmen.

Er ist verletzt. Oder krank. Sophie wappnet sich gegen das Mitleid, mahnt sich selbst: Lass das nicht deine Sorge sein! Er darf sie nicht entdecken. Sie ballt die Faust und bohrt die Fingernägel in das Daumenfleisch.

Der Alte hat es auf die Knie geschafft. Seine Finger strecken sich nach den Stiefeln. Ein Hustenkrampf schüttelt den Rumpf. Sophie macht einen halben Schritt vorwärts. Schon tastet sie in Gedanken seinen Körper ab, fühlt kaltschweißige Haut, misst den Puls. Aber Furcht lässt sie innehalten. Es ist zu gefährlich. Sie darf ihr Versteck nicht verraten.

Bitte steh auf, alter Mann! Schlepp dich weg von hier.

Er kann sterben im Wald. Die Temperaturen purzeln rascher als das letzte Laub; der Weg bis zur Straße ist weit. Herbstnebel quillt zwischen kahlem Laubgeäst und immergrünen Nadeln, greift über die Wiese, fröstelt in Sophies Knochen. Sie ist ohne Handschuhe und Jacke nach draußen gegangen. Wieso auch nicht, sie wollte nur eben ein paar Holzscheite holen.

Der Haufen aus verfilzter Wolle, Lederflicken, abgelaufenen Stiefeln, grauem Bart und Mähne müht sich auf die Füße. Die Anstrengung lässt den Alten japsen. Die Rechte presst gegen seine Brust, ein Husten schüttelt ihn.

Sophie legt den Kopf in den Nacken, blickt in den Himmel. Es wird nicht schneien, noch nimmt der Winter erst Anlauf. Die Feuchtigkeit, jedoch, sie zermürbt. Verdammte Friedhofskälte. Sie weiß: Der Fremde braucht eine trockene Stube. Wärme. Dieses Wetter zerstört selbst Gesunde.

Sie kann es nicht tun. Zu riskant. Wo könnte sie hin, nachdem sie ihm geholfen hat?

Als ob sie noch irgendwohin könnte. Es ist bereits zu spät, da macht sich Sophie keine Illusionen. Ihre Welt hat sich längst auf einen einzigen Wunsch verdichtet: weiße Weihnachten, ein Baum mit Kerzen, ein letztes Lächeln kindlicher Freude.

Das Fenster zur Küche auf der anderen Gebäudeseite schließt nicht richtig. Wenn sie vorsichtig ist, die Lichtung im Wald umrundet und sich dem Haus von hinten nähert, wird der Fremde gar nicht merken, wie sie sich hineinschleicht. Dann kann sie einfach warten, bis er verschwindet.

Oder bis er auf ihrer Schwelle stirbt.

Sie möchte ihre Verzweiflung in die Dezemberluft heulen, aber da gibt es nichts, was Sophie erhören würde, keine Macht, die ihr jemals Gnade erwiesen hätte. Stattdessen kratzen ihre Fingerspitzen ein Stück Rinde ab. Es fällt in die Kuhle, die ihre Füße ins rottende Laub gedrückt haben. Wann genau ist sie zu einem schlechten Menschen geworden?

Sie kann es nicht zulassen.

Bevor ihr Verstand die Entscheidung des Herzens zurückpfeifen kann, rennt Sophie hinüber zur Veranda. Den Alten scheint der Klang ihrer Schritte nicht zu überraschen. Er lehnt den Kopf gegen die Tür, seufzt und schließt kurz die Augen.

Er riecht nach nasser Wolle und Erde. Und Schnee. Der Gedanke huscht verlegen davon. Schnee liegt höchstens in den Bergen und die sind weit weg. Außerdem duftet Schnee nicht. Oder?

Sophie sinkt neben dem Fremden auf die Knie, greift nach einem Handgelenk. Seine Hände sind Pranken mit dunklen Härchen auf den Fingerrücken. Schwielig wie die eines Bauern, kräftig mit wenigen Altersflecken. Seine Haut ist etliche Nuancen dunkler als ihre, allerdings viel zu kühl. Alte Brandnarben übersäen Nagelbetten und Handrücken. Die Fingernägel sind sauber, der Puls ruhiger als erwartet. Schweiß dünstet unter dem Mantel hervor.

Er hält etwas in den Fingern. Unter Sophies Berührung öffnet der Alte die Faust wie eine Blüte. In der Handfläche ruht eine Walnuss.

Verblüfft blickt sie auf in Augen wie frische Kohle. Er hat eine lange, leicht gekrümmte Nase über einem breiten, von einem Vollbart umrahmten Mund. Sein Alter schätzt sie auf irgendwo Anfang sechzig. Als er spricht, rasselt sein Atem.

»Warst du denn artig?«

Sie kann keine Antwort geben. Plötzlich ist sie es, die keine Luft mehr bekommt. Die Frage, sie ist kein Scherz.

Er kann es nicht wissen. Sie muss sich den Satz vorsagen in Gedanken, dreimal, fünfmal. Ein Mantra, das sich gegen die Panik stemmt, gegen die tonnenschwer auf ihre Brust drückende Platte aus Schuld und Selbsthass. Die Krankenschwester in ihr schaltet hingegen auf Automatik: Ihr Körper weiß, was er tun muss, um dem Fremden zu helfen.

Sie schiebt sich unter die Achsel des Alten, hilft ihm, sich hochzudrücken. Er ist schwer; sie schwankt unter seinem Gewicht. Ächzend hält er sich am Türrahmen aufrecht. Sein Bauch pumpt und zuckt, weil er den Hustenreiz unterdrückt. Er will sich nach seinem Bündel bücken – ein Säcklein aus braunen Hanffasern wie aus einem Kindermärchen –, doch der nächste Hustenanfall schleudert ihn gegen die Hauswand.

Aus dem Inneren des Hauses ertönt gedämpftes Wuffen. Krallen tippeln über eichene Dielen. Hastig, bevor der Alte denken könnte, dass es da drinnen irgendetwas für ihn geben könnte, fragt Sophie: »Wo wollen Sie heute noch hin?«

Sie stehen da wie zwei Liebende in ungeschickter Umarmung. Sein Gesicht mit den kräftigen Zügen wendet sich dem Nebel zu, als läge dort die Antwort. Dann erschüttert der nächste Hustenanfall seinen Körper. Es fühlt sich an wie ein Erdbeben. Abermals knicken seine Knie ein.

Es geht einfach nicht. Sie kann sich nicht um ihn kümmern. Aber sie kann es auch nicht verantworten, ihn in die Nacht davonzuschicken. Sophies Gedanken flattern zu Medikamenten, Antibiotika, Kortisonstößen, Beatmungsgeräten.

Ich werde ihm keine Hilfe holen. Er muss selbst zur Straße gehen.

»Eine Nacht«, hört sie sich sagen. »Sie können bis morgen bleiben. Es gibt eine kleine Kate.« Sie deutet in Richtung Wald.

Er scheint ihr Angebot zu überdenken. Schließlich nickt er.

Sophie greift nach seinem Beutel. Etwas bewegt sich darin, wie kleine Kiesel, nur leichter. Gedämpftes Klacken. Der Hüne nimmt ihr den Sack ab. Seine Zehen stoßen gegen den zerbrochenen Stecken.

»Warten Sie!« Sie spurtet um die Hausecke. Unter einer verrosteten Badewanne ragt das Ende eines Hirtenstabs heraus. Sie eilt damit zu dem Fremden zurück. Seine Finger schließen sich um den Schaft; er brummt zufrieden. Sophie schlingt ihm von der anderen Seite einen Arm um die Hüfte. »Es ist nicht weit. Gleich zwischen den Bäumen.«

Es wird ein langer Weg.

Sophie schrumpft unter dem Gewicht des düsteren Hünen. Nieselregen setzt ein, kühlt ihre Schläfe. Am Rande der Lichtung wirft Sophie einen Blick zurück zum Haus, dann auf die Leuchtziffern ihrer Uhr. Es wird spät, sie sollte sich beeilen. Sie drängt den Fremden schneller voran. Weder beschwert er sich, noch fragt er sie, weshalb sie es plötzlich eilig hat. Unerbittlich setzt er einen Fuß vor den anderen, und Sophie ahnt, selbst wenn der Weg zehnmal so lang wäre, dieser Mann würde niemals aufgeben. Sie kennt diese Sturheit, diese Festigkeit, von Patienten im Krankenhaus. Manchmal liegt ein Herz in einem Bett, das einfach nicht aufhören will, gleichmäßig zu schlagen – ewig, stark, verlässlich. So ganz anders als Sophies eigenes flatterhaftes Herz.

Im Wald ist es finster, der Pfad schmal. Niedrige Äste reißen an ihren Hosen, doch der Alte bewegt sich trotz seiner Schwäche leise. Selbst seinen Husten scheint der Wald aufzusaugen. Das Geräusch versickert zwischen Tann und Moos, als wäre es dort zuhause.

Die Kate hat keinen Stromanschluss. Sophie tastet nach Streichhölzern auf dem Tisch neben dem Eingang. Wenig später wirft ein Kandelaber sein Licht durch den einzigen Raum mit einer Lagerstatt, die kaum die Bezeichnung Bett verdient, zwei Stühlen sowie einem Tisch, einem Holzherd in einer Nische und einer Kommode, auf der wie zu Großmutters Zeiten eine Waschschüssel thront.

»Es gibt ein Plumpsklo, fünfzig Meter den Pfad entlang.« Doch Sophie ahnt, womöglich ist das zu weit. Sie zieht eine zweite Porzellanschüssel mit Deckel aus dem untersten Fach eines Regals. »Für den Notfall.«

Sophie kniet vor dem gusseisernen Kamin nieder, dessen Rohr durchs Dach verschwindet. Sie zieht einen Korb mit Holzscheiten und Zeitungspapier heran. Die Zeitung ist vergilbt, auf der Titelseite prangt ein Artikel über die russische Raumstation Mir. Der Alte beugt sich interessiert vor. Sophie stopft eine Doppelseite zwischen die Scheite und greift nach den Streichhölzern. In ihrer Hektik bricht sie das erste ab. Seine Finger schieben sich über ihre. Er kann das selbst machen. Sie ist sich dessen nicht so gewiss, dennoch reicht sie ihm die Streichhölzer.

»Ich hole Ihnen Decken und etwas zu essen.«

Sie stürmt aus der Kate, die Tür kracht hinter ihr ins Schloss. Sophie hetzt den Pfad zurück zum Haus, obwohl Nebelsuppe über den Boden kriecht, die Nacht asphaltgrau ist und sie kaum noch erkennen kann, wohin sie tritt.

In der Tür stolpert Sophie über den Hund, der sich in der Diele ausgestreckt hat und jetzt aufgeregt bellt, weil er ihre Furcht spürt. Für einen Moment gönnt sich Sophie den Luxus, ihre Finger im braunen Hundefell zu vergraben.

»Wieso muss mir das passieren?«, flüstert sie. Tränen brennen in ihren Augenwinkeln. Der Hund leckt ihr Kinn. Er hört die Frage nicht zum ersten Mal.

Sie zögert das Licht in der Küche anzuknipsen. Draußen hat der Nebel seinen Vorhang gewoben, aber was heißt das schon? Vor einer Stunde noch hätte Sopie niemals gedacht, jemand würde sich in einer solchen Nacht in den Wäldern herumtreiben, an einem Datum wie diesem. Dabei hat der Alte nicht den Eindruck erweckt, als hätte er sich verirrt. Er sieht wie ein Vagabund aus. Oder ein Wilderer. Gibt es überhaupt noch Wilderer?

Du hast einen Fehler gemacht.

Es wird acht Uhr, bis Sophie mit Decken, Kissen und einem Teller dampfender Brühe zurück zur Kate stapft. Sie hat mit sich gerungen, ob sie einen der kleinen Nikoläuse aus Milchschokolade opfern soll. Doch es ist der sechste Dezember, und tief in ihr flüstert eine Stimme von Geiz und Gastrecht und uralten Bräuchen.

Von draußen ist kein Rauch zu sehen, der Nebel verschluckt ihn, aber in der Kate brodelt der Ofen. Schimmel fleckt die Dichtungen der winzigen Fenster, doch die Wärme beginnt, die Feuchtigkeit an den Fensterkanten zurückzudrängen. Im Kerzenschein gewinnt die Stube etwas Heimeliges.

Der Fremde liegt auf dem Lager. Er macht Anstalten sich aufzusetzen. Mit routinierten Griffen schiebt Sophie ein Kissen unter seinen Rücken. Sein Mantel hängt zum Trocknen über einem Stuhl vor dem Ofen. Jetzt trägt er nur noch ein dunkles Hemd von guter Qualität, trotz verschlissenem Saum und abgerissenen Knöpfen. Sein Oberkörper ist kräftig; in seiner Jugend muss er die Statur eines Football-Spielers gehabt haben, überlegt sie. Selbst jetzt könnte er sie, wäre er gesund, wohl noch mit einer Hand hochheben. Sie hätte seiner Stärke nichts entgegenzusetzen.

Ein Echo von Panik muss über ihr Gesicht gehuscht sein, denn er bleibt ganz still sitzen. Räuspert sich. »Morgen gehe ich.« Seine Stimme grollt erstaunlich klar, einzig um die Kehllaute knirschen die Töne. Wie rollender Fels im Schnee, denkt Sophie. »Für heute bin ich dankbar für diesen Ort.«

Sie bezweifelt angesichts seiner Verfassung, dass er morgen irgendwohin gehen wird, aber sie presst die Lippen zusammen und nickt.

Die Suppenterrine dampft auf dem Tisch. Sophie löst einen Zwischenboden aus dem Regal, legt das Brett dem Kranken auf den Schoß und serviert die Suppe darauf. Zuletzt legt sie den Schoko-Nikolaus neben den Löffel. Der Alte berührt die rot-weiß-goldene Alufolie an der Spitze, wo ein goldenes Kreuz die bischöfliche Mitra schmückt. Er gibt einen kehligen Laut von sich, halb Husten, halb Glucksen.

»Die Konkurrenz?«, fragt Sophie, während sie ein Asthmaspray aus der Tasche zieht und auf den Fenstersims legt. Sie erinnert sich, wie sie den düsteren Wanderer gefunden hat: Wollte er wirklich eine Walnuss in ihre Stiefel legen?

»Ich kannte einen Nikolaus, der hätte das wohl so gesehen.« Sein Schmunzeln zieht die Augen in die Länge, verändert sein Gesicht. Nicht klassisch gutaussehend, aber es fesselt den Blick wie Kathedralen.

»Wo kommen Sie her?«

»Aus dem Wald.«

»Nein, ich meine, wieso treiben Sie sich hier herum?«

»Ah.« Bedächtig taucht er den Löffel ein, schafft es irgendwie, das Zittern seiner Hand zu beruhigen. Er brummt genüsslich, als die Brühe seinen Rachen hinabrinnt.

Er hält dich hin.

In diesem Moment trifft es sie erneut, das überwältigende Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. Die Ohnmacht. Sie hält es nicht aus, ihr Leben, das nicht mehr ihr gehört. Die Gewissheit, stets das Falsche zu tun.

Beinahe schlägt Sophie dem Alten den Löffel aus der Hand, will ihn anschreien, er solle verschwinden. Sie kann sich nicht um ihn kümmern! Soll er abhauen, zur Straße laufen, irgendein Autofahrer wird ihn schon aufgabeln und ins Krankenhaus schaffen. Soll er die Bürde anderer sein. Sie kann ihm nichts geben, sie kann ihm nicht helfen.

Aufgebracht schnellt sie hoch, aber anstatt den Fremden rauszuwerfen, schnappt sie sich eine der Decken und wirft sie über die in geflickten Wollsocken steckenden Füße. Der Alte legt den Löffel beiseite. Er hebt die Suppe an die Lippen und trinkt in langsamen Schlucken. Tut so, als merke er nicht, wie sie mit sich ringt.

Sowie er die Terrine absetzt, knallt Sophie ihm eine Scheibe Vollkornbrot hin, die den Schoko-Nikolaus vom Brett fegt.

»Ich will eine Antwort!«, faucht sie.

»Was mich herbringt, ist eine lange Geschichte.«

»Blödsinn! Ich habe Ihnen eine einfache Frage gestellt.«

»Wenn es einfach sein soll, dann lautet die Antwort wohl: eine Frau.« Seine Augen ruhen jetzt auf ihr. Sie sind durchdringend, aber nicht stechend. Der Richter hat sie ähnlich angesehen. Sie konnte seinen Blick nicht erwidern.

»Ich möchte wissen, wieso Sie sich auf meinem Grundstück herumtreiben.«

»Dein Grundstück«, wiederholt er, als ob er den Worten nachschmecken würde. Sophie wird siedend heiß.

Er weiß es. Er ist geschickt worden, um nachzusehen, ob das Haus leer steht. Steffen, sie hat ihm das Haus mal beschrieben, ihm das Fotoalbum gezeigt, das sie aus dem Haus ihrer Eltern genommen hat, bevor sie alles in Kisten verpackten und die Vergangenheit in einem Lagerraum stapelten.

»Wie heißt du, Mädchen?«

»Sophie.« Gewispert. Es ist aus. Vorbei. Sie haben sie gefunden. Sie haben diesen Alten geschickt, um sie in Sicherheit zu wiegen. Vielleicht weil er die Gegend kennt, das bejahrte Bauernhaus im Wald.

»Es ist eine bedeutende Entscheidung, einen anderen Menschen aufzunehmen, und sei es bloß für eine Nacht.«

Sie kann keinen Ton durch ihre Kehle quetschen.

Er nimmt ihre Hand. Sophies Finger verlieren sich darin, doch die Haut ist überraschend trocken und warm. Von der Hitze der Suppe, vermutet Sophie, denn sie kennt kranke Hände.

»Hast du Zeit für eine Geschichte, Sophie?«

Sie versucht zu sprechen, bereit, um Gnade zu betteln. Doch nur ein Krächzen entringt sich ihrer Kehle. Wenn sie Panik bekommt, versagt ihre Zunge. Sophies Verzweiflung ist stumm, war sie schon immer.

Er sinkt zurück ins Kissen, schließt die Augen. Gegen das helle Bettzeug erscheint der Fremde knorrig wie Gehölz bei Einbruch der Dämmerung. Der Druck der Pranke verstärkt sich. Sophies Finger in seinen beginnen zu glühen. Als er endlich spricht, ist seine Stimme leiser, gewinnt jedoch gleichzeitig an Klang. Sie füllt den Raum mit ihrer Mischung aus Torf und Winter und Fels.

»Ich wurde in einer Kate wie dieser geboren. In der siebten Stunde der letzten Rauhnacht, so hat meine Mutter es mir erzählt. Nun, nicht ganz eine Kate wie diese, aber dem Wald genauso nah.« Er legt den Kopf zur Seite, lauscht nach draußen, wo ein leichter Wind eingesetzt hat, den Nebel zerreißt. »In stürmischen Nächten verschwamm die Grenze von Dach zu Astwerk. Wände und Stämme knarrten im selben Lied. Meine Mutter, sie legte an solchen Abenden ein Knäuel Garn unter unseren Holunderstrauch. Eine Gabe an eine Macht so unvergänglich, dass sie selbst heute in den Erinnerungen der Menschen weiterlebt.«

Sophies Herzschlag hat sich wieder beruhigt unter dieser Stimme, die nach einer Decke, einem alten Buch und einer Tasse heißer Schokolade ruft. Sie hat sich umsonst aufgeregt. Diese Geschichte, sie hat nichts mit ihr zu tun.

»Garn?«, fragt sie. »Wie im Märchen von Goldmarie und Pechmarie?«

»Ein Gebet an eine Göttin. Eine Bitte um Schutz.«

»Klingt nach neumodischer Naturgottheit.«

»Nein, nicht neu. Uralt – und wunderschön.« Er seufzt.

Sekunden verticken ungezählt. Als ob sie Zeit hätte, um ihm beim Sich-Erinnern zuzuschauen! Gerade will Sophie ihn anschnauzen, nicht ihre Zeit zu vergeuden, da setzt er fort: »Mein Vater, er gab vor, nicht zu bemerken, was meine Mutter tat. Vielleicht wusste er es tatsächlich nicht. Zwar ging er nicht oft zur Kirche, doch genauso mied er den Wald und alles, was der Klerus als heidnisch auslegen könnte.«

»Was war mit Ihrem Vater?«

»Mein Vater war ein Knecht, und wie er war ich zur Knechtschaft geboren.« Die dunklen Augen öffnen sich zum Fenster hinaus in die Nacht. Zwischen den Bäumen schimmert diffuses Licht. Sophie hat die Lampe auf der Veranda angelassen, bevor sie zur Kate gegangen ist. Ihr Signalfeuer für eine sichere Rückkehr, falls der Nebel dichter würde.

»Mein Name ist Ruprecht, aber diesen Namen musste ich mir erst verdienen.«

2 – Damals …


Der Name Knecht Ruprecht gab vielen Forschern Rätsel auf. Ein rauher Gesell, ein Knecht, der belohnt oder straft, und darin ewig verbunden mit einer heidnischen Göttin namens Percht. Ein finstrer Name, der durch die Zeiten hindurch glänzt.

Geh nicht nach dem Klang eines Namens, der du versuchst, Geschichte in Worte zu fassen. Grabe tiefer.

Marians Chronik.

Umspült von Gräsern und Blüten stand der Knabe inmitten der Wiese. Halme kitzelten seine Waden. Blütenblätter klebten an lehmigen Zehen. In den Händen zitterte eine Sense. Blut rötete die Margeriten und versickerte im Gras, das sich unter dem toten Vater teilte.

Sein Vater war nicht gefallen wie ein Engel, sondern wie der Knecht, der er gewesen war. Nach vorne gekippt, als das böse Bein unter ihm nachgab, das frisch gewetzte Sensenblatt unter sich begrabend. Sein linkes Knie lag froschgleich angewinkelt, das Gesicht drückte in die frisch geschnittene Mahd.

Der im Schock erstarrte Sohn blieb nicht lange allein. Zwei weitere Burschen mit honigfarbenen Oberkörpern näherten sich ihm wie verwilderte Hunde. Ein Blick auf den leblosen Knecht, das Bein mit dem schmutzigen Verband, wo die Streifen einer Blutvergiftung das Wadenfleisch durchzogen, und sie leckten sich immerhungrige Lippen. Sie waren gleichalt wie der schwarzhaarige Junge, doch einen Kopf kleiner.

Auf dem Fuhrweg blieb ein Mann unter einer Vogelbeere stehen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und stützte sich auf seinen Stab. Die Straße führte oberhalb der Wiese zwischen Hecken hindurch. Die jungen Knechte hatten ihn nicht bemerkt.

»Was ist, du Waldochse? Solltest du nicht für ihn beten?«, kläffte der kleinste der drei Knaben.

»Den hat doch eh der Teufel geholt«, höhnte der mittlere.

Der größte, der jetzt ein Waise war, stierte weiterhin auf die Leiche seines Vaters. Reglos, einzig die starken Hände bebten, während er auf die Trauer wartete, die verzehrende Woge von damals, als die Mutter ihr Lebensblut in Laub und Erde vergoss. Doch Sommer, Sonne und schattenloses Feld bargen keinerlei Trost. Stattdessen wuchs in seiner Brust ein Loch, raubte ihm Stimme und Tränen.

Der mittlere Junge, angestachelt durch die Betäubung seines Opfers, schubste den nun Vaterlosen. »Mach schon! Oder bist du zu dumm, um für deinen Alten zu beten? Müssen wir den Pfaffen aus seinem Mittagsschlaf reißen, damit er deine Aufgabe tut?«

Keine Antwort. Da trat der Bursche zu. Von oben nach unten in die Kniekehle. Der Waisenjunge stürzte. Die Sense flog in die Wiese, seine Stirn prallte gegen die Ferse des Vaters. Sofort schnellte er zurück, auf die Hände gestützt, keuchend vor Angst, ob das, was seinen Vater getötet hatte, auch ihn anspringen würde.

»Los, bete schon, du Heidensohn!«, grölte sein Angreifer. »Hat dir denn niemand was beigebracht?«

Oberhalb trat der Mann aus dem Schatten der Vogelbeere, den Wanderstab in der Faust.

Der Sohn konnte den Blick nicht von der Ferse seines toten Vaters wenden. Eine hufförmige Kruste aus Grind und Erde bröckelte dort. Der Junge griff sich an die Stirn, rieb heftig über Haut und Haar, um sich des Teufelsmals zu entledigen.

»Vnser vater – dem hymel«

Der Junge stockte. Zerrte an seinen Haaren, schwarz wie die gekräuselten Härchen auf dem zerstörten Bein des Toten. Versuchte es erneut, doch anstelle der auf Kirchenbänken gemurmelten Worte rauschten Bilder an seinem Auge vorbei: von einer Schüssel Brei, vor die Tür gestellt; von Rauchwerk in der Stube, während draußen Schnee fiel. Seine Mutter im Sprung über ein Feuer, wispernde Baumwipfel, ein Kreis aus Apfelblüten, Spindel und Wollknäuel auf einem Brunnen – die Gebete einer unchristlichen Welt.

»Vnser vater – yn dem hymel.

Deyn name – reych …

Geschehe teglich brott –«

»Der Hundsfott taugt ja zu gar nichts!«, kreischte der kleinste der drei Burschen. Sein Kumpan bog sich vor Lachen, doch das Gelächter verstummte jäh.

In den pechschwarzen Augen des Verwaisten loderte die Hölle auf. Er bleckte starke weiße Zähne, ein Knurren brach aus seiner Kehle. Im nächsten Moment stürzte sich der Knabe auf die beiden anderen. Er begrub sie unter sich, presste seine Unterarme in ihre Gesichter. Schläge prasselten auf ihn ein, Knie boxten, aber er drückte seine Gegner erbarmungslos nieder, ungeachtet der Hiebe, die er selbst einstecken musste. Sein Vater hatte ihm nicht beigebracht, sich zu wehren – er hatte ihm nie etwas beigebracht –, aber einst auf einem Jahrmarkt hatte der Junge einen Bären kämpfen sehen, und genauso brüllte und kämpfte er auch jetzt. Ein Nasenknochen knackte unter seiner Elle.

Von der Straße aus waren die Jungen inmitten des hohen Grases kaum noch zu erkennen. Ihre Schreie trieben Vögel aus ihren Verstecken. Dann trennten wuchtige Stöße die Kämpfenden.

»Schaut’s das ihr hier wegkommt!«, schnauzte der Mann mit dem Stab die beiden erschrockenen Kleineren an, die sofort mit bluttropfenden Nasen davonstolperten. Dem Waisen lief ebenfalls Blut über die Lippen, ein Auge schwoll zu.

Der Rock des Mannes strahlte im Gras wie eine Mohnblüte. Der Junge witterte Seife und Salben unter den bunten Kleidern, im hellbraunen Haar und gestutzten Bart des Gelehrten. Der Stab deutete auf den Toten. »Der Knecht da, das ist dein Vater?«

Der Junge nickte. Späte Tränen brachen Rinnsale in sein sommerbraunes, dreckverkrustetes Gesicht. Er sehnte sich in den moosigen Trost des Waldes, wo die Verstecke reichlich waren. Die beiden anderen Burschen rannten über die Wiese davon, doch ihm verstellte der Mann den Weg.

»Gehört’s ihr dem Großhuber?«

Ein weiteres Nicken. Der Junge kannte den Feingekleideten vom Sehen. Nikolo hieß er. Der frühere Küster half dem Großhuber mit seinen Büchern, und die Handwerksmeister und Kaufleute schätzten ihn als Lehrer. Dabei kursierten Geschichten über ihn, weil sich sein Eheweib ertränkt haben sollte und er keine Kinder hatte.

Der Mann musterte seinerseits den Waisen unverhohlen. Die nackten Füße, die in keinerlei Schuhe von Gleichaltrigen passten, die sehnigen Unterschenkel unter knielangen Hosen und den schäbigen Gürtel mit dem Kumpf und dem Wetzstein für das Sensenblatt. Den blanken, von harter Arbeit gezeichneten Leib, der bereits jetzt kräftiger war als der so manch erwachsenen Mannes.

»Wie heißt du, Bursche?«

»Rupp.«

»Und, Rupp, kennst du deine Gebete?«

Umgehend kehrte die Starre zurück. Der Schmerz ob des Versagens seinem Vater gegenüber.

»Ich erwarte eine Antwort, Junge.«

»Nein, Lehrer.«

»Was ist mit deiner Mutter?«

»Tot.«

»Geschwister?«

»Nein.«

Nikolo blinzelte gegen die Sonne an zu der Stelle, wo die Leiche des Vaters lag. Schließlich sagte er: »Wenn du mit mir kommen magst, dann werde ich sie dir beibringen, Rupp. Deine Gebete. Überleg’s dir.«

Damit griff Nikolo seinen Stecken erneut wie einen Wanderstab, wandte sich ab und stapfte am Rande der Wiese entlang zurück zum Fuhrweg. Rupp stierte ihm nach, dann auf seine Hände. Er hob sie hoch vor die Brust, presste sie zusammen, bis das Zittern aufhörte. Seine Lippen bewegten sich stumm, doch die richtigen Worte entflohen ihm. Der letzte Dienst an seinem Vater, er konnte ihn nicht erfüllen.

Oben am Fuhrweg verschwand Nikolo hinter der Hecke.

Rupp strich sich über den Mund und wischte das Blut an seiner Hose ab. Die Sonne stach auf ihn nieder. Fliegen schwirrten an ihm vorbei zu der Delle im Gras, wo der Vater lag und darauf wartete, dass sein nutzloser Sohn sich seiner Gebete erinnerte.

3 – Heute …


»Nikolo nahm Rupp zu sich. Der Großhuber ließ sich das bezahlen, teuer, weil er einen starken Burschen verlor. Nikolo zahlte allerdings nicht mit Geld. Er hatte eine andere Währung: Wissen. Das Informationszeitalter, auf das ihr so stolz seid, es begann bereits mit Adam.«

»Ich dachte mit Eva.« Sophie runzelt die Stirn. »Von welchem Jahrhundert sprechen wir eigentlich?«

»Dies alles geschah vor fast fünfhundert Jahren.«

Das sechzehnte Jahrhundert. Will dieser ergraute Hüne ihr seine Ahnengeschichte erzählen? Es würde zumindest den seltsamen Dialekt des Vaterunsers erklären. Immerhin ist Ruprecht ein authentischer Erzähler, das gefällt ihr.

Aber wieso lungert sie überhaupt noch hier herum? Sie sollte schon längst zurück im Haus sein. Außerdem ist Ruprecht erschöpft, sein Kopf auf das Kissen gesunken, die Lider gesenkt, seine Stimme matt.

Hungere ich nach Gesprächen?, fragt Sophie sich. Ohne Telefon, ohne Fernsehen, nur mit ein paar verstaubten Büchern und einem Stapel Romanhefte, die sie schon nach einer Woche ausgelutscht hat. Vorgestern hat sie sich dabei ertappt, wie sie beim Sammeln von Reisig laut mit sich selbst diskutierte.

»Ich muss los.« Sophie steht so abrupt auf, dass ihr Stuhl nach hinten kippt und auf den Boden knallt. Im gleichen Moment krümmt sich der Alte in einem Hustenanfall. Sofort liegt das Asthmaspray in Sophies Hand, ihre Finger berühren Ruprechts kantiges Kinn. Sein Bart kitzelt.

»Mund auf, einatmen!«, befiehlt sie. Sie hat nichts Besseres, bloß dieses Spray, das zischt, während Ruprechts Kehle rasselt. Seine Brust hebt und senkt sich in schweren Atemzügen. Die dichten Augenbrauen ziehen sich misstrauisch zusammen, er macht Anstalten, den Kopf fortzudrehen. Sophies Griff wird fester. »Das wird Ihnen helfen. Gegen die Atemnot.«

Er solle sich nicht anstrengen, will sie hinzufügen, aber sie hält die Worte zurück. Morgen muss er gehen, Krankheit hin oder her. Sie schnuppert an seinem Hemd. Kein Zigarettengestank. Seine weißen Zähne sprechen ebenfalls nicht von einem langjährigen Raucher. Morgen früh wird sie ihr Stethoskop mitbringen.

»Sie holen ja ganz schön aus mit Ihrer Geschichte.« Sie zieht die Decke höher über Ruprechts Brust, dessen Kopf ermattet zur Seite gefallen ist. Ist er eingeschlafen? Sie blickt auf die Uhr. Sie sitzt seit fast einer Stunde hier, was denkt sie sich dabei? Solange ist sie dem Haus noch nie ferngeblieben. Sie wirft sich ihren Schal über.

Da spricht Ruprecht erneut: »Was bedeutet schon ein halbes Jahrtausend? Das Leben damals, das Leben heute? Vor den Jahren sind alle Menschen gleich, in Recht wie Unrecht, in Sühne wie Erlösung.«

Was soll das denn? Jetzt klingt der Kerl wie ein Priester. Die offene Tür in der Hand, ist Sophie stehen geblieben, aber nicht ohne einen Blick hinauszuwerfen in Richtung Haus, wo die Verandalampe durch Nacht und Geäst den mattest möglichen Schein wirft. Sie muss sich eilen. Sie kann sich nicht über das Gerede eines alten Mannes Gedanken machen.

Leiser fügt Ruprecht hinzu: »In Knechtschaft und Liebe.«

»Ich habe dafür keine Zeit«, faucht Sophie und rennt los, bevor dieser letzte Satz sie einholen und verschlingen kann. Die Tür schlägt hinter ihr gegen den Rahmen, ohne einzurasten, aber sie hält nicht an. Soll sich der Alte aus dem Bett schälen und sie schließen!

Im Wald hält sie den linken Unterarm schützend vor das Gesicht, damit keine Zweige in ihre Augen peitschen. Das Leuchtziffernblatt ihrer Uhr hüpft vor ihrer Stirn auf und ab. Sie war nie eine gute Läuferin, hat nicht die Figur dazu. Zu kurze Beine, ein Hintern voll und rund wie ein Pfirsich, eher Anker als Motor, dabei ist sie doch ein Fluchttier.

Ein Satz auf die Lichtung, und es wird heller um Sophie. Im Sprint über die Wiese versucht sie die Bilder des toten Knechts aus Ruprechts Geschichte zu verdrängen, doch ihre Fantasie gebärt sensenschwingende, von Kapuzen verhüllte Vogelscheuchen. Der Tod streicht über ihren Nacken.

Die Veranda ist vom Nebel glitschig. In ihrer Eile rutscht Sophie aus und kracht gegen die Tür. Innen springt bellend der Hund herbei. Sie löscht die Lampe, indem sie auf den Schalter einhämmert, dann knallt sie die Tür hinter sich zu und dreht den Schlüssel. Schließt den Sensenmann aus.

Der Hund reibt sich winselnd an ihren zitternden Beinen. Sie hat vergessen, ihn zu füttern.

Am nächsten Morgen beugt sich das Gras unter Reif. Wie in einer Schwarz-Weiß-Aufnahme ruhen Wald und Lichtung unter einer grauen Wolkendecke. Sophie hat das Transistorradio vom Speicher nach draußen geschleppt, dreht an den Knöpfen, doch die Antenne ist abgebrochen und empfängt nur Rauschen. Wie gerne würde sie den Wetterbericht kennen. Wann kommt der Schnee?

Eine Tasse Kaffee dampft ihr Aroma in die Morgenkälte. Irgendwo im Gebüsch jagt der Hund selig einem Hasen nach. Er entfernt sich niemals weit vom Gebäude. Er dreht seine Runde, taucht zwischen den Bäumen auf, vergewissert sich, dass Sophie noch auf der Veranda steht, und gibt erneut Gas. Er ist nicht groß, dafür länger als ein Dackel, kastanienbraun mit Schlappohren und einem Stummel, wo seine Rute kupiert wurde.

Jenseits der Lichtung, dort wo unter den Baumwipfeln die Kate liegt, steigt kein Rauch auf. Also hat der Fremde nicht weiter geheizt. Vielleicht ist er ja bereits gegangen?

Sophie stellt sich vor, wie sich Ruprecht den Fahrweg entlangschleppt. Den Wanderstab kann er von ihr aus gerne behalten. Sie glaubt nicht, dass ihn irgendwer noch verwendet.

Sie geht ins Haus und holt den Topf mit zimtgewürztem Dinkelbrei und in Butter angebratenen Apfelstücken. Das Fieberthermometer steckt sie in die Jackentasche. Dann pfeift sie dem Hund. Es dauert keine sechs Sekunden, bis er hechelnd auf der Matte im Windfang steht, das braune Fell an den Spitzen feucht.

»Ich bin gleich wieder zurück«, sagt sie laut und schließt ein wenig zu hastig die Tür. Sofort ist es wieder da, das schlechte Gewissen.

Der Reif knistert unter ihren Schritten. Eine Krähe flattert zwischen den Bäumen. Sophie hört Ruprechts krampfartigen Husten, noch bevor sie den Wald betritt.

In der Kate schabt ein Stuhl über den Boden. Im nächsten Augenblick rumpelt es; ein schwerer Körper fällt. Sophie rennt los. Als sie durch die Tür prescht, hat Ruprecht sich bereits wieder auf die Lagerstatt hochgezogen.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen das Spray verwenden, wenn es zu schlimm wird.« Sophie stellt ihre Sachen ab und hilft Ruprecht zurück unter die Decke.

»Ich wollte mein Bündel packen.«

Sie wirft einen Blick durch die Stube. Das Säckchen steht unangetastet in der Ecke. Der Mantel hängt über dem Stuhl wie am Abend zuvor. Sie hält Ruprecht das Thermometer vor die Nase. »Unter die Zunge damit!«

Er greift nicht danach.

»Du willst mich hier nicht haben, Sophie. Ich kann gehen. Ich möchte nicht deine Sorge sein.«

Sie blickt ihn rundheraus an. »Wussten Sie, wer hier wohnt, als Sie herkamen?«

»Nein. Doch ich sah die Stiefel vor der Tür. Fürchtest du mich, Sophie?«

Sie schüttelt das Thermometer, welches die Temperatur ihrer Faust angenommen hat. Nein, sie hat keine Angst vor ihm. Nicht vor ihm als Mann, als Fremder, selbst wenn er aussieht wie ein finstrer Gesell, vor dem Mütter und Märchen warnen.

Sophie trifft ihre Entscheidung. »Sie können hier in der Kate bleiben, bis Sie kräftig genug sind, um allein bis zur Straße zu laufen.«

Er mustert sie. Sie wissen beide um die Wahrheit.

»Ich sterbe, Sophie.«

»Nicht so bald, wenn Sie in ein Krankenhaus gehen.«

»Bis die Rauhnächte beginnen, werde ich leben.«

Sie starrt ihn an. Er deutet ihr Stirnrunzeln falsch.

»Bis Weihnachten«, erklärt er, und die ruhige Kraft, mit der er spricht, trifft sie wie eine Woge. Dieser Wille, so erwachsen. Ist sie die einzige auf der Welt, die ihr Schicksal nicht erträgt? Für die der Heilige Abend nicht spät genug kommen kann?

»Wieso Weihnachten?«, krächzt sie. Ruprecht sieht ihr nicht aus wie einer, der auf das Christkind wartet.

Er ist abgelenkt von etwas, was er durch das Fenster sieht, oder er weicht ihr aus. Jedenfalls spielt ein trauriges Lächeln um seine Lippen. »Es wird Schnee geben.«

Sophie lehnt sich über das Lager und verrenkt sich fast den Hals, um zum Himmel zu gucken. »Was, heute?«

»Nein, aber zur rechten Zeit. Sophie, ich muss dir nicht zur Last fallen. Ich bin dankbar für das, was du bereits für mich getan hast.«

Lächerlich. Was sie getan hat, ist lächerlich. Plötzlich könnte sie losheulen.

»Wir werden sehen.« Sie blickt sich in der Stube um, macht eine Liste. Schaffelle, mehr Kerzen, eine Thermoskanne, Klopapier. Irgendwo im Haus hat sie ein Rätselheft herumfliegen sehen. Ob es eine zweite Taschenlampe gibt?

»Essen Sie den Brei auf, ich komme später wieder. Ich hab noch ein paar Fragen zu der Geschichte, die Sie gestern erzählt haben.«

»Die Menschen sahen damals anders auf die Welt, Sophie. Der Teufel war allgegenwärtig. Fluch und Sünde trugen Kleider und Dämonennamen. Sie waren greifbar. Sie lauerten hinter Wegbiegungen, in Höhlen und finstren Ecken, in nicht gesprochenen Gebeten. Der Glaube war stark.«

»Wohl vor allem der Aberglaube.«

»Ah, aber was ist Aberglaube?«

Unvermittelt steht Steffens Gesicht vor ihr. An ihn hat sie auch einmal geglaubt. An ihn und ihre Ehe und dass er ein guter Mann wäre. Vielleicht auch irgendwann ein guter Vater. Aber kann sie ihm das wirklich vorwerfen? Sie hat ja auch einst an sich geglaubt. Sie spürt nach. Der Gedanke an ihren Mann weckt keine Gefühle. Höchstens Müdigkeit.

»Aberglaube ist, sich in den Falschen zu verlieben.«

Erst glaubt sie, er hat einen weiteren Anfall, dann merkt sie, dass er lacht. Das ganze Bett wackelt unter dem Gelächter, und er hört gar nicht mehr auf. Sie muss ebenfalls grinsen, dabei dachte sie schon, sie hätte es verlernt. Es tut gut, und beinahe fühlt sie sich deswegen schuldig.

Ruprecht beruhigt sich wieder. »Was weißt du über das sechzehnte Jahrhundert, Sophie?«

Nachdenklich sammelt sie das schmutzige Geschirr vom vorigen Abend ein. Ihr Geschichtsunterricht liegt sechs Jahre zurück. Dann fällt ihr etwas ein: »Martin Luther. Die Reformation. Hexenverfolgung!« Noch etwas, was ihr Gehirn aus staubigen Schulecken hervorkratzt. Plötzlich macht ihr das Ganze Spaß; die grauen Zellen kommen auf Touren. Vor ein paar Jahren schlug ein ehemaliger Sozialkundelehrer auf ihrer Station auf. Auf seinem Nachttisch lag ein Buch, daran erinnert sie sich jetzt. Der Titel, wie hieß er noch gleich?

»Die Bauernaufstände!«, ruft Sophie und genießt einen kurzen Moment des Triumphs über das Vergessen. »Die Bauern kämpften damals gegen die Knechtschaft.«

»Knechtschaft«, wiederholt Ruprecht leise. »Ketten, sie finden sich überall und in verschiedenen Formen. Rupp war kein Krieger, er war kein Politiker, doch auch er sehnte sich danach, mehr zu sein als ein gewöhnlicher Knecht. Und eines Jahres im Dezember, er war sechzehn, da schmeckte er zum ersten Mal, was sonst nur Richtern und Göttern vorbehalten war.«

4 – Damals …


Sankt Nikolaus, Gabenbringer, Himmelsbote, Lichtgestalt des Advents – bis Luther und die Seinen ihm nicht länger huldigen wollten.

Mancherorts verbannt, seines Namens beraubt, seiner Rolle enthoben, witterten düsterere Gestalten ihre Chance und krochen aus dem Dunkel ins Dämmerlicht einer neuen Zeit. Waren sie neu? Waren sie älter? Aber vor allem: weshalb so finster?

Marians Chronik.

Nikolo verwandelte sich im Schutze einer Scheune in seinen Namenspatron. Vom Mann zum Heiligen – wenn in Kleidern ein Zauber steckte, dachte Rupp, dann könnte vielleicht auch ein Knecht ein König werden.

Rupp wischte mit einem Lappen Wasserränder und Schmutz von Nikolos Schnallenschuhen, dann half er ihm beim Binden des mit dunkelrotem Samt eingefassten Umhangs. Zuletzt lösten sie die Lederhülle von der Spitze des bischöflichen Stabs. Die kunstvolle Krümmung am Ende war Rupps Werk. Unzählige Nächte hatte er an ihr gefeilt. Der Schmied des Nachbarorts hatte einen kupfernen Ringbeschlag für das Verbindungsstück gefertigt und sein Weib das Kreuz auf die Mitra gestickt, unter der sich Nikolos Haar bis zu den Schultern wellte. Sie hatte nichts dafür genommen. Damit der Heilige Nikolaus ihr Haus segne, sagte sie. Wer gibt, dem wird gegeben werden.

Nikolo breitete die Arme aus und äugte an sich herab. »Wie sehe ich aus?«

»Würdevoll.« Nikolos Frage und Rupps Antwort waren mittlerweile Teil ihres jährlichen Rituals zum Namenstag des Heiligen, an dem Nikolo in das Gewand seines Vorbilds schlüpfte und sorgsam ausgewählte Familien mit der Einkehr von Sankt Nikolaus beehrte. Rupp bückte sich nach dem Sack mit den Geschenken.

»Warte, Junge. Ich habe etwas für dich.« Nikolo kramte in seinem Bündel. »Der Diener des Heiligen Nikolaus kann nicht in Lumpen einkehren.«

Es war ein neues Hemd, nicht vom Altkleiderhändler und daher weder abgetragen noch ausgeblichen, sondern schwarz wie Rabenflügel. Nikolo schaute zu, wie Rupp sein altes Wollhemd über den Kopf zog und sich sein nackter Oberkörper vor dem stetig rieselnden Schnee draußen abzeichnete. Das neue Hemd ließ noch Platz an den Schultern, aber Rupps Muskeln würde es schon bald ausfüllen. Das Hemd lag weich auf der Haut. Nikolo hielt nichts von kratzigen Stoffen.

Rupp grinste Nikolo an, während er seinen Gürtel über dem Hemd zuzog und die Schnüre an den Ärmeln band. Mit seiner dunklen Gewandung hätte Rupp als Nikolos Schatten gehen können, hätten sie die gleiche Statur gehabt und hätte der Jüngere den Älteren nicht bereits an Schulterbreite und Größe übertroffen.

Sie ließen ihre Sachen in der Scheune zurück. Rupp schulterte den Sack. Draußen neigte sich der Nachmittag dem Abend entgegen. Das Häuschen des Torwärters lag dunkel. Innerhalb der Dorfumwehrung schloss sich als erstes Gebäude das Haus des Schmieds an. Nikolo musste sich bücken, damit seine Mitra nicht an der Dachtraufe hängenblieb, Rupp, damit er sich nicht den Kopf stieß. Der Stab klopfte gegen die Tür.

»Ho-ho!«, rief Nikolo. »Lasst ein den Heiligen Nikolaus, Ihr braven Leut!«

Aufgeregtes Quietschen antwortete ihm. Schaben, dann das Trappeln von Kinderfüßen. Eine Männerstimme schalt die Kleinen albern, forderte Anstand und Ruhe ein. Die Schmiedin öffnete die Tür, ein Glühen auf den runden Backen. Ihr Blick glitt wohlgefällig über die Mitra, dann über den Kupferbeschlag des Stabs unter Nikolos Fingern.

»Tretet ein, Sankt Nikolaus! Wärmt euch und teilt unser Mahl.«

Ihr Mann trat neben sie, um dem Besucher über die Schwelle zu helfen. Rupp bückte sich hinter Nikolo durch die Tür und verschmolz sofort mit der im Schatten liegenden Wand.

Die fünf Kinder des Schmieds standen aufgereiht wie Orgelpfeifen hinter dem Tisch, auf dem die Schmiedin das Abendmahl auftrug. Das kleinste zählte gerade drei Jahre, der älteste Sohn elf. Zehn kugelige Augen hefteten sich in solchem Staunen auf Nikolo, dass Rupp zweifelte, ob sie den Mann unter der Erscheinung des Heiligen überhaupt wiedererkannten.

Nikolo jedenfalls wirkte nicht nur durch die bischöfliche Mitra größer. Seine Haltung, gar seine Stimme änderten sich. Das Gesicht feierlich, die Pupillen geweitet, nahm er mehr Raum ein, als seine schmale Figur ihm sonst zugestand. Er sprach salbungsvoll und strich sich immer wieder mit ringbeschwerter Hand über den gestutzten Bart.

»Und wer ist diese Maid?« Nikolo hatte einen Becher aus glasiertem Ton mit Birnenmost entgegengenommen und deutete auf ein Mädchen, das etwas abseits auf einem Hocker saß. Sie wiegte zwei Säuglinge, deshalb war sie nicht aufgestanden, um den Besucher zu begrüßen. Sie war mager, höchstens fünfzehn, mit einem herzförmig-weichen Gesicht und einer gefälligen Stupsnase inmitten von eingefallenen Zügen. Sie erinnerte Rupp an ein verletztes Kitz. Er hoffte, dass ihr Aug auf ihn fallen würde, und schob sich ein wenig mehr ins Licht. Aber das Mädchen hob nicht einmal den Kopf, als Nikolo sie unmittelbar ansprach.

»Die Dirn ist die Nichte meiner Frau.«

»Die Gesellin der Hebamme, wenn ich nicht irre.« Es gab nichts, was Nikolo nicht über das Leben in den umliegenden Weilern und Dörfern wusste. »Sind das deine Bälger, Kind?«

Das Mädchen antwortete mit einem Schluckauf und krampfte die Hände in die Säuglingsdecke. Hastig mischte sich die Schmiedin ein: »Nein, nein, sie – das sind nicht die ihrigen. Das sind Waisen, sie hat sie mir nur gebracht, weil ich doch noch Milch hab.«

»Das Weibergewäsch interessiert unseren Gast nicht.« Der Schmied versuchte, Nikolos Aufmerksamkeit auf die Lebkuchen zu lenken. Nikolo hingegen hatte gerade Blut geleckt.

»Deine Meisterin, Kind«, fragte er, »die Hebamme: Hat der Schultheiß sie in letzter Zeit nicht häufig besucht?«

Der Schmied schob sich neben seine Kinder und damit wie beiläufig zwischen Nikolo und das Mädchen. »Wollt Ihr nicht die Meinigen prüfen, ob sie denn brav ihre Gebete sagen, Sankt Nikolaus?«

Nikolo ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken und griff nach einem Lebkuchen. Mit einem Mal schien er alle Zeit der Welt zu haben. Der plumpe Versuch des Schmieds, ihn abzulenken, versandete. Nikolo legte einen Finger an die Lippen, als würde er auf eine Stimme lauschen, die nur er zu hören vermochte, sein Schweigen ein erprobter Türöffner. Es brachte die Menschen so sicher wie eine Beichte zum Reden.

Die Schmiedin schluckte, setzte an und verstummte sofort wieder. Sie lechzte nach der Seligkeit, die der Heilige Nikolaus ihrer Stube versprach, aber ihr Mann trug eine warnende Miene. Ihre Aufregung färbte auf die Kinder ab, deren Blicke immer wieder zu Nikolo huschten und dann die Flucht in Ecken und Schatten suchten. Nikolos wartendes Schweigen streckte sich.

»Wer ist das?«, brach es unvermittelt aus dem ältesten Jungen heraus. Er deutete auf Rupp, der immer noch ein wenig gebeugt neben der Tür stand, wo ihn das Licht nicht voll erreichen konnte.

»Das ist der Knecht des Heiligen Nikolaus«, wies die Mutter ihren Sprössling zurecht und schlug den auf Rupp weisenden, ausgestreckten Zeigefinger beiseite. »Benimm dich!«

Nikolo schien auf einmal eine Idee zu kommen. Steif, weil die Mitra keine hastigen Bewegungen erlaubte, drehte er sich zu Rupp. »Mein Knecht trägt mir den Sack mit den Geschenken. Aber wenn nötig –«

»Unsre Kinder sind alle anständig gewesen das Jahr über. Sie beten jeden Abend!«, rief die Schmiedin stolz dazwischen.

»… straft er mir solche Kinder, die ihre Gebete nicht kennen«, fuhr Nikolo unbeirrt fort.

Vor Verblüffung knallte Rupp seinen Schädel gegen den Dachbalken. Meist ließ Nikolo ihn vor der Tür warten, während er selbst die Einkehr hielt. Nie hatte er ihm eine Rolle zugeteilt, welche über die eines Sackträgers hinausging.

Nikolo wedelte mit der Hand. »Nun, Knecht, worauf wartest du noch? Verrichte dein Werk.«

Rupp zögerte.

»Die haben alle was Leckeres verdient.« Die Schmiedin streichelte die Wangen ihrer drei Mädchen. Dem Dreijährigen schossen angesichts des finstren Riesens, dem er anstelle des heiligen Schutzpatrons überlassen werden sollte, Tränen in die Augen. Aber es war der Älteste, der Rupps Aufmerksamkeit erregte. Dessen Unterlippe hatte zu zittern begonnen, er wollte vortreten, doch seine Mutter verstellte ihm den Weg.

»Sind gute Kinder, die unsrigen. Äpfel, die mögen sie besonders gern.«

Nikolo fing Rupps Blick ein und zog eine fein geschwungene Augenbraue hoch. Worauf wartest du?, befahl sie.

»Habt ihr vielleicht …?« Nein, das klang nicht richtig. Rupp räusperte sich, bemühte sich um eine gestrenge Miene, wie er sie aus Nikolos Unterricht kannte. »Eine Kammer bräucht ich, um selbst zu hören, was die Kinder verdienen.«

Das Rumpeln seiner Stimme in der sich zur Nacht hin verdüsternden Stube brachte nun auch die zwei jüngeren Mädchen aus der Fassung. Der älteste Sohn klappte in sich zusammen. Die Mutter wandte sich flehentlich ihrem Gatten zu. Dieser jedoch deutete nach hinten, ans andere Ende des Hauses.

»Die Kammer, die kannst du nutzen. Passen aber nicht alle rein.«

Nikolo nickte aufmunternd. Rupp ergriff den Gabensack.

»Ein Kind nach dem anderen«, bestimmte Nikolo. »Die anderen sollen vor der Kammer warten. Nein, Mädchen, du brauchst nicht mitgehen.« Die Hebammengesellin machte Anstalten, die Säuglinge der Schmiedin in die Arme zu drücken. »Du hast nichts Arges getan, das sehe ich sofort.«

Das Mädchen brach in Schluchzen aus.

»Komm her, mein Kind. Teil meinen Kuchen und unterhalt dich mit mir. Erzähl mir deine Sorgen.« Nikolo klopfte auf den Hocker neben sich. Als Rupp einen Blick über die Schulter warf, glänzten Nikolos Augen im Schein des Herdfeuers wie mit Wein gefüllte Kelche.

Den Dreijährigen ließ Rupp noch vor der Kammer in das Säckchen greifen und scheuchte ihn, strahlend über seinen Apfel und weil er so einfach davongekommen war, zu den Eltern zurück. Die anderen hieß er warten, während er die beiden jüngsten Mädchen in die Kammer bat.

Er schloss die Tür, obwohl der Spalt unten so hoch war, dass die Tür den Schall kaum dämpfte, und ließ sich zeigen, wie die Kleinen die Hände zum Gebet zusammenlegten. Zur Belohnung erhielten sie die Fäuste voll mit Nüssen sowie die Ermahnung, sich in der Stube still in eine Ecke zu setzen und Vater, Mutter und den Heiligen Nikolaus nicht zu stören.

Die nächste an der Reihe – engelsblondes Haar, Veilchenaugen – zählte acht Jahre und ließ sich von Rupps grimmigen Gesichtsausdruck nicht einschüchtern. Ihr Geschnatter hätte einen Stein zum Schmunzeln gebracht. Sie erzählte ihm, dass die Katharina – das war das Mädchen in der Stube – vor vier Tagen angekommen sei, mitten in der Nacht. Dass sie blaue Flecken auf dem Rücken habe, jede Nacht weine und die Mutter ihr was über die Brust band, »damit wir das abdrücken«, und der Vater, der sei böse gewesen mit der Mutter, und dann habe die Mutter gefragt, ob der Vater Angst vor dem Schultheiß habe, und da habe er mit der Hacke gegen die Wand geschlagen, und seitdem war da ein Loch und sie konnten jetzt, wenn sie ein Auge dagegen pressten, von der Schmiede in den Stall blicken.

»Darf ich zweimal in den Sack greifen?«, fragte sie am Ende ihres Wortschwalls ohne Übergang. Rupp war zu abgelenkt von dem Erzählten, daher huschte sie mit ihrer Beute fort, bevor er nein sagen konnte, denn einmaliges Hineingreifen war richtig und Gier eine Sünde.

Zuletzt blieb der älteste Sohn übrig. Er betrat die Kammer forscheren Schrittes als seine Schwestern, doch gesenkten Hauptes. Sorgfältig zog er die Tür hinter sich zu, dann sagte er, so deutlich er vermochte: »Ich habe meine Gebete nicht gesprochen.«

Rupp glaubte dem Jungen kein Wort. Er hatte ihn zur Kirchweih gesehen, ganz vorne, in der zweiten Reihe. Seine Lippen hatten sich sogar beim Latein des Pfaffen bewegt. Mit einem Mal kam Rupp sich sehr erwachsen vor, obwohl ihn und den anderen nur fünf Jahre trennten. Wäre seine Mutter nicht gestorben, hätte er vielleicht einen Bruder wie diesen gehabt. Einen, dem Rupp alles beigebracht hätte, was er wusste, der mit ihm zusammen durch die Wälder streifte …

»Wofür willst du bestraft werden?« Rupp stellte die Frage so leise, dass seine Stimme niemals unter der Tür hindurch in die große Stube tragen würde. Die Kammer war eng und düster, bloß erhellt von zwei Talglampen und einem allerletzten Rest Tageslicht, das durch ein winziges Fenster aus Rohhaut nach innen drang. Eine einzelne Träne tropfte auf den gestampften Lehmboden.

»Ich habe etwas kaputt gemacht.« Gehaucht. »Die Haube von der Großmutter. Die Kohlen … ich bin gestolpert. Die Haube, sie war angesengt, bevor ich irgendwas hätt tun können. Ich hab es niemanden gesagt. Ich hab die Haube einfach neben die Feuerstelle gelegt. Vater dachte, das Elfchen wäre es gewesen, aber sie ist ja noch klein, und so hat er ihr nichts getan, aber er hat die Mutter gebackpfeift, weil sie nicht auf sie aufgepasst hat.«

»Und jetzt fühlst du Schuld, weil du nicht die Verantwortung übernommen hast?«

Ein Nicken.

Rupp reckte sich trotz der für ihn viel zu niedrigen Raumhöhe. »Zu Recht, denn was du getan hast, war falsch. Streck deine Hände aus. Handflächen nach oben.« Er schaute sich suchend um. In einer Ecke lehnte ein Reisigbesen. Die Finger des Jungen waren sorgfältig geschrubbt, doch selbst ein Wetzstein hätte nicht den Ruß unter den Fingernägeln restlos beseitigen können.

»Das wird wehtun.«

Der Junge hob das Kinn. Blickte Rupp an, ohne zu blinzeln. Murmelte ein Wort.

Rupp schlug zu. Fest genug, damit die Hiebe die Arme nach unten klatschten, jedoch nicht die Haut aufrissen. Der Junge keuchte. Als Rupp ihm nach dem dritten Schlag die Hand in den Nacken legte und ihre Gesichter auf gleiche Höhe brachte, waren seine Augen allerdings trocken.

»Damit ist es gut«, sagte Rupp.

Kaum schloss der Schmied die Tür hinter ihnen, fuhr Nikolo zu Rupp herum. »Nun berichte! Was hast du erfahren?«

Rupp wiederholte, was die Achtjährige ihm erzählt hatte. Bei jedem Wort glitzerten Nikolos Augen ein wenig mehr.

»Der Schultheiß«, flüsterte er, dann, mehr zu sich selbst: »Damit kann ich was anfangen.«

»Was ist mit der Hebammengesellin?«

»Die hat nichts verraten, bloß geflennt und von einem gebrochenen Fuß gefaselt, weshalb sie angeblich vier Monate das Hebammenhaus nicht verlassen konnte. Wer das glauben soll, bleibt mir ein Rätsel.«

»Können wir ihr nicht helfen?«

»Der wird schon geholfen, der törichten Gans.«

»Vielleich kann ich –«

»Meine Güte Rupp, wenn ein Vöglein dich einwickeln will, muss es nur mit einem lahmen Flügel winken. Aber ich warne dich, am Ende wirst du feststellen, dass du dir eine Krähe eingefangen hast.«

Rupp fand Krähen schön mit ihrem glänzenden Gefieder und klugen Augen. In seiner Kindheit hatten viele dieser Vögel die Bäume um ihre Kate bevölkert. Seine Mutter hatte ihm Sagen von weisen Raben erzählt, die ihrem Meister Kunde von dem Geschehen in der Welt brachten, aber Rupp wusste, dass Nikolo solche Geschichten nicht gerne hörte, daher schwieg er.

Seite an Seite wanderten sie durch den Ort. Es hatte zu schneien aufgehört; von den Dächern tropfte Schmelzwasser. Nikolo vergrub die Hände im Umhang, um sie vor der nasskalten Luft zu schützen.

»Das ist gut, was du erfahren hast, Rupp. Sehr gut. Die Bälger haben sehr offen zu dir gesprochen. Kinder, wir unterschätzen oft, was sie alles hören. Die Leute reden vor ihnen, sie nehmen sie gar nicht richtig wahr. Wir werden es im nächsten Haus genauso machen: Du nimmst dich der Kinder an. Prüfe, ob sie ihre Gebete kennen, dann sieh zu, was du aus ihnen herauskitzeln kannst. Derweil kümmre ich mich um ihre Eltern. Alles kann wichtig sein.«

Nikolo klatschte die Hände vor der Brust zusammen, aufgekratzter als Rupp ihn sonst erlebte. »Sprich, Rupp, wie war es? Hast du das Kribbeln gespürt, als sie dir vom Schultheiß erzählt hat? So wie beim Angeln, wenn es an der Leine zupft und du weißt, da ist etwas Großes?«

Nikolos Begeisterung hätte ansteckend sein können, aber Rupp dachte nicht an den Tratsch des kleinen Mädchens. Er konnte nur an das Seufzen des Jungen unter den Peitschenschlägen der Rute denken, die plötzliche Entspannung unter den Hieben. Das eine Wort, was er gemurmelt hatte. Zuerst hatte Rupp es nicht verstanden, aber jetzt wusste er, was es hieß.

Der Junge hatte danke gesagt.

5 – Heute …


»Ein Junge soll dankbar sein, weil er geschlagen wird? Was für ein steinzeitlicher Mist ist das denn?« Sophie ist aufgesprungen und entreißt Ruprecht die halbleere Teetasse. Tropfen spritzen auf seine Hand.

»Das Märchen von Knecht Ruprecht«, höhnt sie. »Herrschaft durch Angst und Schläge.«

Rupp wischt den Handrücken am Bettzeug ab. »Darum denkst du, geht es? Um Macht? Nein, ich glaube nicht, dass du das denkst. Du verstehst sehr wohl.«

Und da ist es. Etwas in diesem gelebten Gesicht, das die Kantigkeit aufweicht. Plötzlich spürt Sophie den Druck ihrer Fußsohlen auf den Dielen und eine Kraft, die aus Holz und Erde steigt. Für zwei, drei Sekunden schwankt sie nicht, begegnet Ruprechts Blick. Hält es aus, gesehen zu werden.

Dann reißt sie die Arme hoch, die Tasse fliegt im hohen Bogen durch die Stube und zerschellt an der Wand.

»Wenn Sie genug Luft zum Märchenerzählen haben, dann können Sie auch verschwinden. Morgen sind Sie hier weg!«

Sie stürmt aus der Kate, ohne sich ihren Mantel zu schnappen. Draußen ist es Mittag, das Licht trübe, die Wolken bedrohlich. Regen fällt in dichten Schleiern, durchnässt Sophie binnen Sekunden. Das Bauernhaus wirkt hinter dem Regen massiger. Verrammelt, abweisend, der Qualm aus dem Kamin vom Wetter verschluckt.

Kaum reißt sie die Tür auf, saust der Hund zwischen Sophies Füßen hindurch. Er schafft es nicht einmal bis zu den Bäumen, pinkelt noch auf die Wiese. Nicht einmal um den Hund kann sie sich richtig kümmern.

Mit eingezogenem Hinterteil und hängenden Ohren kommt er zu ihr zurückgewedelt. Doch Sophie schickt ihn fort, lässt ihn rennen, für ein paar Minuten seine Freude haben. Sie muss dankbar sein, wie geduldig er das Eingesperrtsein erträgt.

Seit gestern bekommt sie den Boiler im Bad nicht mehr zum Laufen. Also macht Sophie Wasser im Kocher heiß und gießt sich in der Dusche einen lauwarmen Eimer über den Kopf. Rostflecken sprießen an den Ecken der Wanne und um den Abfluss. Die Kacheln an den Wänden sind aus den Siebzigern, einige von ihnen gesprungen. Das Haus verkommt. Es beginnt, sich Sophies Kindheitserinnerungen zu widersetzen, als es Refugium und Abenteuerburg zugleich war. Die Sommer, die sie und Louisa hier verbracht haben, abgeschoben von den segelnden Eltern, sie sind verbannt in ein Fotoalbum. Das Haus ändert sich. Es ist …

… still geworden.

Sophie streckt den Oberkörper aus der Dusche. Gänsehaut überzieht sie mit kalten Stacheln, die Angst schleicht sich heran. Sie lauscht mit angehaltenem Atem.

Nichts außer schwachem Rauschen und dem Summen der Elektrik aus dem Sicherungskasten im Flur.

Stille ist gut, sagt sie sich. Alles, solange der Hund nicht anschlägt.

Sophie klettert auf die Toilette, öffnet das Dachfenster und linst hinaus. Der Wald schläft im Regen. Genauso gut könnte sie völlig allein auf der Welt sein wie in diesem Roman über eine unsichtbare Wand, den sie in der Schule lesen musste.

Es wird Zeit, dass der Schnee kommt. Das Schlimmste ist das Warten.

Sophie zwirbelt aus Handtuch und nassem Haar einen Turban. Ihre braunen Augen im Spiegel sind von Schatten umkränzt. Die letzte Nacht war schlimm; sie hat kaum ein Auge zugetan, ständig in Alarmbereitschaft. Dreimal hat der Hund sie geweckt. Einmal ist sie aus einem Traum hochgefahren, in dem schrecklicher Husten sie verfolgte, Ruprechts Husten, nur dass er im Traum aus der Brust eines Kindes drang, das Sophie nicht sehen konnte, weil frisch gemähtes Gras es bedeckte.

Sie wird sich Ruprechts Geschichten nicht weiter anhören. Wieso meinen alte Männer stets, Krankenschwestern wären wild auf ihre Erzählungen?

Sophie schaltet den Heizstrahler an und setzt sich davor auf ein zweites Handtuch, das sie als Badvorleger verwendet, um nicht auf den kalten Fliesen stehen zu müssen. Sie zieht die Knie an, umfasst die Schienbeine. Es ist ihr Platz, ihre Zeit zum Weinen.

Gestern, da hat sie nicht geweint. Immerhin das hat Ruprecht ihr gegeben. Ein bisschen Ablenkung, ein bisschen Nahrung für den Geist. Seitdem liegen Bände eines Weltlexikons auf ihrem Nachttisch. Unten im Wohnzimmer füllen sie ein ganzes Regal. Sie sind alt – noch in altdeutscher Schrift, was ihr Mühe bereitet. Dennoch hat sie den Eintrag über die Reformation bereits gelesen.

Sie wird dem Alten heute Abend Kartoffelsuppe kochen. Sie muss haushalten mit den Lebensmitteln. Zwar hat er behauptet, er könne sich selbst verpflegen, doch was soll er in seinem Sack schon mit sich führen. Äpfel, Nüsse, Honigkuchen? – Was für ein Ammenmärchen. Unter den Tränen, die auf das Handtuch tropfen, kichert Sophie beinahe.

Aber sie wird ihm sagen, dass er ihr nicht noch einmal mit seinen Erlösungsgeschichten kommen soll.

6 – Damals …


Die Rauhnächte: dämonenreicher Zauber des Mittwinters. Zwölf Nächte außerhalb der Zeit, in denen die Grenzen zu anderen Welten fallen, Geister an Türen klopfen. Die Zeit der Wilden Jagd.

Hütet euch. Denn die Dämonen lauern in uns.

Marians Chronik.

»Dein Bursche da, Rupp, er ist stark wie eine Eiche. Wie alt ist er jetzt? Neunzehn? Zeit für ne Frau, oder?«

Ihr Gastgeber stellte einen Becher dünnes Bier vor Nikolo, dessen Lippen einen verkniffenen Strich bildeten. Der Becher wirkte verwaist auf dem sonst blanken Tischtuch. Keinerlei Speisen, nicht einmal Gebäck, warteten zu Ehren des Gastes. Kein Gesinde harrte entlang der Wände wie in anderen Gehöften, um der Einkehr von Sankt Nikolaus beizuwohnen. Bis auf die Bauersfamilie schien das große, neue Haus leer. Die Geste, mit welcher der Hofherr Rupp einen eigenen Trinkbecher reichte, schien jedoch nicht unfreundlich.

»Wenn der Großhuber deinen Rupp hier sieht, muss er doch bedauern, ihn dir damals gegeben zu haben. Wobei du ihm in der Sache wohl nicht viel Wahl gelassen hast.«

Nikolos Stirnrunzeln vertiefte sich. »Wie hätte ich ihn wohl überreden können?«

»Der Mann, der die Kinder des Großhubers unterrichtet und ihm bei den Rechnungsbüchern hilft? Wüsste nicht, wie ein solcher Kerl etwas über einen anderen in Erfahrung bringen könnte.«

»Du spottest, aber glaub mir, Thomas, die Menschen tun Dinge, auch ohne dass man ihnen den Dolch auf die Brust setzt.«

In der Ecke des Raums versenkte die Bäuerin ihre Nadel in einem Berg Stoff. Anna war eine Nichte von Nikolos verstorbener Frau. Rupp hatte Männer ihre Schönheit rühmen hören, doch jetzt steckte Annas Haar unter einer strengen Haube, die Haut spannte sich über verhärteten Zügen. Auf ihrer Brust hob und senkte sich ein einfaches Silberkreuz über einem schwarzen Gewand. Letzten Monat war Annas jüngere Schwester am Fieber verstorben – nach Jahren in Leibeigenschaft, weil die Familie beim Tod des Vaters den Erbteil nicht hatte leisten können. Anna selbst war damals der Leibeigenschaft nur durch die Heirat mit Thomas entgangen.

Auf dem Schranktisch neben dem Stuhl der Bäuerin lag ein gedrucktes Buch, das Rupp sofort erkannte. Eine Flugschrift steckte darin. Als Anna Rupps Neugier bemerkte, schob sie das Papier tiefer zwischen die Seiten und starrte ihn feindselig an.

Thomas musterte noch immer Rupp. »Ist heutzutage nicht leicht für einen Knecht, für ein Weib zu sorgen. Die Oberen, sie machen es einem immer schwerer, selbst einem so starken Burschen wie dir, der gut arbeiten kann.«

Rupp wusste nicht, was der Bauer von ihm hören wollte, aber er brauchte auch nicht zu antworten, denn Nikolo kam ihm zuvor.

»Rupp stellt keinen Mägden nach.«

»Wenn es Mägde sind, die er begehrt«, zischte die Bäuerin aus ihrer Ecke. Blut quoll aus einem Nadelstich in ihrem Daumen, so aufgebracht hatte sie den Stoff traktiert.

Nikolo knallte seinen Becher auf den Tisch. »Hast du mir die Tür geöffnet, weil du dich um meinen Knecht sorgst, Thomas?«

»Wir haben uns schon gefragt, wann du mal wieder bei uns anklopfst. Hast dich lange nicht blicken lassen.«

»Ich bin gekommen, weil ich annahm, euer Haus könnte ein wenig Freude und Segen vertragen.«

Thomas barg den blutenden Daumen seiner Frau in seiner Faust. Die Eheleute wechselten einen Blick. Anna seufzte.

Thomas murmelte: »Jedes Haus kann Freude und Segen vertragen.«

Nikolo sank besänftigt zurück. »Wo sind eure Kinder?«

»In der Küche.« Anna erhob sich. »Ich hole sie.«

Thomas hielt sie zurück. »Wir haben gehört, dass du die Befragung der Kinder mittlerweile oft deinem Knecht überlässt, Nikolo. Er soll gut mit ihnen können. Es wäre uns recht, wenn Rupp sich von unseren Kindern ein Gebet aufsagen ließe.«

Rupp war froh, in die Küche zu entkommen. Drei Jungen lümmelten dort auf Boden und Holzbank. Der Älteste schürte gerade das Feuer, die beiden Kleineren lutschten an honigverklebten Fingern.

»Thomas, Michael, Martin, der Mann hier möchte hören, ob ihr eure Gebete kennt.« Die Hausherrin war Rupp gefolgt.

Der älteste Junge kratzte sich mit dem Ende des Schürhakens am Fußrücken. Sein Blick flackerte listig Rupps Körper hinauf, wandelte sich jedoch zu widerwillig eingeschüchtert, weil er seinen Kopf dabei immer weiter in den Nacken legen musste.

»Wir kennen viel mehr Gebete als die anderen Kinder«, platzte es aus ihm heraus. »Vater liest uns die Bibel vor.«

Die Bibel in deutscher Sprache, von Martin Luther übersetzt, das Buch auf dem Schranktisch. Buchhändler verkauften sie auf den Marktplätzen, Lesekundige trugen sie jenen vor, die der Schrift nicht mächtig waren. Nikolo besaß ebenfalls eine. Den Mann und seine ketzerischen Lehren mochte er ablehnen, seine Bibelübersetzung faszinierte ihn jedoch.

»Welche Stellen liest euer Vater denn so vor?«, fragte Rupp die Jungen.

»Wie Jesus Gutes tut«, piepste der Kleinste. »Und wieso man keinen Stein schmeißen darf.«

»Jesus ist nicht der einzige, der den Menschen Gutes getan hat. Hat euch euer Vater denn auch von den Wundern von Sankt Nikolaus erzählt?«

»Vater sagt, wir sollen keine Heiligen anbeten«, schnappte der Älteste und reckte das Kinn, bevor seine Mutter einschreiten konnte. »Nur Jesus Christus steht zwischen uns und Gott – und niemand sonst.«

»Er ist Anhänger Luthers!«

»Deshalb hättest du ihn noch lange nicht beim Schultheiß anschwärzen müssen!« Rupp scherte sich nicht darum, ob sich andere Kirchgänger in Hörweite befanden. Die Glocken läuteten laut genug, um seinen Ausbruch zu übertönen.

Rupp und Nikolo hatten dem Hochamt nicht in ihrer Dorfkirche beigewohnt, sondern waren bereits im Morgengrauen aufgebrochen, um die Heilige Messe in der Klosterkirche zu feiern. Hier versammelten sich der Grundherr, die Reichen und Amtsträger am Morgen eines jeden fünfundzwanzigsten Dezembers, und Nikolo zog es zu den Mächtigen.

Nach ihren Besuchen am Nikolaustag setzte er sich Abend für Abend an sein Schreibpult und tauchte die Feder in Tinte. Nikolos Notizen drängten sich auf eng beschriebenen Seiten, Namen, Verbindungen, Ereignisse. Nicht alles nur Neuigkeiten, die er am sechsten Dezember erfuhr, sondern genauso Gerüchte, welche er das Jahr über anhäufte. Nikolo sammelte jederzeit, überall. Wie ein Bienchen, nur dass im Winter seine große Zeit kam. Dann öffneten sich ihm die Seelen der Menschen, weil sie dem Heiligen Nikolaus vertrauten.

»Ich habe mit dem Schultheiß ein paar Worte gewechselt, und wir kamen auf Thomas zu sprechen, das ist alles.« Nikolo reckte den Hals, um über die Köpfe der Anwesenden hin Ausschau zu halten.

Am liebsten hätte Rupp ihn geschüttelt. Jegliche Weihnachtsstimmung war ihm gründlich vergangen. »Erpresst du den Schultheiß eigentlich immer noch mit seinen Bankerten?«

»Ich erpresse nicht!», fauchte Nikolo. »Außerdem teilt der Schultheiß unser Interesse, wer sich mit Luthers Anhängern verbrüdert.«

»Thomas ist ein guter Mann, kein Verbrecher! Was ist, wenn sie glauben, er hätte Aufständische unterstützt?«

»Woher willst du wissen, dass er das nicht getan hat?«

Die Kirchbesucher strömten in Richtung der Ortschaft unterhalb des Klosters, farbenfroh in faltenreichen Mänteln unter üppig geschmückten Krägen und Kopfbedeckungen. Für den Grundherrn sowie die Kaufleute, Handwerker, freien Bauern und Würdenträger von auswärts standen an der Straße Wägen bereit. Ein paar Bettler drängten den Herrschaften entgegen.

Rupp war größer als alle anderen, deshalb konnte er gut die Menge überblicken und beobachten, wie der Schultheiß an den Grundherrn herantrat und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Einen Moment später richteten sich beider Augen auf Nikolo. Der Grundherr tippte sich an den Hut.

Nikolo strahlte. »Siehst du? Das wird mir noch viel nutzen.«

Rupp war schlecht. Er zerrte Nikolo um die Ecke der Klostermauer, wo ein Zaun aus Weidengeflecht winterkahle Obstbäume umfriedete.

Nikolo fegte Rupps Hand von seinem Arm. »Fass mich nie wieder so vor den Augen unseres Freiherrn an, Junge. Verstanden?«

»Was werden sie mit ihm tun? Thomas?«

»Ich weiß es nicht.«

»Verdammt, sie haben Leuten wie ihm die Augen ausgebrannt!«

»Es macht einen Unterschied, ob ein Mann seinen Kindern Luthers Lehren erzählt oder sich gegen die Obrigkeit erhebt. Ich habe ja nicht behauptet, dass Thomas zu ihren Mörderbanden gehört. Du brauchst dich nicht schuldig fühlen, Rupp.«

»Herrgott, was denn sonst? Wenn ich dir nicht erzählt hätte, was Thomas seinen Kindern beibringt … Wir müssen ihn warnen!«

»Du wirst nichts dergleichen tun, Rupp! Du wirst dich da schön raushalten. Die Bauernkriege sind vorbei, Thomas wird schon nicht viel passieren. Vielleicht ein Strafgeld, sollte er tatsächlich die Bauernrotten unterstützt haben. Das kann er zahlen.«

»Ihr wart miteinander verschwägert!«

»Ich war und bin mit keinem Ketzer verwandt.«

Rupp flehte: »Thomas, Bauern wie er, sie wollen doch nur ein besseres Leben.«

Nikolo umfasste Rupps Finger wie ein Gebetsbuch. »Darum geht es nicht. Du weißt, was Luther und die Seinen über unsere Heiligen predigen. Das setzt sie ins Unrecht. Nicht weil sie den Ablasshandel kritisieren oder die Gier unserer geistlichen Fürsten, nein, sondern weil sie glauben, der Mensch könne selbst mit Gott sprechen. Sie schaffen unsere Heiligen ab, Rupp. Sie vernichten Nikolaus.«

»Wir haben Thomas ans Kreuz genagelt.«

»Was für ein Unsinn!«

»Was soll ich seiner Frau sagen? Seinen Söhnen?« Rupp starrte auf seine Hände hinab, die Nikolo wieder freigegeben hatte, um seine eigenen in den Tiefen der festlichen Schaube zu wärmen. Die Glocken hatten zu schlagen aufgehört. »Ich dachte, das, was wir tun … es wäre etwas Gutes.«

»Das ist es auch, Junge. Kannst du denn nicht spüren, wie Gottes Hand uns bei unseren Besuchen lenkt? Gott will, dass wir die Menschen und ihre Herzen kennen. So wie wir ihnen dienen, dienen wir IHM.«

Rupp jedoch konnte keinerlei göttlichen Willen in Nikolos Verrat erkennen. Er fühlte nur Scham angesichts dessen, was er über Thomas und dessen Familie gebracht hatte.

Es ist nicht recht.

»Ich gehe und warne Thomas. Jetzt gleich.«

»Den Teufel wirst du tun, Rupp!«

Rupp drängte an Nikolo vorbei.

»Wenn du jetzt gehst, kannst du gleich bei Thomas und seinesgleichen bleiben!«, rief Nikolo ihm nach.

Rupp begann zu laufen.

Rupp spürte Blicke auf sich. Sie drangen durch Ritzen im Heuboden, lugten zwischen den Brettern des Taubenschlags hindurch. Die Tore der Getreidescheune waren verschlossen. Schaf- und Schweineställe lagen still, als schwiegen selbst die Tiere angesichts Rupps Verfehlungen. Aus dem Abzug des Hauptgebäudes stieg keinerlei Rauch in den Himmel. Anstatt ein weihnachtliches Festmahl vorzubereiten, verschanzten sich die Bewohner. Beobachteten ihn. Wussten, was er getan hatte.

Im nächsten Moment schalt er sich albern. Vielleicht feierte Thomas mit seiner Familie Weihnachten bei Verwandten oder besuchte den Friedhof. Das fehlende Leben auf dem Hof musste nichts bedeuten.

Auf dem Weg zu Thomas’ Hofstatt hatte Rupp einen Umweg nach Hause eingelegt, um sich nach der Fastenzeit etwas kalten Brei und Würste in den Mund zu stopfen. Sein feines Wams hatte er gegen ein gefüttertes aus dunklem Leder getauscht. Handschuhe baumelten am Gürtel neben einem Messer; sein Umhang hing über einer Schulter. Im schnellen Lauf war ihm warm geworden, erst jetzt fühlte er die Kälte der beginnenden Rauhnächte. Aber vielleicht war es auch der eisige Hauch, der ihm entgegenwehte, als Thomas’ Frau die Tür aufriss und ihm über die Schwelle entgegensprang.

»Er ist nicht hier!«, schrie sie. »Was willst du?«

Von der strengen Frisur der Bäuerin war nichts geblieben. Annas lockiges Haar flutete an ihrem Gesicht vorbei über Brust und Schultern, zerzaust, das Antlitz von Weinen geprägt, doch soviel bewegter und begehrenswerter als an dem unseligen Nikolausabend drei Wochen zuvor.

»Ich, ich wollte deinen Mann warnen«, stammelte Rupp, überrumpelt von ihrer Attacke ebenso wie von ihrer leidenschaftlichen Schönheit. »Der Schultheiß weiß –«

»Er weiß gar nichts! Aber das kümmert euch ja nie!« Anna hielt etwas in der Hand. Zu spät erkannte Rupp, was es war. Schon flogen gebackene Lehmklumpen mit Kieseln gemischt an seinem Gesicht vorbei. Rupp riss den Arm hoch, um sich vor dem Hagel zu schützen.

»Bitte, ich möchte mit ihm sprechen.«

»Er ist fort, hast du nicht gehört?« Sie wischte sich über die Augen. Ein Jungenkopf schob sich hinter ihr durch den Türspalt, der älteste Sohn. Anna trieb ihn mit wilden Schlägen in die Stube zurück und knallte die Tür vor dem Knaben zu.

»Aber heute ist Weihnachten«, wandte Rupp lahm ein.

»Ach ja? Hat das etwa deinen Meister geschert, als er mit dem Schultheiß gesprochen hat? Wir feiern die Geburt unseres Erlösers, aber wen von euch kümmert das noch? Ihr sprecht von Ketzerei und … « Sie brach ab.

»Bitte, lasst mich euch helfen.«

»Wir brauchen deine Hilfe nicht. Du hast schon genug getan.«

Ihre Augen irrlichterten über die zaunbegrenzte Flur, als ob sie erwartete, jeden Moment einen Trupp Landsknechte aus dem Wald hervorpreschen zu sehen, Weihnachten hin oder her.

»Wenn Thomas so hastig aufgebrochen ist, hat er bestimmt nichts mitnehmen können. Wenn er sich in den Wäldern versteckt, dann wird er Decken brauchen, warme Kleidung, Nahrung. Ich kenne mich aus im Wald, wirklich, ich kann ihn finden.« Rupp klammerte sich an den letzten Strohhalm, um irgendetwas richtig zu machen. »Ich bringe ihm alles, was ihr ihm schickt.«

Ein rundes Gesichtchen presste sich gegen das Glasfenster neben der Tür. Der jüngste Sohn, Martin, erinnerte sich Rupp. Wenn er Geld gehabt hätte, Rupp hätte seine ganze Schatztruhe vor Thomas’ Schwelle ausgeleert.

Anna starrte ihren Kleinsten durchs Fenster hindurch an. Der Junge legte seine Hände zum Gebet zusammen. In diesem Moment knickten die Beine der Hausherrin ein. Rupp sprang vor, um sie aufzufangen. Sie wehrte ihn ab, bevor er sie anfassen konnte. Keuchend stützte sie sich gegen die Hauswand.

»Bitte«, flehte Rupp, »lasst mich etwas tun.«

Erst dachte er, sie würde niemals antworten. Dann sagte sie: »Warte hier.«

Sie verschwand im Inneren. Eine Stimme begehrte auf, sicherlich die von Thomas, dem ältesten, nach seinem Vater benannten Sohn. Eine Hand klatschte gegen Haut, ein Aufschrei gefolgt von Stille. Kurz darauf schleppte Anna ein Bündel aus dem Haus. Sie schleuderte es Rupp entgegen, der den Beutel auffing, bevor er auf den festgetrampelten, von Rußflocken, Stroh und Holzstückchen gesprenkelten Schnee fallen konnte. Der Inhalt fühlte sich weich an – Decken, Kleidung –, doch Rupp spürte auch einen kleineren Beutel im Größeren, dieser mit festerem Inhalt: Schinken, womöglich ein Paar Schuhe. Das Bündel war unhandlich, jedoch nicht schwer. Rupp warf es sich über den Rücken.

»Sie sind zu viert«, murmelte die Bäuerin. »Thomas ist nicht allein. Gott sei Dank, er ist nicht allein.«

Rupp nickte. Jahre waren vergangen, seit wütende Bauernhaufen die Länder mit Krieg überzogen hatten, doch noch immer versteckten sich Geächtete in den Wäldern. Von Zeit zu Zeit entdeckte Rupp Spuren, die weder von Wilderern noch Jägern stammten. Manchmal glühten Feuer in aufgegebenen Burgen tief im Wald. Dann erzählten die Leute ihren Kindern Schauermärchen von Geistern und Schraten, derweil der Vogt Bewaffnete ausschickte, um die Gesetzlosen zu jagen.

»Es gibt eine Höhle.« Anna deutete nach Süden. »In der Nähe des Teufelstischs, wo der Bach zusammenfließt. Dort liegt eine Schlucht.«

»Sorgt euch nicht, ich werde ihn finden.«

Sie knabberte auf ihrem Daumen, zitterte. »Ich habe ihm gesagt, er solle euch nicht einlassen, dich und Nikolo. Vor allem Nikolo. Thomas, er meinte, wir huldigen zwar keinen Heiligen, aber unhöflich seien wir nicht.«

Speichel glänzte an ihrem Daumen. Sie spuckte Rupp vor die Füße. »Du wirst nie ein Mann werden wie mein Thomas. Es heißt, der größte Feind von einem Knecht ist ein anderer Knecht. Du, Rupp, du hast eine Knechtseele, verflucht sollst du sein!«

Rupp floh von dem Hof, als ob er vor einem Hagel Pfeile fliehen würde. Mit dem Bündel hoch über dem Rücken, wie um seinen Nacken zu schützen vor all dem Hass und der Verachtung von Thomas’ Familie. Erst als er in den Wald eintauchte, fand er wieder halbwegs zu Sinnen.

Rupp schwor sich, er würde alles wiedergutmachen.

Er wandte sich nach Süden. Schatten legten sich über ihn, aber es waren bloß Wolken, die das wechselhafte Spiel des Tages für sich entschieden und schwer beladen mit frischem Schnee von Westen heraufdräuten. Ihre Flocken würden Thomas’ Spuren auslöschen. Aber Rupp kannte den Teufelstisch, eine markante Felsansammlung am Rande eines dichten Waldgebiets mit steilen Hängen und finsteren Tälern, in denen der Winter harscher tobte denn irgendwo sonst.

Vor ein paar Jahren hatte Rupp dort Dienst für eine Jagdgesellschaft des Landesherrn leisten müssen. Tagelang war er dem Hochwild nachgestreift, hatte Spuren von Luchsen und Wölfen entdeckt, während die adeligen Herrschaften sich am Morgen für ein paar Stunden an den Waldrand begaben, um dort auf das Wild zu harren, welches die bäuerlichen Helfer ihnen zutrieben. Es war Erntezeit gewesen; die Bauern hatten die Adeligen verflucht. Sie verschwendeten ihre Zeit, sie riskierten ihre Ernte. Nur Rupp hatte sich nicht beklagt. Er hatte die Erlaubnis bekommen, für den Koch Niederwild zu jagen, ein Recht, das sonst nur Würdenträgern zustand. Niemand fragte bei solchen Gelegenheiten, woher sein Geschick im Wald rührte, seine Fähigkeit, Pfad und Richtung selbst bei Nacht oder Nebel zu bestimmen. Rupp seinerseits erzählte niemanden von seiner Kindheit am Rande des Waldes und dem geheimen Wissen seiner Mutter.

Der Schnee fiel in Flocken groß wie Pusteblumen. Die wenigen Menschen, denen Rupp auf der Straße begegnete, grüßten ihn frohgemut und empfahlen ihn Gott. Einmal bot ein Ehepaar an, ihn mit zu sich zu nehmen, Weihnachten in ihrer Stube zu verbringen, aber Rupp lehnte ab, behauptete, am Ende seines Wegs warte ein Feuer auf ihn mit Menschen, die ihm am Herzen lagen.

Er dachte an Thomas’ Buben. Wie der kleinste die geflickten Kleider der älteren Geschwister auftrug und an den Stolz des Ältesten. Sie hätten ihm vertrauen sollen, wie all die anderen. Sie waren gute Jungen, ehrlich, tapfer, sie trugen Sorge für einander. Sie hätten mit sauberen Fingern in den Sack mit den Geschenken greifen sollen. Stattdessen hassten sie ihn jetzt, und das Unrecht lag einzig bei ihm.

Knechtseele. Rupp war entschlossen, ihnen das Gegenteil zu beweisen.

Seine Fußspitzen pflügten durch mehliges Weiß. Je weiter er nach Süden kam, desto heftiger schneite es. Unterhalb der Anhöhe mit dem Teufelstisch wich Rupp von der Straße ab, um einem Pfad an einer Jagdhütte vorbei bachaufwärts zu folgen. Die hellen Bruchstellen frisch geknickter Zweige zeugten davon, dass er an diesem Tag nicht als erster diesen versteckten Weg nahm.

Die Dämmerung warf ihr Zwielicht, doch Rupp fiel es nicht ein, anzuhalten oder gar umzudrehen. Die Nacht schreckte ihn nicht, hatte sie noch nie. Nachtblind wurde nur der, dem die Angst einen Schleier bastelte, und der Wald war Rupps Zuhause.

Er erreichte den Zusammenfluss zweier Bäche und folgte dem Verlauf des schmaleren Zubringers stetig bergauf. Der Pfad endete, Wildwechsel begleiteten das zugeschneite Bachbett tiefer hinein in das Reich von Hirsch und Luchs. Die Landschaft wuchs zu steileren Bergen mit engen, der Wintersonne entzogenen Talböden. In schattigen Senken häufte sich vom Wind verblasener Schnee.

Der Bach schlängelte sich an Waldhängen mit vereinzelten Felstürmen vorbei. Rupp folgte einer Perlenschnur an hufgroßen Kuhlen das Bachbett entlang: Eis, das unter Pferdehufen gebrochen war. Ein Stück weiter bachaufwärts zweigte ein weiteres Rinnsal ab. Es führte hinein in eine Kluft, in der immerwährende Düsternis herrschte und ein Wasserfall zu eisigen Treppenstufen gefroren war.

Es hörte zu schneien auf. Kurz darauf entdeckte Rupp den Unterschlupf der Geächteten.

Ein Hund bellte eine Warnung, noch bevor Flammenschein die Lage der Höhle verriet, aber da hatte Rupp das Feuer bereits gerochen. Er blieb in einiger Entfernung stehen, rief laut seinen Namen, dass Thomas’ Frau ihn schicke. Er habe Decken, Kleider, Essen bei sich. Erst spät fiel ihm ein, dass die Männer ihn genauso gut erschießen mochten. Bestimmt hatten sie Armbrüste, vielleicht sogar Büchsen. Wer sagte eigentlich, dass die anderen Gesetzlosen auf Thomas hören würden? Falls Thomas überhaupt für Rupp sprechen würde.

Der Hund wurde schnell zum Schweigen gebracht. Zunächst antwortete niemand auf Rupps Rufen. Dann huschte ein Schemen schräg über ihm an der Felswand entlang. Der Mann trat Steine unter dem Schnee los, die in die Schlucht kullerten. Hinter einem Baumstamm kauerte er nieder. Glut glomm auf. Der Lauf einer Hakenbüchse richtete sich auf Rupp.

»Auf mein Wort hin zündet er die Lunte und knallt dich ab.«

Thomas stand unterhalb eines überhängenden Felsens, der ihre Höhle verbarg. Es war zu dunkel, um mehr als seine Umrisse auszumachen, dennoch ahnte Rupp, dass es besser wäre, an Ort und Stelle stehenzubleiben. Er hob das Bündel von seinem Rücken hoch über den Kopf, bevor er es betont langsam zu seinen Füßen ablegte.

»Deine Frau schickt dir das.«

»Wieso sollte Anna ausgerechnet dich schicken?«

»Weil ich etwas gutzumachen habe.«

»Das hast du allerdings. Jetzt hau ab.«

»Nikolo hat dir Unrecht getan, und ich werde es ihm beweisen!«

»Nikolo kümmert mich nicht. Du verschwendest meine Zeit, Knecht.«

»Ich habe mir überlegt …« Rupp kaute auf den Lippen. Er hatte sich gar nichts überlegt. Er war auf dem ganzen Weg mit seinem schlechten Gewissen beschäftigt gewesen, seinem Groll gegen Nikolo und dem, was die Bäuerin ihm an den Kopf geworfen hatte.

»Ich könnte für euch jagen«, bot er an. »Ich kann Wild jagen, ohne dass jemand meine Spuren findet. Ich kenne die Wälder.«

Er malte sich aus, wie er ein Wildschwein zu Thomas und seinen Freunden schleppte. Wie ihre ausgezehrten Gesichter aufleuchteten, und Thomas’ Frau nicht um ihren Mann fürchten musste, weil er selbst im erbittertsten Winter genug zu essen bekam und auf einem Berg Felle schlief.

Der Schatten mit der Büchse höhnte: »Vielleicht kann der Grünschnabel ja auch Garn um Schneckenhäuser wickeln.«

Ein dritter Mann reichte Thomas einen brennenden Kienspan. Thomas kam auf Rupp zu. Er trug noch sein Sonntagshemd, darüber ein Wams mit verzierten Knöpfen und eine Schaube, die sich in der Kirche gut machte, aber nicht in einer Höhle im Dezemberwald.

Thomas bückte sich nach dem Bündel seiner Frau. Strich über die Oberfläche des Sacks, befühlte das Innere, atmete den am Stoff haftenden Geruch nach Schinken, Heim und warmer Stube ein.

»Ich kann mehr für euch besorgen, wenn ihr wollt. Essen, Kleider, Decken«, sagte Rupp.

Thomas schlang sich den Riemen über die Schultern und wandte sich ab.

»Geh nach Hause, Junge. Hier braucht dich keiner.«

Rupp stolperte durch die Nacht. Ziellos, richtungslos.

Sie brauchten ihn also nicht. Sie hielten ihn für nutzlos.

Seit sein Vater gestorben war, hatte Rupp keine solche Ohnmacht mehr gefühlt. Bitterkeit und Selbstverachtung warfen ihren Mantel über ihn, bis er kaum mehr seine Umgebung wahrnahm.

Dich braucht keiner. Geh nach Hause, Knecht.

Rupp stöhnte auf. Er hieb gegen einen Ast und entlud dabei eine Ladung Schnee in seinen Nacken. Selbst der Wald versagte ihm seinen Trost. War der Schnee auf dem Hinweg sein Freund gewesen, legte er sich nun wie ein Gewicht um Rupps Füße. Schneebällchen klumpten an Wollfäden, krochen in wadenhohe Stiefelschäfte. Immer wieder brach er bis zu den Oberschenkeln ein, und sein Drang, sich in der Winternacht zu verlieren, wurde mit jedem Stolpern, jedem Herauswühlen aus einem weiteren Schneeloch größer.

Die Nacht schritt fort, aber es kümmerte Rupp wenig. Nikolo würde ihn kaum vermissen. Rupps Meinung bedeutete ihm nichts. Nichts an ihm bedeutete irgendwem irgendetwas.

Unbeachtet von Rupp riss die Wolkendecke auf. Handschuhe überfroren, Hosenbeine schabten über Stiefelriemen, deren Leder versteifte. Gefangen in Selbstmitleid bemerkte Rupp nicht, wie der Schnee sich in zunehmender Kälte umzuwandeln begann. Kristalle wuchsen, bildeten kantigere Formen. Sie raschelten unter Rupps Schritten, wisperten eisigen Spott.

Er wühlte sich hangaufwärts. Flüchtete sich in die Anstrengung, das unwegsamste Gelände zu bezwingen, dort zu wandeln, wo sich niemand anderes hinwagte. Auf der Kuppe erstreckte sich einsamer Winterwald in alle Richtungen. Er könnte schreien, toben, all seinen Zorn hinausbrüllen, nur die Tiere würden ihn hören und sich wundern.

Am jenseitigen Hang jagte Rupp in weiten Sätzen hinab, immer schneller und halsbrecherischer, bis sich sein Fuß an einem Ast unter der Schneedecke verfing. Er überschlug sich und prallte mit dem Schädel gegen einen Stamm.

Der Schlag brachte ihn zur Besinnung. Seine Zehen in den Stiefeln fühlten sich steif an, die Wolken waren verflogen. Mondlicht enthüllte einen Pelz aus Reif auf seinen Handschuhen. Der Wald lag eingefroren, als hätte sich die Zeit dem Winter ergeben.

Diese Gegend hatte er nie erkundet. Ein enger Streifen Talgrund, umgeben von abweisenden Hängen. Rupps Spur pflügte eine Narbe in die Schneeflanke hinter ihm. Am gegenüberliegenden Hang brach sich der Mond auf eisüberkrusteten Felsen. Dazwischen schimmerte es heller, wo sich der Wald zu einer Lichtung öffnete.

Dann schnaubte ein Pferd.

Rupp richtete sich so langsam auf, als schaffe er sich neu aus Erde und Nacht. Nicht ängstlich, doch wachsam, denn wer sollte sich in einer Rauhnacht wie dieser so tief in den Wald verirren? Wildfrevler jagten vor dem Schneefall, damit der Schnee ihre Spuren verwischte. Oder versteckten sich in diesem Tal weitere Aufständische?

Rupps Sinne suchten die Einheit mit dem Wald, erspähten eine Linie zwischen den Bäumen hindurch. Auf einmal fanden seine Füße wieder zuverlässigen Tritt, setzten eine Fährte, wie sie auch ein Wildtier in den Schnee zeichnen würde: schmal und von gleichmäßiger Tiefe.

Am Rande der Waldlichtung schufen tiefhängende Fichtenäste ein Zelt aus Tann, Schnee und weiß bekleckstem Nadelgrund. Rupp bog zwei Äste auseinander, so sachte, dass selbst ein geübtes Auge die Bewegung in der Nacht kaum hätte wahrnehmen können. Auf der freien Fläche vor ihm durchbrachen sturmgeknickte Baumstümpfe den glitzernden Winterteppich.

In der Mitte der Lichtung riss der Teufel an den Zügeln seines Rosses.

Der Mond stand schräg gegenüber, weshalb der Schatten des Leibhaftigen seine Hörner in Rupps Richtung zu stoßen schien. Das lederne Gesicht richtete sich gen Nachthimmel, stieß ein gutturales Brüllen aus, das Rupp in Grausen auf die Knie riss. Beinahe hätte er vor Furcht selbst aufgeschrien.

Auf das teuflische Gebrüll folgte ein Fluch. Satansvieh!, glaubte Rupp durch das Rauschen in seinen Ohren zu verstehen.

Der Teufel zerrte erneut am Zaumzeug. Das Schlachtross stieg und warf seinen Schädel den Zügeln entgegen, doch der Höllenfürst zwang es zurück auf alle Viere. Bei dem Ruck hatten sich jedoch seine Hörner gelöst. Sie purzelten über den Rücken des Leibhaftigen und die Flanke des Pferdes hinab, bis sie sich schließlich mit den Spitzen voran in den Schnee bohrten.

Aus Rupps Mund entwich der Atem mit einem Zischen. Der Reiter vernahm das Geräusch bloß deshalb nicht, weil er noch immer mit seinem Hengst kämpfte. Mit einer Hand versuchte er, den Destrier zu zügeln, während die andere an der verrutschten Maske zerrte. Unterdessen glitt vor ihm auf dem Sattel eine Last zur Seite: lange Beine, Hufe, ein schlanker Hals und stierende Augen. Ein totes Reh.

Und noch immer wurde es kälter.

Frostwind seufzte über die Lichtung, wirbelte Schneekristalle auf, die rund um Pferd und Reiter tanzten. Bäume knarzten in seinem Echo, und auf Rupps Lippen gefror der Speichel. Hätte er den Blick gewandt, hätte er beobachten können, wie rund um die Lichtung Raureif auf Zweigen und Nadeln wuchs. Aber Rupp konnte an nichts denken, außer dass er vielleicht doch nicht verdammt war, auf nichts anderes achten denn auf den jetzt eindeutig menschlichen Reiter und dessen störrisches Ross aus Fleisch und Blut.

Bis die Frau auf die Lichtung glitt.

Es war ihr Lachen, das sie ankündigte. Klar wie Eiszapfen, die gegen das Glas eines Kirchenfensters klirrten. Einen Herzschlag später trat sie zwischen den Bäumen hervor. Hochgewachsen, mit schattenbeflecktem Haar im Mondlicht so silbrig hell, dass Rupp nicht sagen konnte, ob es weiß war oder blond, ob die Frau alt war oder jung. Eine Vogelmaske bedeckte ihr Gesicht bis zur Hälfte: braun-weiße Federn, ein gebogener Schnabel. Uhu.

Bei ihrem Anblick scheute das Pferd erneut. Sein Reiter schleuderte der Frau einen Fluch entgegen, den sie mit Heiterkeit erwiderte. Sie sagte etwas, was Rupp über die Entfernung nicht verstand, wohl jedoch die Antwort des Mannes – eine Verwünschung so schamlos, dass sie Rupp die Röte in die Wangen trieb.

Ein noch helleres Lachen, bei dem Schneekristalle von den Bäumen rieselten, dann drehte sich die Frau um. Eine schmale, langgliedrige Hand hob sich zum Gruß über die Schulter. Leichtfüßig schritt sie zurück in den Winterwald, als wöge sie nicht mehr als ein Fuchs, und der sonst so arglistige Schnee versagte sich, ihre Tritte zu narren. Einen Atemzug später war sie fort, und die Welt wurde erneut eine Schattierung dunkler.

Der Reiter brachte sein Ross unter Kontrolle. Ungestüm trieb er es zu einem Satz über die nächste Schneewehe. Sporen blitzten, die Vorderhufe wirbelten Flocken auf. Dann brach der rechte Lauf bis zur Brust ein. Knochen knackte. Schrill wiehernd kippte das Pferd zur Seite und begrub seinen Reiter unter sich.

Bevor Rupp sich versah, trat er hinaus in die Offenheit der Lichtung. Das Mondlicht badete seine Gestalt und klebte ihm einen Schatten an die Fersen, während er zu dem gefallenen Schlachtross eilte.

Schaum sprühte vor dem verdrehten Maul; wild rollende Augen entblößten das Weiß. Der Hengst bäumte sich ihm entgegen. Rupp drückte seinen Hals zurück, murmelte beruhigende Worte. Schweiß bedeckte das Fell. Der rechte Vorderlauf des Rappen stak in einem unnatürlichen Winkel im Schnee. Wahrscheinlich war er unter einen umgestürzten Baum oder in ein Loch geraten und gebrochen. Stolz und Stärke gefällt von einem einzigen falschen Tritt.

Der Reiter, halb verschwunden unter Schnee und Pferd, war nur wenige Jahre älter als Rupp. Im Mondhell graue Augen traten vor Anstrengung aus den Höhlen, da er versuchte, sich von der Last des Pferdes zu befreien. Das Tier klemmte sein Bein ein. Es schrie noch immer und versuchte, sich aufzurichten. Rupp hielt es unten, denn der Fremde brüllte vor Schmerz oder aus Furcht, das Tier würde weiter über ihn rollen und ihn im Schnee ersticken. Schon jetzt schnappte er nach Luft und ruderte wie ein Ertrinkender.

Rupp versuchte, den anderen am Arm herauszuziehen, doch vergebens. Der Schnee, den sie bei ihren Bemühungen aufwühlten, begann nach Metall zu schmecken. Blut. Ein offener Bruch. Dem Destrier konnte niemand mehr helfen.

Rupp zog seine Fäustlinge aus und trat an den Hals des Hengstes heran. Er hob das Messer, damit der andere seine Absicht erkennen konnte. Die Schneide schimmerte im Mondschein wie Wasser. Der Reiter grunzte seine Erlaubnis.

Rupp durchtrennte die Halsschlagader des Pferdes. Schnee färbte sich dunkel, schmolz rasend schnell unter dem Blutschwall. Die Hufe zuckten, dann lag das Tier still. Der Nachthimmel in seinen Pupillen erlosch. Vor Erleichterung erschlaffte auch der Reiter.

»Ich geh einen Hebel holen«, sagte Rupp. »Hast du Schmerzen?«

Der Bursche mit dem lehmfarbenen Haar schüttelte den Kopf. »Beeil dich trotzdem!«

Rupp lief zurück in den Wald. Am Hang, wo der Boden im Sommer weniger Wasser band, reihten sich junge Buchen. Rupp fällte eine, entfernte grob die Äste und eilte mit dem Stamm zurück zur Lichtung, wo Blutgeruch der Nacht jeglichen Zauber raubte.

Der Reiter hatte den Schnee um seinen Oberkörper herum aufgeworfen wie ein Maulwurf die Erde um seinen Bau. Doch es nutzte nichts, noch immer klemmte sein Bein unter dem Schlachtross fest. Er mühte sich, zur Seite zu rutschen, damit Rupp die Stange weit unter die Pferdebrust schieben konnte.

»Jetzt!«, japste der Fremde. Rupps Beine bohrten sich tief in den Schnee. Muskeln spannten gegen Kleider, als Rupp keuchend den Pfosten wuchtete. Der Pferdeleib hob sich ein Stück. Der Reiter strampelte und griff nach Rupps Beinen, um sich an ihm herauszuziehen. Noch im Aufrappeln betastete er seinen Unterschenkel.

»Hol mich die Pest, das hätte bös enden können.« Er taumelte zu einem Baumstumpf und sackte dagegen.

Die beiden jungen Männer beäugten sich. Dem Fremden musste es scheinen, als trachtete die Nacht danach, all ihre Schwärze an Rupp anzuhaften, denn er bemerkte: »Da hat mir der Herr heut aber seinen düstersten Engel geschickt.«

Rupp grinste. Übermut folgte auf Furcht.

»Ich hab dich erst für den Teufel gehalten. Hab mir fast in die Hosen gemacht.«

»Den Teufel, was – achso, die vermaledeiten Hörner. Wo sind die eigentlich gelandet?«

Rupp zog den Kopfschmuck aus dem Schnee. Die gekrümmten Widderhörner saßen auf einer Holzschale mit Löchern für die Riemen. Er klopfte sie ab und hielt sie dem anderen hin.

»Ich heiße Rupp.«

»Krampus.« Der jetzt rosslose Reiter stülpte sich die Kopfbedeckung probehalber über. Die Hörner warfen dolchförmige Schatten auf Rupps Gesicht, der sich fragte, wie er den Kerl jemals für den Leibhaftigen selbst hatte halten können.

»Schau dir diese Lumpenarbeit an. Ich muss jemanden finden, der mir was bastelt, damit das Ding besser hält. Sonst endet Schrecken im schrecklichen Gelächter.«

Rupp hatte bei dem dämonischen Namen, mit dem sich der andere vorgestellt hatte, zu grinsen begonnen, aber jetzt klappte er den Mund wieder zu. »Wozu trägst du sie?«

»Sag ich doch: um Schrecken zu verbreiten. Siehst ja, wie’s geklappt hat. Mit dem Ding kann ich mich gleich Hans Worst nennen. Verdammte Pfuscher!«

Krampus öffnete den Bauchgurt seines Rappen und zerrte den Sattel unter dem toten Tier hervor. Ein Bündel hing daran: ein Überrock mit einem unregelmäßigen Kragen, wo eine Pelzverbrämung abgeschnitten worden war. Darin eingewickelt lag eine Armbrust. Krampus warf sich die Schaube über, die Armbrust hängte er sich an einem Riemen über den Rücken. In seinem Gürtel steckte ein Dolch mit silbertauschiertem Griff.

Krampus schien kein Interesse daran zu haben, das Zaumzeug abzunehmen, obwohl es aus gutem Leder war. Daher zog Rupp dem Pferd die Riemen über den Kopf. Er hätte Krampus gerne gefragt, woher dieser Destrier mit der stolzen Stirn und einem Temperament für Schlachten und Turniere stammte. Doch die Frage hätte Krampus in die Ecke eines Verbrechers gestellt. – Was er auch war, wenn er in diesen Wäldern wilderte.

Krampus folgte Rupps Blick zu dem erlegten Reh. »Ich hätte gleich das Pferd schlachten sollen. Kann niemand behaupten, diese Satansbrut hätte nicht gekriegt, was sie verdient.«

Ihm schien eine Idee zu kommen. Ein zweites Mal musterte er seinen Retter, wie er wohl auch einst das Pferd gemustert hatte. »Du bist stark, Rupp, eh? Du hast mir einen guten Dienst erwiesen. Hilf mir noch ein zweites Mal und trag mir das Reh zu unsrem Lager.«

»Ihr habt ein Lager? Du und diese Frau?«

»Also hast du sie gesehen. Naja, ich kann’s dir nicht übelnehmen, weil du dich versteckt hast. Teufelsweib. Die Schlimmste von uns allen. Völlig irre.«

»Ihr seid mehrere?«

»Vier. Die vier Schrecken der Wälder.«

»Wilderer?«

Krampus’ Grinsen entblößte einen schiefen Eckzahn. »Besser. Die Wilde Jagd.«

Rupp hatte sich niedergekniet, um sein Messer im Schnee zu reinigen, doch bei Krampus’ Antwort vergaß er die Klinge.

Die Wilde Jagd. Erst letzte Woche hatte der Pfaffe von falschen Götzen gezetert, die in manch verstecktem Weiler überdauerten. Von Heidentum, das sich in sündigen Erinnerungen der Großeltern verbarg. Die Jungen sollten sich hüten, denn der Teufel lauere hinter vielgesichtigen Masken, in einem scheinbar harmlosen Kreis aus Holunderblüten, den ein Mütterchen um seine Stube zog, oder in der Schüssel Hirsebrei, die sie in den Rauhnächten vor die Tür stellte.

Rupp selbst erinnerte sich an all diese Dinge – Zauber, kleine Gaben an Kobolde und alte Gottheiten – von früher. Seine Mutter hatte zu Beginn der Rauhnächte ihr Spinn- und Webzeug beiseite geräumt und ihr Heim vorbereitet: nicht nur auf das Fest der Geburt von Jesus Christus, sondern ebenso auf die Ankunft der Geister aus Alter Zeit. Wenn der Sturm Eiskörner durch die Türritzen blies, hatte sie ihren Sohn vor dem Wüten der Wilden Jagd gewarnt, dem Geisterzug, der jene Seelen mit sich riss, die sich zur falschen Zeit draußen aufhielten.

Schau niemals hin, Sohn, wenn das Dämonenheer vorbeizieht. Sonst kommen sie dich holen.

»Was denn, so erschrocken, Ruppilein? Ich dachte, du wärst aus härterem Holz geschnitzt. Tja, im Antlitz des Abenteuers trennt sich die Spreu vom Weizen«, spottete Krampus, da Rupps Reglosigkeit andauerte.

»Nun denn, hab dank und leb wohl! Das Reh kannst du behalten.«

Krampus schwang sich seinen Sattel über die Schulter, verbeugte sich schwungvoll vor Rupp, dann machte er sich pfeifend mit seinen Teufelshörnern unter dem Arm auf in die Richtung, in welche die silberne Frau verschwunden war.

Kurz darauf kniete Rupp allein auf der Lichtung. Sorgfältig reinigte er sein Messer im Schnee. Die Klinge fing das Mondlicht ein, ohne es zu spiegeln. Nichts gab es darin zu lesen, keine Geschichten, keine besonderen Taten. Einfaches Eisen und nicht einmal besonders gutes. Ein Bauernmesser, ganz anders als der Dolch an Krampus’ Gürtel.

Rupp prüfte die Schneide. Sie begann abzustumpfen. Dieses Messer, es war wie er.

Rupp erhob sich und warf sich das tote Reh über die Schultern. Der Armbrustbolzen stak noch in der Brust; Krampus musste unterhalb des Tiers gestanden haben, als er es erlegt hatte. Rupp packte Vorder- und Hinterläufe, damit die Hufe ihm nicht gegen den Bauch baumelten, und lief los.

Er holte Krampus am Bachufer ein.

»Scheint, als hätte ich mein Pferd gegen einen Knecht getauscht«, lachte Krampus und klopfte Rupp auf die Schenkel. »Von der Kraft scheint’s keinen Unterschied zu machen, aber vielleicht von der Sturheit.«

»Deine Hörner. Ein Kinnriemen allein reicht nicht. Du brauchst einen Stirnriemen dazu.«

Rupp ging in die Hocke. Er zeichnete Linien in den Schnee, die einen sich zu einem Dreieck öffnenden Satz Riemen darstellen sollten. »Du kannst ihn aus dem Zaumzeug schneiden, wenn du es eh nicht mehr brauchst.«

Krampus warf einen Blick auf den Entwurf. Sein Gesicht war feingliedrig wie Nikolos, deshalb redete seine gehobene Augenbraue ebenso deutlich wie ein Buch. Es war alle Anerkennung, die Rupp brauchte. Befriedigt verwischte er seine Zeichnung mit dem Fuß. Seite an Seite liefen sie weiter.

Unter einer Eisschicht gurgelte Wasser. Krampus nahm Anlauf und setzte über den Bach. Am anderen Ufer wanderte er auf und ab wie ein Dachshund auf einer Fährte.

»Keine Spur von dem vermaledeiten Weib.«

»Wer ist sie?«

»Die hätt mich hier krepieren lassen. Hast du gehört, wie sie mich ausgelacht hat? Ha, schau! Da drüben bin ich hergeritten. In einer viertel Stunde sind wir beim Lager, dann gibt’s was zu beißen.«

Sie folgten Krampus’ Spur in entgegengesetzter Richtung. Der eine mit Teufelshörnern unter dem Arm, der andere mit einem Reh um den Nacken. Sie sprachen nicht viel, für Rupp war es jedoch ein kameradschaftliches Schweigen. Der Tag mit seinen Demütigungen, der Beginn der Nacht mit Thomas’ Ablehnung rückten in weite Ferne, da Rupp in Gedanken vorauseilte zu dem Lagerfeuer, das Krampus versprochen hatte, zu Wärme, einer guten Geschichte geteilt mit Krampus’ Gefährten und saftigem Fleisch. Er hungerte nach allem.

Sie näherten sich einer vom Frühjahrswasser ausgewaschenen Mulde, wo Feuerschein auf Nadeln tanzte. Dort erhob sich unter ihnen die geschmeidige Gestalt der Frau, die Rupp zuvor auf der Lichtung erblickt hatte. Mit Haaren jetzt im Flammenlicht golden statt silbern, die Züge jung und scharf. Bei ihrem Anblick verkroch sich Rupps Hunger hinter sein plötzlich heftig hämmerndes Herz.

Sie glänzte. Wie Bergkristall oder die Mittagssonne auf einem Vogelschnabel. Schnee auf den Gipfeln im Frühjahr. Die Tropfen eines Wasserfalls, die der Wind zum Himmel tanzen ließ. Dann flackerte das Feuer, und ihr Gesicht mit seinem Mantel aus Feenhaar fiel zurück in Schatten.

In Bann geschlagen stolperte Rupp einen Schritt vorwärts. Er wäre wahrscheinlich mit einem Klumpen bröckelnder Erde über den Rand der Senke gestürzt, wäre nicht im selben Moment aus dem Boden vor ihm der zweite Teufel dieser Nacht hervorgefahren.

Schwarzes Fell, lodernde Augen. Reißzähne, entblößt im bestialischen Knurren. Die gekräuselte Schnauze witterte Blut. Eine Pfote schob sich vor, tastend im Schnee kurz vor dem Absprung. Rupp riss die Arme hoch, um sich zu schützen. Dieses Tier schien aus den Kohlen der Hölle selbst geboren zu sein, bereit, sich auf ihn zu stürzen, seine Fänge in Rupps Kehle zu bohren.

»Lass dich nicht ins Bockshorn jagen, das Vieh ist gefärbt.« Krampus schob sich an Rupp vorbei. »Teufel nochmal, Perchta, du hast mich schon meinen Gaul gekostet. Jetzt pfeif deinen Köter zurück, bevor er unserem Knecht hier ans Bein pisst!«

Autor

  • Birgit Jaeckel (Autor:in)

Birgit Jaeckel hat Archäologie studiert und arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Roman- und Drehbuchautorin als Kommunikationsberaterin. Sie ist unter anderem die Autorin von »Die Druidin«. Ihre Romane haben sich mehr als eine viertel Million Mal verkauft.
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Titel: Das Erbe der Rauhnacht