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Zwischen Tafelspitz und Ministerrat

Sammelband

von Brigitte Teufl-Heimhilcher (Autor:in)
358 Seiten

Zusammenfassung

1. Buch – Liebe, Macht und rote Rosen Als Sybille einwilligt, das Amt der Sozialministerin zu übernehmen, tut sie es, um mehr Ehrlichkeit in die Politik zu bringen. Das stellt sich bald als schwieriger heraus als gedacht, denn Kanzler Reifenstein hat nur eines im Sinn: Wählerstimmen. Sybille lässt nicht locker. Trotz der Streitigkeiten mit dem Kanzler, ihrer pubertierenden Tochter und ihrem sturköpfigen Vater, geht sie der Frage nach, ob der Unfalltod ihres Vorgängers Mord gewesen sein könnte. Keiner will das so recht glauben, nur Viktor Raab, der Chefredakteur des Tagblatts, unterstützt sie und ist auch sonst immer öfter an ihrer Seite. 2. Buch – Der Fall Finkenberg Zwei Jahre später ist Sybille Vizekanzlerin und Parteichefin. Sie liebt ihre Arbeit, auch wenn die ihr nur wenig Zeit für Privates lässt. Das stellt zunehmend eine Belastung dar, denn gerade jetzt würde Viktor Raab ihre Zuwendung brauchen. Als das Gerücht auftaucht, Umweltminister Finkenberg sei in Schwarzgeldgeschäfte verwickelt, geht Sybille der Sache dennoch auf den Grund, merkt bald, dass die Dinge nur selten so sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen und trifft eine Entscheidung, mit der niemand gerechnet hat.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Brigitte Teufl-Heimhilcher

 

 

 

 

Zwischen Tafelspitz und Ministerrat

 

 

 

 

 

Sammelband

Inhaltsverzeichnis

 

Impressum

Klappentext

Die Autorin

Liebe, Macht und rote Rosen Buch1

1. Abschied von Doktor Winter

2. Zwei Konservative

3. Der Kanzler – fast ganz privat

4. Das neue Amt

5. Das Interview

6. Alltag

7. Im Zentrum

8. Vorweihnachtliche Freuden

9. Alte Freunde

10. Zwischen den Jahren

11. Der Verdacht

12. Kerstin und andere Probleme

13. Später Frühling

14. La Vita

15. Die Kreuzfahrt

16. Das Verhältnis

17. Die Vereinbarung

18. Elmars Rückkehr

19. Urlaubsträume

20. Hexenkessel

21. Freundschaften

22. Alt-Herren-Spaziergang

23. Kriminaltango

24. Väter und Mütter

25. Der Wahlk(r)ampf

26. Zeit der Entscheidungen

27. Die Pressestunde

28. Der Prozess

29. Die Wahl

30. Das Leben geht weiter

Der Fall Finkenberg Buch2

1. Wien – Manches ändert sich nie

2. Wachau – Hotel „Zur Blumenwiese“

3. Wien – Kein guter Tag

4. Wien – Die Stunde der Wahrheit

5. Wachau – Tolle Typen

6. Wien – Die Reifeprüfung

7. Wien – Hashtag Dasglaubstnet

8. Wien – Wachau – Finkenberg

9. Wachau – Alarmstufe Rot

10. Wien – Auf zu neuen Ufern

11. Hamburg – Altes Land

12. Wien – Die Damen-WG

13. Wachau – Hochzeitsvorbereitungen

14. Wien – Rote Rosen

15. Wien – Der Mann mit dem Koffer

16. Wien – Die Sache mit dem Weihnachtsfrieden, Teil 1

17. Wachau – Die Sache mit dem Weihnachtsfrieden, Teil II

18. Wachau – Ungewisse Zukunft

19. Wien – Alles schon mal da gewesen

20. Wachau – Hobbydetektive unterwegs

21. Wien – So schnell kann’s gehen

22. Wachau – Die Beichte

23. Wachau – Ganz der Papa

24. Wachau – Nachbesprechungen

25. Wien – Ein Ausflug in die Wachau

26. Wien – Alles hat seine Zeit

27. Wachau – Zu früh gefreut?

28. Wien – Man muss nicht immer einer Meinung sein

29. Von Träumen und Schäumen

30. Wien – Doppelt hält besser

31. Epilog

Glossar

Danke

Der liebe Gott und sein teuflisches Bodenpersonal

Millionärin wider Willen

Zwillinge in Dur und Moll

Von der Autorin sonst noch erschienen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zwischen Tafelspitz und Ministerrat

Sammelband

überarbeitete und erweiterte Ausgabe

© 2020 Brigitte Teufl-Heimhilcher,

1220 Wien

https://www.teufl-heimhilcher.at

Band 1, „Liebe Macht und rote Rosen“

Originalausgabe erschienen © 2014 unter dem Titel „Politik und rote Rosen“,

2. überarbeitete Auflage © 2016 Brigitte Teufl-Heimhilcher

Originalausgabe Band 2, „Der Fall Finkenberg“,

© 2020 Brigitte Teufl-Heimhilcher

1220 Wien

Buchsatz und Konvertierung: Autorenservice-Farohi

www.farohi.com

Covergestaltung: Xenia Gesthüsen

Lektorat: Eva Farohi, www.farohi.com

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Klappentext

 

 

 

 

1. Buch – Liebe, Macht und rote Rosen

 

Als Sybille einwilligt, das Amt der Sozialministerin zu übernehmen, tut sie es, um mehr Ehrlichkeit in die Politik zu bringen. Das stellt sich bald als schwieriger heraus als gedacht, denn Kanzler Reifenstein hat nur eines im Sinn: Wählerstimmen. Sybille lässt nicht locker. Trotz der Streitigkeiten mit dem Kanzler, ihrer pubertierenden Tochter und ihrem sturköpfigen Vater, geht sie der Frage nach, ob der Unfalltod ihres Vorgängers Mord gewesen sein könnte. Keiner will das so recht glauben, nur Viktor Raab, der Chefredakteur des Tagblatts, unterstützt sie und ist auch sonst immer öfter an ihrer Seite.

 

2. Buch – Der Fall Finkenberg

 

Zwei Jahre später ist Sybille Vizekanzlerin und Parteichefin. Sie liebt ihre Arbeit, auch wenn die ihr nur wenig Zeit für Privates lässt. Das stellt zunehmend eine Belastung dar, denn gerade jetzt würde Viktor Raab ihre Zuwendung brauchen. Als das Gerücht auftaucht, Umweltminister Finkenberg sei in Schwarzgeldgeschäfte verwickelt, geht Sybille der Sache dennoch auf den Grund, merkt bald, dass die Dinge nur selten so sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen und trifft eine Entscheidung, mit der niemand gerechnet hat.

 

 

 

 

Die Autorin

 

Brigitte Teufl-Heimhilcher lebt in Wien, ist verheiratet und bezeichnet sich selbst als realistische Frohnatur.

In ihren „Heiteren Gesellschaftsromanen“ setzt sie sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Fragen auseinander. Sie verwebt dabei Fiktion und Wirklichkeit zu amüsanten Geschichten über das Leben – wie es ist, und wie es sein könnte.

 

 

 

 

 

 

 

Liebe, Macht und rote Rosen Buch1

 

 

 

 

 

1. Abschied von Doktor Winter

 

 

Als Sybille schlaftrunken die Jalousien hochzog, war es draußen dunkel und nebelig. Gähnend machte sie sich auf den Weg in das Zimmer ihrer Tochter Kerstin. Die wollte nicht aus den Federn und knurrte unwillig. Das hätte Sybille ja noch verstehen können, aber dass Kerstin das Bad ewig blockierte, zerrte schon an ihren Nerven, und als Kerstin beim Frühstück in diesem ganz besonderen Tonfall, der ihr neuerdings zu gefallen schien, sagte: „Wie siehst du denn aus?“, war das Maß voll.

Dennoch atmete Sybille erst tief durch, ehe sie, schon etwas weniger gereizt, antwortete: „Schwarz und traurig? Genauso fühle ich mich, heute ist immerhin das Begräbnis von Doktor Winter.“

„Okay, aber du bist nur seine Kabinettschefin, nicht seine Witwe“, antwortete Kerstin, trank ihren Orangensaft, schnappte sich einen Apfel und ging.

„Kerstin, du sollst doch nicht …“, den Rest konnte sie sich sparen, die Tür war bereits hinter Kerstin ins Schloss gefallen.

Lustlos aß Sybille ein paar Löffel von ihrem Müsli, ehe sie die restlichen Lebensmittel im Kühlschrank verstaute. Dann ging sie ins Schlafzimmer und betrachtete eingehend ihr Spiegelbild. Vielleicht hatte Kerstin ja recht, die schwarze Bluse, zusammen mit dem schwarzen Kostüm und ihrem dunklen Haar, war doch etwas zu viel. Sie öffnete den Kleiderschrank, um nach einer anderen Bluse zu suchen.

Weiß? Nein. Rosa? Auch nicht, doch hier war noch diese silbergraue Schleifenbluse. Die hatte sie schon eine Ewigkeit nicht getragen. Zusammen mit der Blutsteinkette und den dazu passenden Ohrsteckern sah sie gar nicht übel aus. Noch ein wenig Lippenstift, dann machte Sybille sich auf den Weg zu ihrem Vater.

Sie konnte zwar nicht verstehen, warum er sich die Tortur eines Staatsbegräbnisses freiwillig antat, aber er behauptete, als alter Parteifreund wäre es seine Pflicht, an der Trauerfeier teilzunehmen. Das war sicher nicht ganz unrichtig, Sybille vermutete jedoch, dass er Langeweile hatte und die Gelegenheit nutzte, um ehemalige Kollegen zu treffen.

 

*

 

Obwohl Sybille fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit vor dem Haus ihres Vaters hielt, stand Heinrich Meixner schon bereit. Gut sah er aus, mit seinem schwarzen Mantel und dem schlohweißen Haar.

Er bedeutete ihr einzuparken, doch sie öffnete nur das Fenster: „Komm, steig ein, mit deinem Schlitten bekommen wir doch nie einen Parkplatz.“

„Irrtum mein Kind, mit meinem Schlitten brauchen wir keinen Parkplatz.“

Dieser Logik konnte sie zwar nicht folgen, aber sie wollte nicht schon am frühen Morgen mit ihm diskutieren. Also sagte sie nur: „Okay, aber ich fahre.“

„Meinetwegen.“

Sybille parkte ihren Wagen seufzend ein und nahm im großen, alten Mercedes ihres Vaters Platz. Schön war er ja, mit seinen weinroten Ledersitzen und den Rosenholzeinlagen auf dem Armaturenbrett, aber verdammt unpraktisch.

Während sie den Wagen vorsichtig durch den dichten Morgenverkehr lenkte, fragte er: „Wie geht’s meiner Enkelin?“

„Im Moment vermutlich gar nicht gut, sie hat heute Literaturtest und bestimmt zu wenig gelernt.“

„Das arme Kind muss sich mit toten Dichtern herumschlagen, wo es doch so viel Spannenderes gibt.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass du mir gegenüber jemals auch nur halb so viel Bedauern ausgedrückt hättest.“

„Du warst sowieso immer eine Streberin. Deswegen hast du auch so wenig Verständnis für deine Tochter. Kerstin ist halt mehr der praktische Typ.“

Da sie sich bereits dem Friedhof näherten, enthielt Sybille sich einer Antwort, obwohl es sie schon längere Zeit wurmte, dass ihr Vater, wie auch ihr Ex-Mann, immer die Verständnisvollen gaben und es ihr überließen, sich um den nervigen Alltag zu kümmern.

„Hier gleich rechts“, dirigierte er sie auf den Parkplatz der Ehrengäste.

„Ich weiß nicht, ich bin doch kein Ehrengast.“

„Ich schon“, antwortete er mit Würde und kletterte aus dem Auto. Der Parkwächter grüßte respektvoll und steckte wortlos eine Nummer hinter die Windschutzscheibe.

„Na bitte, geht doch“, lächelte ihr Vater und reichte ihr seinen Arm.

 

*

 

Die Trauerfeier für Doktor Winter zog sich endlos dahin.

Auf dem Sarg stand ein Gesteck aus roten Rosen, davor der Kranz der Witwe, ebenfalls aus roten Rosen, flankiert von einer Vielzahl anderer Kränze mit schwarzen, roten und goldenen Schleifen.

Mein Gott, die arme Frau, dachte Sybille mit einem Blick auf die Mutter des Toten, die von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn flankiert wurde. Daneben saß die Witwe, Linda Winter, eine schlanke Schönheit mit blondem Haar. Kerzengerade saß sie da, mit breitkrempigem Hut und Sonnenbrille. Sybille kannte sie von einigen Veranstaltungen, hatte aber nie mehr als ein paar Höflichkeitsfloskeln mit ihr getauscht.

Als letzter Redner trat der Kanzler, Elmar Reifenstein, an das Rednerpult.

„Wir alle sind zutiefst erschüttert vom Unfalltod unseres verehrten Sozialministers. Mit Richard Winter verliert nicht nur eine Frau ihren Ehemann, eine Mutter ihren Sohn. Unser Land verliert einen überaus beliebten Politiker, einen aufrechten Demokraten – wir alle verlieren einen Freund.“

Schleimer, dachte Sybille. Die beiden hatten einander nie gemocht. Sie konnte sich noch allzu gut an die Auseinandersetzung erinnern, die sie erst vor wenigen Tagen gehabt hatten; von Freundschaft war da wenig zu spüren gewesen.

Nun ja, im Angesicht des Todes sah manches anders aus, dennoch nahm sie dem Kanzler seine Trauer nicht ab.

„… couragiert beteiligte er sich an kontroversen Debatten, setzte Akzente, kämpfte für seine Überzeugung und verlor dabei nie das eine große Ziel aus den Augen …“

Papperlapapp. Einen engstirnigen Technokraten hatte er Winter erst unlängst genannt, schoss es Sybille durch den Kopf.

Nachdem der Kanzler seine Rede beendet hatte, spielte das Orchester das Largo aus Händels Oper Xerxes, ein unbekannter Kammersänger sang das Ave-Maria, dann, endlich, setzte sich der Trauerzug in Bewegung.

 

*

 

Es war schon ein Uhr Mittag, als Sybille den Festsaal des Hotels betrat, in dem ein Imbiss auf die Trauergäste wartete.

Dankbar nahm sie ein Glas Bier entgegen und bediente sich am Buffet. Am Morgen hatte ihr das bevorstehende Begräbnis den Magen zugeschnürt, doch nun war sie hungrig. Sybille wählte kalten Braten, ein faschiertes Laibchen, etwas Salat und setzte noch ein gefülltes Ei obendrauf, ehe sie sich nach einem freien Platz umsah. Am anderen Ende des Saales stand ihr Vater mit Kanzler Reifenstein an einem der Stehtische und winkte sie zu sich. Sybille zog es vor, die beiden zu übersehen und nahm an einem der Tische Platz, an dem bereits einige Mitarbeiter aus dem Ministerium saßen.

Winters Sekretärin, Frau Schmidt, die lediglich vor einer Tasse Tee saß, warf einen schrägen Blick auf Sybilles Teller.

„Halten Sie mich nicht für gefühllos“, beantwortete Sybille die unausgesprochene Frage, „aber ich habe kaum gefrühstückt.“

„Das Leben geht weiter“, meinte ein Hofrat jovial, der vor einem vollen Teller saß und genussvoll in ein resches Kaisersemmerl biss.

„Ich kann immer noch nicht verstehen, wie das passieren konnte“, klagte Frau Schmidt. „Er war doch so ein vorsichtiger Fahrer.“

„Übervorsichtig, einfach ungeübt“, kommentierte Ludwig, Winters langjähriger Chauffeur. „Ich mache mir die größten Vorwürfe, dass ich nicht zurück war, als er losfuhr. Dabei war diese Botenfahrt ohnehin für die Katz gewesen.“

Ungeübt oder nicht, jedenfalls war Sybille immer noch völlig unklar, warum Winter auf einer schnurgeraden Landstraße gegen einen Baum gefahren war. Der Wagen hatte sich überschlagen, war über eine Böschung gestürzt, Genickbruch. Aus, Ende.

Der Amtsarzt hatte versichert, Winter sei sofort tot gewesen.

Winter war vielleicht kein besonders talentierter Politiker, kein charismatischer Redner gewesen, aber er war ehrlich bemüht, die ihm übertragene Verantwortung zum Nutzen der Menschen einzusetzen. Mehr konnte man doch nicht machen, dachte Sybille, während sie den anderen mit einem Ohr zuhörte. Sie hätte jetzt gern ein Glas Wein getrunken, aber das musste bis zum Abend warten. Das Gespräch am Tisch drehte sich im Kreis, und während Sybille überlegte, ob sie heute noch ins Amt fahren sollte, kam der Kanzler auf sie zu.

„Hallo Bille, schön dich zu sehen, wenn auch der Anlass ein trauriger ist. Könnte ich dich kurz unter vier Augen sprechen?“ Er sandte sein charmantes Lächeln über den Tisch, streckte die Hand nach Sybille aus und sagte: „Sie entschuldigen uns“. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Bille. So hatte immer nur er sie genannt, früher.

Elmar Reifenstein steuerte auf den Rauchersalon zu, doch als er sah, dass sich dort auch andere Gäste aufhielten, änderte er die Richtung und ging in die Bar, die um diese Tageszeit leer war.

Galant wartete er, bis sie Platz genommen hatte.

„Was möchtest du trinken?“

„Eine Melange, bitte.“

Er bestellte auch noch einen Mokka für sich, dann wandte er sich ihr lächelnd zu.

„Tragisch, die Sache mit Winter, sehr tragisch. Dennoch müssen wir an die Zukunft denken.“

Er machte eine kunstvolle Pause und zündete sich unter Missachtung des Rauchverbotes eine Zigarette an, ehe er weitersprach.

„Ich kann mir vorstellen, dass dich das alles sehr belastet, schließlich hast du eng mit Winter zusammengearbeitet. Dennoch muss ich dich noch heute fragen: Kannst du Winters Ressort weiterführen?“

„Ja, sicher. Für wie lange?“

Er schüttelte den Kopf, der Kellner brachte den bestellten Kaffee und stellte kommentarlos einen Aschenbecher auf den Tisch.

„Für den Rest der Legislaturperiode, als Ministerin meines Kabinetts.“

„Du willst mich zur Ministerin machen? Ist dir eigentlich klar, dass ich gar kein Parteimitglied bin?“

Er lächelte: „Ich weiß. Sehr bedauerlich, lässt sich aber nachholen. Ich lasse dir heute noch eine Beitrittserklärung übermitteln. Bille, du warst Winters rechte Hand, bist in alle aktuellen Projekte eingearbeitet, kennst die Probleme, die handelnden Personen – wir brauchen dich jetzt.“

Mein Gott, wie pathetisch.

„Wir, die Partei oder wir, der Kanzler von Gottes Gnaden?“

„Immer noch die gleiche Spötterin“, konstatierte er mit einem kleinen Lächeln.

Sybille hatte sich schon gefragt, wer ihr neuer Chef werden würde, dass man ihr das Amt antragen könnte, war ihr nicht in den Sinn gekommen. Dabei war es nicht ganz unlogisch – der Gedanke gefiel ihr.

„Wie lange habe ich Zeit, darüber nachzudenken?“

Er lächelte sein charmantes Lausbubenlächeln und sagte schmeichelnd: „Bille, was gibt es denn da zu überlegen? Wir zwei werden denen jetzt einmal zeigen, wo der Bartel den Most holt. Wir waren immer schon ein gutes Team!“

Oh ja, sie waren ein gutes Team gewesen – in jeder Beziehung. Früher. Aber daran würde sie jetzt besser nicht denken, sonst knallte sie ihm vielleicht doch noch den Aschenbecher an den Kopf. Stattdessen fragte sie: „Wie lange also?“

„Sagen wir bis morgen früh? Wie du dir sicher vorstellen kannst, haben wir nicht viel Zeit. Die Oppositionsparteien werden ebenso versuchen, das entstandene Machtvakuum auszunutzen, wie unser heiß geliebter Koalitionspartner.“

„Kann man es ihnen verdenken?“

 

*

 

„Nun, was hatte Elmar so Wichtiges mit dir zu besprechen?“, fragte ihr Vater, als sie wieder im Auto saßen.

Ein kurzer Seitenblick genügte ihr. „Du weißt es also schon.“

„Natürlich weiß ich es – Frau Minister.“

Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er hatte sein Leben lang für die Partei gearbeitet und einige sehr wichtige Ämter bekleidet, Minister zu sein hätte er, wie sie nur zu gut wusste, stets als Höhepunkt seiner Karriere betrachtet.

Wie zur Bestätigung sagte er: „1991 bin ich als Gesundheitsminister vorgesehen gewesen, aber dann haben wir die Wahlen verloren und sind in Opposition gegangen.“

„Ich weiß. Einen kettenrauchenden Gesundheitsminister hielt ich damals schon für eine klassische Fehlbesetzung. Apropos, warst du schon beim Arzt?“

Er knurrte Unverständliches.

„Also nicht. Papa, wie oft …“

„Ja, ja, ich geh’ hin. Sag mir lieber: Hast du Elmar schon zugesagt?“

„Natürlich nicht.“

„Wie lange willst du ihn hinhalten?“

„Ich will ihn doch nicht hinhalten, ich will darüber nachdenken.“

In der Zwischenzeit waren sie vor seinem Haus angekommen. Er bedeutete ihr, den Wagen einfach stehen zu lassen.

„Da gibt es doch nichts zu überlegen“, sagte er ungeduldig. „Natürlich machst du das!“

„Ach ja? Weißt du, wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind das Vorschläge, die wie Befehle klingen.“

Er lachte: „Ich weiß, darin kommst du ganz nach mir. Deshalb wirst du auch annehmen.“ Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Wange und stieg aus.

Die Aussicht, ganz nach ihrem Vater zu kommen, beflügelte Sybille nicht gerade. Nicht, dass sie ihn nicht mochte, aber … nun ja, sie waren eher selten einer Meinung.

 

*

 

Auf dem Heimweg erledigte Sybille gleich den Einkauf für die nächsten Tage. Während sie den Einkaufswagen durch die Gänge schob, überlegte sie, wie viel Zeit ihr für derartige Alltäglichkeiten noch bliebe, wenn sie erst einmal Ministerin wäre. Wie viel Zeit hätte sie dann noch für Kerstin, für ihre Freunde? Kerstin war in einem schwierigen Alter.

Anderseits reizte sie das Angebot. Es bot ihr die Chance, selbst die Zügel in die Hand zu nehmen. Wie oft hatte sie sich das gewünscht? Wie oft würde sich ihr eine solche Möglichkeit bieten?

In weniger als 17 Stunden musste sie sich entschieden haben. „Was Kerstin wohl sagen wird?“, überlegte sie.

Sybille beschloss, Hühnerschnitzel und Gurkensalat zu machen. Kerstins Lieblingsspeise. Bei anderen Speisen zickte sie neuerdings herum – sie bevorzuge „Low Carb“. Bei Schnitzel und Süßigkeiten vergaß sie darauf.

 

*

 

„Hühnerschnitzel und Gurkensalat? Wie cool ist das denn? Dazu noch Kerzen? Ich hab’ doch nicht Geburtstag“, rief Kerstin, als sie ins Esszimmer kam.

„Du tust ja, als ob wir üblicherweise im Stehen Dosenfutter in uns hineinschaufeln würden“, entgegnete Sybille und schenkte sich das langersehnte Glas Weißwein ein.

„Stimmt, zu Spaghetti reicht es meistens noch. Montags mit Pesto, dienstags aglio olio, mittwochs mit Tomatensugo, natürlich aus dem Glas …“

„Das ist eine Unterstellung“, unterbrach Sybille lachend. „Allerdings könnte es sein, dass ich in nächster Zeit noch weniger Zeit zum Einkaufen und Kochen habe …“

„Echt jetzt? Opa ist doch der totale Checker!“

„Was meinst du?“

„Du wirst Ministerin. Logo.“

Sybille, die gerade den ersten Bissen in den Mund stecken wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. „Wie bitte? Opa hat mit dir darüber gesprochen? Wann?“

„Gestern, als er mich vom Theater abholte. ‚Wenn unser Kanzler g’scheit ist, wird deine Mutter Ministerin‘, hat er gesagt. Echt cool.“

Jetzt brauchte Sybille einen weiteren Schluck Wein. Dass ihr Vater hinter ihrem Rücken über eine Möglichkeit spekuliert hatte, die sie niemals in Betracht gezogen hätte, musste sie erst einmal hinunterspülen.

„Und wie fändest du das?“, fragte sie, während sie noch etwas Salat nahm.

„Ja, eh cool! Die blöde Berghammer traut sich dann nie mehr, mir einen Fünfer zu geben, wenn du Ministerin bist.“

Frau Professor Berghammer schien in der Tat nicht gut auf ihre Tochter zu sprechen zu sein, Sybille vermutete allerdings, dass Kerstin an diesem Umstand nicht ganz unschuldig war.

Wie auch immer, Kerstin hatte recht, eine Menge Leute würden in Zukunft ganz anders mit ihnen umgehen. Als ihr Vater damals Generalsekretär wurde und regelmäßig im Fernsehen zu sehen war, hatte sie selbst in der Schule kurzfristig so etwas wie Starruhm erlangt. Später, auf der Uni, interessierte das allerdings kaum jemanden.

Gegen ihre Überzeugung antwortete sie: „Ich glaube nicht, dass mein Amt, so ich es denn annehme, etwas mit deinen Schulnoten zu tun hat.“

„Mama“, prustete Kerstin, „das musst du noch üben. Man merkt einfach immer, wenn du lügst. Apropos, weißt du eigentlich, woran man erkennt, dass ein Politiker lügt?“

Kauend schüttelte Sybille den Kopf.

„Daran, dass er den Mund aufmacht.“ Kerstin nahm einen Schluck Limonade: „Den hab’ ich von Papa.“

„Das war ja klar. Dein Vater hatte schon immer ein gestörtes Verhältnis zur Politik. Ich werde euch beweisen, dass es auch anders geht! Und keine Privilegien, schon gar nicht in der Schule. Apropos, wie war dein Literaturtest?“

 

*

 

Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, Sybille legte das Buch, in dem sie ohnehin kaum gelesen hatte zur Seite, warf noch ein frisches Scheit in die Glut, sah zu, wie es Feuer fing und neu aufflammte. Dann griff sie nach ihrem Glas, aber es war leer – Zeit zu Bett zu gehen. Morgen war ein spannender Tag, vermutlich würden in nächster Zeit alle Tage spannend werden.

Sie hatte ihren Job als Kabinettschefin gemocht, weil sie eine Menge Einfluss nehmen konnte, ohne im Rampenlicht zu stehen.

Nur manchmal hatte sie gewünscht, selbst das Ruder in der Hand zu haben. Winter schien ihr oft zu zögerlich, zu wenig entschlossen zu sein.

Sie kannte die Herausforderungen, die vor ihr lagen, nur zu gut; zu allererst musste die Pensionsreform angegangen werden. Es war den Jungen gegenüber einfach unverantwortlich, noch länger zuzuwarten. Sie hatte nie verstanden, warum Winter das immer hintangestellt hatte. Es gab im Sozialressort zurzeit einfach nichts Wichtigeres, auch wenn der Koalitionspartner sich wieder einmal zierte.

Natürlich war es wichtig, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, aber dafür konnte der Wirtschaftsminister deutlich mehr tun, und dieser übertriebene Konsumentenschutz, für den Winter sich so stark gemacht hatte, mein Gott, das grenzte doch schon an Entmündigung.

Sybille lächelte bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn sie Derartiges öffentlich sagte. Kerstin hatte wohl recht. Auch wenn sie versuchen würde, so wenig wie möglich an ihrem bisherigen Leben zu ändern, würde manches anders werden. Kurz überlegte sie, ob der Preis vielleicht doch zu hoch sei, aber in Wahrheit hatte sie sich längst entschieden.

Während Sybille ins Bad ging und mechanisch ihre Abendtoilette erledigte, fiel ihr ein, wie sehr sie sich in ihrer Jugend dagegen gewehrt hatte, auch nur in einem Atemzug mit den Konservativen genannt zu werden. Damals, als sie aus Protest gegen ihren Vater zu den Grünen ging, waren Berufspolitiker für sie das Allerletzte gewesen.

Richterin hatte sie werden wollen, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Mein Gott, war sie naiv gewesen.

Dennoch hatte es ihr anfangs Spaß gemacht Richterin zu sein, aber nach dem Wechsel in die Bestandsabteilung ging ihr der tägliche Streit um eingeklagte Mietzinse, falsche Betriebskosten-Abrechnungen und uneinsichtige Nachbarn bald auf den Geist, und als ihr dann der Posten im Justizministerium angeboten wurde, hatte sie nicht lange gezögert – obwohl sie schon damals wusste, dass ihr Vater bei diesem Wechsel seine Hand im Spiel gehabt hatte.

Nach der letzten Wahl war dann der überraschende Wechsel ihres damaligen Chefs ins Sozialministerium gekommen. Ein Konservativer an der Spitze des Sozialministeriums, das war vielleicht ein Wirbel gewesen. Die Gewerkschaft hatte schon zum Streik aufgerufen, bevor Winter überhaupt noch Piep sagen konnte, und auch ein Teil der Medien hatte Stimmung gegen ihn gemacht.

Nicht weniger überraschend, aber von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, war ihre Berufung zu seiner Kabinettschefin gewesen.

Bis zu jenem Zeitpunkt hatte Sybille es vermieden, mit ihrem Vater über Politik zu reden, danach aber sein Wissen um interne Abläufe und sein Gespür für die möglichen Reaktionen des politischen Gegners zu schätzen gelernt. Nicht, dass sie seine Positionen allzu oft teilte, aber sein Insiderwissen war einfach nicht zu verachten, sie konnte auch in Zukunft davon profitieren.

Apropos, sie musste dafür sorgen, dass er endlich zu diesem Internisten ging. Die Sache mit seinem Husten war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

 

2. Zwei Konservative

 

 

In der Nacht hatte Sybille geträumt, dass sie vor einer riesigen Menschenmenge stand. Die Leute jubelten ihr zu, sie hatte gewinkt, war lächelnd ans Mikrofon getreten und hatte keinen Ton herausgebracht. Schweißgebadet und mit klopfendem Herzen war sie aufgewacht.

Ein ganz logischer Traum, dachte sie jetzt auf dem Weg ins Kanzleramt, ich habe einfach Angst. Stinknormale Angst.

Aber das war nur ein Grund mehr für sie, das Amt anzunehmen.

Sie hatte Elmar schon telefonisch über ihre prinzipielle Zusage informiert, und während sie sich im Schritttempo dem Kanzleramt näherte, überlegte sie, wie es sich anfühlen würde, in Zukunft wieder enger mit ihm zusammenzuarbeiten. Sie waren sich einmal sehr nahegestanden. Aber das war lange her.

Jetzt ging es erst einmal darum, Elmar ihre Standpunkte klarzumachen. Sie wollte das Amt, – aber nicht um jeden Preis.

Endlich parkte sie ihren Wagen in der gegenüberliegenden Garage und dachte amüsiert: Ich muss Elmar fragen, wann er eigentlich zu den Konservativen gewechselt ist. Als Siebzehnjährige waren sie gemeinsam den Grünen beigetreten, aus Protest gegen das Establishment – heute waren sie beide ein Teil davon.

Doch für derartige Gespräche blieb zunächst keine Zeit. Erst kam Vizekanzlerin Moser ins Büro, und als die sich verabschiedete, wartete bereits der Generalsekretär, später kam auch noch der Klubobmann.

Als Sybille drei Stunden später das Kanzleramt verließ, hatte sie immer noch kein privates Wort mit Elmar gewechselt; stattdessen waren sie zum Abendessen verabredet.

 

*

 

Auf dem Weg ins Ministerium gestand Sybille sich ein, dass sie bisher keine Gelegenheit gehabt hatte, ihre Bedingungen zu formulieren. Dennoch war alles bereits beschlossene Sache. Der Parteivorstand würde noch heute ihre Bestellung absegnen. Einen Gegenkandidaten gäbe es nicht, hatte Elmar erklärt. Sybille bezweifelte, dass sich niemand für das Amt interessierte, konnte aber auch nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen, dass für Elmar offenbar kein anderer in Frage kam.

Sie hätte ihm ja auch nur sagen wollen, dass sie das Amt zwar annehmen, aber weiterhin für ihre Überzeugungen einstehen würde. Wahrscheinlich war es ohnehin besser, es einfach zu tun, als lange darüber zu schwätzen.

Da bis zum Zusammentreten des Parteivorstandes am späten Nachmittag alles noch streng geheim bleiben musste, setzte Sybille sich an ihren alten Schreibtisch und überlegte, wie sie die Stunden bis zur Öffentlichmachung am besten nutzen konnte.

Sie blätterte die Zeitungen durch und stieß dabei auf einen Artikel im Tagblatt:

 

Der Tod des Sozialministers gibt Rätsel auf

 

Wie bereits mehrfach berichtet, ist Sozialminister Dr. Richard Winter vergangene Woche mit seinem Dienstwagen tödlich verunglückt. Das Begräbnis mit staatlichen Ehren fand gestern am Zentralfriedhof statt (Bericht Seiten 10/11).

Immer noch ein Rätsel bleibt indes, wie es zu diesem Unfall kommen konnte. Der Wagen des Ministers ist auf trockener, gerader Straße mit einer Geschwindigkeit von knapp 100 km/h gegen einen Baum geprallt.

Warum er von der Straße abgekommen ist, konnte auch durch die Untersuchung des Wracks nicht geklärt werden. Die Obduktion des Leichnams ergab ebenfalls keinerlei Hinweise auf ein Fremdverschulden.

Inzwischen wurde bekannt, dass der Chauffeur des Ministers zur fraglichen Zeit eine von Doktor Winter persönlich angeordnete Botenfahrt zu erledigen hatte, die allerdings ergebnislos blieb, da die abzuholenden Unterlagen nicht auffindbar waren.

V.R.

 

V.R., Viktor Raab, der Chefredakteur des Tagblatts.

Ich habe ihn für klüger gehalten, dachte Sybille. Was hätten die Untersuchungen denn ergeben sollen? Das klang ja, als vermute er einen Mordanschlag. So ein Quatsch. Wer sollte denn Winter nach dem Leben trachten?

Sie legte die Zeitung zur Seite, bearbeitete einige Mails und überlegte dabei, wen sie in ihr Team berufen sollte.

Es gab da einen jungen Mann im Ministerium, der ihr schon einige Male sehr positiv aufgefallen war, den wollte sie ebenso dabeihaben wie Doris, ihre langjährige Assistentin. Doch sie musste mit Fingerspitzengefühl vorgehen, denn eines hatte sie gelernt: Nichts konnte einen Minister schneller zum Straucheln bringen als missliebige Beamte. Schließlich konnte jeder Einzelne von ihnen davon ausgehen, dass er noch hier sitzen würde, wenn sie längst wieder abgegangen war.

Trotzdem würde sie keinesfalls Frau Schmidt, Winters Sekretärin, übernehmen. Das stets säuerliche Gesicht und dieses affige Getue um nichts und wieder nichts würde sie sich nicht antun. Aber wohin mit ihr? Sie konnte sie ja schlecht in den Schreibpool versetzen.

 

*

 

Als Sybille kurz vor zwanzig Uhr das Restaurant betrat, hatte sie einen Bärenhunger. Anscheinend war die Sitzung des Parteivorstandes doch nicht ganz so glatt verlaufen, denn der Kanzler hatte den ursprünglich vereinbarten Termin zweimal verschoben. Wenigstens hatte sie so Zeit gehabt, auf einen Sprung daheim vorbeizufahren.

Da Elmar noch nicht da war, bestellte sie ein Glas Prosecco und ersuchte den Kellner um ein Stück Weißbrot.

Elmar kam etwa zwanzig Minuten später im Eilschritt.

„Entschuldige, meine Liebe. Unsere verehrten Parteifreunde haben wieder kein Ende gefunden.“

„Dann war meine Bestellung also doch kein Spaziergang?“

„Einige haben bemängelt, dass du kein Parteimitglied bist, beziehungsweise warst, und unser hochverehrter Wirtschaftsminister hat sich auch noch bemüßigt gefühlt darauf hinzuweisen, dass du seinerzeit bei den Grünen mitgearbeitet hast.“

„Du doch auch“, warf sie lachend ein.

Er winkte ab. „Vergiss es, der will sich doch nur seiner eigenen Wichtigkeit versichern. Jedenfalls ist jetzt alles klar und wir geben morgen eine entsprechende Mitteilung an die Presse. Frau Ministerin, auf Ihr Wohl!“

Er hob das Glas, das der Kellner in der Zwischenzeit unaufgefordert vor ihn hingestellt hatte, und prostete ihr zu, dann vertieften sie sich in die Speisekarte.

Sie entschied sich für Jakobsmuscheln auf Pilztartar, danach Seeteufel mit Rucola-Spinat und Kartoffelchips.

Später sagte sie: „Irgendwie kommt mir das alles noch ziemlich unwirklich vor. Warum wolltest du unbedingt mich?“

„Ach weißt du, da oben, im Kanzleramt, da ist die Luft ziemlich dünn – und ich wollte jemanden haben, dem ich vertrauen kann. Einen Freund.“

Konnte es sein, dass er in der Zwischenzeit gelernt hatte, was es hieß, Freunde zu haben? Schließlich war das zwischen ihnen lange her. Sie lächelte ihm zu und fragte nach dem Befinden seiner Frau.

„Ich fürchte, Marietta geht’s im Moment ziemlich bescheiden. Die Zwillinge sind seit Anfang Oktober in London, um Jura zu studieren.“

„Das ist doch fantastisch! Ich wollte, Kerstin wäre schon so weit.“

Der Kellner brachte die Vorspeisen und schenkte einen frischen, jungen Weißwein ein. Nachdem sie ihn verkostet hatten, fuhr Elmar fort: „Ich finde es auch gut, aber du weißt ja, Marietta ist eine so pflichtbewusste Mutter.“

„Hat sie die Mädels damit in die Flucht geschlagen?“

Er grinste: „Da könnte was dran sein. Also, meinetwegen sind sie sicher nicht ausgerückt, wir haben uns ohnehin kaum gesehen.“

Das sind eben die Schattenseiten eines solchen Amtes, dachte Sybille, während der Kellner die leeren Teller abservierte. Sie würde von Anfang an darauf achten, dass die Familie nicht zu kurz kam, zumindest das, was von ihr übrig war. Trotzdem war sie froh, dass Kerstin sich in letzter Zeit wieder besser mit ihrem Erzeuger verstand – und Opa war schließlich auch noch da.

„Ich bin wirklich sehr froh, dich jetzt in meinem Team zu haben“, unterbrach Elmar ihre Gedanken. „Der Bundespräsident war übrigens ausnahmsweise einmal zufrieden mit meiner Wahl.“

„Er kennt mich doch kaum.“

„Glaubst du“, lachte er. „Ich nehme an, dass die offizielle Angelobung gleich am Montag stattfinden wird. Danach kannst du Winters Reich in Besitz nehmen. Du wirst sicher die ein oder andere Änderung vornehmen wollen – dabei hast du freie Hand.“

Sie blickte versonnen in ihr Wasserglas, ehe sie antwortete:

„Du meinst Veränderungen in den Räumen? Ich weiß nicht, es ging ja alles so schnell – und seit dem Unfall scheint mir überhaupt alles so unwirklich. Erst der Schock über seinen Tod. Wir waren davor noch gemeinsam Mittagessen – zwei Stunden später – aus und vorbei. Die Tage danach waren angefüllt mit Hektik und Betroffenheit. Gestern dann dein unerwartetes Angebot …“

Der Kellner brachte die Hauptspeisen. Elmar hatte Heilbutt bestellt.

„Seit wann isst du Fisch?“, fragte sie.

„Seit ich Fleisch abends nicht mehr so gut vertrage. Hans-Georg meint, ich hätte einen nervösen Magen. Politikerschicksal. Kannst du dich noch an Hans-Georg erinnern?“

Sie nickte und spülte den Seeteufel mit einem Schluck Wein hinunter, ehe sie antwortete: „Hans-Georg, der Schöne, wie könnte ich ihn vergessen?“

„Dann hast du ihn lange nicht gesehen“, lachte Elmar. „Er trägt jetzt Glatze, einen Schnurrbart und neuerdings etwas Bauch. Seine Wirkung auf Frauen dürfte allerdings ungebrochen sein. Marietta ist heute mit ihm in der Oper.“

„Ich dachte, Hans-Georg ist verheiratet?“

„Nicht mehr. Aber um noch mal auf dein Team zu sprechen zu kommen …“

 

3. Der Kanzler – fast ganz privat

 

 

Während Kanzler Reifenstein am nächsten Tag sein Frühstücksei köpfte, fragte er seine Frau: „War’s nett gestern Abend?“

„Ganz wundervoll. Die Petersen als Violetta, einfach großartig, und Rolando V…“

„Keine Details, Liebling, welches Stück?“

„La Traviata“, entgegnete sie kühl und setzte noch eisiger hinzu: „Verdi“, dann widmete sie sich ihrem Müsli.

Hatte er schon wieder etwas Falsches gesagt? Mein Gott, was war sie in letzter Zeit empfindlich. Am besten, er kümmerte sich gar nicht darum und nahm sich stattdessen das Tagblatt vor. Die politisch interessanten Artikel wurden ihm von seiner Presseabteilung zusammengestellt, zum Frühstück gönnte er sich den Sportteil. Er überflog kurz die neuesten Ergebnisse, doch eigentlich interessierte ihn vielmehr, wo Marietta gestern Abend so lange gewesen war. Er legte die Zeitung wieder zur Seite, angelte sich noch ein Stück Toast und fragte: „Wie geht es Hans-Georg?“

„Gut, er lässt dich grüßen. Du sollst nicht deinen Jahres-Check vergessen.“

Darauf ging er besser nicht ein, er würde den Teufel tun und sich von Hans-Georg untersuchen lassen. Aber das behielt er besser für sich, er wollte schließlich wissen, wo sie sich so lange herumgetrieben hatte. Als er nach Hause gekommen war, war sie jedenfalls noch nicht da gewesen. Dummerweise war er dann vor dem Fernseher eingenickt, und als er endlich zu Bett ging, hatte sie schon geschlafen – oder zumindest so getan.

„Seid ihr noch essen gewesen?“, bohrte er weiter.

„Wir haben nur ein Glas Champagner getrunken.“

Das musste ja ein großes Glas gewesen sein, so spät, wie sie gekommen ist, dachte er.

„Wie war dein Abend mit Sybille?“, fragte sie.

„Ging so.“ Typisch, sich selbst mit anderen Männern die Nacht um die Ohren schlagen und ihn nach seinem harmlosen Essen mit Bille fragen. Wahrscheinlich war sie immer noch eifersüchtig. Lächerlich, schließlich hatte er Sybille ihretwegen verlassen.

Er spülte das letzte Stück des Toasts mit einem Schluck Kaffee hinunter: „Ich muss jetzt, Liebling. Fürchte, es wird heute Abend später werden.“

„Das wird es doch immer“, antwortete Marietta und hielt ihm die Wange zum Kuss hin.

 

*

 

Kaum saß Elmar im Auto, läutete sein Handy.

„Was hast du uns denn jetzt wieder angetan?“, dröhnte der Präsident der Wirtschaftskammer in gewohnt undiplomatischer Art. „Ausgerechnet die Hold-Meixner setzt du ins Sozialministerium? Die ist doch ebenso unberechenbar wie ihr Alter. Also …“

Er ließ ihn nicht ausreden: „Mach dir keine Sorgen, die hab’ ich voll im Griff. Bille und ich, wir waren einmal … also, das ist natürlich schon lange her, aber alte Liebe rostet ja bekanntlich nicht – Bille wird genau das tun, was wir beschließen.“

„Überheb dich nur nicht. Wenn wir schon die historische Chance haben, das Sozialministerium zu besetzen, dann …“

„Entschuldige Rüdiger, aber ich werde erwartet. Du wirst sehen, Bille wird eine ganz hervorragende Figur machen. Servus!“

Er beendete das Telefonat und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Natürlich war Bille nicht die Idealbesetzung, aber es war ihm einfach niemand eingefallen, der loyaler wäre als sie. Außerdem hatte er schon genug Schlaumeier um sich, die an nichts anderem interessiert waren als daran, ihm sein Amt streitig zu machen. Bille würde das niemals tun, außerdem wären diese Schuhe ohnehin zu groß für sie.

Sie waren damals ein vielversprechendes Paar gewesen. Bille war eine Pragmatikerin und hatte ein gutes Gespür für Menschen. Zusammen mit seiner Kreativität und seinem Charisma konnten sie eine Menge bewegen.

Im Kanzleramt angekommen sah er zuerst den Pressespiegel durch. Die meisten Zeitungen berichteten nur kurz über die Neubestellung von Dr. Sybille Hold-Meixner zur Sozialministerin. Bille war ja auch ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. Nur dieser Oberidiot vom Tagblatt hatte es sich wieder einmal nicht nehmen lassen, blöd daherzuquasseln.

 

Wer kennt Sybille Hold-Meixner?

 

In ungewohnter Schnelligkeit ist es Kanzler Reifenstein diesmal gelungen, eine Nachfolgerin für den tödlich verunglückten Sozialminister Richard Winter zu präsentieren.

Wir erinnern uns: Als es nach monatelangen Verhandlungen endlich gelungen war, einen Koalitionspartner zu finden, hat es dennoch Wochen gedauert, bis ein Sozialminister bestellt werden konnte. Diesmal hat man freilich nicht lange gesucht, sondern mit Frau Dr. Hold-Meixner einfach die bisherige Kabinettschefin zur Ministerin berufen.

Die promovierte Juristin ist die Tochter des ehemaligen Generalsekretärs Heinrich Meixner und war bis vor wenigen Tagen nicht einmal Mitglied der Partei.

Es bleibt abzuwarten, ob es sich dabei um einen weiteren „Geniestreich“ des Kanzlers handelt, der bei seinen bisherigen Personalentscheidungen wenig Geschick bewiesen hat.

V.R.

 

Trottel. Obertrottel. Der würde Bille schon noch kennenlernen.

 

4. Das neue Amt

 

 

Seit dem Tod ihrer Mutter gehörte der Sonntagmittag Sybilles Vater. Manchmal kam er zum Mittagessen, dann wieder lud er sie ins Restaurant ein und wenn das Wetter gut war, so wie heute, machten sie ausgiebige Spaziergänge.

Da Kerstin den Sonntag bei ihrem Vater verbrachte, waren sie diesmal allein. Kaum waren sie einige Schritte gegangen, fragte er: „Hast du dein Team schon beisammen?“

Sybille zögerte, entschloss sich dann jedoch, ihm reinen Wein einzuschenken: „Nicht ganz. Das heißt, wenn Elmar mir nicht einen Kabinettschef aus seinem Ministerium aufs Auge drücken wollte, wäre alles klar. Der Mann ist angeblich ein Zahlengenie und genau das, was ich brauche – sagt Elmar. Außerdem meint er, es wäre klüger, jemanden zu nehmen, der nicht aus meinem eigenen Ministerium kommt.“

Ihr Vater schien darüber nachzudenken, ehe er sagte: „Damit hat er vermutlich recht, schließlich kennst du das Ministerium gut genug und weißt, wie die Leute dort ticken. Wenn der Mann gut ist, warum nicht?“

„Ich glaube eher, Elmar will ihn nur loswerden.“

„Papperlapapp! Du solltest dir von ihm helfen lassen.“

„Ich brauche aber keine Hilfe, schon gar nicht von Elmar“, entgegnete sie aufgebracht.

Er hob beschwichtigend die Hände: „Ist ja gut, ist ja gut.“

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann sagte er: „Ich halte in der Zwischenzeit eine Menge von Elmar. Er ist intelligent, ehrgeizig, ein blendender Rhetoriker und nicht so aufgeblasen wie diese jungen Schnösel heutzutage.“

„Das waren die guten Seiten. Dazu fiele mir noch ein: oberflächlich, berechnend und insgesamt ein Narzisst.“

Ihr Vater schüttelte missbilligend den Kopf: „Ich dachte, ihr seid Freunde.“

„Wir waren Freunde, bevor er mich gegen Geld eingetauscht hat.“

„Du meinst, weil er eure Verlobung aufgelöst und Marietta geheiratet hat? Ich bitte dich, das ist doch Schnee von gestern!“

Bis vor Kurzem hatte Sybille das auch geglaubt, aber in den letzten Tagen war alles wieder sehr lebendig geworden – auch wenn inzwischen mehr als zwanzig Jahre vergangen waren.

 

*

 

Nach der Angelobung wurde in der Präsidentschaftskanzlei ein Imbiss gereicht. Anschließend fuhr Sybille ins Ministerium und ließ sich dabei filmen, wie sie ihr neues Büro betrat. Dann rief sie zum allerersten Mal ihr Team zusammen.

Das Zahlengenie überreichte ihr einen riesigen Blumenstrauß und Frau Schmidt, die Elmar als Gegenleistung ins Kanzleramt übernommen hatte, verabschiedete sich mit einem kleinen Umtrunk.

Endlich war Sybille allein in ihrem neuen Reich. Wie lange es das wohl bleiben würde, überlegte sie, während sie ihren Schreibtisch einräumte. Ministerämter waren nicht für die Ewigkeit. Bis zur nächsten Wahl waren es knapp zwei Jahre, in dieser Zeit würde Elmar vermutlich keine Änderungen vornehmen. Was danach kam, blieb abzuwarten.

Den Schlüssel von Richard Winters Privatsafe, den Frau Schmidt ihr feierlich überreicht hatte, würde sie am besten auf ihrem Schlüsselbund montieren. Was Doktor Winter wohl darin aufbewahrt hatte?

Sybille schob den Vorhang zur Seite und öffnete den Safe. Bis auf ein dickes gelbes Kuvert war er leer. Sie nahm es heraus. Es war zugeklebt und unbeschriftet. Ob es private Unterlagen enthielt? Aber dann hätte es Winter sicher nicht hier, im Amt, aufbewahrt.

Rasch entschlossen griff Sybille zum Brieföffner. Sie holte einige Zeitungsausschnitte hervor, Kopien von Kontoauszügen, Tabellen über Aktienkurse, einen handgeschriebenen Zettel mit Internetadressen und einen Bericht über eine Firma WSC-Investments. Ein anderer Zeitungsartikel befasste sich ebenfalls mit WSC, ein Foto zeigte den Chef der Gewerkschaft, darunter stand ein Artikel zum Thema Finanztransaktionssteuer.

Sah ganz danach aus, als wäre Winter an dieser Firma besonders interessiert gewesen, dachte Sybille, denn WSC-Aktien waren auch in den Kurstabellen gelb markiert.

Sie ging zum Computer und rief das Firmenbuch auf. Bei WSC-Investments handelte es sich um eine SE, eine Europäische Aktiengesellschaft, mit Sitz in Wiener Neustadt.

Kopfschüttelnd steckte sie alles in das Kuvert zurück und schloss es wieder im Safe ein. Dann schnappte sie sich ihren Kalender und ging die Termine der nächsten Tage durch.

Kurz nach zwanzig Uhr steckte Ludwig, ihr Chauffeur, seinen Kopf ins Zimmer.

„Verzeihung, Frau Minister, brauchen Sie mich heute noch?“

„Ludwig, auf Sie habe ich ganz vergessen! Entschuldigen Sie, an den Gedanken, einen Chauffeur zu haben, muss ich mich erst noch gewöhnen. Aber gut, dass Sie da sind, ich wollte ohnehin gerade gehen.“

In der Garage öffnete er ihr die Tür zum Fond.

„Ehrlich gesagt, wenn ich nicht zu arbeiten habe, würde ich lieber vorne sitzen.“

„Selbstverständlich, Frau Minister.“

„Danke, Herr Chauffeur“, antwortete sie grinsend. „Sollten Sie allerdings Wert darauf legen, wieder Ludwig genannt zu werden, dann darf ich Sie bitten, auch mich wieder mit meinem Namen anzusprechen.“

„Gerne, Frau Doktor“, grinste er.

Als der Wagen aus der Garage glitt, fiel ihr der Firmenbuchauszug wieder ein.

„Sagen Sie, an dem Tag, an dem Doktor Winter den Unfall hatte, da waren Sie doch unterwegs gewesen.“

Er nickte und reihte sich in den Abendverkehr ein.

„Erzählten Sie nicht kürzlich, Sie waren in Wiener Neustadt?“

„Allerdings. Die Schmidt hatte mich gebeten, Unterlagen für Doktor Winter abzuholen. Aber dort hat niemand etwas von diesen Unterlagen gewusst. Weder an der Rezeption noch in der Chefetage. Ich habe dann die Schmidt angerufen, aber die hatte wieder einmal keine Ahnung. Faselte nur, dass Frau Winter sie gebeten hätte, für ihren Mann Unterlagen bei WSC abholen zu lassen. Kurz danach kam dann die Nachricht von seinem Unfall, da bin ich wie verrückt zurückgerast, aber …“

Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. Sybille verstand auch so. Da ist Winter schon tot gewesen.

 

*

 

Einige Tage später meldete sich Linda Winter, um Sybille zum neuen Amt zu gratulieren.

„Ein Amt, das ich unter diesen Umständen lieber nicht angetreten hätte“, antwortete Sybille.

Linda Winter seufzte: „Ich kann es immer noch nicht fassen. Er kam mir immer so … so unverletzlich vor. Manchmal denke ich, er wird gleich anrufen und sagen, dass er aufgehalten wurde. Ach, hätte er sich doch nicht selbst ans Steuer gesetzt. Wissen Sie, seit Frau Schmidt mir erzählt hat, dass die Sache mit den Unterlagen, derentwegen Ludwig unterwegs war, ein Missverständnis gewesen ist, erscheint mir Richards Tod noch unsinniger.“

Sybille konnte den Kummer der Frau nachvollziehen, dennoch hakte sie nach:

„Ich verstehe nicht ganz. Ludwig sagt, Frau Schmidt hätte den Auftrag von Ihnen bekommen.“

„Das stimmt schon. Mein Mann war an jenem Tag spät dran, weil ich ihn zu einem Arzttermin genötigt habe, wegen seines hohen Blutdrucks. Ich habe ihn danach ins Ministerium gebracht, und während er gleich in den Sitzungssaal gelaufen ist, habe ich seinen Auftrag, Ludwig möge irgendwelche Unterlagen für ihn abholen, an Frau Schmidt weitergegeben.“

Sybille hatte in der Zwischenzeit Winters Terminkalender aufgerufen. Es stimmte. Er hatte eine Besprechung mit der Gewerkschaftsspitze gehabt, danach waren sie beide Mittagessen gewesen.

Einen Moment herrschte Stille, dann sagte Sybille: „Wenn ich etwas für Sie tun kann …“

Linda Winter seufzte: „Danke, das ist sehr liebenswürdig, aber ich komme schon zurecht. Wenn Sie noch irgendwelche persönliche Sachen meines Mannes finden, lassen Sie es mich bitte wissen.“

„Selbstverständlich Frau Winter, alles Gute für Sie.“

Nachdem Sybille das Gespräch beendet hatte, blieb sie einen Moment reglos am Schreibtisch sitzen. Gab es eine Verbindung zwischen den Unterlagen im Safe und der sinnlosen Fahrt nach Wiener Neustadt?

Vielleicht sollte sie erst einmal herausfinden, was es mit den Kurstabellen und Kontoauszügen auf sich hatte, doch dazu fehlten ihr die Zeit und das nötige Fachwissen. Kurz entschlossen öffnete sie den Safe und steckte die Unterlagen in ihre Aktentasche. Es gab nur einen Menschen, der ihr helfen konnte: Rita.

Rita war schon in der Oberstufe des Gymnasiums ihre beste Freundin gewesen, und während der ersten Studienjahre hatten sie sich eine Wohnung geteilt. Doch dann hatte Rita Albert kennengelernt, war schwanger geworden und zu ihm gezogen. Albert war deutliche älter als Rita, und Sybille hätte keinen Pfifferling auf diese Ehe gegeben. Erstaunlicherweise hatte sie gehalten.

Rita hatte nach der Geburt ihrer Tochter ihr Studium abgeschlossen, ihre Ausbildung zum Wirtschaftsprüfer gemacht und später die Kanzlei ihrer Mutter übernommen.

Wenn sich also jemand, dem sie absolut vertrauen konnte, mit diesen Unterlagen auskannte, dann Rita.

Ein kurzes Telefonat genügte und sie vereinbarten ein Treffen für das kommende Wochenende.

 

*

 

Während Sybille sich mit Albert über die Tücken der Beamtenreform im Allgemeinen und seine Pensionierung im Besonderen unterhielt, vertiefte Rita sich in die mitgebrachten Unterlagen.

„Sieht nach Crossing-Geschäften aus“, unterbrach Rita die beiden schon nach wenigen Minuten.

„Was genau habe ich darunter zu verstehen?“

„Kursmanipulationen.“

„Kursmanipulationen bei WSC-Investments? Möglich, aber was sollte Doktor Winter damit zu tun haben?“, fragte Sybille mehr sich selbst als die anderen.

„Wer steht hinter WSC?“, wollte Albert wissen. Er war Kriminalkommissar gewesen und seit wenigen Monaten im Ruhestand.

Rita reichte ihm den Firmenbuchauszug. Er studierte ihn, schüttelte aber bald darauf den Kopf: „Kenn’ ich alle nicht.“

„Kein Mörder dabei?“, neckte Rita.

„Zumindest keiner, den ich kenne“, gab Albert zurück. Dann wollte er wissen, was es zu essen gäbe.

Im Gegensatz zu Sybille war Rita eine exzellente Köchin, die gerne neue Rezepte ausprobierte. Abendessen bei Rita war immer spannend. Diesmal hatte sie japanisch gekocht. Erst gab es handgerollte Maki und danach köstliche Dim-Sum-Variationen.

Während des Essens sprachen sie über die Kinder und den vergangenen Urlaub, doch als sie beim Kaffee saßen, wandte Sybille sich an Albert: „Wie wahrscheinlich ist es, dass ein gesunder, nüchterner Mann auf trockener Fahrbahn bei etwa 100 km/h die Kontrolle über seinen Wagen verliert und gegen einen Baum fährt?“

„Bei einer Limousine dieser Klasse eher wenig wahrscheinlich“, antwortete Albert.

„In der Zeitung stand, er sei ein ziemlich ungeübter Fahrer gewesen“, warf Rita ein.

Sybille zuckte die Schultern: „Was die so alles schreiben. Natürlich ist er meistens mit Chauffeur unterwegs gewesen, aber deswegen kann man doch noch geradeaus fahren.“

„Was sagt denn Elmar dazu?“, wollte Rita wissen.

Sybille zuckte die Schultern: „Wir hatten noch keine Gelegenheit, darüber zu reden, er weiß auch nichts von diesen Unterlagen. Niemand weiß bisher davon, außer euch beiden, das sollte vorerst auch so bleiben. Zumindest solange wir nicht wissen, was es damit auf sich hat.“

Albert fasste zusammen: „Winter war offenbar Kursmanipulationen einer Firma WSC auf die Schliche gekommen, die ihren Sitz in Wiener Neustadt hat. Am Tag des Unfalls wird sein Chauffeur dorthin beordert, um Unterlagen abzuholen. Er bekommt aber keine Unterlagen. Stattdessen fährt Winter auf trockener Fahrbahn mit 100 km/h gegen einen Baum. Das stinkt doch. Das stinkt sogar ganz gewaltig. Wurde der Wagen überprüft?“

Sybille nickte.

Albert schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und setzte sich an seinen Computer, während die Damen ein kleines Schwätzchen hielten.

 

*

 

Weder Alberts Internetrecherche noch ein Besuch in seiner ehemaligen Dienststelle brachten Licht ins Dunkel. Dass WSC eine Europäische Aktiengesellschaft und deren Hauptgesellschafterin und Chefin des Verwaltungsrates eine gewisse Georgine Markuzzi war, wussten sie aus dem Firmenbuchauszug. Doch erstaunlicherweise war im Internet nichts über diese Dame zu finden, außer eben, dass sie Anteile an WSC hielt.

„Seltsam“, schrieb Albert in einer Mail an Sybille. „Menschen, die Kohle in ein Investmentunternehmen stecken, schießen doch nicht wie Schwammerln aus dem Boden.“

Da war was dran.

Auch über den Geschäftsführer der Gesellschaft war wenig bekannt. Laut Website hatte er nach der Matura noch einige Semester Betriebswirtschaft studiert. Danach war er in der Immobilienbranche tätig gewesen.

Sybille fragte bei Ernst, ihrem Ex-Mann, nach, doch auch er kannte den Mann nicht. Ernst war Hausverwalter in dritter Generation, wenn er ihn nicht kannte, war der Mann zumindest nicht an prominenter Stelle tätig gewesen.

„Werde mich mal in Wiener Neustadt umschauen. Melde mich wieder. A.“, mailte Albert.

Immerhin kannten sie jetzt den Betriebsgegenstand. WSC-Investments vermittelte Anlageprodukte und Immobilien. Aber auch das bot keinen Anhaltspunkt.

Bei einem ihrer nächsten Zusammentreffen mit Kanzler Reifenstein berichtete Sybille von ihrem Fund und den Recherchen, die sie angestellt hatte.

Elmar war nicht gerade erbaut darüber. „Nur keine Verschwörungstheorien Bille, ich bitte dich. So etwas kann leicht kippen, ich erinnere dich nur an den Unfalltod des Präsidenten des Heimatbundes.“

„Der war betrunken und ist im Regen mit 120 km/h in eine Kurve gefahren. Das kann man nun wirklich nicht vergleichen.“

„Sagst du. Aber was würde die Presse daraus machen? Winter ist tot, das ist bedauerlich, sehr bedauerlich sogar, aber er wird nicht wieder lebendig, egal was du tust. Sag mir lieber, was hältst du von der neuesten Idee unseres Koalitionspartners?“

 

*

 

Als Sybille Rita von diesem Gespräch erzählte, sagte die nur: „Empathiefähigkeit war noch nie seine Stärke.“

Sybille lächelte. Rita war Elmar immer schon kritisch gegenübergestanden, seine politische Karriere hatte daran wenig geändert.

„Ich finde ja auch, dass die Sache seltsam aussieht. Trotzdem möchte ich Alberts Zeit nicht dermaßen beanspruchen.“

„Mach dir darüber keine Gedanken“, unterbrach Rita. „Du rettest gerade meinen Seelenfrieden. Lange hätte ich seine Mithilfe in meiner Kanzlei ohnehin nicht mehr ertragen.“

„So schlimm?“, fragte Sybille lachend.

„Schlimmer. Im Sommer war er Rad fahren und hat meiner Mutter im Garten geholfen, das war super. Aber seit Allerheiligen sitzt er stundenlang in meiner Kanzlei herum und vermutet hinter jedem meiner Klienten einen potenziellen Verbrecher. Ich bitte dich inständig, lass Albert ermitteln, am besten bis zum Frühjahr.“

Nur wenige Tage später berichtete Albert: „Der Geschäftsführer lässt sich nicht allzu oft blicken, und diese Markuzzi erscheint angeblich immer nur zu den Sitzungen des Verwaltungsrates. Dafür habe ich Meller schon zweimal dort gesehen.“

„Unseren Gewerkschaftsboss?“

„Genau den. Kam in einem schnittigen Porsche angebraust.“

„Ach ja?“, lächelte sie. „Offiziell fährt er einen Passat. Wie viele Angestellte hat denn WSC?“

„Vielleicht dreißig, maximal vierzig, derentwegen wird er wohl nicht gekommen sein. Ich häng’ mich mal an seine Fersen.“

„Mach dir bloß keine Umstände“, sagte sie noch, doch da hatte er bereits aufgelegt.

 

*

 

In den nächsten Tagen war Sybilles Terminkalender brechend voll, ein Termin jagte den anderen, die Sache mit Dr. Winter und WSC trat mehr und mehr in den Hintergrund und eines Abends überraschte Kerstin sie mit der Ankündigung, im kommenden Schuljahr an die Handelsakademie wechseln zu wollen.

„Ich wusste gar nicht, dass du dich für Buchhaltung interessierst“, antwortete Sybille, während sie die Dose mit den geschälten Tomaten öffnete.

„Du weißt ja auch sonst nichts von mir“, entgegnete Kerstin schnippisch.

Der Ton verhieß nichts Gutes. Sybille zählte bis zehn, ehe sie antwortete: „Im Prinzip halte ich es ja für eine gute Idee, ich bin nur erstaunt.“

Diesmal schien sie die richtige Antwort gefunden zu haben, denn Kerstin verzog sich in ihr Zimmer, und als sie zum Essen wiederkam, erzählte sie gut gelaunt von der Schule. Der Name Daniel kam in ihren Erzählungen mindestens fünfmal vor.

Ob Daniel an Buchhaltung interessiert war?

 

5. Das Interview

 

 

Viktor Raab hatte das Interview mit der neuen Sozialministerin kurzerhand zur Chefsache erklärt. Anfangs hatte er noch gedacht, der Kanzler hätte wieder einmal einen seiner Günstlinge auf einen Ministerposten gehievt. Das war, als er davon gehört hatte, dass Reifenstein mit Sybille Hold-Meixner liiert gewesen war. Nun ja, das immerhin konnte er verstehen, sie war eine aparte Person.

Doch je länger er sich mit der Dame beschäftigte, desto interessanter fand er die ganze Sache. Natürlich wusste er, dass sie die Tochter des ehemaligen Klubobmanns Heinrich Meixner war, aber, dass sie als Studentin mit den Grünen sympathisiert hatte, war ihm neu. Viktor grinste. Die einzige Tochter als Grünsympathisantin – das war dem alten Meixner sicher nicht recht gewesen und zeugte immerhin von einem gewissen Widerspruchsgeist. Konnte ja sein, dass Sybille Hold-Meixner sich zumindest ein wenig davon erhalten hatte.

Später war sie mit Ernst Hold verheiratet gewesen, alteingesessene Immobilienkanzlei, da hatte man ihr die grünen Ideen wohl ausgetrieben. Inzwischen war sie allerdings geschieden.

Zumindest ließ ihr erstes Fernsehinterview aufhorchen, denn sie hatte sich klar und deutlich dazu bekannt, das Regierungsübereinkommen in Sachen Pensionsreform noch in dieser Legislaturperiode umzusetzen. Das würde nicht einfach werden, denn die Sozialdemokraten schienen wenig Lust zu haben, diesen Punkt abzuarbeiten, und der Kanzler hielt bekanntlich nicht viel von kontroversen Diskussionen. Auf dessen Unterstützung würde sie daher kaum zählen können. Aber wer weiß, vielleicht hatte sie immer noch einen gewissen Einfluss auf Reifenstein?

Raab lächelte süffisant, während er sich etwas notierte, dann klappte er seine Mappe zu. Er hatte ein paar ausnehmend interessante Fragen vorbereitet, mal sehen, wie seine Gesprächspartnerin damit zurechtkam.

 

*

 

Wäre es nach Doris, Sybilles junger Assistentin, gegangen, hätten sie den Chefredakteur des Tagblattes mit Kaffee aus dem Automaten und abgepackten Croissants abgefertigt. Zum Glück hatte Sybille rechtzeitig daran gedacht nachzufragen. Nun standen Orangenmarmelade, frisches Gebäck und englischer Breakfast-Tea bereit, denn Viktor Raab war allgemein als Freund der britischen Lebensweise bekannt.

Bisher hatte Sybille ihn immer für einen aufgeblasenen Idioten gehalten, aber so wie er nun vor ihr saß, mit Tweed-Sakko und Rollkragenpullover, ein Bein über das andere gelegt, wirkte er nicht unsympathisch. Ein interessanter Mann. Nicht schön, aber irgendwie gutaussehend. Und sein Lächeln hatte etwas.

Trotzdem hieß es, auf der Hut zu sein, denn Raab war berühmt für seine scharfzüngigen Kommentare. Erst kürzlich hatte er wieder einen äußerst kritischen Artikel über Elmar geschrieben. Nicht ganz zu Unrecht, wie sie zugeben musste. Elmar hatte viele Talente und eine Menge guter Ideen, aber er verfolgte sie nicht konsequent genug. Genau das hatte Raab in einem ziemlich bissigen Artikel angeprangert. Dabei war die Zeitung, für die er arbeitete, durchaus dem konservativen Lager zuzuordnen.

Wie auch immer, die Macht der Presse war nicht zu unterschätzen und das Tagblatt wollte ein zweiseitiges Interview mit ihr in der Samstagausgabe veröffentlichen. So etwas war immer gut, weil die anderen Medien derartige Artikel in der Regel aufgriffen und ein wenig Publicity konnte nicht schaden.

„Als Tochter eines Vollblutpolitikers wissen Sie sicher, was auf Sie zukommt. Warum tun Sie sich dieses Amt dennoch an?“, fragte Raab.

Das fing ja gut an.

„Unterstellen Sie damit meinen Kollegen, dass sie ihre Ämter antreten, ohne zu wissen, was auf sie zukommt?“ Die Entgegnung hatte schärfer geklungen, als Sybille es beabsichtigt hatte, deshalb schickte sie ein verbindliches Lächeln hinterher.

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

War ja zu erwarten gewesen, dass er nicht locker ließ.

„Ich halte es für eine spannende Aufgabe und ich möchte etwas tun, das die Mühe wert ist.“

„Andere Aufgaben sind das nicht?“

Also doch ein aufgeblasener Idiot. Mit hochgezogener Augenbraue, aber freundlich im Ton antwortete sie: „Das habe ich weder gesagt noch gemeint.“

Das Gespräch nahm seinen Lauf.

Nach etwa einer Stunde sagte er: „Ihr Vater hat einmal von akzeptablen und unakzeptablen Parteien gesprochen. Wie stehen Sie dazu?“

Was wollte er bloß mit diesen alten Kamellen? Der Spruch hatte ihrem Vater seinerzeit eine Menge Kritik eingebracht.

„Ich erinnere mich leider nicht an eine solche Aussage und weiß daher auch nicht, in welchem Zusammenhang sie gefallen sein könnte. Grundsätzlich ist jede demokratisch legitimierte Partei für einen Staat akzeptabel.“

„Und für Sie persönlich?“

Ach, daher wehte der Wind.

„Wie Sie wissen, bin ich Mitglied der konservativen Partei …“

„Seit wenigen Wochen“, unterbrach er sie. „Und davor?“

„Davor war ich Sympathisantin der konservativen Partei und noch früher war ich bei den Grünen, das ist allerdings lange her.“

„So lange wie Ihre Freundschaft zu Kanzler Reifenstein?“

Sie lächelte. „Die ist sogar noch älter, wir waren zusammen auf dem Gymnasium.“

„Und danach?“

„Danach haben wir studiert.“

Täuschte sie sich oder war da ein Lächeln in seinen Augen?

Alles in allem dauerte das Interview mehr als zwei Stunden. Als er sich erhob, scherzte sie: „Wenn Sie das alles veröffentlichen, wird die Samstagausgabe diesmal aber besonders umfangreich.“

„Unsere Samstagausgabe ist immer umfangreich. Dennoch werde ich mir erlauben, die eine oder andere Stelle zu kürzen.“

„Kann ich den Artikel sehen, bevor Sie ihn veröffentlichen?“

„Natürlich, wenn Sie morgen Abend mit mir essen gehen.“

Der war vielleicht dreist, aber ein interessanter Gesprächspartner. Selbstverständlich musste das Interview autorisiert werden, das wussten sie beide. Dennoch warf sie einen Blick in den Terminkalender, wohl wissend, dass der morgige Abend noch frei war, dann antwortete sie, so kühl wie es ihrer Natur möglich war: „Das ließe sich einrichten.“

Konnte nicht schaden, ihre Pressekontakte zu verbessern.

 

*

 

Das Lokal, das Viktor Raab gewählt hatte, verfügte nur über wenige Tische und war für seine hervorragende asiatische Küche bekannt. Sybille hatte schon mehrfach versucht, einen Abend hier zu verbringen, bisher war ihr das nicht gelungen. Raab hingegen schaffte es von einem Tag auf den anderen. Dennoch verkniff sie sich eine diesbezügliche Bemerkung, er war auch so schon überheblich genug.

Sie kam direkt aus dem Ministerium und trug einen schwarzen Hosenanzug mit einer hellblauen Bluse, den sie für den Abend mit passenden Ohrgehängen aufgepeppt hatte.

Er erwartete sie bereits, vor sich eine schwarze Ledermappe.

„Champagner zum Aperitif?“, schlug er vor und überreichte ihr die Mappe.

Sie nickte zustimmend und vertiefte sich in den Text.

Es stand alles so da, wie sie es gesagt hatte. An einigen Stellen hatte er gekürzt, einige Fragen fehlten, aber im Grunde war nichts auszusetzen. Fast schade, sie hatte sich schon auf ein Streitgespräch eingestellt. So aber sagte sie nur: „Einverstanden“ und tauschte seine Mappe gegen die Speisekarte.

Während des Essens hielten sie ein belangloses Gespräch aufrecht, doch nach dem Hauptgang fragte er: „Haben Sie schon gehört? Unser Finanzminister hat in Brüssel wieder einmal Staub aufgewirbelt.“

„Was hat er denn diesmal angestellt? Geheimnisse verraten, die ohnehin schon die Spatzen von den Dächern pfeifen?“

„Diesmal hat er sich etwas Griffigeres einfallen lassen: Er hat einen Kollegen beschimpft.“

„Höre ich daraus eine leise Kritik an unserem Finanzminister?“

„Die ist schon lange nicht mehr leise, man könnte sie fast schon heftig nennen.“

Der Finanzminister war nun wirklich nicht ihr Freund, ganz abgesehen davon, dass er nicht ihrer Partei angehörte, dennoch fühlte Sybille sich verpflichtet, den Kollegen vor der Presse in Schutz zu nehmen: „Wir Politiker haben es wirklich gut. Während wir noch am Schreibtisch sitzen, weiß die Presse schon ganz genau, was wir wieder falsch gemacht haben.“

Ein Lächeln umspielte seinen Mund, als er antwortete: „Das ist bei unserer jetzigen Regierung auch nicht allzu schwierig.“

Das war nun wirklich kühn. Sie nahm sicherheitshalber noch einen Schluck Weißwein, ehe sie antwortete: „Sie haben nicht zufällig vergessen, dass ich seit Kurzem Mitglied dieser Regierung bin?“

„Keineswegs, ich bin über Ihren Amtsantritt immer noch mehr als erstaunt.“

Ja spinnt denn der?, dachte sie und lächelte süffisant. „Bedauerlicherweise sagen uns die Herrschaften von der Presse so selten, wie es richtig gewesen wäre.“

Sein Blick schien amüsiert, als er mit einem kleinen Nicken antwortete: „Touché. Noch Kaffee?“

 

6. Alltag

 

 

So angenehm der Abend mit Viktor Raab dann doch noch verlaufen war, so unangenehm verlief das Wochenende. Kerstin war stinksauer zu ihrem Vater abgezischt, weil Sybille ihr nicht erlaubt hatte, bis Mitternacht auf irgendeiner Party herumzuhängen, das nasskalte Wetter verhinderte jedwede Spaziergänge und ihr Vater hatte auch schlechte Laune, weil der Arzt ihm seine geliebten Zigarren verboten hatte.

„Bist du verrückt“, hatte er sie angefahren, als sie ihm von ihrem Essen mit Raab erzählte. „Du kannst doch nicht mit einem Pressefritzen ausgehen. In deiner Position!“

Warum musste sie es ihm auch sagen?

„Doktor Raab ist nicht irgendein Pressefritze, sondern Chefredakteur einer sehr angesehenen Zeitung.“

Immerhin hatte er knurrend zugegeben, dass das Interview ein ebenso kompetentes wie sympathisches Bild von ihr zeichnete. Auch das Foto war klasse.

Alles in allem war sie froh gewesen, am Montagmorgen wieder ins Amt gehen zu können.

Doch nun hielt Elmar ihr einen Vortrag, wie wichtig ein gutes Verhältnis des Sozialministeriums mit der Gewerkschaftsspitze sei, gerade angesichts der schlechten Umfragewerte ihrer Partei.

Im Interview hatte sie auf die Frage, wie ihr Verhältnis zur Gewerkschaftsspitze wäre, gesagt: „Prinzipiell gut, allerdings unterscheiden sich unsere Ansichten in Sachfragen und Stil ganz erheblich.“

„Meller ist und bleibt ein elender Opportunist“, antwortete sie gereizt.

„Möglich, aber er findet in der Bevölkerung großen Anklang.“

„Ja und? Seine Darstellung volkstümlicher Gutmütigkeit ist doch nichts anderes als ein billiger Theatertrick.“

„Ich bin ja deiner Meinung, Meller ist ein Hohlkopf. Im Vergleich zu ihm war sein Vorgänger Einstein und Dalai Lama in Personalunion. Aber es ist politisch unklug, Meller öffentlich zu attackieren.

„Ich habe ihn nicht attackiert, ich habe gesagt, dass seine Vorstellungen höchst unrealistisch sind.“

Er lachte sein sympathisches Elmar-Lachen. „Was nennst du dann eine Attacke?“

Sie sprachen dann noch eine Weile über Vor- und Nachteile einer akzentuierten Politik, doch alles in allem blieb die Stimmung gespannt.

Das Highlight des Tages war eine E-Mail von Viktor Raab. Er berichtete, mehrere ausländische Zeitungen hätten das Interview übernommen oder zumindest auszugsweise daraus zitiert.

„Gute Arbeit, “, schrieb sie zurück.

„Gute Teamarbeit“, antwortete er.

 

*

 

Kerstin war am Montagabend immer noch gereizt, diesmal allerdings, weil ihr Vater ihr am Wochenende – bei einem gemeinsamen Abendessen – seine Assistentin vorgestellt hatte.

„Was geht mich seine blöde Assistentin an?“

„Dein Vater ist Hausverwalter mit Leib und Seele und verlässt seine Kanzlei, wie wir beide wissen, nur höchst ungern. Wo sonst sollte er eine Frau kennenlernen?“

„Mir doch egal. Außerdem muss er sie nicht einladen, wenn er weiß, dass ich da bin.“

„Vielleicht wollte er, dass ihr euch kennenlernt?“

„Nicht notwendig“, maulte Kerstin.

„Hat sie das Essen versalzen oder warum bist du so sauer?“

„Papa hat gekocht, wahrscheinlich kann sie gar nicht kochen, nur blöd quatschen.“

Kerstins Abneigung ließ Sybille vermuten, dass die Neue ganz vernünftige Ansichten haben könnte. Sie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit ihren Ex anzurufen.

 

*

 

Ernst kam Sybille zuvor und meldete sich am nächsten Tag: „Hast du schon Kerstins neue Schulpläne vernommen?“

„Du meinst den Wechsel in die Handelsakademie? Allerdings.“

„Ich find’ das super!“

Sybille konnte seine Euphorie nicht ganz teilen, dennoch fragte sie: „Was wäre so toll daran?“

„Eine solide kaufmännische Grundausbildung könnte für die Leitung einer Hausverwaltung sehr nützlich sein.“

„Du glaubst immer noch, dass sie eines Tages deine Kanzlei übernehmen könnte? Also ich weiß nicht, Kerstin ist doch eher der naturwissenschaftliche Typ.“

„Du meinst, weil sie uns ständig mit ihren Reitstunden nervt?“, lachte er.

„Ich meine vor allem, dass sie sich für kaufmännische Dinge doch gar nicht interessiert.“

„Und für naturwissenschaftliche schon? Meines Wissens interessiert sie sich derzeit ausschließlich für teure Klamotten und Nagellack.“

„Auch wieder wahr. Allerdings interessiert sie sich noch für einen gewissen Daniel, der dürfte ihr kaufmännisches Interesse geweckt haben.“

„Ach, so ist das.“ Er schien etwas enttäuscht zu sein. „Und was machen wir jetzt?“

„Mein lieber Ernst, wir haben noch drei Monate Zeit, da kann sich einiges ändern. Ich schlage daher vor, wir machen vorerst gar nichts, außer gelegentlich einen Essenstermin.“

 

*

 

Am Samstagmorgen, Kerstin schlief noch, machte Sybille es sich mit Kaffee und Buttersemmel in der Wohnküche gemütlich, doch als sie die Zeitung zur Hand nahm, blieb ihr beinahe der Bissen im Hals stecken:

 

„Gewerkschaftsboss Meller unter Verdacht“,

 

titelte das Tagblatt und brachte auf den Seiten 2 und 3 einen ausführlichen Artikel darüber, dass Meller in seiner Zeit als Bürgermeister von Eisenstadt Bestechungsgelder von einem gemeinnützigen Wohnbauträger kassiert haben könnte. Im Gegenzug soll ein riesiges Wohnprojekt an einer Stelle entstanden sein, an der eine Wohnnutzung eigentlich nie vorgesehen war. Außerdem seien die Bauklassen erhöht und interessierte Mitbewerber, so der Verdacht, von vornherein mit schlechteren Informationen versorgt worden, sodass diese schon im Vorfeld ausgeschieden sind.

Das war der Hammer!

Sybille sollte Sonntagabend an einer Live-Diskussion teilnehmen, bei der auch Meller Studiogast war. Dieser Artikel würde seiner Glaubwürdigkeit jedenfalls schaden – und wenn er sich noch so aufplusterte.

Ihr Verhältnis zu Meller war ohnehin ziemlich unterkühlt, seit sie massiv gegen die Dienstfreistellungsregelung für Gewerkschaftsfunktionäre im öffentlichen Dienst aufgetreten war. Das hatte er anscheinend persönlich genommen.

Sybilles abendlicher Fernsehauftritt war auch Sonntagmittag Thema Nummer eins.

„Lass dich von diesem aufgeblasenen Gockel ja nicht aus der Ruhe bringen und sprich nicht so schnell, die Zuseher sollen zumindest ansatzweise verstehen, wovon du redest“, dozierte ihr Vater.

„Papa, bitte, ich habe einen Mediencoach.“

„Coach, wenn ich das schon höre. Nichts als Klugscheißer, alle zusammen.“

„Immerhin hat er mir denselben Rat gegeben“, lächelte sie und schöpfte Sauce in die Terrine. Da sie keine besonders begnadete Köchin war, hielt sie sich gerne an ihre Standardrezepte. Gekochtes Rindfleisch war eines davon. Heute gab es dazu Zwiebelsauce und Rösti.

„Könnt ihr auch noch von etwas anderem reden?“, mischte Kerstin sich ein.

„Aber sicher doch“, entgegnete ihr Großvater entgegenkommend. „Was macht die Schule?“

Für diese Frage kassierte er einen ganz schrägen Blick.

 

7. Im Zentrum

 

 

Als ihr Vater gegangen war und Kerstin sich mit einem Video in ihr Zimmer verzogen hatte, überlegte Sybille, wie sie die Zeit bis zu ihrem ersten Liveauftritt am besten verbringen sollte. Sie entschied sich für ein entspannendes Schaumbad und legte sich anschließend mit einer Feuchtigkeitsmaske auf die Couch. Alle hatten ihr geraten, sich nicht von Meller provozieren zu lassen. Leicht gesagt, sie fand schon das gewählte Thema zum Kotzen. Arbeitszeitverkürzung.

Wie konnte ein Mensch in Zeiten der Rezession überhaupt auf den Gedanken kommen, die Arbeitszeiten verkürzen zu wollen? Ein Weniger an Arbeitsleistung würde die Wirtschaft schwächen und viel eher Arbeitsplätze kosten, als welche schaffen, das sollte doch jeder einigermaßen vernunftbegabte Mensch verstehen. Aber Meller ging’s ohnehin nicht um Vernunft, dem ging’s um die Position. Seine Umfragewerte waren in den letzten Monaten etwas gesunken und die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder war auch schon mal höher gewesen.

Um sich abzulenken, nahm sie ein Buch zur Hand, aber sie konnte sich nicht einmal auf die leichte Liebesgeschichte konzentrieren, zu der Rita ihr geraten hatte. Außerdem standen Liebesromane bei ihr nicht hoch im Kurs. Seit dem Desaster mit Elmar und dem Scheitern ihrer Ehe glaubte sie nicht mehr so recht an die große Liebe. Vielleicht war sie einfach nicht der Typ dafür.

Seufzend stand sie auf, sah noch einmal ihre Unterlagen durch und begann, sich für den Auftritt zurechtzumachen. Sie wählte ein schlichtes Strickensemble in Dunkelblau und peppte es mit ein paar schicken Ohrringen in Blau-Grün-Gold auf, die sie vor einer halben Ewigkeit bei Harrods erstanden und kaum getragen hatte. Heute passten sie perfekt! Wenn sie erst einmal im Auto saß, würde sich die Nervosität schon legen.

Sie genoss die Fahrt durch die abendliche Stadt. Der Regen hatte nachgelassen, vor dem Rathaus war der große Weihnachtsbaum schon beleuchtet und die Buden des Weihnachtsmarktes zogen eine Reihe von Besuchern an.

Mein Gott, wie schnell die letzten Wochen vergangen waren.

Als Sybille ihren Wagen vor dem Rundfunkgelände parkte, war es erst halb neun, also hatte sie noch Zeit, ihre Mails abzufragen.

Rita schrieb, sie hielte beide Daumen und Ernst war der Meinung, die Herren von der Gewerkschaft sollten bedenken, dass es auch Menschen gäbe, die Arbeit nicht als harte Fron oder notwendiges Übel betrachteten. Dass Ernst das so sah, war ja klar, er liebte seinen Beruf und arbeitete oft bis spät in die Nacht.

Gerade als sie ihr Handy abschalten wollte, kam eine SMS von Viktor Raab. Er schrieb: „Toi, toi, toi.“

Das war aber nett. Beschwingt machte sie sich auf den Weg in die Maske.

 

*

 

Die Diskussion dauerte schon über eine halbe Stunde und beide Seiten hatten sich auf ihren Standpunkten eingegraben. Sybille wusste, dass genau das nicht hätte passieren dürfen, aber wie sollte sie das verhindern bei einem Gegenüber, das sich, wie ein Papagei, ständig wiederholte?

Verstohlen blickte sie auf die Studiouhr. Noch eine halbe Stunde, du lieber Himmel, es war doch alles gesagt.

Der Moderator schien das ebenso zu sehen, denn mit seiner nächsten Frage brachte er das Gespräch auf die Pensionen:

„Hätte eine Verkürzung der Arbeitszeit auch Auswirkungen auf das Pensionssystem? Ich frage einmal Sie, Frau Ministerin.“

„Da an Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich nicht zu denken ist, hätte eine solche Maßnahme natürlich Auswirkungen auf das Pensionssystem – und zwar verheerende.“

„Haben Sie schon einen Plan, wie Sie in Sachen Pensionen weiter vorgehen werden?“, bog der Moderator nun vollends vom Tagesthema ab.

Verflucht, das stand doch heute gar nicht zur Debatte. Natürlich hatte sie einen Plan, aber der war noch nicht einmal parteiintern abgesprochen.

„Natürlich habe ich Ideen, aber ich halte nichts davon, erste Überlegungen gleich zu einem Plan hochzustilisieren.“

„Aber Sie gehen davon aus, dass es Änderungen geben muss?“

„Eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters wäre zutiefst unsozial“, mischte Meller sich ein.

„Halten Sie ein Pensionssystem, das die nächsten Generationen benachteiligt, für sozialer?“, fragte sie und wusste im gleichen Moment, dass sie nicht darauf hätte eingehen sollen.

„Nach unseren Berechnungen ist mit den bestehenden Regelungen durchaus das Auslangen zu finden“, warf Meller sich in die Brust.

Sybille spürte Zorn in sich hochsteigen und empfahl: „Dann rate ich dazu, Ihre Berechnungen dringend zu überprüfen.“

Als sie wenig später das Studio verließen, kam Meller auf sie zu.

„Glauben Sie eigentlich, dass Sie den Ärger aushalten, den ich Ihnen machen kann?“

„Probieren wir’s aus.“

 

*

 

Sybille war mit ihrem TV-Auftritt nicht unzufrieden gewesen, doch als sie am Montagmorgen das vornehme Sitzungszimmer des Ministerrates mit seiner dunklen Holzvertäfelung und den grün gepolsterten Stühlen betrat, wehte ihr eine ausgesprochen kühle Stimmung entgegen.

„Hatten wir nicht beschlossen, das Thema Pensionen vorerst nicht anzusprechen?“, herrschte der Finanzminister sie an.

Er war für seine barsche Art bekannt und liebte es, Staub aufzuwirbeln.

„Ich hatte mit dieser Wendung auch keine Freude, aber was konnte ich tun? Hätte sich Ihr Parteifreund Meller nicht so einzementiert, hätten wir auch die letzte Viertelstunde mit dem vorgegebenen Thema verbringen können.“

Der Finanzminister, der ohnehin zu Bluthochdruck zu neigen schien, lief rot an: „Meller trifft keine Schuld. Hätten Sie das Regierungsübereinkommen gelesen, wüssten Sie, dass dort nichts über eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters steht“, bellte er.

Sie sah zu Elmar, der ihren Vorgänger noch vor wenigen Wochen gedrängt hatte, in Sachen Pensionsreform endlich etwas vorzulegen, doch nun schien er mit der Betrachtung seiner Fingernägel beschäftigt zu sein.

„Ich habe es gelesen, Herr Kollege, erst vor Kurzem. Es wurde außer Streit gestellt, dass geeignete Methoden zur Sicherung des Pensionssystems notwendig sind.“

„Richtig. Allerdings werden Sie kaum eine Stelle gefunden haben, in der von einer Anhebung des Antrittsalters die Rede war.“

Das stimmte allerdings, sie hatte sich schon damals über die schwammige Vereinbarung gewundert. Nun, sie würde bestimmt nicht klein beigeben. „Ich fand darin allerdings auch keine Stelle, in der von einer Verkürzung der Arbeitszeit die Rede ist“, antwortete sie süffisant.

Elmar hatte die Betrachtung der Fingernägel anscheinend abgeschlossen: „Das war ein Vorstoß der Gewerkschaft, nicht unseres Koalitionspartners“, sagte er sanft.

Dafür hätte sie ihm am liebsten den Briefbeschwerer an den Kopf geworfen, der so dekorativ in der Mitte des Tisches stand. Was hatte sie erwartet? Loyalität war für Elmar schon immer eine Einbahnstraße gewesen.

 

*

 

Als sie in ihr Büro zurückkam, wartete Albert im Vorzimmer.

„Entschuldige, dass ich dich hier überfalle, aber ich habe Neuigkeiten, die dich interessieren werden.“

Sie nickte ihm freundlich zu: „Kaffee?“

„Gerne.“

Sobald sie die Tür hinter ihm ins Schloss gezogen hatte, sagte er: „Ich habe etwas herausgefunden über unseren Freund Meller. Der Typ soll empfindliche Schulden haben.“

Auf ihre Frage, woher er die Information habe, flüsterte er verschwörerisch: „Das willst du gar nicht wissen.“

Vermutlich hatte er recht, aber was half ihr das Wissen um Mellers Schulden, noch dazu, wenn sie die Quelle nicht kannte?

Sybille hatte den Gewerkschaftsboss mit seinen populistischen Sprüchen noch nie gemocht, sie traute ihm auch allerlei zu, aber warum hatte Albert sich so auf Meller eingeschossen? Nur weil der sich gelegentlich bei WSC blicken ließ? Grübelnd schloss sie ihre Aktentasche und machte sich auf den Weg zum nächsten Termin.

 

*

 

Es war schon fast acht, als sie die Wohnungstür aufschloss, doch kaum hatte sie sich ihrer Pumps entledigt, läutete ihr Privathandy.

Elmar. Seufzend nahm sie das Gespräch an.

„Hallo, Bille. Bist du schon daheim?“

„Soeben die Tür aufgesperrt.“

„Du Glückliche, ich bin noch unterwegs. Ich wollte mit dir noch einmal über das gestrige Interview reden. Also über weite Strecken fand ich dich grandios, nur die Sache mit den Pensionen war etwas unglücklich. Das Thema sollten wir in Zukunft vermeiden.“

„Mir ist schon klar, dass ich denen auf den Leim gegangen bin, aber davon abgesehen, dürfen wir uns nicht dazu zwingen lassen, ein so wichtiges Thema unter den Teppich zu kehren. Noch vor wenigen Wochen hast du selbst darauf gedrängt, ein entsprechendes Papier vorzulegen.“

„Ich weiß, aber wir müssen uns erst intern klar werden. Es gibt leider noch erhebliche Meinungsunterschiede bei den einzelnen Teilorganisationen.“

„Dann sollten wir uns so rasch wie möglich um einen einheitlichen Standpunkt bemühen, das Thema …“

„Du hast ja recht, aber nicht vor Weihnachten“, unterbrach er sie. „Ich bitte dich inständig, nicht vor Weihnachten!“

Sie vereinbarten, einen entsprechenden Termin für Jänner ins Auge zu fassen, dann meinte Elmar: „Übrigens erstaunlich, dass dieses arrogante Arschloch vom Tagblatt dich so ungeschoren davonkommen hat lassen. Genau genommen hat er dich sogar gelobt.“

Täuschte sie sich oder war da ein gewisser Unmut in seiner Stimme?

„Tatsächlich? Warum bist du so sauer auf Raab?“

„Das weißt du ganz genau“, antwortete er und verabschiedete sich abrupt.

Kopfschüttelnd ging sie ins Wohnzimmer. Da Kerstin bei einer Freundin übernachtete, machte sich Sybille zwei Brote zurecht, schenkte sich ein Glas Rotwein ein und zog sich mit den Tageszeitungen in ihr Zimmer zurück. Ihre Assistentin hatte alle Stellen markiert, die sich mit der Diskussion beschäftigten oder sonst für sie wichtig waren.

Während die einen sie dafür geißelten, dass sie offenbar daran dachte, das Pensionsalter zu erhöhen, lobten andere, allen voran Viktor Raab, ihren Mut, den Wählern reinen Wein einzuschenken.

So würde es auch bleiben. Nichts konnte sie mehr beflügeln als eine gesunde Portion Wut.

 

8. Vorweihnachtliche Freuden

 

 

Am ersten Adventsonntag bummelte Sybille mit ihrem Vater über den Weihnachtsmarkt, aber ihr Streitgespräch über den Finanzminister ließ keinerlei weihnachtliche Stimmung bei ihr aufkommen.

„Glaub mir, das ist ein alter Fuchs, der hat eine empfindliche Nase für politischen Zündstoff.“

„Möglich“, antwortete sie und wandte sich demonstrativ einem Stand mit sehr ansprechenden Ketten zu. Er hielt kurz an, schnaufte verächtlich und knurrte: „Wir treffen uns beim Punschstand.“

Endlich. Sie wünschte sich nicht viel von diesem Tag, nur ein paar Minuten Ruhe. Kein Finanzminister, kein Kanzler und kein Generalsekretär. Nur ein paar Weihnachtsbuden, das harmlose Vergnügen, ein paar Weihnachtsgeschenke auszusuchen und „White Christmas“ aus dem Lautsprecher nebenan.

Als sie sich später dem Punschstand näherte, hörte sie die Stimme ihres Vaters: „Ich sage dir eines: Er hätte keine Bessere finden können als Sybille!“

Neben ihm erkannte sie den Bezirksvorsteher und dessen Gattin. Sie trat hinzu: „Lob aus dem Munde meines Vaters, wer hätte das gedacht“, sagte sie lachend und begrüßte die Umstehenden.

„Er ist eben sehr stolz auf Sie“, flötete die Bezirksvorstehergattin.

Sybille nahm den Becher mit dampfendem Glühwein, der vor ihrem Vater stand und vermutlich nicht der erste war, und trank einen kräftigen Schluck daraus.

„Kannst du dir keinen eigenen leisten?“, grantelte er.

„Doch, aber eigentlich mag ich keinen Glühwein.“

Er nahm ihr den Becher aus der Hand: „Dann ist’s ja gut.“

 

*

 

Als sie später beim Mittagessen saßen, kam Sybille selbst noch einmal auf das leidige Thema zurück: „Was kann so falsch daran sein, dem Wähler zu sagen, was wahr ist. Das Pensionssystem nicht zu ändern, wäre geradezu fahrlässig.“

„Mein liebes Kind, Politik besteht nicht darin, großartige Ideen zu haben, sondern die Mehrheit von diesen Ideen zu überzeugen und unterschiedliche Interessen auszugleichen. Wenn es notwendig ist, muss man dafür auch mit dem Teufel paktieren.“

Sie mochte seinen belehrenden Ton nicht, dennoch hatte er recht, sie wusste es ja, doch scheinbar interpretierte er ihr Schweigen nicht als Zustimmung, denn er fuhr fort: „Um etwas zu verändern, brauchst du Macht. Wählerstimmen sind Macht. Wenn du irgendetwas durchsetzen willst, musst du erst ihr Spiel spielen.“

„Ich weiß es ja“, antwortete sie missmutig, während sie nachdenklich an ihrem zähen Zwiebelrostbraten kaute. Aber musste man die Wähler wirklich erst belügen, bevor man etwas Sinnvolles für sie tun konnte?

Als hätte ihr Vater diese Gedanken erraten, sagte er: „Das Taktieren beginnt schon viel früher. Erst musst du in den eigenen Reihen Mitstreiter suchen, Stimmung machen, auch Zugeständnisse …“

„Ich weiß, Papa, ich weiß es ja“, unterbrach sie ihn. „Aber ich finde das alles so unwürdig. Auf diese Weise wird man zum Lügen gezwungen. Das will ich nicht. Ich lasse es einfach nicht zu.“

Er sah sie an, schüttelte den Kopf und murmelte: „Ja, sicher, immer schön mit dem Kopf durch die Wand.“

„Scheint ein Vererbungsproblem zu sein“, gab sie zurück und setzte noch hinzu: „Apropos Vererbung. Kerstin macht auch Ärger. Sie will Ernst am Heiligen Abend nur dann bei uns haben, wenn er seine Freundin daheim lässt.“

Seine Augen blitzten erfreut auf: „Kluges Mädchen! Dann feiern wir eben allein.“

Sie hätte es wissen müssen. Ihr Vater hatte Ernst noch nie besonders gemocht und im Gegensatz zu ihr hatte er ihm seinen Seitensprung immer noch nicht verziehen. Obwohl Ernst sie damals betrogen hatte, musste sie selbst bald einsehen, dass er nicht allein Schuld hatte. Sie hatte Ernst gemocht, hatte stets einen guten Freund in ihm gesehen, doch sie hatte ihn nie wirklich geliebt.

Aber wie sollte man so etwas seinem Vater erklären?

 

*

 

Drei Tage vor Weihnachten begann es zu schneien. Sybille wäre dennoch gerne zu Fuß zum Weihnachtsempfang in die Präsidentschaftskanzlei gegangen, aber dazu blieb keine Zeit.

„In diesen Schuhen wäre es ohnehin kein Vergnügen gewesen“, meinte Ludwig und öffnete ihr zuvorkommend die Türe. Sie hatte ihm angeboten, sich heute freizunehmen, sie konnte ebenso gut mit dem Taxi fahren, aber das schien seine Chauffeursehre nicht zuzulassen.

„Na gut. Ich habe ohnehin nicht vor, allzu lange zu bleiben.“

„Doktor Winter war immer einer der Letzten gewesen“, antwortete er fast schwärmerisch.

„Dann bewundere ich seine Konstitution.“

Sie hatten in den letzten Wochen einen wahren Marathon an Weihnachtsfeiern hinter sich gebracht, das hier war die vorletzte. Morgen noch das Fest in der Parteizentrale und dann zehn Tage nur noch Familie und faulenzen.

Kaum hatte sie die Präsidentschaftskanzlei betreten, kam der Kanzler auf sie zu: „Gut, dass du da bist. Ich muss dringend mit dir sprechen.“

„Und ich muss erst einmal unsere Gastgeber begrüßen, du entschuldigst mich.“

„Ich warte im Wintergarten auf dich.“

Eine Feststellung, keine Frage, keine Einladung, eigentlich ein Befehl. Sein Ton ärgerte sie, dennoch war sie wenige Minuten später im Wintergarten.

Elmar hielt sich nicht mit langen Vorreden auf: „Du musst mir helfen. Ich komme um vor Terminen. Du musst morgen für mich nach Zürich fliegen.“

„Das geht nicht …“

„Das muss gehen. Dein Flug geht um elf Uhr fünfzehn. Morgen Abend bist du wieder zurück. Es geht um dieses saublöde Konto, du weißt schon. Außerdem ist es viel unauffälliger, wenn du fliegst.“

„Ich verstehe kein Wort.“ Sie steuerte einen der kleinen Tische an, setzte sich, winkte einen Kellner heran und bediente sich mit einem Glas Sekt. Vielleicht war es auch Champagner.

Elmar folgte ihr auf dem Fuß. Der Kellner hielt ihm das Tablett entgegen. Er nahm ein Glas und stellte es vor sich auf den Tisch. Sie prostete ihm zu, um Zeit zu gewinnen, doch er sprach weiter. Leise und eindringlich.

 

*

 

Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, war es acht Uhr abends. Sie hatte Durst und war hundemüde, dennoch musste sie noch auf die Weihnachtsfeier der Parteizentrale. Heute war sie froh, dass Ludwig sie abholen würde.

Das Konto war aufgelöst, den Scheck hatte sie einfach in die Innentasche ihrer Handtasche gesteckt. Niemand würde sie kontrollieren, eigentlich war es ganz einfach gewesen – wenn sie sich nicht so geärgert hätte.

Erst beim Hinflug war ihr bewusst geworden, was Elmar ihr da zugemutet hatte. Gestern war sie nur stinksauer gewesen, dass er sie zwei Tage vor Weihnachten auf eine Dienstreise schickte; dass er sie damit zur Mitwisserin gemacht hatte, war ihr erst heute so richtig klar geworden.

Nun gut. Es war nicht mehr zu ändern und sie hatte ihre Lektion gelernt. Ein zweites Mal würde sie sich nicht so überfahren lassen. Morgen würde sie ihm den Scheck aushändigen, sich eine Quittung geben lassen und dann wollte sie nichts mehr mit der Sache zu tun haben. Elmar sollte sich nur ja nicht einfallen lassen, sie weiter damit zu behelligen!

Aber daran hatte er offenbar ohnehin nicht gedacht. Als sie am nächsten Tag sein Büro betrat, kam er ihr mit offenen Armen entgegen.

„Ich danke dir, du warst meine Rettung, ich hätte es einfach nicht geschafft.“

Wortlos übergab sie ihm den Scheck: „Ich nehme an, du hast eine Quittung vorbereitet.“

„Soll das ein Witz sein?“

„Kaum. Ich habe immerhin gestern unterschrieben, dass ich diese Summe übernommen habe.“

„Bille, ich kann doch genauso wenig dafür wie du. Das haben unsere Vorgänger uns eingebrockt und wir dürfen die Scheiße jetzt ausbaden.“

„Wie auch immer. Ich brauche einen Beleg, dass ich das Geld nicht behalten habe.“

Er schien darüber nachzudenken: „Natürlich, du hast ganz recht. Es war kopflos von mir. Verzeih’, aber ich bin wirklich total durch den Wind, und dann noch das Theater mit Marietta.“

Mehr aus Höflichkeit denn aus Anteilnahme fragte sie: „Was ist mit Marietta?“

„Sie ist fast durchgedreht, als die Zwillinge gemailt haben, dass sie Weihnachten doch nicht kommen werden. Sie wollen mit ihren Freunden in London feiern, echtes britisches Christmas.“

Sybille seufzte: „Da wäre ich auch enttäuscht, das kann ich gut verstehen.“

„Marietta war aber nicht enttäuscht, sie war hysterisch und wollte partout nach London fliegen. Das ist natürlich Blödsinn. Außerdem wollen die Kinder ja gar nicht mit uns feiern, was ich übrigens verstehen kann.“

„Ach ja?“

„Ja. Du glaubst nicht, was bei uns Jahr für Jahr für ein Zirkus abgeht. Erst bringen wir alle Geschenke zu meiner Mutter, dann müssen wir auf den Friedhof, dann zu Tante Mitzi ins Altersheim, zu Mariettas Eltern, dann wieder zu meiner Mutter. Wenn wir alle hundemüde sind, müssen wir noch in die Mette, weil dort die Leute von der Presse warten, und wenn wir dann endlich heimkommen, haben wir immer noch nicht Weihnachten gefeiert, findet Marietta, da wartet dann noch unser Christbaum auf uns.“

Er verdrehte die Augen: „Ich kann verstehen, dass die Mädels keinen Bock darauf haben.“

„Das klingt allerdings ziemlich anstrengend“, gab sie zu und hatte ihren Ärger über ihn schon fast vergessen. Wenn er wollte, konnte er richtig nett sein – und Marietta war definitiv die falsche Frau für ihn.

Sie plauderten noch ein paar Worte, dann sprang er auf: „Du, ich muss los, wir sehen uns nach Weihnachten.“

Bussi, Bussi, weg war er.

„Frohe Weihnacht!“, rief sie ihm noch nach.

 

*

 

Ernst hatte seine neue Freundin am Heiligen Abend dann doch nicht mitgebracht, so war auch dieser Abend einigermaßen harmonisch verlaufen. Ihr Vater hatte zwar, wie jedes Jahr, einige Breitseiten gegen Ernst abgefeuert, er konnte eben immer noch nicht begreifen, wie man ausgerechnet seine Tochter betrügen konnte. Ausgerechnet Vater. Glaubte er, sie hatte das Techtelmechtel mit seiner Sekretärin nicht mitbekommen?

Aber Ernst, als Hausverwalter an konfliktreiche Situationen gewöhnt, hatte ihm nur lächelnd zugeprostet und gesagt: „Schwiegerpapa, du hast mir wirklich gefehlt.“

Am Christtag hatte Sybille die „Schreibtischratte“, wie Kerstin seine Neue nun nannte, dann doch noch kennengelernt. Sie hatten einander im Dom getroffen und nach der Messe ein paar Worte geplaudert. Sie hieß Paula und war eine ganz sympathische Person. Etliche Jahre jünger als Ernst, aber gescheit und sehr natürlich. Jedenfalls nicht so eine doofe Kuh wie diese Tussi, mit der er sie seinerzeit betrogen hatte.

Spontan hatte Sybille die beiden zu einer Tasse Kaffee eingeladen, der sie dann noch ein Gläschen Prosecco folgen ließen und dann noch eines – schließlich war Weihnachten.

 

9. Alte Freunde

 

 

Sybilles Vater war froh, dass die Weihnachtsfeiertage vorbei waren, an solchen Tagen fehlte ihm seine Angie am allermeisten. Warum musste seine Frau auch so früh sterben, sie war doch erst vierundsiebzig gewesen.

Außerdem musste er sich nun für längere Zeit nicht mit seinem Ex-Schwiegersohn streiten. Obwohl streiten nicht das richtige Wort war, weil man mit diesem Oberhausmeister nicht streiten konnte.

Dabei stritt er doch so gerne.

Was Sybille an dem nur gefunden hatte? Saß Tag und Nacht in seiner Kanzlei herum, dirigierte ein paar Hausmeister und kam sich dabei so wichtig vor, als wäre er weiß Gott wer. Für Politik interessierte er sich auch nicht, außer es handelte sich um sein blödes Mietrecht, darauf war er ganz versessen.

Na ja.

Zum Glück traf Heinrich sich heute mit Leopold, seinem ehemaligen Widersacher. Leopold war ein Roter, ein Erz-Roter, aber einer mit Handschlagqualität und einer, mit dem man sich stundenlang streiten konnte – und danach immer noch befreundet war.

Sie waren zur gleichen Zeit Klubobmann gewesen. Was hatten sie sich nicht gestritten, aber sie hatten auch etwas weitergebracht für das Land – und sie waren Freunde geworden.

Sie trafen sich, wie immer, bei der Endstelle der Straßenbahn und gingen die zehn Minuten zu ihrem Stammheurigen zu Fuß; das gab ihnen das gute Gefühl, etwas für den Körper getan zu haben, da konnten sie sich anschließend ein ordentliches Stück vom knusprigen Kümmelbraten gönnen.

„Wie fühlt man sich mit einer Tochter als Ministerin?“, begrüßte ihn Leopold.

„Auch nicht anders“, antwortete er und spürte förmlich, wie das Leuchten in seinen Augen ihn Lügen strafte.

Prompt antwortete Leopold: „Hast schon glaubwürdiger gelogen. Aber sie macht auch wirklich eine gute Figur. Ich habe sie neulich bei dieser Fernsehdiskussion gesehen. Im Brennpunkt.“

„Im Zentrum.“

„Ist doch egal, jedenfalls hat sie mir gut gefallen.“

„Deine Parteifreunde haben sie in der Luft zerrissen und der Kanzler war auch nicht begeistert wegen ihres Spruches zu den Pensionszeiten. Ich mein’, sie hat ja recht, aber sagen hätt’ sie’s halt nicht sollen. Aber eins verrate ich dir, euer Meller ist ein Oberidiot!“

„Da bin ich selbst schon draufgekommen, aber er hat halt mächtige Freunde. Man munkelt, dass unser verehrter Freund Friedrich sein Vater sein soll.“

„Friedrich? Geh, wer erzählt denn den Blödsinn?“

„Eine, die’s wissen könnt’, Mellers Mutter. Also mir hat sie’s nicht erzählt, aber ihrer Schwester, am Sterbebett, und die hat’s beim Friseur erzählt. Von dort weiß es meine Ilona.“

Heinrich hielt Leopolds Frau Ilona für eine Dorftratsche allererster Güte, aber das konnte er natürlich nicht sagen. Stattdessen sagte er: „Glaubst jetzt schon jeden Schmarren, den man sich irgendwo erzählt? Warum steht der Friedrich dann nicht dazu?“

„Denk nach, vielleicht kannst du dich noch erinnern, wie man in so eine Situation kommt“, lästerte Leopold. „Und du kennst doch seine Else? Die hätte ihm die Hölle heißgemacht. Überdies hat sie doch das ganze Vermögen mit in die Ehe gebracht: die Brauerei, die Immobilien …“

„Ja, ja“, winkte Heinrich ab.

In der Zwischenzeit hatten sie den Heurigen erreicht. Die Wirtin winkte ihnen freudig zu: „Ihr Platzerl is’ schon frei, meine Herren.“

„Wenigstens eine, die sich freut, wenn sie uns sieht“, brummte Heinrich und bestellte zwei Viertel vom Heurigen.

 

10. Zwischen den Jahren

 

 

Zwischen Weihnachten und Silvester wollte Sybille Urlaub zu Hause machen, das hatte Tradition. Sie liebte es, am Abend noch stundenlang zu lesen, morgens länger zu schlafen, im Pyjama ausgiebig zu frühstücken, dabei Zeitung zu lesen und anschließend in aller Ruhe spazieren oder shoppen zu gehen.

Diesmal hielt sie nach einem neuen Kleid für den Presseball Ausschau, der alljährlich am Silvesterabend stattfand und schon in den letzten Jahren ein Pflichttermin für sie gewesen war.

Bisher hatte sie einfach eines ihrer zwei Ballkleider angezogen. In geraden Jahren das schwarze, in ungeraden Jahren das graue mit der Silberstickerei. Doch diesmal wollte sie etwas Neues.

In ihrer Lieblingsboutique brachte man ihr zunächst etwas in Schwarz, dann in Dunkelblau, doch sie schüttelte nur den Kopf und steuerte ein rotes Kleid an, mit einem geschwungenen Rock und einem ausladenden Kragen, doch es war ihr leider zu klein. Dann brachte die Verkäuferin etwas in Kiwigrün. Sybille betrachtete es uninteressiert, ließ sich aber zum Probieren überreden und siehe da, es war perfekt. Schmal geschnitten, ein ansprechendes Dekolleté, die Ärmel nicht zu kurz und nicht zu lang. Dazu farblich passende Schuhe, Brosche und Ohrclips. Der Presseball konnte kommen.

Später kaufte sie bei Feinkost Gruber noch eine große Schüssel von Kerstins Lieblingssalat, Meeresfrüchte mit Curry und Früchten, dazu frisches Gebäck, zur Feier des Tages noch Champagnertrüffeln, und machte sich in Hochstimmung auf den Heimweg, um ihre E-Mails zu checken.

 

*

 

Himmelherrgott, was wollten die alle von ihr – sie hatte doch Urlaub. Offenbar hatte ihr Vater doch recht. Urlaub zu Hause kannst du ab sofort vergessen, hatte er zu ihr gesagt.

Sybille verstaute ihre Einkäufe, hängte das Kleid auf einen Haken, warf ihm noch einen letzten Blick zu und machte sich an die Arbeit.

Einige Mails konnte sie sofort bearbeiten, andere verschob sie in einen Ordner für die nächste Woche, dann erregte eine Mail von Albert ihr Interesse. Er schrieb:

 

Liebe Bille, als kleines, nachträgliches Weihnachtsgeschenk habe ich etwas herausgefunden: Georgine Markuzzi ist Mellers Lebensgefährtin. Ich finde, wir sollten uns bald treffen.

LG – Albert

 

Das war ja interessant.

 

Finde ich auch. Morgen Abend?

LG Sybille

 

19 Uhr bei uns? Rita freut sich schon.

Kommt Kerstin mit?

LG – Albert

 

*

 

Früher war Kerstin gerne zu Rita und Albert mitgegangen, doch diesmal hatte Sybille all ihre Überredungskünste aufbieten müssen, um sie zum Mitkommen zu bewegen.

Nun begrüßte Rita sie auch noch mit den Worten:

„Wow, die zukünftige Kollegin gibt mir die Ehre!“

„Wieso Kollegin?“ Kerstin schien irritiert.

„Wenn du im Herbst in die Handelsakademie gehst, könnten wir in einigen Jahren Kolleginnen sein.“

Sybille hätte gerne losgelacht, als sie Kerstins entgeisterten Blick sah, riss sich aber zusammen. Bisher hatte Kerstin jeglichen Schreibtischjob als „urätzend“ abgetan. Die Aussicht, eines Tages Steuerberaterin zu werden, könnte sie möglicherweise dazu veranlassen, ihre Schulwahl noch einmal zu überdenken. Jedenfalls gab sie vorerst keine Antwort und wandte sich Ritas Kater zu.

Während des Essens erzählte Rita von ihrem hektischen Weihnachtsfest, das sie gemeinsam mit Eltern, Kindern, eventuellen künftigen Schwiegerkindern und eventuellen künftigen Schwiegereltern verbracht hatten.

„Nie wieder!“, beendete sie ihre Erzählung.

„Hab’ ich dir doch gleich gesagt“, brummelte Albert.

Sobald Kerstin sich zum Fernseher verzogen hatte, fragte Sybille: „Jetzt erzähl. Wie bist du dahintergekommen, dass Meller und diese Markuzzi ein Paar sind?“

„Zwei Tage vor Weihnachten habe ich Meller noch einmal observiert.“

„Danach wollte er seinen wohlverdienten Weihnachtsurlaub antreten“, neckte Rita.

Er warf ihr einen schelmischen Blick zu: „Tu nicht, als ob du nicht froh darüber wärst.“

Darauf gab Rita keine Antwort und Albert fuhr fort: „Ich wusste, dass an diesem Abend Weihnachtsfeier bei WSC war und vermutete, Meller könnte aufkreuzen. Dem war auch so, er erschien in Begleitung einer schwarzhaarigen Bohnenstange. Der Portier, dem ich schon einige Infos verdanke, hat mich dann aufgeklärt, dass die Bohnenstange niemand anderer sei als Georgine Markuzzi.“

„Und weil sie gemeinsam gekommen sind, vermutest du jetzt …“

„Hältst du mich für einen Anfänger? Ich habe meine Beobachtungen natürlich fortgesetzt.“ Und mit einem Seitenblick zu Rita setzte er leiser hinzu: „Bei dem Massenauftrieb, den wir zu Weihnachten hatten, ist gar nicht aufgefallen, dass ich zwischendurch mal eine Stunde weg war.“

„Mir schon“, konterte Rita.

„Aber es hat sich gelohnt. Die beiden wohnen zusammen – und nicht schlecht, das kann ich dir sagen. Der Rest war Routine. Das Penthouse gehört übrigens ihr. Meller selbst besitzt nur eine kleine Genossenschaftswohnung.“

„Ich fasse zusammen: Meller hat kein schlechtes Gehalt, besitzt eine kleine Genossenschaftswohnung, hat eine Lebensgefährtin mit jeder Menge Geld – woher hat er dann die Schulden?“, sinnierte Sybille.

„Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt“, gab Albert zu. „Vielleicht könntest du dich beim Presseball ein wenig umhören?“

 

*

 

Sybille besuchte den Ball auch dieses Jahr in Begleitung ihres Vaters, der derartige Veranstaltungen aus ganzem Herzen genoss. Nicht weil er tanzen wollte oder sich gerne in seinen Frack zwängte (etwas anderes als Frack kam für ihn nicht in Frage), sondern weil er hier die Möglichkeit hatte, stundenlang zu politisieren. In wenigen Minuten würde er Sybille ihrem Schicksal überlassen und sich auf die Jagd nach Gleichgesinnten machen – er würde sie hier reichlich treffen.

Der prachtvolle Kursalon war mit einer Unzahl von Lichterketten geschmückt. Auf der Auffahrt reihte sich Taxi an Taxi.

„Schick“, meinte er nach einem kurzen Blick auf ihr neues Kleid, als er ihr an der Garderobe den Mantel abnahm.

„Das will ich doch hoffen, es war sauteuer.“

„Das kommt davon, weil ihr Emanzen euch eure Garderobe selbst kaufen müsst“, antwortete er ebenso wegwerfend wie unlogisch.

„Du meinst, als Mann hätte ich Rabatt bekommen?“, konterte sie, doch er ignorierte ihren Einwurf, ein sicheres Zeichen, dass ihm keine passende Antwort einfiel. Dann organisierte er ihr noch ein Glas Sekt, begrüßte Elmar und Marietta und schon war er dahin.

„Sie haben wirklich Glück, einen Vater zu haben, der noch so fit und agil ist“, meinte Marietta.

„Veranstaltungen, auf denen er jede Menge Politiker trifft, sind sein Jungbrunnen. Die nächsten Tage verbringt er vermutlich mit Kräutertee und Rheumasalbe, aber den heutigen Abend wird er genießen.“, lächelte Sybille.

„Tatsächlich?“ Marietta schüttelte den Kopf. „Ich würde solche Events niemals freiwillig besuchen.“

Elmar verdrehte die Augen, begrüßte einen Staatssekretär, verwickelte ihn in ein Gespräch und ging mit ihm in Richtung Rauchersalon davon.

Marietta sah ihm nach: „Jetzt kann ich wieder sehen, wo ich bleibe. So geht es mir immer.“

Sybille nickte mitfühlend und fragte nach den Zwillingen. Wenn sie mit Marietta allein war, fand sie sie eigentlich ganz nett. Dennoch kam kein richtiges Gespräch zustande, denn ständig kam jemand, um sie oder Marietta zu begrüßen. Manche kannte Sybille, andere kamen ihr wenigstens bekannt vor und bei einigen war sie ziemlich sicher, dass sie sie noch nie im Leben gesehen hatte. Nach einer Weile verlor sie Marietta aus den Augen. Die Arme, dachte Sybille noch, doch dann sah sie Viktor Raab und vergaß Marietta.

Im Smoking sah er besonders gut aus und bald hatte sie Gelegenheit festzustellen, dass er auch ein guter Tänzer war.

Foxtrott. Langsamer Walzer. Cha-Cha-Cha. Dann machte das Orchester eine kleine Pause.

„Darf ich Sie an Ihren Tisch bringen?“, fragte Raab mit einer kleinen Verbeugung.

„Ungern“, dachte Sybille, antwortete jedoch: „Sehr gerne“, schließlich konnte sie ja nicht ewig mit ihm tanzen.

Der Kursalon gehörte an diesem Abend der Presse und der Politik, also war es nicht verwunderlich, dass sie nur langsam vorankamen, weil sie an jeder Ecke Menschen trafen, die es zu begrüßen galt.

Schon von Weitem sah sie, dass ihr Vater an ihrem Tisch Hof hielt. Er hatte einige Altpolitiker um sich versammelt, die Herren schienen in ein angeregtes Gespräch vertieft.

Als Sybille und Raab näher kamen, winkte er sie heran: „Sybille, was meinst du, wird …“

Raab ließ er einfach unbeachtet. Was für eine programmierte Überheblichkeit.

„Vater“, unterbrach sie ihn lächelnd, „darf ich dir Herrn Doktor Raab vorstellen.“

„Wir hatten bereits früher einmal das Vergnügen“, hörte sie Raab neben sich sagen.

„Ich erinnere mich, allerdings nicht daran, dass es ein Vergnügen gewesen wäre“, konterte ihr Vater.

Raab lachte bemüht: „Umso weniger möchte ich stören“, und an Sybille gewandt sagte er: „Ich hoffe, dass mir der eine oder andere Walzer mit Ihnen noch vergönnt sein wird.“

„Ich werde Sie in meiner Tanzkarte berücksichtigen“, erwiderte sie zwinkernd und nahm auf dem Sessel Platz, den Vaters Freund Leopold für sie zurechtgerückt hatte.

Raab hielt Wort. Eine anstrengende Stunde später erlöste er sie vom Altherren-Tisch. Auf dem Weg zur Tanzfläche hielt sie ihn plötzlich am Arm fest: „Kennen Sie die Dame an Mellers Seite?“

„Sicher. Das ist seine Lebensgefährtin, Georgine Markuzzi.“

„Die Markuzzi von WSC-Invest?“

Er nickte.

„Die Dame scheint ziemlich vermögend zu sein. Woher kommt sie?“

Raab sah sie mit einem seltsamen Blick an: „Ich denke, wir sollten dieses Gespräch ein andermal fortsetzen. Wollen wir den Walzer versuchen?“

Raab tanzte auch den Walzer hervorragend, sogar links herum. Und dann auch noch den Mitternachtswalzer. Es war schön, das neue Jahr so zu beginnen und schon fast halb eins, als Raab sie an ihren Tisch zurückbrachte. Die Herren waren etwas erstaunt gewesen, aber Sybille hatte jede Minute genossen.

Es war lange her, dass sie einen guten Tänzer an ihrer Seite gehabt hatte. Ernst hatte sie stets nur unter Protest zu Bällen begleitet, außerdem beherrschte er nur einen Einheitsschritt, mit dem er sich verbissen über das Parkett kämpfte.

Mit Viktor Raab über die Tanzfläche zu gleiten war hingegen Vergnügen pur und erinnerte Sybille an ihre Jugend, als sie mit Elmar so manchen Ballsaal unsicher gemacht hatte. Heute tanzte Elmar, wenn überhaupt, nur noch mit Marietta. Die meiste Zeit verbrachte er ohnehin bei Interviews und Fototerminen.

 

11. Der Verdacht

 

 

Am Neujahrstag erhielt Sybille einen Anruf von Viktor Raab: „Ich möchte Sie gerne einladen, unser gestern begonnenes Gespräch fortzusetzen.“

Das wollte sie auch, aber war es klug, sich so oft mit einem stadtbekannten Journalisten zu treffen?

Er schien ebenso zu denken: „Vielleicht sollten wir es in einem etwas privateren Rahmen führen. Ich könnte Coq au Vin anbieten.“

„Anstelle der Briefmarkensammlung?“

Sie hörte ihn lachen. „Ich dachte eigentlich, wir wären über dieses Alter hinaus.“

Musste er eigentlich immer das letzte Wort haben? „War ein Scherz.“

Er ging nicht darauf ein: „Sagen Sie mir einfach, wann Sie Zeit haben.“

„Also gut, was schlagen Sie vor?“

„Übermorgen, neunzehn Uhr.“

Sie warf einen Blick in ihren Terminkalender. „Sagen Sie zwanzig Uhr und ich werde da sein.“

Nachdem sie den Termin gut gelaunt eingetragen hatte, überlegte sie, wie viel von ihrem bisherigen Wissen sie preisgeben sollte.

Raab war zwar ein charmanter Mann und ein exzellenter Tänzer, aber er war auch Chefredakteur des Tagblattes, das durfte sie nie vergessen.

 

*

 

Viktor Raab bewohnte eine Terrassenwohnung mit Blick auf die Donau und den Stephansdom. Er hatte nicht oft Gäste, aber wenn, dann machte es ihm Spaß, für sie zu kochen. Er kochte ebenso gerne, wie er gerne gut aß. Keine besonders aufwendigen Rezepte, Dinge, die einfach zuzubereiten waren und gut schmeckten. Diesmal also für die Frau Ministerin Hold-Meixner.

„Die Terrasse muss im Sommer ein Traum sein“, sagte jene soeben. „Ich stelle es mir wunderbar vor, an einem lauen Sommerabend hier zu sitzen und ein Glas Wein zu trinken.“

Er trat neben sie, roch ihr Parfum und reichte ihr einen Campari: „Das ist zugegebenermaßen ganz nett, aber wirklich schön wird es erst in Ihrer Gesellschaft.“

Es schien ihm, als könne sie dieser Vorstellung etwas abgewinnen, denn sie antwortete lachend: „Wie undankbar Sie doch sind. Manch einer würde weiß Gott was dafür geben, hier zu wohnen.“

„Glauben Sie mir, ich weiß es durchaus zu schätzen.“

In Wahrheit hatte ihn die Wohnung, die er erst im Vorjahr bezogen hatte, ein kleines Vermögen gekostet, die Einrichtung ebenfalls, wenn sie auch für seine Begriffe etwas zu kühl geraten war. Vielleicht hätte er doch nicht alles dem Architekten überlassen sollen.

Sybille sah sich in dem großen Wohnraum mit der offenen Küche um: „Kein Weihnachtsbaum?“

„Ich habe Weihnachten mit meiner Tochter und meiner Ex Frau in Stockholm verbracht.“

„Ihre Frau ist Schwedin?“

„Meine Ex Frau ist Schwedin. Ich habe einige Jahre als Korrespondent in Stockholm gearbeitet, aber auf Dauer habe ich es dort nicht ausgehalten.“

„Stockholm ist doch eine wunderschöne Stadt.“

„Im Sommer ja, im Winter, wenn es nur wenige Stunden am Tag hell ist, fand ich es furchtbar. Darf ich zu Tisch bitten.“

Zur Vorspeise kredenzte er Schnecken in Kräuterbutter, danach das Hühnchen und zum süßen Abschluss Vanilleeis mit Mandelkrokant und heißer Schokolade.

Während des Essens plauderten sie über ihre Töchter, erst als er den Kaffee servierte, kam er auf Meller zu sprechen: „Sie haben nach Frau Markuzzi gefragt. Haben Sie ein besonderes Interesse an ihr?“

Sybille erzählte von Unterlagen, die ihr zugespielt worden wären, und von Nachforschungen, die ein Freund angestellt hatte.

Zugespielte Unterlagen, dachte er amüsiert. So nennen wir das auch, wenn wir nicht sagen wollen, woher wir die Dinge haben.

Er nickte: „Das hat Ihr Freund gut recherchiert, dass Meller bei WSC engagiert ist, wissen wir bereits. Wir vermuten darüber hinaus, dass er an Insidergeschäften und Kursmanipulationen beteiligt ist.“

„Wissen Sie auch, dass Meller nicht unerhebliche Schulden haben soll?“

„Das ist mir allerdings neu – aber gut zu wissen – es erleichtert uns möglicherweise die Arbeit“, schmunzelte er.

Sie sah ihn fragend an.

„Wir überlegen schon seit einiger Zeit, ihm eine Falle zu stellen. Wenn er Schulden hat, kann das unseren Plan durchaus begünstigen.“

„Und wer sind wir?“

„Ein Kollege aus dem Fernsehen und ich. Mehr möchte ich im Moment nicht sagen, zu Ihrem Schutz.“

Das klang selbst in seinen Ohren etwas pathetisch und er befürchtete schon, sie würde eine diesbezügliche Bemerkung machen, aber sie ließ es.

„Dann wollen Sie mir sicher auch nicht erzählen, wie die Falle ausgestattet sein soll?“

„Nerzgefüttert“, scherzte er. Doch dann entschloss er sich, ihr reinen Wein einzuschenken, und setzte hinzu: „Ehrlich gesagt, wir wissen es noch nicht, sind aber für Anregungen durchaus aufgeschlossen.“

 

*

 

Der Jänner brachte nicht nur enorme Schneemengen, er brachte für Sybille auch jede Menge Ärger. Die Regierung stand vor einem weiteren Koalitionskrach und die Gewerkschaft hatte ein neues Lieblingsthema: den Mindestlohn.

Keine Rede mehr von Arbeitszeitverkürzung, auch ihr eigener Sager über die Pensionen war vorübergehend in Vergessenheit geraten, niemand interessierte sich anscheinend dafür – Elmar sowieso nicht. Trotzdem hatte sie auf dem vereinbarten Gesprächstermin bestanden.

„Das ist doch Kaffee von gestern“, antwortete Elmar nun. „Interessiert keinen mehr.“

Vermutlich wollte er sie damit beruhigen, aber, verdammt noch mal, darum ging es doch nicht. Deshalb antwortete sie: „Möglich, aber uns sollte es interessieren.“

Es sah angestrengt auf seinen Bildschirm: „Anscheinend kennst du unsere Umfragewerte nicht. Wir können uns solche Themen zurzeit nicht leisten.“

„Die Pensionen werden wir uns sehr bald auch nicht mehr leisten können. Elmar, bitte, wir haben ausgemacht, dass wir heute darüber reden, deswegen bin ich da.“

Er starrte weiter auf seinen Bildschirm. „Da wusste ich auch noch nicht, dass unser werter Verkehrsminister blöd genug ist, Bestechungsgelder anzunehmen.“

„Das glaube ich nicht!“

Er machte eine einladende Geste in Richtung seines Bildschirmes: „Hier, lies. Dein schleimiger Tanzpartner hat es aufgedeckt und nimmt uns wieder ganz schön in die Mangel.“

Elmar hatte schon nach dem Presseball ein paar anzügliche Bemerkungen gemacht, weil sie mehrfach mit Raab getanzt hatte. Schmeckte ihm scheinbar nicht. Der Gedanke ließ sie lächeln. So war er damals schon gewesen. Alle Freiheiten für ihn, aber wehe, wenn sie einmal mit jemand anderem geflirtet hatte. Aber gut, das war lange her.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739499376
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juni)
Schlagworte
Politik Familie Ministerin Gesellschaftsroman

Autor

  • Brigitte Teufl-Heimhilcher (Autor:in)

Brigitte Teufl-Heimhilcher lebt in Wien, ist verheiratet und bezeichnet sich selbst als realistische Frohnatur. In ihren heiteren Gesellschaftsromanen setzt sie sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Fragen auseinander. Sie verwebt dabei Fiktion und Wirklichkeit zu amüsanten Geschichten über das Leben - wie es ist, und wie es sein könnte.
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Titel: Zwischen Tafelspitz und Ministerrat