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Flug 39

von Phillip P. Peterson (Autor:in)
250 Seiten

Zusammenfassung

Pilot Christoph Wilder wird einem Forschungsprojekt zugeteilt, bei dem ein Flugzeug mit einer Zeitmaschine ausgestattet wird. Beim Jungfernflug wird die Maschine in das Jahr 1939 entführt, wo es den Entführern - politischen Aktivisten - gelingt, Adolf Hitler zu töten. Die Crew des Flugzeugs kann in die Zukunft zurückkehren, kommt aber in einer Gegenwart heraus, die von einem Atomkrieg verwüstet wurde. Verzweifelt versucht Christoph mit seinen Kollegen herauszufinden, was geschehen ist. Ein spannender Roman zwischen Science-Fiction und Thriller im Stil von Michael Crichton.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

 

Georg sprang an der ersten Haltestelle auf der Rosenheimer Straße aus der Tram. Er war der einzige Fahrgast, der hier ausstieg. Die meisten Leute waren an diesem nasskalten Novemberabend wohl zu Hause und wärmten sich am Kaminfeuer. Es war schon dunkel gewesen, als er, von Ulm aus kommend, am Münchner Hauptbahnhof in die Straßenbahn umgestiegen war.

Er wartete, bis sich die Tram bimmelnd in Bewegung gesetzt hatte, und ging dann langsam die Rosenheimer Straße hinunter. Ein Wagen kam ihm entgegen. Zwei Männer, sie trugen Schirmmützen und schwarze Uniformen. Wahrscheinlich SS. Georg beschleunigte seinen Schritt und blickte zu Boden, wie ein Arbeiter, der in diesem ungastlichen Wetter einfach nur schnell nach Hause wollte.

Die Männer in ihrem Fahrzeug passierten ihn, ohne sich um ihn zu kümmern. Als er einen Blick zurück riskierte, bog der Wagen soeben in die Hochstraße ab. Langsam ging Georg weiter, ließ die Schleibinger Straße rechts liegen und hatte wenige Minuten später sein Ziel erreicht. Er stand vor dem steinernen Bogen des Bürgerbräukellers. Er drückte sich einen Moment vor dem Eingang herum und beobachtete das Gelände. Natürlich wusste er, dass er sich dadurch verdächtig machte, ƒaber er wollte sichergehen. Er sah weder Soldaten noch SS-Angehörige. Nur ein sichtlich angeheiterter Mann in einem verschlissenen, schmutzigen Anzug durchquerte das Tor, ohne ihn zu beobachten.

Georg seufzte und setzte sich in Bewegung. Er ging unter dem steinernen Bogen hindurch und schritt zielstrebig auf den Eingang zu. Klaviermusik und Gelächter drang aus einem Fenster auf den Hof.

Was war das? Er drehte sich um, hatte er doch aus dem Augenwinkel eine Bewegung vernommen. Georg litt gewiss nicht unter Verfolgungswahn, aber manchmal hatte er das Gefühl, jemand sei hinter ihm her. Menschen, die ihn einen Augenblick zu lange anstarrten, wie ein Gestapo-Scherge, der ihn observieren sollte. Fahrzeuge, die er mehrmals sah, als seien sie im Kreis gefahren, um ihn nicht aus den Augen zu lassen. Uniformierte SS-Soldaten, die sich umblickten, scheinbar um ihn in der Menge zu suchen. Georg wusste, dass es Einbildung war. Denn wenn jemand wirklich etwas von seinem Vorhaben erfahren hätte, dann wäre er schon längst festgenommen worden.

Mit einem Ruck zog Georg die Eingangstür auf, durchquerte den Vorraum und stellte erleichtert fest, dass sich niemand auf dem Gang aufhielt. Die wenigen Gäste, die heute hier waren, befanden sich wohl alle in der Schänke. Er ging an der Garderobe vorbei und zog die Tür zum großen Saal auf. Sie war - wie immer - unversperrt. Er schloss die Tür hinter sich. Genügend Licht fiel von draußen durch die Fenster herein, daß er den gewölbeartigen Raum gut erkennen konnte. Tausend Leute konnten hier Platz finden und weitere hunderte auf den ausladenden Galerien, die sich links und rechts oben befanden. Ohne Mühe fand er den Weg zur nächsten Treppe, die ihn auf die Galerie brachte. Aber nach den vielen Nächten, in denen er hier seinen Plan vorbereitet hatte, hätte er seinen Weg selbst mit verbundenen Augen gefunden. Oben angekommen, schlich er gebückt an einer Reihe Tische vorbei, bis er die Säule erreichte, die in der Mitte der Galerie das Dach abstützte. Sie sah völlig unverdächtig aus. Langsam beugte er sich näher heran, wandte den Kopf, bis sein rechts Ohr direkt vor der Holzverkleidung ruhte.

Georg hielt den Atem an und hörte ganz leise, wie aus weiter Ferne, das regelmäßige Ticken zweier Uhrwerke. Erleichtert atmete er auf.

Dann ging er in die Knie, holte ein kleines Taschenmesser aus seiner Jacke und hebelte die Holzverkleidung auf. Darunter befand sich ein koffergroßes Loch im Mauerwerk der Säule, das er in mühsamer nächtlicher Arbeit mit einem Handbohrer während der vergangenen Wochen hineingetrieben hatte. Den Sprengstoff, im Frühjahr bei einer Anstellung in einem Steinbruch in Königsbronn zusammengeklaut, hatte er schon vor Tagen deponiert. Ebenso den Zünder in die Säule eingebaut. Georg hatte sich eine Konstruktion einfallen lassen, bei der ein von einer Feder angetriebener Schlitten die Pulverladung dreier Gewehrpatronen auslösen würde. Besonders stolz war er auf das Uhrwerk. Ja, das Uhrwerk ...

Georg war ein fähiger Handwerker, aber die Konstruktion seiner Bombe hatte ihm alles abverlangt und er hatte in seiner Werkstatt in München Wochen mit dem Bau verbracht. Er wollte absolut sicher gehen, dass sein Plan aufging, und darum hatte er nicht nur eine Uhr, sondern gleich zwei eingebaut, sodass der Zünder auslösen konnte, selbst wenn eine stehenblieb. Außerdem hatte er die Mechanik mit mehreren Tagen Vorlauf einstellen wollen, was eine Sonderkonstruktion erforderte. Heute war er nur da, um sicherzugehen, dass er auch alles richtig gemacht hatte. Befriedigt stellte er fest, dass beide Uhrwerke auf die Minute genau gingen, obwohl er sie schon vor zwei Tagen eingestellt hatte. Es waren Präzisionsuhrwerke, darauf hatte er Wert gelegt.

Er überprüfte nochmal die Einstellungen des Uhrwerks. Die Veranstaltung würde um zwanzig Uhr beginnen und mehrere Stunden dauern, also schien ihm zwanzig Minuten nach neun eine gute Zeit für das Auslösen des Zünders zu sein. Georg überlegte fieberhaft, ob er irgendetwas vergessen haben könnte. Aber er hatte so gewissenhaft gearbeitet wie möglich und er würde der Sache jetzt ihren Lauf lassen müssen.

Er schloss das Uhrengehäuse und brachte den mit Kork verkleideten Deckel an der Abdeckung an. Zuletzt fixierte er die Holzverkleidung der Säule und vergewisserte sich, dass nichts auf seine Manipulation hindeutete.

Es war so einfach gewesen, die Bombe zu installieren, trotz der vielen Arbeitsstunden. Sicher, vor einigen Tagen hatte ihn ein Angestellter auf der Galerie gesehen, als der Bürgerbräukeller noch geöffnet war und er auf die Einschließung wartete, aber er hatte es geschafft, sich mit einer abenteuerlichen Geschichte über das Ausquetschen eines Furunkels herauszureden. Am nächsten Tag hatte er es einfach erneut versucht und ohne Störung weiterarbeiten können. Der Saal wurde morgens auf- und abends wieder abgeschlossen. Da der Bürgerbräukeller zwei Eingänge an verschiedenen Straßen hatte, nutzten ihn einige Münchener als Abkürzung, wenn sie von der Kellerstraße in die Löwenstraße gelangen wollten, sodass Passanten hier nichts Ungewöhnliches waren. Selbst jetzt, gerade mal einen Tag vor der geplanten Rede des Führers, gab es nicht die geringsten Sicherheitsmaßnahmen. Mit der Hand wischte Georg einige Stückchen Putz vor der Säule beiseite.

Es war mittlerweile nach Mitternacht und die Gaststätte würde bereits abgeschlossen sein. Georg ging zu dem kleinen Vorratsraum am Ende der Galerie, dessen Eingang lediglich durch eine spanische Wand verdeckt wurde. Er hatte sich darin während seiner Nächte hier mit einigen Kartons ein Versteck hergerichtet und rollte sich hinter der Pappe zusammen. Georg versuchte, ein wenig Schlaf zu finden, was ihm Mühe bereitete. Nervös rutschte er auf dem kühlen Boden hin und her und grübelte darüber nach, was er vergessen haben könnte. Schließlich, es mochte schon drei Uhr sein, fiel er in einen unruhigen Dämmerzustand.

Ein Geräusch ließ Georg aufschrecken: das Drehen eines Schlüssels in einem Schließzylinder. Es kam von vorn, wo die Küche war. Georg blickte auf seine Taschenuhr. Es war schon sechs Uhr in der Früh, aber natürlich immer noch dunkel. Die ersten Angestellten waren offenbar eingetroffen.

Er rappelte sich auf und rückte die Kartons zurecht, sodass nichts auf seinen Aufenthalt hindeutete. Jetzt musste er nur noch darauf achten, dass er ungesehen aus dem Saal verschwinden konnte. Er stahl sich die Galerie entlang. Nachdem er die Treppe hinuntergeschlichen war und vor der Tür des Saales stand, blickte er sich ein letztes Mal um. Mit Stolz betrachtete er die Säule, in der seine fast schon liebevoll konstruierte Bombe ruhte. Auf der anderen Seite würde heute Nachmittag ein Podium aufgestellt werden. Am Abend sollte auf diesem Podium Adolf Hitler stehen und, wie jedes Jahr, seine Rede halten, umgeben von seinem Stab und den Größen des NS-Regimes. Georg hatte genug Sprengstoff in der Säule versteckt, um den verhassten Führer mitsamt seinen engsten Mitarbeitern in den Tod zu reißen. Um den Krieg in Polen zu verhindern, war es nun zu spät, aber Georg war überzeugt, dass er mit seinem sorgfältig geplanten Attentat eine noch viel größere Katastrophe abwenden würde.

Er atmete tief durch und verließ den Saal. Die Tür schloss er leise hinter sich. Stimmen drangen aus der Küche, als Georg zum Notausgang am anderen Ende des Ganges schlich. Geräuschlos zwängte er sich an mehreren Kisten vorbei ins Freie. Niemand hatte ihn bemerkt. Es war noch dunkel, aber bis zur Dämmerung würde es nicht mehr lange dauern. Georg atmete tief durch und genoss die kühle Novemberluft, die seine Müdigkeit vertrieb.

Was, wenn durch einen unglücklichen Zufall beide Uhren stehenblieben? Dann wären alle Mühen umsonst gewesen. Schlimmer noch: Der Führer würde weiter sein Unheil im Deutschen Reich und in der Welt anrichten. Polen hatte er schon überfallen und Georg rechnete damit, dass der kriegstreiberische Diktator auch Frankreich angriff. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Europa im Chaos versank und unzählige Menschen starben.

Betont langsam schlenderte Georg über die Anlagen des Bürgerbräukellers Richtung Kellerstraße. Er beschloss, am nahegelegenen Kiosk einen oder zwei Kaffee zu trinken, bevor er zu seiner Wohnung in der Türkenstraße ging. Dort wollte er sich von Schreinermeister Brög verabschieden, um dann den nächsten Zug nach Friedrichshafen zu nehmen, von wo aus er auf die Fähre nach Konstanz umsteigen würde. Irgendwie würde er von dort aus schon über die Grenze in die Schweiz gelangen.

Als er auf den Bürgersteig der Kellerstraße trat, fiel ihm ein Mann auf der anderen Straßenseite auf, der ihn fixierte. Er trug einen dunkelbraunen Ledermantel und war von mittlerer Größe. Entschlossen trat der Mann auf die Straße und ging ihm entgegen. Ein eisiges Gefühl presste Georgs Herz zusammen. Ein Blick in die Augen des Fremden sagte ihm, dass er Bescheid wusste. Wie angewurzelt blieb Georg stehen. Wer war der Kerl? Gestapo? Hatten sie ihn doch im Visier gehabt und würden ihn jetzt festnehmen? Waren im Saal schon Spezialisten mit der Entschärfung seines Sprengsatzes beschäftigt?

»Georg Elser?« Der Mann sprach mit leiser, aber deutlicher Stimme. Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.

»Was wollen Sie?«, krächzte Georg.

»Ich muss mit Ihnen reden. Gehen Sie langsam weiter.«

Wie betäubt setzte sich Georg in Bewegung, unfähig, den Blick von dem Fremden abzuwenden. Er war um die vierzig, hatte kurze, blonde Haare. Diese Augen ... der Mann schaute ihn an wie einen alten Freund. Kannte er ihn von irgendwoher?

»Was wollen Sie von mir?«, wiederholte Georg.

»Ich weiß alles über Sie«, flüsterte der Fremde. »Und über Ihren Plan. Die Bombe in der ausgehöhlten Säule.«

Panik stieg in Georg auf. Der Mann konnte nur von der Gestapo sein! Sie mussten ihn die ganze Zeit beobachtet haben. Aber warum griffen sie ihn dann nicht einfach? Wollte der Mann ein Geständnis von ihm hören? Er versuchte es mit einer Lüge. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Der Fremde kicherte leise. »Doch, das wissen Sie ganz genau. Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bin weder von der Gestapo noch von der SS.«

Georg blieb stehen und fixierte den Fremden. »Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Max Jung. Ich bin in einer Organisation, die ein Interesse am Gelingen Ihres Planes hat.«

War der Mann vom Widerstand? Aber woher konnte er von Georges Plan wissen? Und wenn er - wie er sagte - ein Interesse an dessen Gelingen hatte, warum ließ er George nicht einfach in Ruhe? Irgendetwas stimmte hier nicht. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass dieses Gespräch nicht stattfinden durfte. »Woher kommen Sie?«

Der Mann lachte leise. »Das würden Sie mir niemals glauben, also fragen Sie mich das besser nicht. Ich will Ihnen nur helfen.«

Es war so surreal. Da tauchte dieser Mann wie aus dem Nichts auf und bot George seine Unterstützung an. Jetzt, wo er seine Arbeiten sowieso schon abgeschlossen hatte. »Ich brauche keine Hilfe«, sagte er und bemerkte, wie seine Stimme zitterte.

»Oh doch, die brauchen Sie. Ihr Plan ist nämlich zum Scheitern verurteilt.«

Der Plan ... er war in den vergangenen Monaten das Wichtigste in Georgs Leben geworden. Er hatte alles akribisch vorbereitet und seine Konstruktion sogar im elterlichen Garten ausprobiert. Jetzt ließ er alle Vorsicht gegenüber dem Fremden fahren. »Meine Vorrichtung wird funktionieren«, sagte er, fast schon beleidigt.

Jung nickte. Dann griff er in die Tasche seines Mantels und holte zwei Fotos heraus. Eines davon reichte er Georg. Der nahm das Bild und erkannte den Saal des Bürgerbräukellers. Er lag in Trümmern, die hintere Wand eingestürzt, ebenso wie das Dach. War das ein Trick? Eine Fälschung? Der Mann reichte ihm das zweite Bild. Es zeigte Adolf Hitler in Uniform vor dem Eiffelturm. Georg schüttelte den Kopf und blickte wieder den Fremden an.

»Woher haben Sie das? Ich verstehe nicht, was ...«

Jung unterbrach ihn. »Ihre Bombe wird funktionieren. Aber der Diktator wird dreizehn Minuten vor der Explosion den Saal verlassen, um mit dem Zug zurück nach Berlin zu fahren. Heute Abend kann er sein Flugzeug nicht nutzen, weil dichter Nebel herrscht.«

Woher wollte der Mann wissen, was heute Abend geschah? Woher wollte er wissen, dass München im Nebel liegen würde? Sicher, das geschah oft zu dieser Jahreszeit, aber ... Woher hatte er diese Bilder? War Jung ein Verrückter? Es ergab einfach keinen Sinn. Georg reichte die Fotos zurück. »Was erwarten Sie von mir?«

Jung atmete tief ein und wieder aus. »Sie werden jetzt noch einmal in den Bürgerbräukeller gehen. Sie werden den Auslöser der Bombe auf 21 Uhr einstellen.«

Georg schüttelte den Kopf. Er fühlte sich wie in einem Traum. Hilflos zuckte er mit den Schultern. »Und dann?«

»Dann wird Hitler heute Abend tot sein und Sie allein haben unermessliches Leid in Europa und der Welt verhindert.«

2.

 

»Seltsam.«

Christoph löste den Blick von seinem Electronic Flight Bag, einem Padcomputer, auf dem er die Anflugkarten für den Frankfurter Flughafen studiert hatte, und schaute seinen Ersten Offizier an. Er war nicht sonderlich beunruhigt. Der Flug war seit dem Start in New York vor fünf Stunden ruhig verlaufen. Sie hatten wegen des Orkans Bob vor Neufundland eine nördlichere Flugroute nehmen müssen als ursprünglich geplant, aber ansonsten hatte es bislang keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Die A380 war bis auf den letzten Platz ausgebucht, was wohl auch an den vielen Geschäftsreisenden lag, die für das lange Wochenende um den Tag der Deutschen Einheit herum nach Hause zurückkehrten.

»Was ist seltsam?«, fragte Christoph.

»Ich dachte gerade, ich hätte einen Blitz gesehen«, sagte Daniel Berger, der auf dem rechten Platz des Cockpits saß.

Christoph schaute auf den Monitor mit dem Wetterradar. Die Fläche war durchgehend schwarz, also keine Quellbewölkung. Sie befanden sich etwa tausend Kilometer unterhalb der Südspitze Grönlands und für diesen Teil des Fluges waren keine Unwetter gemeldet, daher konnte es kein Gewitter sein. »Bist du sicher?«

»Nein, ich habe es auch nur aus dem Augenwinkel gesehen. Vielleicht die Strobelights einer anderen Maschine?«

Christoph hielt das durchaus für möglich. Der Nordatlantik war eine regelrechte Flugautobahn. Etliche Maschinen konnten in der Nähe von GH124 auf einer anderen Flugfläche Richtung Europa fliegen. Allerdings war auf dem Navigationsdisplay kein anderes Flugzeug zu sehen. Er beugte sich nach vorn, um aus den Cockpitfenstern zu schauen, aber er sah nur die Schwärze einer transatlantischen Nacht. Er lehnte sich wieder zurück in seinen Sitz. »Vielleicht eine Maschine ohne TCAS. Kann nichts schaden, nachzufragen.« Für diesen Teil des Fluges hatte Daniel die Kontrolle über das Steuer, also war es Christophs Aufgabe, Kontakt mit den Fluglotsen aufzunehmen. Sie hatten N56W030 bereits vor einer halben Stunde passiert, befanden sich also schon in der Zuständigkeit von Shanwick Center. Christoph prüfte mit einem schnellen Blick, dass die korrekte Frequenz eingestellt war, und drückte die Sprechtaste. »Shanwick Center, GH124 auf Flugfläche 350. Erbitte Information über Verkehr auf NAT Delta.«

Die Antwort kam prompt, auch wenn der Lotse durch das Rauschen in der HF-Verbindung sehr schwer zu verstehen war. »GH124, Shanwick Center. Sie haben keinen Verkehr. NAT Delta wurde nach Ihnen geschlossen, wegen der Verlagerung von Orkan Bob. Sie sind die einzige Maschine in einem Umkreis von hundertfünfzig Meilen. Alles in Ordnung?«

Christoph und Daniel warfen sich einen kurzen Blick zu, dann betätigte Christoph wieder die Sprechtaste. »Alles in Ordnung, Shanwick Center. Keine Probleme. Vielen Dank.« Er wandte sich an Daniel. »Ich habe mich schon gewundert, dass es so ruhig ist. Die müssen alle nach uns kommenden Maschinen südlich umgeleitet haben. Bist du noch nicht zu müde?« Daniel hatte seine Grippe zwar überstanden und war auch diensttauglich, aber er sah noch reichlich mitgenommen aus.

»Alles bestens. Aber ein Kaffee würde trotzdem nicht schaden.«

Christoph wollte gerade hinten in die Bordküche durchklingeln, da sah auch er es: ein fahles Leuchten, direkt außerhalb der Cockpitfenster.

»Da ist es wieder«, sagte Daniel ruhig.

»Blitze sind das jedenfalls nicht«, meinte Christoph. Es war ein gespenstisches Leuchten, das sich immer weiter vor den Cockpitfenstern ausgebreitet hatte. Christoph beugte sich erneut nach vorn. Die ganze Nase des Flugzeugs war in eine fahle, weißliche Aura gehüllt. Als hätte Gott die Maschine mit einem Heiligenschein umgeben. Christoph hatte so etwas noch nie gesehen.

»Das ist unheimlich. Was kann das nur sein?«, fragte Daniel.

»Ich denke, das ist Elmsfeuer.«

»Aber wir sind hunderte Meilen von der nächsten Gewitterwolke entfernt.«

Christoph überprüfte die Flugzeugsysteme. Drehzahlen, Temperaturen, Druck - keine der Zahlen deutete auf ein Problem hin. »Ich verstehe es auch nicht. Aber mit der Maschine ist alles in Ordnung.«

Das Leuchten verstärkte sich in den nächsten Minuten noch und wurde greller. Christoph erinnerte sich an eine Dokumentation über das Space Shuttle, die er vor einigen Wochen im Discovery Channel gesehen hatte. Beim Wiedereintritt hatte eine helle Plasmasäule die Raumfähre umgeben. Genauso sah es hier auch aus. Als wäre die A380 im Weltraum gewesen und tauchte nun wieder in die Erdatmosphäre ein. Er schüttelte den Kopf, als das Klingeln des Interkom-Telefons neben ihm anzeigte, dass eine der Stewardessen ihn sprechen wollte. Er nahm den Hörer ab.

»Wilder im Cockpit, was gibt es?«

Er erkannte die Stimme von Veronika. Die verdammt gutaussehende, aber auch blitzgescheite Blondine war heute Purser auf ihrem Flug.

»Captain, hier ist Veronika auf U2Links. Wir haben eine leichte Rauchentwicklung in der Kabine.«

»Rauchentwicklung?« Er wiederholte das Wort, damit auch sein Kopilot davon erfuhr, der seinen Interkomkanal noch auf leise gestellt hatte. »Wo genau?«

»Auf dem gesamten oberen Deck. Es scheint aus der Belüftungsanlage zu kommen. Ich habe bereits eine Suche nach der Ursache angeordnet.«

»Danke, Veronika. Halte mich auf dem Laufenden.«

»Noch etwas, Christoph: Die Vorderkanten der Tragflächen sind von einem fahlen Leuchten umgeben, ebenso die äußeren Triebwerke.«

Jetzt war Christoph wirklich beunruhigt. Das Elmsfeuer schien das gesamte Flugzeug zu umschließen, und dazu kam noch eine Rauchentwicklung, die jeder Pilot in der Luftfahrt fürchtete wie sonst kaum etwas. Beides musste irgendwie zusammenhängen. Aber wie? Er überprüfte erneut die Systeme. Weiterhin schien alles in Ordnung zu sein, bis sein Blick auf die Anzeigen der Triebwerke fiel. Was er dort sah, gefiel ihm überhaupt nicht. »Die Abgastemperatur von eins und vier geht nach oben«, sagte er laut. Irgendetwas ging hier vor sich und er hatte keine Ahnung, was der Grund dafür war.

»Hast du eine Idee? Was denkst du?«, fragte er seinen Ersten Offizier. Es war kein Zeichen von Schwäche, sondern der Grundsatz eines jeden guten Piloten, seine Besatzung in die Ursachenfindung und Bekämpfung von Problemen mit einzubeziehen.

Aber Daniel schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

Plötzlich spürte Christoph ein leichtes Zittern, als würden sie ein Gebiet kaum spürbarer Turbulenzen durchfliegen, aber er wusste instinktiv, dass die Vibration nicht von der Atmosphäre herrührte.

»Jetzt steigt auch die Abgastemperatur von zwei und drei. Außerdem geht die Drehzahl von eins und vier leicht nach oben.«

Die Triebwerke wurden vom Autopiloten gesteuert, der Höhe und Geschwindigkeit kontrollierte. Es war nichts Ungewöhnliches, dass der Computer die Drehzahl variierte, wenn sich die Windverhältnisse änderten, aber Christoph vermutete eher, dass es sich um ein weiteres Symptom des sich anbahnenden Problems handelte.

Genug war genug! »I have control«, sagte Christoph laut und deutlich zu seinem Ersten Offizier. Niemals durfte im Cockpit unklar sein, wer das Flugzeug steuerte.

»Okay«, bestätigte Daniel knapp. »You have control!« Mehr geschah erstmal nicht. Die A380 flog immer noch mit Autopilot. Aber wenn es erforderlich war, würde Christoph die notwendigen Handgriffe vornehmen. Der Schritt war nur logisch. Er war der ranghöchste Pilot im Cockpit und hatte wesentlich mehr Erfahrung. Christoph studierte erneut die Triebwerksanzeigen und schüttelte ungläubig den Kopf, als sein Blick auf die Zahlen der Abgastemperatur fiel. Die Werte aller vier Triebwerke gingen deutlich nach oben. Was auch immer das Problem war, es musste von außerhalb des Flugzeuges kommen, sonst wären nicht alle vier Motoren betroffen. Oder war irgendetwas mit dem Treibstoff nicht in Ordnung? Nein, das konnte auch nicht sein. Das Zeug war so gut durchmischt, dass ein Problem damit sich schon deutlich früher nach dem Start gezeigt hätte. Sein Blick wanderte zu den Cockpitfenstern, die im gespenstischen Licht des Elmsfeuers fahl flackerten. Er versuchte, sich an die Pilotenausbildung zu erinnern. Elmsfeuer entstand durch den Austausch elektrostatischer Entladungen an der Flugzeughülle und war im Flugverkehr eher selten. Vor allem elektrisch geladene Partikel in der Atmosphäre konnten dafür verantwortlich sein.

Elektrisch geladene Partikel?

Irgendetwas machte in seinem Kopf Klick und sein Herzschlag tat einen Sprung. Mein Gott!

»Der Vulkan!«, murmelte Christoph.

»Chris?«, fragte Daniel.

»Der Vulkan!« Christoph blickte Daniel an, dessen Augen sich weiteten. »Wir sind in eine Wolke aus Vulkanasche geraten.«

»Hier? Der Eyjafjalla... dingsbums hat seine Wolke doch über die Ostsee und Skandinavien geschickt. Von der Flugverbotszone sind wir hunderte Kilometer entfernt.«

Daniel hatte recht. Ihnen war beim Briefing auch kein NOTAM angezeigt worden, da sie auf ihrer Route noch nicht mal in die Nähe der Aschewolke geraten sollten. Außerdem war der jüngste Ausbruch deutlich schwächer als der, der den Flugverkehr im Jahr 2010 lahmgelegt hatte. Aber was konnte sonst für das Elmsfeuer und die Unregelmäßigkeiten in den Triebwerksdaten verantwortlich sein? Und wenn sie tatsächlich durch eine Aschewolke flogen, dann sollten sie möglichst schnell sehen, dass sie da raus kamen. Christoph griff zum Autopiloten und stellte einen Gegenkurs ein. Sofort ging die Maschine in eine langgezogene Kurve.

»Daniel, frage beim Controller nach, ob er uns etwas über Vulkanasche über dem Atlantik sagen kann, und beantrage eine Änderung der Flughöhe. Ich werde wohl besser mal das Anschnallzeichen setzen.« Christoph griff nach dem Schalter auf dem Überkopfpaneel und legte ihn um. Daniel hatte noch nicht einmal zu sprechen begonnen, als der Masteralarm durch das Cockpit gellte. »Eng1 Flameout« las Christoph auf dem Triebwerksdisplay.

»Triebwerk eins fährt runter«, sagte der Erste Offizier mit ruhiger Stimme. In dem Moment, als Christoph auf den betreffenden Bildschirm blickte, schalteten sich auch die übrigen drei Triebwerke ab. »Zwei, drei und vier schalten sich ebenfalls ab«, kommentierte er. Die Drehzahlen fielen rapide. Als sie den kritischen Wert unterschritten, wurde es dunkel im Cockpit. Nur die allerwichtigsten Anzeigen blieben aktiv.

»All Engine Flameout. Wir sind auf Batteriebetrieb«, verkündete Daniel.

Christoph nickte nur grimmig. Er fand es fast schon merkwürdig, dass keine Panik in ihm aufstieg, aber dafür waren sie zu gut trainiert. Erinnerungen an nicht lange zurückliegende Stunden im Flugsimulator wurden wach. »Checkliste!«

»Ist schon auf dem Bildschirm. Geschwindigkeit 250 Knoten.«

Christoph drehte das Rad am Autopiloten und überprüfte die Einstellungen. Mit 250 Knoten würden sie die niedrigste Sinkrate haben. »250 Knoten gesetzt.«

»Autothrust off.«

»In Ordnung. Autoschub ist aus.«

Schritt für Schritt gingen sie die Checkliste durch.

»Schub auf Leerlauf.«

Christoph griff nach den Schubhebeln auf der Mittelkonsole und setzte sie zurück auf Leerlauf.

»Schub ist auf Leerlauf.«

Daniel hakte den Punkt auf dem Bildschirm vor sich per Klick auf die entsprechende Taste der Mittelkonsole ab. Christoph hatte gehofft, dass die in das Triebwerk strömende Luft die Turbinen mittels Windmilling wieder in Gangs setzen würde, aber es tat sich nichts.

»Das war es für’s Erste. Wenn wir Flugfläche 200 passiert haben, können wir den Neustart mit der APU versuchen.«

Christoph blickte auf die Sinkrate. Jede Minute fielen sie um tausendfünfhundert Fuß. Im Moment betrug ihre Höhe etwas über 35.000 Fuß, also blieben ihnen gute zwanzig Minuten.

»Wie weit zum nächsten Flughafen?« Christoph wusste, dass der in Irland lag.

»Das ist Shannon. Fünfhundert Meilen«, antwortete Daniel. In seiner Stimme schwang nun doch eine Spur Panik mit. Das war viel zu weit.

»Setze einen Kurs!«

»112 Grad.«

Christoph blickte auf das Display vor sich. Er korrigierte ihre Flugrichtung über das Rad am Autopiloten. Das Elmsfeuer loderte immer noch vor den Cockpitfenstern, also befanden sie sich vermutlich noch in der Wolke aus Vulkanasche. Wenn die Partikel wirklich das Triebwerk stillgelegt hatten, dann mussten sie aus dieser Wolke hinaus. Sonst konnten sie die Aggregate niemals neu starten. Das hieß, wenn die nicht sowieso schon von der Asche so verstopft waren, dass sie nie wieder einen Mucks machten. Christoph wusste, dass sie bei den Wellen des Nordatlantiks keine Chance hatten, das riesige Flugzeug in der Finsternis sanft auf der Wasseroberfläche aufzusetzen. Es würde beim ersten Kontakt auseinanderbrechen. Die Flügel würden abreißen, die Kabine würde sich überschlagen und die Trümmer mit den immer noch angeschnallten Menschen an Bord sinken wie ein Stein.

Christoph wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er durfte nicht darüber nachdenken. Wenn sie in Panik gerieten, schafften sie es niemals.

Er schaute nach links. Daniel blickte gehetzt von einem Instrument zu nächsten und murmelte etwas.

»Ich habe dich nicht verstanden.«

Daniel sah ihn geradewegs an. Seine Augen waren stark gerötet. »Ich sagte, wenn wir die Triebwerke nicht starten können, werden wir alle draufgehen!«

Christoph legte die Hand sanft auf Daniels Schulter. »Niemand wird hier heute draufgehen. Ja, die Situation ist kritisch, aber wenn wir einen klaren Kopf bewahren, haben wir bessere Chancen, als wenn wir in Panik geraten.« Er ließ seine Worte einen Moment wirken. »Und ich brauche hier deine Mithilfe, okay?«

Es dauerte lange Sekunden, aber endlich nickte Daniel langsam. »Okay.« Der Erster Offizier atmete tief ein und aus.

»Wir steigen nun wieder in unser FORDEC ein, einverstanden?« Die Problemlösung nach den bewährten Richtlinien der Entscheidungsfindung in der Luftfahrt würde Daniel vielleicht beruhigen.

»Einverstanden«, antwortete Daniel mit tonloser Stimme. Er blickte auf die Instrumente vor sich. »Passieren Flugfläche 330.«

»In Ordnung, gib eine Meldung durch.«

»Okay. Shanwick Center, GI124. Mayday, Mayday, Mayday. Kompletter Triebwerksausfall. Ich wiederhole: Alle vier Triebwerke ausgefallen. Wir vermuten, durch Vulkanasche.«

»GI124, Shanwick Center, bestätige Mayday, kompletter Triebwerksausfall. Geben Sie bitte Position, Kurs und Flughöhe durch.« Die Stimme des Fluglotsen war sehr verrauscht.

Daniel zögerte einen Moment und blickte auf den Bildschirm. »Passieren gerade Flugfläche 320. Position 56/25. Kurs 112. Wir versuchen, Shannon zu erreichen, falls wir mehrere Triebwerke wieder starten können. Windmilling bislang erfolglos.«

»Verstanden, GI124. Habe Sie noch nicht auf dem Radar. Verständige Shannon.«

Christoph stieg ein unangenehmer Geruch in die Nase. Schwefel. Er schnüffelte laut und wandte den Kopf, aber in der Dunkelheit konnte er kaum etwas erkennen. Er griff nach der Taschenlampe links neben seinem Sitz, schaltete sie ein und entdeckte sofort Rauchschwaden, die durch das Cockpit waberten. »Wir haben ...« Sein Satz wurde durch ein weiteres Alarmsignal unterbrochen. Er blickte auf das Display mit den Statusmeldungen.

»Der Druck sinkt. Sicher durch den Triebwerksausfall«, sagte Daniel.

Christoph nickte. Die Kabinenluft wurde aus dem Überdruck in den Triebwerken gewonnen. Wenn die nicht mehr liefen, musste der Druck in der Kabine zwangsläufig sinken. »Also Sauerstoffmasken auf.«

Er griff in den Behälter links neben seinem Sitz, zog die Sauerstoffmaske an den roten Ventilhebeln heraus und streifte sie sich über. Als er die Ventile losließ, saugte sie sich an seinem Gesicht fest. Zuletzt setzte er den Kopfhörer mit dem Mikrofon auf. Daniel hatte seine Maske zeitgleich angelegt. In seinen Ohren hörte Christoph deutlich das Zischen des Regulators.

»Ich mache eine Durchsage an die Passagiere.« Er drückte den Knopf auf der Mittelkonsole nieder und sprach, ohne lange zu überlegen. »Liebe Fluggäste, hier spricht Ihr Kapitän. Sicher haben Sie bemerkt, dass wir ein Problem mit den Triebwerken haben. Vermutlich hat Vulkanasche für die Abschaltung gesorgt, weswegen nun der Kabinendruck sinkt. Aus diesem Grund aktivieren wir die Sauerstoffmasken, die gleich über Ihnen aus der Decke fallen. Wir tun unser Möglichstes, um die Triebwerke wieder zu starten. Wir haben das Flugzeug unter Kontrolle und sind voll manövrierfähig. Wir sind für exakt solche Situationen bestens ausgebildet und werden das Problem lösen. Bitte hören Sie auf die Anweisungen der Flugbegleiter und vertrauen Sie uns. Wir halten Sie über den weiteren Ablauf unseres Fluges informiert.« Er ließ die Taste los und hoffte, dass es in der Kabine nicht zu Tumulten kam.

»Das war aber ein deutliches Understatement«, kommentierte Daniel düster.

Christoph zuckte nur mit den Schultern. Er griff zur Konsole über seinem Kopf, klappte die rote Schutzkappe zur Seite, zögerte einen kurzen Moment und drückte den Knopf nieder. Jetzt fielen hinten in der Kabine die Masken von der Decke. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was nun bei den hunderten Passagieren los war. Hier im Cockpit bekamen sie davon nichts mit, aber sie hatten schon genug zu tun.

»Passieren Flugfläche 250«, sagte Daniel.

Der nicht abzustellende Ton des Masteralarms drang auch durch die Kopfhörer. Er würde sie begleiten, bis sie entweder die Triebwerke wieder starten konnten oder auf der Wasseroberfläche des kalten Atlantiks aufschlugen. Christoph löste seinen Blick von den Displays und schaute aus dem Fenster. Das Elmsfeuer loderte immer noch. Er schüttelte den Kopf. Dass die unerwartete Vulkanasche in einem eng begrenzten Höhenbereich auftrat, damit hatte er gerechnet. Wieso zum Teufel hatten die Meteorologen diese westwärts ziehende Wolke nicht bemerkt? Was war da so verdammt schief gelaufen?

Außer dem fahlen Leuchten vor den Kabinenfenstern war draußen nur Dunkelheit. Keine Sterne, kein Horizont. Den Sonnenaufgang hatten sie zu dieser Jahreszeit erst kurz vor der Landung in Frankfurt zu erwarten gehabt. Wenn es zu einer Notwasserung kam, hatte Christoph noch nicht mal eine Chance, die Bewegung der Wellen zu sehen, um die Maschine günstig auszurichten.

Immer wieder warf er einen Blick auf den Höhenmesser. Sie passierten nun 25.000 Fuß. Noch etwa vier Minuten, bis sie Flugfläche 200 erreichten. Dann war der Außendruck hoch genug, um einen Start der APU zu probieren. Lief erst einmal das Hilfstriebwerk, konnten sie versuchen, die Haupttriebwerke neu zu starten. Bis dahin hatten sie nur die Hoffnung, dass der Fahrtwind die Triebwerksschaufeln wieder auf Drehzahl brachte, aber da das bisher nicht passiert war, war Christoph diesbezüglich nicht mehr besonders optimistisch.

Das Warten und die Untätigkeit zehrten an der Substanz und Christoph musste sich nun doch am Riemen reißen, damit das steigende Gefühl von Panik nicht Oberhand gewann. Er hatte in seinem Pilotenleben einige kritische Situation gemeistert, aber einen umfassenden Triebwerksverlust über dem Nordatlantik hätte er sich in seinen kühnsten Albträumen nicht auszumalen gewagt. Er erinnerte sich an eine Maschine vor etlichen Jahren, der wegen eines Problems über dem Atlantik der Treibstoff ausgegangen war. Die Kollegen hatten Glück gehabt und ihr Flugzeug im Gleitflug auf den Azoren landen können. Aber hier gab es weit und breit nur Wasser. Treibstoff hatten sie genug, aber was nutzte das, wenn die Triebwerke mit Vulkanasche verstopft waren? Mindestens zwei mussten sie starten. Irgendwie!

Noch drei Minuten!

»Ich werde hinten anfragen, wie die Lage ist«, sagte Christoph. Daniel nickte nur.

Veronika nahm das Gespräch entgegen. Sie atmete schwer, hatte wahrscheinlich ihre Sauerstoffmaske nicht die ganze Zeit auf, um sich mit den Passagieren verständigen zu können.

»Wie sieht es in der Kabine aus?«

»Wir haben einen medizinischen Notfall in der Business. Herzstillstand. Reanimation mit dem Defibrillator. Ich wollte euch nicht stören und habe über die PA nach einem Arzt gefragt. Ein Allgemeinmediziner versucht, den Senior zu stabilisieren.«

»Ja, sehr gut. Und sonst? Die Passagiere?«

»Die Passagiere sind in ihren Sitzen und halbwegs ruhig, aber sehr verängstigt. Einige Sauerstoffmasken in der oberen Economy funktionieren nicht, aber die betreffenden Personen teilen sich die Masken mit den Sitznachbarn.«

»In Ordnung. Danke, Veronika.«

»Christoph?«

»Ja?«

»Werden die Triebwerke wieder starten?« Ihre Stimme war ruhig, was sicher auch eine Folge ihrer langen Erfahrung und des sorgfältigen Trainings war, aber Christoph war sich sicher, dass auch die versierten Flugbegleiter Angst hatten. Veronika wusste genau, was geschehen würde, wenn sie die Triebwerke nicht starten konnten.

Christoph atmete tief durch. »Wir tun unser Möglichstes.« Was konnte er sonst sagen? Es war fraglich, ob die mit Asche verstopften Turbinen jemals wieder in Betrieb gingen. Sollte er etwa lügen?

Es war jedenfalls nicht die Antwort, die Veronika erhofft hatte. »Verstanden, Christoph.« Ihr Tonfall blieb ruhig.

»Veronika?«

»Ja?«

»Kopf hoch!«, sagte er und unterbrach die Verbindung, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Flugfläche 210!«, meldete Daniel. Eine Minute, dann würden sie es wissen.

»In Ordnung. Wir gehen streng nach Checkliste vor.«

»Verstanden.«

Daniels Blick fixierte die Höhenangabe des Displays vor sich und zählte die Hunderterschritte in Gedanken mit.

20.400 Fuß.

20.300 Fuß.

Bitte, bitte!

20.200 Fuß.

Er warf einen kurzen Blick auf die Checkliste auf der Mittelkonsole, um die notwendigen Schritte zu verinnerlichen, obwohl Daniel ihm die Zeilen einzeln vorlesen und abhaken würde.

20.100 Fuß.

Christoph atmete tief ein und aus.

»Flugfläche 200!«, sagte Daniel.

»Los geht’s«, sagte Christoph.

»APU Start!«

Christoph drückte den APU-Hauptschalter auf dem Überkopfpaneel, um deren Elektronik zu aktivieren. Sofort gellte ein neuer Alarmton durch das Cockpit. Er hatte damit gerechnet. Die Klappe für das Hilfstriebwerk war für diese Geschwindigkeit nicht ausgelegt. Aber dann sollte sie halt zum Teufel gehen! Sie brauchten die APU. »APU Startschalter an.«

»Jetzt zwei Minuten warten, bis die APU hochfährt.«

Christoph nickte nur. Er blickte aus den Cockpitfenstern, wo das Leuchten deutlich zeigte, dass sie die Wolke aus Vulkanasche immer noch nicht verlassen hatten. Hoffentlich ruinierte das Zeug in der Luft nicht auch noch die APU! Er starrte den Timer an, als könne er ihn durch reine Willenskraft dazu bringen, schneller zu laufen.

Nach quälend langen Sekunden fuhr das Hilfstriebwerk endlich hoch, wie er an der Drehzahlanzeige erkennen konnte. Das Cockpit erhellte sich. Die Beleuchtung und die übrigen Instrumente bekamen wieder Strom. Es war ein gutes Zeichen, aber trotzdem hing ihr Schicksal an den vier Triebwerken unter den Flügeln.

Die zwei Minuten waren endlich um.

»Alle Triebwerkshauptschalter aus«, las Daniel den nächsten Punkt der Checkliste vor.

Christoph legte die Schalter auf der Mittelkonsole um. »Alle aus!«

»Wing Anti Ice Off!«

»Flügelenteisung aus.«

»APU Bleed On!«

»APU Bleed On geschaltet.«

»Engine Master 2 on!«, verkündete Daniel heiser. Jetzt kam es darauf an.

»Triebwerk 2 an«, sagte Christoph und legte den großen quadratischen Schalter mit zitternden Händen um.

Sofort fiel sein Blick auf die Anzeige der Drehzahlen.

»Jetzt komm schon!«, rief Daniel.

Nichts rührte sich bei den Triebwerken. »Es klappt nicht! Versuchen wir die drei!« Christoph schaltete die zwei ab und aktivierte die drei. Fehlanzeige!

»Verdammte Scheißteile!«, fluchte Daniel.

»Ruhig!«, sagte Christoph. Er schaltete noch mehrmals zwischen den einzelnen Triebwerken hin und her, aber die Aggregate blieben tot.

»Wir sind schon auf 10.000 Fuß runter.«

»Ich sehe es. Immerhin sind wir aus der Aschewolke raus. Das Elmsfeuer hat aufgehört.«

»Das ändert auch nichts an der Tatsache, dass wir in sieben Minuten im Atlantik schwimmen.«

Christoph antwortete nicht.

»Oder vielmehr tauchen!«, schob Daniel grimmig nach. Christoph versuchte immer wieder, die einzelnen Triebwerke zu starten.

Sie sanken nach wie vor tausendfünfhundert Fuß in der Minute. Es nutzte nichts, sagte Christoph sich. Sie würden sich damit abfinden müssen, dass die Triebwerke verloren waren. Eine Notwasserung war unausweichlich. So gering die Überlebenswahrscheinlichkeit war, er würde alles in seiner Kraft Stehende tun, die Maschine so sanft wie möglich auf die Wasseroberfläche aufzusetzen. Er drückte die Taste für die Kabinenlautsprecher. »Cabin Crew, auf Notwasserung vorbereiten.«

9.000 Fuß. Weniger als drei Kilometer trennten sie noch vom eisigen Wasser des Nordatlantiks. Wenn Christoph doch wenigstens Tageslicht hätte, um die Wasseroberfläche sehen zu können!

Plötzlich gab es einen harten Ruck. Das ganze Flugzeug vibrierte.

»Turbulenzen!«, verkündete Christoph.

»Auch das noch!«

Die Vibration wurde schlimmer. Ein leerer Kaffeebecher hüpfte hinter ihnen über den Fußboden.

»Hoffentlich hält das nicht an bis zum Boden!«, sagte Daniel laut.

Es würde schwierig sein, die Tragflächen bei dem Gerüttel gerade zu halten. Wieder erschütterte ein heftiger Schlag die Kabine, als die Maschine von Scherwinden getroffen wurde.

»So eine verdammte ...«, begann Daniel.

Zwischen dem Schütteln bemerkte Christoph kaum merklich eine vertraute Vibration. Sofort fiel sein Blick auf das Display rechts von ihm. Er konnte kaum glauben, was er sah.

»Nummer vier fährt hoch!«, rief er.

Sie passierten 8.000 Fuß und so überraschend, wie die Turbulenzen eingesetzt hatten, so schnell waren sie wieder vorüber. Jetzt spürte Christoph deutlich die Vibration eines hochfahrenden Triebwerks.

»Mein Gott, ich fasse es nicht!«, flüsterte Daniel.

»Ich habe auch nicht mehr damit gerechnet«, gestand Christoph. Die Drehzahl von Nummer vier stabilisierte sich. Er zog leicht am Sidestick und reduzierte die Sinkrate. Bis Shannon würden sie trotzdem nicht kommen.

»Wir sinken weiter, wenn auch langsamer. 6.000 Fuß«, sagte Daniel. »Eins reicht nicht. Was ist mit den anderen?«

»Das werden wir gleich herausfinden«, antwortete Christoph und streckte die Hand aus. Er aktivierte eines der inneren Triebwerke. Nummer zwei.

»Es kommt!«, schrie Daniel. »Es fährt hoch!«

Christoph beobachtete auf dem Display, wie die Drehzahl von Triebwerk zwei allmählich anstieg. Die Sinkrate reduzierte sich auf null, dann stieg die Maschine, langsam und behäbig.

»Mein Gott, wir steigen!«, stöhnte Daniel. Er lachte erleichtert. »Wir steigen tatsächlich.«

Als die Drehzahl von Triebwerk zwei achtzig Prozent erreichte, durchdrang eine starke Vibration durch die Flugzeugzelle. Offenbar war das Aggregat beschädigt. Christoph sah, dass die Drehzahl schwankte. Gleichzeitig stieg die Abgastemperatur des Triebwerks sprunghaft an und näherte sich dem roten Bereich.

»Zwei muss ganz schön was abbekommen haben. Wir haben eine instabile Verbrennung.« Christoph wählte die Kabinencrew an. Veronika war sofort in der Leitung.

»Schau bitte aus dem Fenster auf die zwei und sag mir, was du siehst.«

Einige Sekunden vergingen, dann sagte die Chefstewardess: »Meterlange Flammen schlagen aus dem Triebwerk. Dabei sieht es von außen unbeschädigt aus. Die Passagiere am Fenster sind sehr beunruhigt.«

Das konnte Christoph sich gut vorstellen. »Es schaut schlimmer aus, als es ist. Das Triebwerk bekommt nicht genug Luft, darum ist die Verbrennung instabil. Immerhin haben wir den Sinkflug stoppen können. Ich hoffe nur, dass die zwei Triebwerke durchhalten. Fürs Erste beruhige bitte die Passagiere. Was ist mit dem medizinischen Notfall?«

»Der Mann ist gestorben. Der Arzt hat ihn nicht stabilisieren können.«

Christoph presste die Lippen zusammen. Nun war unter seinem Kommando ein Mann während einer Notsituation ums Leben gekommen. Zwar glaubte er nicht, dass sie etwas hätten anders machen können, aber trotzdem fühlte er sich sofort schuldig. Er drängte den Gedanken beiseite. Der Weg bis Shannon war weit, und wenn die Zwei nicht durchhielt, würden sie unweigerlich wieder in den Sinkflug gehen. Mit seinen Gefühlen musste er sich später auseinandersetzen. »Danke, Veronika.« Er beendete das Gespräch und wandte sich an Daniel. »Wie weit bis Shannon?«

»Dreihundert Meilen. Bei unserer momentanen Geschwindigkeit etwas weniger als eine Stunde. Ich informiere Shanwick.«

»In Ordnung.«

Während Daniel mit dem Fluglotsen sprach, beäugte Christoph kritisch den Status der Triebwerke. Die Drehzahl von Nummer zwei schwankte immer noch stark und die Abgastemperatur hatte bereits den Alarm aktiviert. Christoph griff nach dem Schubhebel und regelte es auf siebzig Prozent herunter. Drehzahl und Temperatur stabilisierte sich daraufhin, aber dafür stieg das Flugzeug nicht mehr. Sie befanden sich auf 7.000 Fuß, und wenn nicht durch ein Wunder noch ein Triebwerk ansprang, würden sie auf dieser Höhe bleiben müssen. Der Fluglotse wies sie an, direkt Richtung Shannon zu fliegen. Der Flughafen war bereits über eine bevorstehende Notlandung informiert.

»Es ist nach wie vor stockdunkel draußen«, murmelte Christoph. »Wie ist die lokale Zeit in Shannon?«

»Vier Uhr dreizehn. Wir werden also gegen fünf Uhr lokaler Zeit landen. Immer vorausgesetzt, dass die Triebwerke durchhalten. Ich verstehe nicht, dass die Zwei und die Vier laufen, die anderen aber nicht.«

»Wir müssen es nur bis Shannon schaffen, dann werden uns die Techniker schon bald den Grund sagen können.« Christoph blickte auf das Display. »Wir sollten so bald wie möglich Treibstoff ablassen. Könntest du dich bitte darum kümmern?«

Daniel nickte und begann mit der Arbeit. Bis Shannon benötigten sie weniger Treibstoff als bis Frankfurt. Wenn sie das überflüssige Kerosin abließen, würde sich auch ihr Gewicht verringern und sie konnten etwas Schub von den beschädigten Triebwerken nehmen.

Die Zeit verging, ohne dass Christoph und Daniel viele Worte miteinander wechselten. Die Vier lief stabil und die Zwei schien ebenfalls durchzuhalten. Immer wieder versuchten die Piloten abwechselnd, die Eins und die Drei neu zu starten, aber die Triebwerke blieben tot. Endlich meldete der Lotse, dass er die Maschine auf dem Radar habe, und schließlich forderte er Christoph und Daniel auf, direkte Verbindung mit Shannon aufzunehmen.

»Ich schalte Shannon Approach auf 121.4. Shannon Approach, GH124.«

»GH124, Shannon Approach. Ich bin bereits über Ihre Lage informiert. Ich habe Sie in fünfzig Meilen Entfernung. Wir haben Runway 06 für Sie reserviert. Es ist windstill und die Sichtbedingungen sind ausgezeichnet. Gehen Sie auf Kurs 100 und steuern Sie Foynes an, von dort für den ILS-Anflug 06, Frequenz 109.5, Luftdruck QNH 1007.«

»Shannon verstanden. Via Foynes, Freigabe für den ILS-Anflug 06, Winde verstanden, QNH 1007«, bestätigte Daniel.

Christoph änderte den Kurs auf den vorgegebenen Wert. Ein Blick auf das Navigationsdisplay zeigt ihm, dass sie sich der irischen Küste näherten. Er lehnte sich im Sitz nach vorn und blickte aus dem Fenster. Tatsächlich, er konnte die Lichter einiger Ortschaften an der Küste ausmachen. Dort rechts unten musste Kilkee sein und dahinter Kilrush am Shannon Estuary.

»Jetzt ist es nicht mehr weit. Ich glaube, wir schaffen es«, murmelte Daniel.

»Sag es nicht zu laut. Die Drehzahl der Zwei schwankt schon wieder«, gab Christoph zurück.

»Ja, verdammt. Und die Abgastemperatur steigt auch schon wieder an. So ein Mist. Die paar Minuten wird es doch wohl noch durchhalten.«

Sie überflogen den Meeresarm von Shannon und reduzierten nach Anweisung die Flughöhe auf 3.000 Fuß. Kurz bevor sie das anvisierte Funkfeuer erreichten, meldete sich wieder Shannon Approach. »GH124. Gehen Sie direkt auf Kurs 060. Bestätigen Sie ILS.«

Sie hatten das Signal des Instrumentenlandesystems schon vor einigen Minuten aufgefangen. »Bestätigen ILS Runway 06.«

Christoph flog die Maschine inzwischen manuell und leitete die Kurve für den Anflug ein.

»Da ist sie«, rief Daniel. »Da ist die Landebahn. Runway in sight.«

Christoph konnte den drei Kilometer langen, durch die Anflugbefeuerung erleuchteten Streifen auch ausmachen. Er ging wieder in den Geradeausflug und die Maschine befand sich genau in der Verlängerung der Landebahn.

»Fahrwerk ausfahren!«

Daniel drückte den Hebel links vor sich herunter. Die Lichter wechselten von Rot zu Grün. »Fahrwerk ausgefahren!«

Christoph spürte eine heftige Vibration und sofort fiel sein Blick auf die Triebwerksanzeige. »Die Drehzahl von Nummer zwei variiert sehr stark. Wir müssen damit rechnen, dass es sich jeden Moment abschaltet. Klappen auf zwei.«

»Klappen auf zwei.« Daniel schob den Regler nach hinten.

Ein kurzes Piepen ertönte. »Outer Marker. Noch fünf Meilen«, sagte Daniel.

Sie überflogen wieder den Meeresarm von Shannon. Christoph erkannte die Lichter der Stadt direkt hinter der Landebahn. Es gab einen heftigen Ruck, dann fuhr Triebwerk zwei endgültig herunter.

»Scheiße. Klappen auf drei!« Nach wenigen Sekunden befanden sie sich schon unterhalb des Gleitpfads, wie er an den drei roten Lichtern des VASI erkannte. Christoph schob den Schubhebel des einzig noch arbeitenden Triebwerks ganz nach vorn. Er musste das Seitenruder fast voll nach rechts treten, um das Drehmoment zu kompensieren. Er konnte die Sinkrate nicht vermindern und er wusste, dass sie noch vor dem Beginn der Landebahn aufsetzen würden.

»Wie weit noch?«, fragte Christoph.

»Drei Komma fünf Meilen.«

Der Radio-Altimeter meldete mit einer sonoren Männerstimme. »One Thousand!«

»Checked«, sagten Christoph und Daniel unisono.

»Landecheckliste!«, forderte Christoph auf.

»Landecheckliste«, bestätigte Daniel. »ECAM Memo Landung. Keine blauen Anzeigen!«

Christoph zog den Steuerknüppel immer weiter nach hinten, um die Sinkrate von neunhundert Fuß pro Minute zu halten. Er fluchte innerlich. Die Kiste war durch das noch viel zu hohe Landegewicht so störrisch wie ein übergewichtiger Esel nach dem Mittagessen!

»500«, meldete das akustische System die Höhe.

»Herrgott, die paar Meter wird die Kiste doch wohl noch schaffen!«, fluchte Daniel.

»Beruhige dich!«, sagte Christoph leise. Er konzentrierte sich auf die Landebahn.

»400.«

Jetzt wechselte auch das letzte Licht des VASI zu Rot. Sie waren viel zu tief. Wie ging der Spruch? Rot über Rot und bald bist du tot!

»300.«

Sie hatten alles getan, was sie konnten. Nun blieb nur noch die Hoffnung, dass der Boden vor der Landebahn stabil genug war, um den Vogel zu tragen.

»200.«

Die Piste befand sich jetzt unmittelbar vor ihnen.

»100.«

Christoph zog den Sidestick noch weiter nach hinten.

»50.«

Die Sinkrate reduzierte sich. Vielleicht konnten sie es doch noch schaffen.

»Retard ... retard ... retard!«, erinnerte das automatische System. Die Sinkrate verringerte sich fast bis auf null. Es musste doch noch etwas Wind in Bodennähe aufgekommen sein. Genau am Ende der Touchdownzone berührte das Hauptfahrwerk den Boden der Landebahn.

»Man kann ja auch mal Glück haben«, murmelte Christoph leise. Eilig zog er den Schubhebel nach hinten, vermied es aber, Gegenschub zu geben. Wer wusste schon, wie das Triebwerk darauf reagierte? Außerdem war die Bahn lang genug, um gemächlich zu bremsen.

»Ich glaube es nicht. Wir sind unten. Und das auch noch an einem Stück!«, schnaufte Daniel.

»Hast du etwa daran gezweifelt?«

»Um ehrlich zu sein, ja.«

»GH124, Shannon Approach. Gute Landung! Können Sie die Runway verlassen?«

Der Erste Offizier schaute Christoph an. Der nickte knapp.

»Danke, Shannon«, sagte Daniel. »Wir haben im Anflug ein weiteres Triebwerk verloren und verfügen nur noch über ein funktionierendes Aggregat, können die Landebahn aber über einen Highspeed-Exit verlassen. Wir brauchen Medical Assistance wegen eines Druckabfalls, und wir haben leider einen verstorbenen Passagier.«

»Gut, verlassen Sie die 06 über D2 und stoppen Sie dort neben dem Hangar. Die Bodencrew und Medical Assistance erwarten Sie bereits. Ebenso die Feuerwehr.«

»Verstanden. Verlassen die 06 über D2. Danke, Shannon.«

Die Maschine erreichte das Ende der Landebahn und war beinahe zum Stillstand gekommen. Christoph verringerte den Druck auf die Bremse und bog mit der verbleibenden Geschwindigkeit auf die angrenzende Taxiway ab. Nach wenigen Metern kreuzten sie eine stillgelegte Startbahn, dann erreichten sie den Hangar, von dem der Lotse gesprochen hatte. Feuerwehr und Rettungswagen standen bereit, zwei mobile Gangways und mehrere Busse näherten sich über die gegenüberliegende Seite des Rollwegs.

Bedächtig drückte Christoph seine Füße gegen die Pedale, bis die Maschine neben den Rettungskräften zum Stillstand kam.

»Lass die Anschnallzeichen noch an, ich werde eine Ansage machen«, sagte er zu Daniel. Der nickte nur.

Christoph setzte die Parkbremse, während Daniel über die PA die Kabinenbesatzung aufforderte: »Cabin Crew, alle Türen in Parkposition!«

Auf dem Bildschirm verfolgte Christoph, wie die Türen nacheinander unscharf gestellt wurden, damit das Öffnen nicht die Notrutschen auslöste. Dann erst schaltete er das letzte Triebwerk ab. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Dann griff er nach dem Kabinentelefon.

»Sehr geehrte Gäste, wir haben eine anspruchsvolle Situation gut überstanden und sind nun sicher in Shannon zwischengelandet. Ich weiß, dass die letzten neunzig Minuten teilweise sehr herausfordernd für Sie waren, und bedanke mich bei Ihnen, dass Sie so tapfer den Anweisungen unserer Kabinenbesatzung gefolgt sind. Bitte bewahren Sie noch einen Moment Ruhe, bis die Treppen im Hauptdeck angedockt haben. Darüber werden Sie das Flugzeug verlassen. Entsprechende Passagierbusse zum Flughafengebäude stehen für Sie bereit. Vielen Dank für Ihre Mithilfe und Unterstützung.«

Er nickte Daniel zu. »Anschnallzeichen aus.«

»Nette Rede«, sagte sein Erster Offizier und legte den Schalter um. Ein lautes »Ping« tönte durch das Cockpit.

Allmählich spürte Christoph, wie der Adrenalinspiegel in seinem Körper sank. Erst nach und nach wurde ihm klar, wie kritisch die Situation gewesen war und wie knapp sie alle mit dem Leben davongekommen waren. Hätten sie die Triebwerke nicht wieder starten können, lägen sie jetzt tot auf dem Grund des kalten Atlantiks. Oder sie wären am Boden zerschellt, wenn das letzte Aggregat schon etwas früher ausgefallen wäre.

Er warf seinem Ersten Offizier einen vielsagenden Blick zu und reichte ihm die Hand. Daniel erwiderte den Händedruck mit zittrigen Fingern. Dann wandten sie sich der Checkliste zum Abschalten der Flugzeugsysteme zu.

»Haben wir alles richtig gemacht?«, fragte Daniel.

Christoph wusste, worauf sein Kollege abzielte. Eine Untersuchung stand an, die Monate dauern und bei der genau auf die Handlungen der Crew geachtet werden würde. Wenn man ihnen eine Mitschuld gab, konnte das ihrer Karriere drastisch schaden, vor allem, da es nun doch einen Toten bei diesem Vorfall gegeben hatte.

Der Tote ... Christoph hatte ihn fast verdrängt. Er seufzte, schnallte sich ab und fuhr den Sitz zurück.

»Also gut. Ich gehe in die Kabine.«

Daniel nickte nur, während er seine Sachen zusammenpackte.

Christoph stand auf, begab sich nach hinten und öffnete die Cockpittür. Er ging die kurze Treppe hinunter, vorbei an den Ruheräumen der Piloten und drückte die zweite Tür zur unteren der beiden Kabinenebenen auf. Er kam gerade rechtzeitig, um die letzten Passagiere das Flugzeug verlassen zu sehen. Ein älterer, grauhaariger Mann in einem zerknitterten Anzug nickte ihm kurz zu, als er Christoph in seiner Kapitänsuniform sah und murmelte ein kaum hörbares »Danke.«

Gabi, eine großgewachsene, rothaarige Stewardess mit immer etwas zu viel Make-up im Gesicht, verabschiedete den letzten Fluggast und wandte sich dann Christoph zu. »Es war ziemlich knapp, oder?«

Christoph nickte, ging aber nicht weiter auf die Bemerkung ein. »Wo ist der verstorbene Passagier?«

Gabi trat näher und deutete mit einer flüchtigen Handbewegung in Richtung Treppe. »Oben in der vorderen Business. Die Rettungssanitäter und der Notarzt waren nur kurz da. Sie konnten nichts mehr tun. Veronika ist oben bei ihm und seiner Frau.«

Christoph nickte wieder, tätschelte Gabi kurz den Arm und stieg dann die Stufen zum Oberdeck hinauf. Schon auf der Treppe hörte er ein unterdrücktes Schluchzen. Oben angekommen, sah er einige Reihen entfernt den verstorbenen Flugpassagier. Er saß aufrecht in seinem Sitz am Fenster, eine Decke verhüllte den Oberkörper, aber nicht sein Gesicht. Der Mund des Mannes stand offen, als habe er bei seinem letzten Atemzug vergeblich nach Luft geschnappt, seine Augen blickten ins Leere. Er mochte Mitte siebzig gewesen sein. Auf dem Platz daneben saß eine schlanke Frau, die kurzen, grauen Locken sorgfältig frisiert. Tränen rannen ihr Gesicht hinunter und sammelten sich als dunkle Flecken auf ihrer beigefarbenen Bluse. Ihre Rechte lag zitternd auf der um die Armlehne gekrampften Hand ihres Mannes. Veronika kniete neben der Frau und rieb ihr die Schulter.

Als Christoph sich näherte, blickte die alte Frau auf und schaute ihn aus verquollenen Augen an. Christoph musste schlucken. Machte sie ihn für den Tod ihres Mannes verantwortlich? Für den Flug durch die Aschewolke konnte er nichts. Aber hatte er richtig reagiert? Die Untersuchung würde das zeigen. Doch ganz gleich, was die Analyse zutage brachte, ein Mann war während einer Notsituation an Bord unter seinem Kommando gestorben und er wusste, dass ihn das bis ans Ende seines Lebens verfolgen würde. Der Mann war tot und nichts, was Christoph tat, würde ihn wieder lebendig machen. Hier und jetzt konnte er nur versuchen, Haltung zu bewahren und zu seiner Verantwortung zu stehen, gleichgültig, wie unangenehm die Situation war. Er kniete neben der Frau nieder, bis sich sein Gesicht auf der Höhe von ihrem befand. »Ich bin Flugkapitän Christopher Wilder«, sagte er ruhig. »Der Tod Ihres Mannes tut mir unendlich leid.«

Die Frau schluchzte. »Was ist denn überhaupt geschehen?«

»Wir sind in eine Wolke von Vulkanasche geraten. Die Asche hat die Triebwerke verstopft, die sich infolgedessen ausgeschaltet haben. Wir konnten zwar zwei Triebwerke wieder starten, aber in der Zwischenzeit haben wir Druck verloren und die Kabine hat sich mit Rauch gefüllt.«

»Mein Mann hat plötzlich angefangen, nach Luft zu schnappen ...« Erneut musste die Frau schluchzen. »Er griff an sein Herz, kurz bevor die Lichter ausgingen. Als es wieder hell wurde, da war er ... war er ...« Ihre Stimme brach.

»Der Notarzt hat gesagt, Herr Prandtl hatte einen Herzstillstand«, sagte Veronika leise, während sie tröstend den Arm der Frau streichelte. »Möglicherweise hervorgerufen durch den Druckverlust oder die Atemnot durch den Rauch.«

Christoph nickte langsam. Er wartete, bis Frau Prandtl sich etwas beruhigt hatte. »Ich weiß, dass das für Sie jetzt kein Trost ist, aber die Fluggesellschaft wird sich um Sie kümmern. Ein Seelsorger ist bereits auf dem Weg hierher.« Er hoffte es jedenfalls. Er würde so schnell wie möglich mit dem Handling-Agent und dem Stations-Manager darüber reden. Er holte tief Luft. »Auch ich persönlich stehe Ihnen immer zur Verfügung, Frau Prandtl.«

Die Frau blickte auf und ihre Augen verengten sich ein wenig. »Sie persönlich?« Sie schniefte noch einmal, aber der Klang ihrer Stimme verhärtete sich. »Und macht ihn das wieder lebendig?«

Christoph schluckte.

Er suchte nach Worten, aber Frau Prandtl sprach weiter. »Wir wollten in zwei Wochen gemeinsam seinen achtzigsten Geburtstag feiern. Jetzt ist er tot!«

Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah Christoph feindselig an. Was er befürchtet hatte, war eingetreten: Sie machte ihn für den Tod ihres Mannes verantwortlich.

»Frau Prandtl, ich kann Ihnen versichern ...«

»Sie können mir gar nichts versichern, Kapitän. Mein Mann ist tot. Er ist tot. Sie und Ihre Fluggesellschaft haben ihn auf dem Gewissen.«

»Schschsch ...«, machte Veronika leise.

Frau Prandtl sah sie kurz an und drückte Veronikas Hand von ihrer Schulter weg, dann wandte sie sich wieder an Christoph. »Gehen Sie, Kapitän! Sie haben an der Seite meines Mannes nichts verloren.«

»Ich ...«, setzte Christoph an, aber er sah ein, dass es keinen Sinn machte. Er richtete sich auf, wandte sich langsam um und ging davon, während Frau Prandtl hinter ihm wieder zu schluchzen begann. Wie betäubt ging er die Treppe zur unteren Kabine hinunter. Er bekam nur am Rande mit, wie zwei Frauen vom Roten Kreuz an ihm vorbei nach oben liefen.

3.

 

»Ich glaube, ich sterbe!«

Herbert fühlte sich bei den Worten Erikas, als würde es ihm die Eingeweide zusammenziehen.

»Du stirbst noch lange nicht!« Er versuchte, zuversichtlich zu klingen, aber nur ein kehliges Krächzen kam aus seinem Mund. Selbst ein Lächeln wollte ihm nicht gelingen. Resigniert nahm er den Waschlappen von der Stirn seiner Frau und tauchte ihn in einen Eimer mit Wasser, den er noch am Morgen aus einer Quelle nahe des Bunkereingangs geschöpft hatte. Da war die klare Flüssigkeit noch kühl gewesen, inzwischen war sie lauwarm. Er wrang den Lappen ein wenig aus und legte ihn wieder auf ihre Stirn. Zärtlich strich er über ihr eingefallenes Gesicht.

»Mir ist so kalt«, sagte sie mit zitternder Stimme.

»Soll ich dir noch eine Decke holen?«, fragte Herbert leise.

Sie nickte. »Bitte.«

Herbert stand auf, ging zu dem schmalen Metallschrank an der Wand und öffnete ihn. Einige verschlissene Garnituren Kleidung lagen in den unteren Fächern, oben war nur noch ein löchriger Kopfkissenbezug, aber keine Decke.

Herbert drehte sich herum. »Hier ist nichts mehr. Ich muss ins Lager gehen.«

Seine Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Bitte! Lass mich nicht allein. Bleib bei mir.«

Herbert ging langsam zum Bett zurück. Er beugte sich über ihren ausgemergelten Körper und strich ihr zärtlich durch die grauen, verfilzten Haare. »Es dauert nur ein paar Minuten, dann bin ich wieder da«, sagte er leise.

»Nein!« Erikas ehemals so festen Stimme fehlte jede Stärke. Wenn sie früher »Nein« gesagt hatte, hatte niemand gewagt, ihr zu widersprechen. Jetzt war es nur noch ein klägliches Winseln.

»Du hast Schüttelfrost. Ich sehe doch, wie du frierst. Ich gehe ins Lager und hole noch eine Decke. In fünf Minuten bin ich zurück.«

Sie hatte keine Kraft, um ihm zu widersprechen. Sie schloss die Augen und legte den Kopf zur Seite.

Herbert küsste sie zärtlich auf die Wange und ging zur Tür. Er entschied sich dagegen, das Licht zu löschen. Seine Frau hasste die Dunkelheit. Selbst nachts hatte sie die Tür ihres gemeinsamen Schlafzimmers meist einen Spalt offengelassen, wegen der Gangbeleuchtung.

Er ging an den Türen weiterer Schlafräume vorbei, die bereits seit Jahren verwaist waren. Nach einem guten Dutzend Meter gabelte sich der Weg. Herbert passierte den Zugang zum Mannschaftsraum mit der integrierten Küche, dann die Sanitäranlagen und die kleinen Büroräume. Nach etwa fünfzig Schritten erreichte er eine Tür, neben der in weißen, vergilbten Lettern das Wort »LAGER« mit einer Schablone aufgesprüht war. Die Tür klemmte wieder einmal, womöglich wegen der Kälte, und er trat dagegen, damit sie aufging.

Lange Reihen von Regalen waren hier aufgestellt, die meisten von ihnen mittlerweile leer. Flackernde Neonröhren tauchten den Raum in ein gespenstisches Licht. Herbert durchwühlte drei Schränke, und erst nach vielen Minuten fand er, wonach er gesucht hatte. Er griff die braune Decke und verließ das Lager. Auf dem Rückweg kam er an der kleinen Krankenstation vorbei und zögerte. Die meisten Medikamentenschränke waren inzwischen leer, aber vielleicht fand er doch noch etwas, was seiner Frau helfen konnte.

Die Neonleuchten sprangen flackernd an. In der Mitte des Raumes befand sich ein Operationstisch neben einigen Rollcontainern mit medizinischen Instrumenten. An der hinteren Wand standen ein Schreibtisch und die Medikamentenschränke. Herbert durchwühlte die Packungen mit Tabletten und Ampullen, deren Haltbarkeitsdatum schon vor vielen Jahren abgelaufen war. Die meisten Bezeichnungen sagten ihm nichts. Er war kein Arzt und hatte keine Ahnung, was wirklich helfen konnte. Aber vielleicht fand er etwas, um die Schmerzen zu lindern.

Im zweiten Schrank entdeckte er in einer Büchse einige Ampullen mit Morphium, aber er wusste nicht, wie man sie anwendete. Eine Beschreibung war nicht dabei. Wenn Erikas Schmerzen stärker wurden, würde er es mit einer kleinen Dosis versuchen. Herbert steckte zwei der Ampullen und zwei Spritzen in die Tasche seines Parkas, durchsuchte auch noch den dritten Schrank, fand aber nichts Nützliches. Er ging den grauen Gang zurück zum Unterkunftsbereich. Als er Erikas Zimmer betrat, war es ruhig. Vielleicht war sie eingeschlafen. Herbert fühlte sich erleichtert. Dann konnte er sich auch etwas ausruhen. Er trat vor das Bett und wollte die zusätzliche Decke über den Körper seiner Frau legen, als er stutzte. Erikas Gesichtszüge hatten sich entspannt, obwohl sie zuletzt selbst im Schlaf gestöhnt hatte. Erst jetzt sah er, dass ihre Augen halb geöffnet und trüb waren.

Herbert ließ die Decke fallen, ein Schrei entrang seiner Kehle. Er ging in die Knie und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Es war merkwürdig kühl. »Wach auf!«, schrie er.

Keine Reaktion. Seine Frau war tot.

Er sackte über ihrer Brust zusammen und begann, bitterlich zu weinen. Seine Hände verkrampften sich in der Bettdecke.

4.

 

»Scheiße, blöde!« Das Dauerpiepen und der Blick in die Rückfahrkamera machten Christoph unmissverständlich klar, dass die Parklücke für seinen SUV einfach zu klein war. Da nützte auch die ganze Technik nichts. Resigniert legte er den ersten Gang ein, gab vorsichtig Gas und manövrierte zurück auf die Straße.

Er hatte weder eine Garage noch einen festen Stellplatz an seinem Haus und mit der angespannten Parksituation in seinem Stadtteil von Wiesbaden würde ihn wohl ein längerer Fußmarsch von seinem Auto bis zur Haustür erwarten. Während er durch die kleinen Straßen lenkte und verzweifelt nach einem Parkplatz Ausschau hielt, ärgerte er sich, dass er den Kauf eines neuen Wagens so lange aufgeschoben hatte. Aber er mochte sein geräumiges Auto, den hohen Sitz mit dem guten Überblick. Er musste an den letzten Urlaub mit Elena denken, bei dem sie mit genau diesem Wagen die malerischen Straßen oberhalb des Gardasees entlanggefahren waren, auf der Suche nach einem versteckten, romantischen Restaurant. Sie hatten es schließlich gefunden, mit einer fantastischen Aussicht auf den See. Zwei Kerzen vor ihnen auf dem Tisch und ein schmackhafter trockener Rotwein – es war das letzte Mal gewesen, dass sie zusammen auswärts gegessen hatten. Jetzt war Elena tot. Einen weiteren gemeinsamen Urlaub würde es nicht mehr geben und der verdammte SUV war für ihn allein viel zu groß!

Endlich hatte er einen Parkplatz gefunden, der breit genug war. Er parkte und machte sich zu Fuß auf den Weg zu seinem Haus einige Straßen weiter.

Als der Nieselregen in ein beständiges Tröpfeln überging, zog Christoph sich die Kapuze über den Kopf. Das graue Wetter und der Temperatursturz kündigten den nahen Winter an. Bis Ende Oktober war es noch sehr warm gewesen.

Das weiße Architektenhaus tauchte hinter der nächsten Kurve auf und er fingerte in seiner Jackentasche nach dem Haustürschlüssel. Das Gebäude schmiegte sich malerisch an die ersten Ausläufer des Taunus. Elena hatte gegenüber ihren Freunden immer davon geschwärmt, dass in ihrem Garten die Tiefebene des Rhein-Main-Gebietes endete und das Mittelgebirge begann. Nun war der Garten, den seine Frau so liebevoll gepflegt hatte, mit Unkraut überwuchert. Und genauso wie der Wagen war auch das Haus viel zu groß für ihn allein.

Christoph trat ein. Seine schwarze Funktionsjacke warf er über den Stuhl in der Diele. Im Wohnzimmer angekommen, legte er das Jackett sorgfältig über die Lehne der Couch. Es durfte nicht knittern. Er würde es morgen noch brauchen, wenn die nächste Runde der Anhörung anstand.

Er ging in die Küche und holte sich eine Flasche mit Bionade. Im Wohnzimmer ließ sich Christoph in einen der beiden weißen Ledersessel fallen. Die ganze Woche schon hatte er sich durch Gespräche mit Sachbearbeitern der BFU gequält. Die Untersuchung des Vorfalls vor drei Wochen war in vollem Gange. Die Mitarbeiter der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen waren höflich, sachlich und professionell, aber es entging Christoph nicht, dass sie seine Aussagen systematisch nach Schwachstellen abklopften, um herauszufinden, ob ihn eine Mitschuld an der Sache traf. In den Medien war der Fall ziemlich hochgejubelt worden, nachdem eine prominente Schlagersängerin, die offenbar in der Businessclass mit an Bord gewesen war, keine Gelegenheit ausließ, in der Boulevardpresse über ihre »Nahtoderfahrung« zu sprechen. Christoph hatte von der Frau noch nie etwas gehört, aber er stand auch mehr auf Blues.

Dabei hätten er und sein Erster Offizier gut und gerne als Helden gefeiert werden können, die die Maschine nach einer Notlage wieder sicher auf den Boden gebracht hatten. Aber der alte Mann war gestorben und nun suchte man nach den Verantwortlichen. Seine Vorgesetzten hatten Christoph für die Dauer der Untersuchungen aus dem aktiven Flugdienst entfernt und er fühlte sich nutzlos und ausgeschlossen.

Christoph nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und schloss die Augen. Es war ruhig in seinem Haus. Viel zu ruhig. Als Elena noch gelebt hatte, war stets im Hintergrund Musik aus der Stereoanlage erklungen. Seine Frau hatte klassische Musik gemocht, und eine beachtliche Sammlung an CDs ruhte nun unangetastet in dem schwarzen Regal neben dem Fernseher. Das Fehlen von Musik machte Christoph schmerzlich bewusst, dass er allein war. Sicher, er hätte nur zu dem Regal herüberzugehen, ein Album herauszugreifen und in den Player einzulegen brauchen, aber es kam ihm nicht richtig vor. Es war Elenas Musik gewesen und nicht seine, und wäre reiner Selbstbetrug.

Er leerte die Flasche, nahm das Telefon und wählte die Nummer seines Sohnes. In den vergangenen Tagen hatte es Christoph mehrmals probiert, ohne dass jemand dran gegangen war, und auf dem Anrufbeantworter um Rückruf gebeten, aber das Telefon war stumm geblieben. Obwohl er eigentlich nichts anderes erwartet hatte.

»Wilder«, schallte eine helle Frauenstimme aus dem Hörer.

Na, immerhin.

»Hallo Andrea.« Christoph versuchte, freundlich zu klingen, trotz allem, was zwischen ihm und seiner Schwiegertochter stand. »Hier ist Christoph. Wie geht es euch?«

Es blieb einen Augenblick stumm und er befürchtete schon, dass sie einfach auflegen würde.

»Hallo.« Andrea bemühte sich im Gegensatz zu ihm nicht um einen freundlichen Tonfall. »Es geht uns gut.«

»Wie geht es Paul?« Schmerzlich wurde Christoph wieder einmal bewusst, dass er seinen Enkel seit fast einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatte. Und das war nur die dritte Begegnung überhaupt mit dem zweijährigen Paul gewesen.

»Auch gut«, antwortete Andrea knapp. »Was willst du, Christoph?«

Er atmete tief durch. Smalltalk mit Andrea machte einfach keinen Sinn. Wahrscheinlich würde sich das niemals mehr ändern. Und das war seine Schuld. Seine ganz allein. »Ist Michael zu Hause?«

»Ja. Ich frage ihn, ob er Zeit für dich hat.«

Während er wartete, hörte Christoph Kinderlachen im Hintergrund. Sein Enkel! So sehr wünschte er sich, Michael würde ihn einfach einladen, vorbeizukommen und den Kleinen zu besuchen. Er stellte sich vor, wie er sich sofort ins Auto setzte und die Autobahn nach Heidelberg herunter raste. Wie er Paul hochhob, fest an sich drückte und durch seine wuscheligen blonden Haare fuhr. Er würde ihm ein großes Spielzeugflugzeug kaufen und im Garten mit ihm spielen.

»Was willst du?« Die Stimme seines Sohnes riss Christoph aus seinen Wunschträumen. Die Feindseligkeit war nicht zu überhören. Christoph konnte wohl froh sein, dass sein Sohn überhaupt ans Telefon gekommen war.

»Ich ... ich wollte nur mal hören, wie es euch geht.«

»Wir können nicht klagen.«

»Wie läuft es auf der Arbeit?«

»Läuft alles bestens.«

Christoph wusste, dass das eine glatte Lüge war. Es lief niemals bestens bei Michael und seinen Jobs. »Freut mich zu hören. Habt ihr das Paket bekommen, das ich euch geschickt habe? Hat Paul das Buch gefallen?«

»Wir haben es erst mal ins Regal gestellt, bis er etwas älter ist.«

Christoph biss sich auf die Lippe. Was sollte das denn? Er hatte ihm ein Bilderbuch geschenkt! Es gab kein Mindestalter für dieses Buch. Er schluckte den Kommentar herunter, der ihm auf der Zunge lag. »Ich dachte, ich könnte euch bei Gelegenheit nochmal besuchen«, sagte er leise.

Michael suchte nicht lange nach Ausreden. »Weißt du, wir haben im Moment sehr viel um die Ohren. Ich melde mich bei dir, wenn es mal besser passt.« Christoph wusste, dass er darauf bis zum Sankt-Nimmerleinstag warten würde. »Du bist ja im Moment auch sehr beschäftigt, nehme ich an«, schob sein Sohn nach.

»Was meinst du?«

»Läuft da nicht im Moment diese Untersuchung?«

»Woher weißt du davon?« Er hatte sich seit der Notlandung nicht mehr mit Michael unterhalten.

»Ich bitte dich, Christoph. In der Blitz steht fast jeden Tag etwas über den Unglücksflug.«

Christoph verzog die Mundwinkel. Offenbar las sein Sohn immer noch dieses fürchterliche Blatt. »Glaub nicht alles, was du in der Boulevardpresse liest. Wir haben unser Bestes gegeben und die Maschine sicher wieder auf den Boden bekommen.«

»Immerhin ist ein Mann dabei gestorben.«

»Dafür kann ich nichts.« Das war zumindest die Meinung der Mediziner. Wie sich gezeigt hatte, war das Herz von Herrn Prandtl durch eine Infektion geschwächt gewesen. Die Aufregung an Bord während der Notsituation hatte das Organ zu stark belastet. Der Wiederbelebungsversuch durch den Arzt war von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.

»So, wie du für den Tod von Mama nichts kannst?«

Christophs Puls stieg. Wie oft hatte er sich das jetzt anhören müssen? »Es war ein Unfall!«, sagte er mit deutlich erhöhter Lautstärke.

»Du bist gefahren!«

Ja, dachte Christoph. Er hatte den verdammten Laster nicht gesehen! Reichte es nicht, dass er sich selbst das jeden einzelnen Tag vorwarf? Wie lange sollte das noch so weitergehen? »Ich sage dir ...« Christoph stoppte mitten im Satz. Es hatte keinen Sinn. Jedes Gespräch mit seinem Sohn seit Elenas Tod lief exakt nach dem gleichen Strickmuster ab, wie eine endlos springende Schallplatte. Es würde ein heftiger Wortwechsel folgen, dann würden sie sich gegenseitig anschreien und dann würde Michael einfach auflegen. Es hatte keinen Sinn. »Mach’s gut, Michael«, sagte er leise und beendete das Gespräch.

Das Verhältnis zu der Familie seines Sohnes war schon immer schwierig gewesen. Elena hatte es irgendwie geschafft, trotzdem eine freundliche Verbindung aufrecht zu erhalten. Aber seit sie bei dem verdammten Unfall gestorben war und Michael ihm die Schuld an ihrem Tod gab, herrschte zwischen ihnen Eiszeit.

Christoph trug das Telefon wieder zur Kommode und stellte es in die Basisstation. Erst jetzt bemerkte er, dass der altertümliche Anrufbeantworter eine Nachricht aufgezeichnet hatte. Er drückte auf eine Taste und spielte sie ab.

»Prandtl hier.« Er erkannte sofort die Stimme wieder. Sie hatte sich bei dem Gespräch nach der Notlandung in sein Gedächtnis eingebrannt. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen und möchte Sie zu mir nach Hause einladen.« Es folgte eine Adresse in Siegburg bei Bonn. »Kommen Sie einfach vorbei, wenn Sie Zeit haben. Ich bin eigentlich immer daheim. Vielen Dank.«

Christoph holte sich eine weitere Flasche aus dem Kühlschrank und setzte sich wieder in den Sessel. Er hatte auf die Beerdigung des alten Mannes gehen wollen, aber sein Anwalt und der juristische Berater seiner Fluggesellschaft hatten ihm davon abgeraten. Er hatte der Frau einen Brief schreiben wollen, um ihr nochmals sein Bedauern über den Tod ihres Mannes auszudrücken, aber auch davon hatte man ihn abgehalten. Gerade da man ihm nach den bisherigen Erkenntnissen keine Schuld geben konnte, schien es ihm schäbig und unanständig, sich von der Frau fernzuhalten. Er war immerhin der verantwortliche Flugzeugführer gewesen. Wenigstens hatte die Fluggesellschaft sich gut um die Witwe gekümmert, Christoph hatte firmenintern immer wieder nachgehakt, dass die Frau die bestmögliche Hilfe bekam. Er beschloss, die Einladung anzunehmen. Seinen Anwalt würde er erst gar nicht fragen. Und wenn man ihm bei der Untersuchung oder bei einem eventuellen Gerichtsverfahren einen Strick daraus drehen wollte, bei Gott, dann war es halt so.

5.

 

Herbert legte einige frisch gepflückte Wildblumen auf das Grab, direkt vor das Holzkreuz, das er aus übriggebliebenen Brettern aus der Werkstatt des Bunkers gefertigt hatte. Nur den Vornamen seiner Frau hatte er eingraviert. Keine Jahreszahlen, keine Widmung. Abgesehen von ihm würde wahrscheinlich niemand mehr vor diesem Grab stehen.

Er rückte die Blumen ein wenig zurecht und strich, Tränen in den Augen, zärtlich über die raue Oberfläche des Kreuzes. Dann richtete er sich schwerfällig auf und trat einige Schritte zurück. Der Mutterboden, mit dem er das Grab zugeschüttet hatte, ragte deutlich als Haufen in die Höhe, aber mit den nächsten Regenfällen würde die Erde in sich zusammenfallen. Am Ende blieb eine ebene Fläche übrig, die schließlich mit Gras zuwuchs, wie bei den anderen zehn Gräbern daneben auch.

Herbert schloss die Augen und murmelte ein stilles Gebet. Im Laufe der Jahre hatte er seinen Glauben nicht verloren, trotz des schwierigen und trostlosen Lebens, das sie Jahrzehnte lang geführt hatten. Er weigerte sich, zu glauben, dass es in dieser Hölle, die sie hier auf Erden selbst geschaffen hatten, keine Hoffnung auf eine bessere Existenz in einem Leben nach dem Tode gab.

Das Gluckern des Bachlaufes in der Nähe war deutlich zu hören. Herbert öffnete die Augen und blickte auf die Ruinen des alten Klosters, die malerisch zwischen den Bäumen und Sträuchern des Tales in die Höhe ragten. Einige Vögel zwitscherten in den Gehölzen. An diesem Ort herrschte eine friedliche, fast schon romantische Atmosphäre. Es gab schlechtere Stellen für eine letzte Ruhestätte. Herbert dachte mit Bedauern daran, dass nun niemand mehr da war, der ihn bestatten würde, wenn der Zeitpunkt seines Todes an einem nicht allzufernen Tag gekommen war. Das Alter machte auch ihm inzwischen deutlich zu schaffen. Dazu kam, dass kaum noch etwas zu essen im Lager war und sie schon seit Wochen die kümmerlichen Reste rationiert hatten. Es hatte Herberts ganzer Kraft bedurft, das Grab auszuheben, den Leichnam seiner Frau hineinzulegen und das Loch wieder zu füllen. Nun fühlte er sich müde und ausgelaugt.

Kraftlos schlurfte er durch die verwaisten Anlagen der Klosterruine, vorbei an dem ehemaligen Gästehaus, dessen Dach schon vor Ewigkeiten eingestürzt war, weil niemand da war, um es instand zu halten. Am Ende des Geländes trat Herbert auf die von tiefen Rissen durchzogene Straße und bog nach links in Richtung Bunker ab. Während er auf den Tunneleingang zumarschierte, überlegte er, wie es jetzt für ihn weiterging. Auf jeden Fall musste er sich bald auf die Suche nach Essen machen. Er konnte sich den letzten funktionierenden Jeep schnappen und die Ruinen der nahegelegenen Ortschaften abklappern. Aber eigentlich war das sinnlos. Schon in den vergangenen Jahrzehnten hatten sie dort alles Verwertbare geborgen. Nein, diesmal musste er sich weiter von Zuhause entfernen.

Bei diesen Worten lachte er verzweifelt auf. Es gab mal eine Zeit, da hätte er sich geweigert, den dunklen, kalten und muffigen Bunker als Zuhause zu bezeichnen, aber mit den Jahrzehnten hatten sie sich daran gewöhnt. Es gab ja auch keine Alternative. Diejenigen ihrer alten Freunde, die versucht hatten, ein Leben außerhalb des Bunkers zu führen, waren alle tot oder verschollen.

Herbert hatte die schwere Stahltür erreicht, die in den Berg führte. Er stoppte davor und drehte sich herum. Die Sonne stand hoch am Himmel und strahlte eine herrliche Wärme aus. Das Wetter an diesem Herbsttag war so freundlich, dass er sich am liebsten eine Decke geholt und sich in das wilde Gras neben dem Bachlauf gelegt hätte. Aber es war nicht klug, zu lange draußen zu sein. Selbst jetzt, so viele Jahre nach der Katastrophe war hier immer noch alles giftig.

Andererseits, machte es für ihn denn noch etwas aus? Seine Lebensuhr lief langsam, aber sicher ab und es gab niemanden mehr, der im Bunker auf ihn wartete.

Herbert zuckte mit den Schultern und setzte sich ins Gras neben der Straße. Wenigstens ein halbes Stündchen!

6.

 

Das Taxi hielt im Siegburger Stadtteil Wolsdorf vor einem Bungalow, der aus den Siebzigern oder frühen Achtzigern stammen mochte. Im Gegensatz zu vielen vergleichbaren Häusern, die Christoph aus Wiesbaden kannte, war dieser offenbar sorgsam gepflegt und regelmäßig saniert worden. Die leuchtend weiße Fassade musste vor Kurzem frisch gestrichen worden sein. Christoph bezahlte den Taxifahrer und stieg aus. Seinen Wagen hatte er am Frankfurter Flughafen gelassen. Nach einem weiteren langen Tag mit Anhörungen war er zu Fuß zum Fernbahnhof gegangen und mit dem Zug nach Siegburg gefahren. Die Fahrt dauerte gerade mal vierzig Minuten.

Ein kurzer, gepflasterter Weg führte vom Bürgersteig zum Hauseingang. Christoph nahm schwach das Rauschen schnell fahrender Autos wahr, das von der in der Nähe liegenden A3 herrührte. Er passierte einige sorgsam gestutzte Buchsbäume in tönernen Kübeln, stieg eine schmale Treppe hinauf und stand dann vor der Eingangstür. Ein Namensschild gab es nicht, daher warf er noch einmal einen kurzen Blick auf die Hausnummer. Sie stimmte mit der Adresse überein, die Frau Prandtl ihm gegeben hatte.

Er streckte den Finger aus, zögerte aber kurz vor dem Klingelknopf. Er hatte keine genaue Ahnung, warum Frau Prandtl ihn zu sprechen wünschte, ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter war neutral gewesen. Es konnte sein, dass sie sich mit Christoph aussprechen wollte, aber es war genausogut möglich, dass sie ihn erneut für den Tod ihres Mannes verantwortlich machen würde. Aber ganz gleich, was ihre Intention war, er hatte das Bedürfnis, mit ihr zu reden und noch einmal sein Bedauern zum Ausdruck zu bringen. Er hatte schon im Zug darüber nachgedacht, warum ihm eine Aussprache so wichtig war. Wollte er sich eine Absolution holen, um die Sache innerlich abzuhaken? Vielleicht war das Gespräch mit Frau Prandtl für ihn so etwas wie ein Ersatz für eine Aussprache mit seinem Sohn nach Elenas Tod.

Christoph erinnerte sich an die Warnung seines Anwaltes, nicht mit Frau Prandtl Kontakt aufzunehmen, aber er war jetzt nun einmal hier. Er atmete tief durch und drückte auf die Klingel. Ein vornehmes Bimbam drang an sein Ohr und schon nach wenigen Momenten blickte er in das überraschte Gesicht von Frau Prandtl. Ihre Gesichtszüge entspannten sich und dann lächelte sie schwach, bevor sie die Haustür ganz öffnete.

»Ich habe nicht mit Ihrem Kommen gerechnet, Herr Wilder.« Sie machte eine einladende Bewegung. »Nur herein.«

»Vielen Dank. Sehr gern.« Er trat in einen hellen Korridor. Als Frau Prandtl die Tür geschlossen hatte, reichte er ihr den Strauß Blumen, den er in Siegburg am Bahnhof in einem kleinen Laden gekauft hatte. »Ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung«, sagte er steifer als beabsichtigt.

Frau Prandtl nahm ihm den Strauß ab, entfernte das Papier und stellte ihn mit einer routinierten Handbewegung in eine Vase, die auf einer Kommode extra für den Zweck bereitzustehen schien. Diese Frau musste in ihrem Leben schon so einige Blumen entgegengenommen haben. »Vielen Dank. Die gefallen mir. Bei Katrins Blumenecke haben sie sehr schöne Blumen.«

»Woher wissen Sie ...?« Das Papier war neutral. Es hätte aus jedem Blumenladen sein können.

Frau Prandtl lachte. »Mein Mann hatte Freunde und Partner aus ganz Deutschland, die uns regelmäßig besuchen kamen. Praktisch alle, die mit dem Zug in Siegburg eintrafen, haben bei Katrins Blumenecke eingekauft. Mit der Zeit entwickelt man ein Auge dafür. Kommen Sie mit, wir gehen ins Esszimmer.«

Christoph folgte Frau Prandtl in einen hellen Raum. Der Boden war hellgrau gefliest. Ein großer, teuer aussehender Holztisch mit zehn dazu passenden Stühlen stand in der Mitte. Die Prandtls schienen es gewohnt gewesen zu sein, in größerer Gesellschaft zu speisen. Die Sonne fiel durch eine Glasfront in das Esszimmer, das nahtlos in ein geräumiges Wohnzimmer überging. Weiße Gardinen mit Spitzen, die Christoph etwas antiquiert vorkamen, hingen an den Fenstern.

»Bitte, nehmen Sie Platz. Kaffee?«

Christoph nickte. »Sehr gern. Danke.«

Frau Prandtl verschwand durch einen Durchgang. Christoph ließ sich auf einem Stuhl nieder. Er hörte das Pumpen und Zischen eines Kapselkaffeeautomaten und kurze Zeit später erschien seine Gastgeberin mit einem Tablett in den Händen. Sie servierte Christoph und sich selbst Kaffee in silbernen Tassen. Dann stellte sie Milch und Zucker sowie einen Teller mit Plätzchen auf den Tisch.

»Ich hatte nicht damit gerechnet, von Ihnen zu hören. Ich dachte, dass Ihre Anwälte von einer Kontaktaufnahme abraten.«

Christoph nickte. »So ist es auch.«

»Und trotzdem haben Sie sich dazu entschieden, mir einen Besuch abzustatten.«

»Ja, ich hatte die ganze Zeit über das Bedürfnis, mit Ihnen zu sprechen.«

»Warum, Herr Wilder?«

Christoph zögerte. Er sah im Geist seinen Anwalt den Kopf schütteln. Jedes Entgegenkommen, jedes offene Wort, konnte vor Gericht als Schuldeingeständnis gewertet werden. Aber Christoph glaubte nicht, dass dies der Zweck dieser Einladung gewesen war. Nein, er würde hier nicht den Diplomaten geben. Er war hier, um offen mit der Frau zu sprechen. »Weil ich mich für den Tod Ihres Mannes verantwortlich fühle. Damit meine ich nicht schuldig! Aber verantwortlich in dem Sinne, dass ich in jener Nacht für das Flugzeug und seine Insassen verantwortlich war. Wir haben unser Möglichstes gegeben, die Maschine trotz aller Probleme wieder sicher auf den Boden zu bringen, und das ist uns auch gelungen. Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas anders oder besser hätten machen können. Trotzdem ist Ihr Mann bei diesem Flug gestorben. Und das tut mir leid. Sie können sich nicht vorstellen, wie leid mir das tut. Es ging mir darum, Ihnen das noch einmal zu sagen.«

Die alte Dame schaute ihm lange in die Augen und nickte dann. »Ich weiß, dass Sie alles getan haben, um das Flugzeug heil zu landen, und wahrscheinlich haben Sie und Ihr Kollege im Cockpit die Passagiere vor dem Tod bewahrt.« Sie zögerte. »Ich habe Sie aus einem ganz bestimmten Grund eingeladen. Ich möchte mich entschuldigen für das, was ich nach der Landung zu Ihnen gesagt habe.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752127096
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Deutschland Abenteuer Weltkrieg Flugzeug Zeitreise Science Fiction Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Phillip P. Peterson (Autor:in)

Phillip P. Peterson arbeitete als Ingenieur an zukünftigen Trägerraketenkonzepten und im Management von Satellitenprogrammen. "Transport" war sein erster Roman, der zum Bestseller wurde. Mit "Paradox" gelang ihm schließlich ein Astronautenthriller, der 2015 den Kindle Storyteller-Award gewann und 2016 den 3. Platz des deutschen Science-Fiction-Preises erlangte. Zu seinen literarischen Vorbildern gehören die Hard-SF-Autoren Stephen Baxter, Arthur C. Clarke und Larry Niven.
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Titel: Flug 39