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Eine ungewöhnliche Reise

von Arnold Nirgends (Autor:in)
135 Seiten
Reihe: Arca-Nihil, Archon, Band 1

Zusammenfassung

Igor, der Privatdetektiv, ist in der krisengeschüttelten Ostukraine unterwegs, um einen Auftrag auszuführen. Dabei stößt er auf eine Gruppe ungewöhnlicher Menschen und begibt sich auf die abenteuerlichste Reise seines Lebens. Mit diesem Roman startet eine Serie fantastischer Abenteuer im Arca-Nihil Universum.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Igor - Kontrollposten

Igor war ein bulliger Typ. Deshalb wurde er auch extra gründlich gefilzt als er die Straßensperre der sogenannten „Separatisten“ nahe Mariupol passieren wollte. Die Separatisten glaubten ihm entweder nicht, dass er nur Reporter einer russischen Lokalzeitung sei, oder sie machten sich einen Spaß daraus, ihn glauben zu lassen, dass sie ihm das nicht glaubten. Jedenfalls hatten sie die compact Flash Speicherkarte seiner alten Digitalkamera komplett gelöscht und ihm die letzte der Stangen Zigaretten, die er vorher zuhauf mit sich geführt hatte, als ‚Zoll‘ abgeknöpft. Die Pistole durfte er behalten, weil „sowas braucht man hier“, wie der Kommandant der Straßensperre meinte.

Das Ziel von Igor war eine Buk-Raketenstellung – vermutlich jene, von der aus die meisten ukrainischen Kampfjets abgeschossen wurden. Es gab dort einen Iwan Ignotsik, den wollte er interviewen und ein Foto von ihm machen. Es ging ihm weniger um den Krieg hier, als um eine reiche russische Witwe, die den Beweis dafür wollte, dass ihr Liebhaber – Iwan Ignotsik - wirklich im Kriegsgebiet war, und nicht, wie von anderer Stelle behauptet, ein Doppelleben führte. Igor war Privatdetektiv und er war gut – aber nur wenn er wollte. Leider war er auch ein wenig faul. Darum freute er sich jetzt umso mehr, dass diese russische Witwe viel Geld zahlte – leicht verdientes Geld, wenn man nur den Mut hatte, in ein Kriegsgebiet zu fahren. Und Igor war zwar faul, aber nicht feige.

Also winkte er den Separatisten beim Kontrollpunkt noch mal im Rückspiegel zu und gab Gas, um schnell wegzukommen. Mariupol würde er nicht mehr bis zum Abend erreichen, aber auch in der Nacht würde sich ein Hotel finden. Und dann ginge es zur Buk-Raketenstellung weiter.

Igor - Metallurge

„Russe, heh?“ Die Frage war wohl nicht freundlich gemeint. Igor erreichte kurz vor Mitternacht Mariupol am Asowschen Meer. Eine alte Hafenstadt, erbaut von den Griechen und immer noch mit einer griechischen Minderheit, die aber inzwischen auch eher Russisch und Ukrainisch sprach.

So viel hatte Igor noch in Moskau gegoogelt und auch, dass die Statue ‚Metallurge‘ ein Wahrzeichen der Stadt sei. Als er nun hier bei der Statue ankam und die drei Herren am Straßenrand angesprochen hatte, war seine Erwartung, oder besser gesagt seine Hoffnung eigentlich gewesen, den Weg zum Park Hotel zu erfahren.

Aber nein, der Stämmigere, glattrasiert und kahlköpfig, mit der Brechstange in der Hand, hatte eher rüpelhaft nach seiner Nationalität gefragt.

Das genuschelte „Warum sollte ich? Ich doch nicht.“ überzeugte den Glattrasierten wohl nicht und er kam näher.

„Siehst aber wie einer aus.“, klang nicht gut.

Und: „Warum fragt so einer nach dem feeeeinen Park Hotel?“

„Will wohl baden gehen, heh?“

Igor machte sich ein wenig Sorgen und stotterte ein paar beschwichtigende Dinge wie „Ich kann doch gar nicht schwimmen“ (was gelogen war) oder „Seid lieb und ich zahl euch auch einen Wodka.“

Er erkannte nun, dass er die falsche Verhandlungstaktik gewählt hatte, da der Bursche mit der Narbe auf seine Motorhaube sprang und von dort auf die Windschutzscheibe spuckte. Der dritte, unauffälligere Typ zog bedächtig ein Klappmesser aus der recht modischen und sauberen Hose.

Die brauchen das einfach, dachte Igor bei sich, fasste aber trotz der bedenklichen Situation Mut, weil er etwa 50 Meter entfernt eine Polizeistreife im Schatten eines Alleebaumes stehen sah. Wenn ich sie auf die Lage aufmerksam mache, kommen sie her und diese drei Halbwüchsigen verschwinden! So setzte Igor seine Gedanken fort.

Er war wohl ein wenig zu viel in Gedanken über seine baldige Rettung versunken, weil ihn das metallische Scheppern überraschte. Der ‚Glatzkopf‘, wie er ihn für sich im Geiste nannte, hatte, während Igor nach rechts, Richtung Polizeiauto geschaut hatte die Brechstange angehoben und damit mächtig auf die Kühlerhaube geschlagen. Für die Macht des Aufpralls und das laute Krachen war die Beule gar nicht so groß. Gute alte Qualitätsautos, dachte Igor. Ein neues Auto hätte da Plastik und das wäre sicher zersprungen. Der Glatzkopf schaffte noch drei weitere Hiebe mit seinem Schlagwerkzeug, dann war Igor aus dem Auto raus und schrie aus Leibeskräften. Er schrie so laut, dass es den Dreien in den Ohren rauschen musste. Sie waren derart überrascht und erschrocken, dass sie ihre Beine in die Hand nahmen und davonliefen. Davonliefen, verfolgt von einem aus voller Kehle schreienden Igor mit vor Anstrengung feuerrotem Kopf.

Nach etwa 200 Meter Flucht besannen sich die Drei, dass sie in der Überzahl waren und stoppten ihren Lauf. Sie drehten sich um, einer die Brechstange locker in einer Hand haltend, damit auf die andere Hand leicht schlagend, der Andere, Elegantere ein Messer in der Hand haltend und der Dritte, mit der Narbe frech grinsend. Das Grinsen verging ihnen schlagartig. Die drei blieben wie auf Kommando ganz ruhig stehen, auf die Mündung einer gut geölten Glock starrend, welche Igor gekonnt in der einen ausgestreckten Hand vor sich hielt, mit der anderen Hand gestützt und ungefähr auf die Drei vor ihm gerichtet.

„Nur weil ich vielleicht ein Russe bin, müssen wir nicht gleich streiten“ meinte Igor deeskalierend. „Dieser ganze Konflikt um den Donbass ist mir sehr unangenehm und ich finde, Grenzen muss man einhalten. Da bin ich ganz bei euch.“

Nachdem seine Kontrahenten auch nach diesen beruhigenden Sätzen keine Anstalten machten, zum Fortgang des Dialogs beizutragen, fragte Igor sie, wo denn nun das Park Hotel sei. Er bekam vom Vernarbten eine gute Auskunft und ließ sie dann von Dannen ziehen.

„Eine gute Ausbildung ist das Wichtigste im Leben!“, rief Igor ihnen noch gutmeinend nach und ging sehr, sehr erleichtert zurück zu seinem Auto.

Dort standen mittlerweile zwei Polizisten. Einer von Ihnen steckte gerade einen Zettel hinter den rechten Scheibenwischer. Der Andere rauchte gemütlich eine Zigarette.

„Ist das ihr Auto?“, fragte der rauchende Polizist gelangweilt.

„Ja, ich wurde hier gerade von drei Halbwüchsigen überfallen. Sie haben meine Motorhaube…“ antwortete Igor, wurde aber von dem zettelsteckenden Polizisten unterbrochen.

„Wir wollen keine Lebensgeschichten hören. Wir sind im Dienst und in dieser unruhigen Zeit sehr beschäftigt.“ wurde er zurechtgewiesen.

„Ausweis, Papiere, Visum, und so weiter“ herrschte ihn der Exekutivbeamte weiter an.

„Der Strafzettel ist übrigens wegen unerlaubten Parken im Kreisverkehr“

„Aber ich…“, wollte Igor anfangen, wurde aber abermals unterbrochen und aufgefordert sich endlich auszuweisen.

„Hm, aus Moskau. Reporter, soso. Und eingeladen von der jüdischen Vereinigung für Meeresbiologie, wo er Freunde hat. Interessant.“

Igor versuchte alles zu erklären und darzulegen, dass er rein beruflich hier sei und es keinen Anlass gäbe, an seiner Rechtschaffenheit zu zweifeln. Während er auf diese Art die Polizisten immer mehr zu langweilen schien, fiel ihm nebenbei ein, dass sie, falls sie es bemerkt hatten, mit keinem Wort seine Waffe erwähnten. War es schon so schlimm, dass sogar die Polizei davon ausging, dass hier sowieso jeder bewaffnet sei?

„Da werden wir wohl mal aufs Revier müssen. Das kann schon ein paar Tage dauern, bis das vom Polizeipräsidium abgezeichnet ist.“

Jetzt dämmerte es Igor. Wie dumm von ihm.

„Kann es sein, dass ich vor ein paar Jahren mal mit ihrem Vater zu tun hatte?“, fragte Igor und setzt fort mit „Wie geht es ihm und der Familie so?“.

„Naja, war schon besser.“, antwortete der Polizist. „Mutter muss Medikamente nehmen und die sind echt teuer. Der Arzt verlangt 1300 Griwna für eine Packung und die reicht nicht mal drei Wochen. Wie soll man das denn bezahlen?“

„Ach, das ist aber wirklich schlimm. Wie kann man nur braven Bürgern so viel Geld für lebensnotwendige Medikamente abknöpfen? Das ist ja fast schon Erpressung.“ Igor redete sich richtig in Rage.

„Wissen sie was – ihr Vater war so ein guter Kamerad und Freund. Hier sind 5000, nein, hier sind 8000 Griwna. Kaufen Sie ihrer lieben Mutter ganz viel von dieser Medizin und richten sie ihrem Vater doch bitte alles Gute von mir aus.“

Igor nahm acht große Scheine aus seiner linken Innentasche und gab sie dem Polizisten, mit dem er gesprochen hatte. Beide Polizisten nickten freundlich, verabschiedeten sich mit netten Worten und wünschten noch einen guten Aufenthalt in Mariupol.

Igor setzte sich ins Auto, startete den Motor und fuhr ein Liedchen pfeifend die dritte Ausfahrt vom Kreisverkehr ab, Richtung Park Hotel, sich selbst im Geiste lobend, dass er die Bestechungssumme so gut geschätzt hatte und nicht gar zu viel ausgegeben hatte.

Igor - Karaoke Bar

Er traute seinen Augen nicht. Iwan fläzte da ganz gemütlich auf einer Ledercouch in der Karaoke Bar des Park Hotels und sah gelangweilt einer dem ersten Anschein nach deutschstämmigen jungen Dame zu, wie diese eine recht eigenwillige Interpretation von „Atemlos“ von Helene Fischer zum Besten gab.

Das Hotel insgesamt war recht gut ausgebucht, was auf die niedrigen Preise (sieben Tage für lediglich umgerechnet 130 Euro – es wurden nur Dollar oder Euro akzeptiert) zurückzuführen war. Nachdem Mariupol sehr nahe am Krisengebiet lag, waren diese Preise nicht überraschend. Überraschend war eher, dass es Leute gab, die sich so eine Gelegenheit für einen Billigurlaub in einem Luxushotel zunutze machten, dachte er. Im Hotel weilten also sehr viele Leute, aber die Karaoke Bar war überraschend verwaist. Es gab etwa 20 Sitzgruppen. Schwere Ledersessel und Glastische. Aber nur drei waren besetzt. Eine Gruppe ukrainischer Offiziere saß tief in ihren Sesseln, rauchte Zigaretten und folgte aufmerksam den Bewegungen der Sängerin auf der leicht erhöhten Bühne in der Mitte des Raumes. Iwan, zwei andere Männer vom Beamtentyp und zwei junge Mädchen in aufreizender Kleidung, die immer wieder mal albern kicherten, saßen direkt bei der Bühne. Eine riesige, sicher unglaublich teure Flasche Sekt, drei Flaschen teurer Wodka (Igor kannte sich da aus), viele Dosen eines Energydrinks, sowie ein paar Flaschen Mineralwasser, Cocktailgläser und Teller mit Kaviar nahmen die Oberfläche des Glastisches fast vollständig ein. Iwan schien schon tief ins Glas geschaut zu haben und hatte einen meist ziemlich starren Blick aufgesetzt, mit dem er Richtung Bühne schaute. An der Bar standen zwei Männer, welche sich wie Geschäftsleute gekleidet hatten und ausländisches Bier aus der Flasche tranken. Es sah nach Corona aus. Am dritten besetzten Tisch saßen Igor und sein Gast. Sein Gast hieß Irina. Er hatte sie am Hotelparkplatz kennengelernt. Sie brauchte Geld – er ein Alibi. Es gefiel ihr hier und sie genoss es wahrscheinlich auch, dass er nichts von ihr wollte außer Ihrer Anwesenheit. Nach Außen gaben sie vermutlich das Bild eines gealterten, griesgrämigen, schlecht gekleideten, irgendwie zu Geld gekommenen Mannes ab, der sich eine viel jüngere Frau leistete, die ihn aber eigentlich mit Ihrem Gerede ziemlich nervte. Das mit dem Nerven stimmte, denn sie redete wirklich immerzu von irgendeiner Castingshow, bei der es eine Reise nach Moskau zu gewinnen gäbe und wo sie schon mal fast mitgemacht hätte…

Alibi hin oder her – dieses Gerede lenkte ihn ungemein ab und er hätte fast übersehen, dass Iwan mit einem der ‚Beamten‘ in Streit geraten war. Es ging um Geld. Große Summen wurden genannt – nein – eher geschrien. Aber er verstand nicht, worum es ging. Die Musik war zu stark aufgedreht und darum drangen nur die lautesten Worte zu Igor durch. Den Gesten nach zu schließen schien aber viel Aggression aufzukommen. Der zweite Beamte mischte sich ein und die Gesichter färbten sich rot vor Aufregung. Was geht da vor sich? fragte sich Igor, der jedes Detail aufzuschnappen versuchte und sich dem Abschluss seines Auftrages schon recht nahe sah.

Bevor er seine Gedanken zu Ende führen konnte, hörte das Lied auf und die blonde Dame schritt mit grazilem Hüftschwung von der Bühne auf die Sitzgarnitur mit den Streithähnen zu. Der Applaus von den ukrainischen Offizieren ließ sie kurz schelmisch in deren Richtung blicken. Dann aber sagte sie mit kalter schneidender Stimme etwas, was Iwan sofort erblassen und verstummen ließ. Die Dame setzte sich elegant auf ihren Platz, nahm ein Cocktailglas zur Hand und alle Personen stießen mit den Gläsern zusammen und prosteten sich freundlich zu. Die Situation war nicht wiederzuerkennen und es wurden fröhliche, freundliche Floskeln ausgetauscht, welche Igor aufgrund der wieder einsetzenden Hintergrundmusik (‚Take on me‘ von Aha) wieder nicht verstehen konnte.

Aber zwei Dinge hatte er mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit verstanden. Es wurde von ‚Aufbruch‘ und von ‚Morgen früh‘ gesprochen. Nun begannen sich bei ihm im Kopf die Räder zu drehen. Wenn diese Gruppe morgen aufbrechen wird und wenn das zwei wichtige Beamte waren – dann würden sie eventuell zur Buk-Raketenstellung fahren. Oder woanders hin. Und da Igor davon ausging, dass die beiden Damen gekaufte Prostituierte zur Bestechung der Beamten waren und die schöne Unbekannte eine Nummer zu groß für Iwan war, musste dessen Liebelei woanders zu finden sein. Igor sollte tunlichst erfahren, wo es hinging. Und er musste es sehr bald erfahren, weil nur bis morgen früh Zeit zu sein schien. Also wartete er, bis Iwan als erster der Gruppe die Bar verließ, zahlte auch, verabschiedete sich von Irina und folgte Iwan unauffällig.

Kalmer – Ankunft

Langsam drehte er sich um und beobachtete, wie sich das rechteckige, wabernde, blaue Energiefeld, welches er gerade verlassen hatte, langsam auflöste und in sich zusammenfiel. Danach blickte er auf den schwarzen, leicht unförmigen Stein in seiner rechten, gepanzerten Hand und steckte das wertvolle Artefakt in die dafür vorgesehene kleine Tasche an seinem massiven Gürtel.

Seine Augen stellten sich langsam auf das dämmrige Licht ein, welches den weitläufigen Hohlraum unter der Oberfläche von Antiriad schwach ausleuchtete. Er war erst wenige Male an diesem Ort gewesen und es faszinierte ihn jedes Mal wieder, wie die Erbauer dieser Anlage es geschafft haben mochten, einem gleichzeitig ein heimeliges Gefühl der Geborgenheit und gleichzeitig ein unwirkliches Gefühl von Bedrohung und Fremdheit beim Betreten der Ankunftshalle zu übermitteln.
Dabei konnten die Erbauer doch keine Ahnung vom dunklen Pfad gehabt haben und davon, dass dieser hier enden würde, dachte er dabei.

Zu weiteren Überlegungen kam er nicht mehr, da einer der Wächter bereits auf seine Ankunft aufmerksam geworden war und sich ihm näherte. Eine riesenhafte, den Albträumen fantasievoller Menschen entsprungen scheinende Monstrosität war es, was sich Kalmer da näherte. Auf acht langen, behaarten Beinen geschwind herangleitend näherte sie sich. Eine Riesenspinne, hässlich wie die Nacht. Einen Meter vor ihm baute sie sich auf und es schien, als würde sie alle vier kalt glänzenden Augenpaare zugleich auf ihn richten. Ellbogenlange Kieferzangen endeten gefährlich nahe vor seinem Hals und er konnte direkt in das blicken, was den Rachen dieses Monsters darstellen sollte.

„Was kann ich für dich tun, Kalmer?“, vernahm er die kratzige Stimme des Wesens. Es erleichterte ihn, dass er wiedererkannt wurde. Er hatte die Anlage bereits vor Jahren entdeckt, aber bis heute verstand er nicht, warum diese Wesen ihm dienten. Und jedes Mal aufs Neue überraschte ihn die Unterwürfigkeit und Hilfsbereitschaft, wenn er hier auftauchte.

„Ich bin müde und möchte ein wenig ruhen. Kannst du das veranlassen?“

„Sehr gerne mein Herr!“, kam die knarzende Antwort, ohne jede Verzögerung.
„Folge mir bitte in dein Quartier.“

Die Riesenspinne machte kehrt und gleitete auf ihren acht Beinen wie schwebend über den unebenen Boden der Höhle. Kalmer musste auf die Unebenheiten achten, um nicht zu stolpern, blieb der Spinne jedoch dicht auf den Fersen.

Wie schon bei seinen früheren Besuchen faszinierte ihn das hier herrschende Spiel der Schwerkräfte. Von seinen Technikerzwergen war er auf eine geringe Schwerkraft am Himmelstrabanten vorbereitet worden und doch merkte er davon nichts. Und mehr noch: beim Erreichen des Punktes in der Höhle, wo sich oben an der Decke ein horizontaler, ebenfalls leicht ausgeleuchteter Schacht nach oben befand, wurde er plötzlich schwerelos. Er hatte es bei seinen früheren Besuchen schon mitbekommen und gelernt, wie man damit umzugehen hatte. Er vermied schnelle, willkürliche Bewegungen und gleitete mit angewinkelten Beinen in die Mitte des Feldes, um sich dort leicht vom Boden abzustoßen. Nun schwebte er langsam, der Riesenspinne folgend in die Höhe. Nach etwa zwanzig Metern Steigflug wurde er von einem leichten Sog in eine andere Höhle hineingezogen. Hier wartete geduldig der Dämon auf ihn.
Dieser schwebte mit leichtem Flügelschlag mitten in der felsigen Höhle und starrte ihn mit feurigen Augen an. Der ganze Körper war dunkelrot, das Gesicht eine Fratze. Er trug Hörner, hatte krallenbewehrte Hände und einer der Füße war durch einen Huf verunstaltet. Ein Schweif, mit dreizackigem Dorn ergänzte das Bild es mit einem echten Teufel zu tun zu haben.
Dem Bild widersprach aber sein Verhalten. Mit süßlich-, verführerischer Stimme sprach er zu seinem Gast:

„Willkommen, Kalmer. Es ist mir eine Freude dich hier wiederzusehen. Das Bett ist gerichtet und ein Bad vorbereitet. Kann ich sonst noch irgendwie dienlich sein?“
Kalmer überlegte kurz und äußerte seine Wünsche:
„Weck mich bitte in acht Stunden und bereite mir ein Frühstück, wie beim letzten Mal vor. Nur den Kaffee diesmal mit Schlagobers bitte.“
Der Dämon verneigte sich und machte den Weg für Kalmer frei. Beim Vorbeigehen drehte sich dieser noch einmal dem Dämonen zu und ergänzte seine Wunschliste:
„Und bitte wieder das Lied vom letzten Mal spielen!“

Abermals nickte der Dämon.

„Dein Wunsch sei mir Befehl.“

Kalmer betrat durch eine wunderschön verzierte Holztür am Ende der Höhle einen prunkvoll ausgestatteten Schlafraum.

Aus unsichtbaren Lautsprechern hörte man die ersten Akkorde der alten Guns’n Roses Ballade „Knocking on heavens Door“ und Kalmer ging zufrieden auf einen Spiegeleschrank zu. Viel besser als das Zeug, was sie auf Arca-Nihil Musik nennen, freute er sich. Die auf der Innenseite mit Seidenpolstern gefütterte Holztür hatte sich nach seinem Eintreten von selber geschlossen und Kalmer richtete nun ein paar kritische Worte an sein Spiegelbild:
„Nervös, alter Junge?“

Ein wunderschöner, charismatischer Ritter, gekleidet in eine prunkvolle Rüstung stand ihm gegenüber und grinste breit.

„Wer bei sowas keine Angst hat, ist entweder dumm, oder verrückt!“, antwortete das Spiegelbild mit einem altbekannten Spruch und er nickte, sich selbst damit bestätigend.

Anschließend gähnte er herzhaft und machte sich an seinem breiten Gürtel zu schaffen.

Dies hatte zur Folge, dass die glatte Oberfläche der Plattenpanzer auf seiner Rüstung ermatteten und in Folge flauschig wurden. Sekunden später entledigte sich Kalmer eines kuscheligen Schlafanzuges und gönnte seinem Adoniskörper ein erholsames Bad. Schnell verschwand sein Kopf im weißen Schaum des dampfenden Beckens und er tauchte Minuten später prustend wieder auf, mit ein paar Rosenblättern auf der Stirn und im Haar.

Schwert, Armbrust und Schild lagen am Boden. Sinnierend betrachtete er das Wappen auf dem Schild – sein Wappen – ein Schwert und eine Rose. Axel Rose wäre neidisch, der schönen Verarbeitung wegen, da war sich Kalmer sicher.

Igor - Iwans Zimmer

Igor sah, dass Iwan zum Aufzug ging und folgte mit einigen Minuten Abstand. Die Zeit nützte er, indem er an einem Panoramafenster stehend den Ausblick aus dem ersten Stock auf das Hafengelände auf sich wirken ließ. Es war dort relativ dunkel, weil alle Angst vor dem nahen Krieg hatten. Aber dennoch sah man etliche beleuchtete Schiffe an den Kais und einige wenige Nachtschwärmer auf der mit Palmen gesäumten Promenade flanieren. Einmal tief seufzend löste sich Igor vom Ausblick, ging zu den Aufzügen und drückte die Ruftaste. Er war stolz darauf, wie es ihm mit einem Trick gelungen war, das Zimmer neben Iwan zu bekommen.

Als er früh abends von der Metallurge kommend im Parkhotel eincheckte, hatte er sich erst einmal umgesehen und dann das Zimmer direkt über der Bar genommen – sehr zur Verwunderung der Angestellten an der Rezeption. Danach hatte er im Restaurant beim Abendessen auf die Ankunft von Iwan gewartet und war nicht wenig verwundert, ihn in Begleitung einer sehr schönen blonden Frau anzutreffen. Die Beiden aßen mit gutem Appetit und nahmen keine Notiz von Igor, der an einem abgelegenen Tisch saß und mit seinem Tablet spielte. Spielen war nicht ganz der richtige Ausdruck. Er hatte eine ausgefuchste Sniffersoftware am Tablet installiert und bei der Ankunft der Beiden, deren IMEI Adressen registriert (eine IMEI ist eine eindeutige Nummer auf SIM Karten und zur eindeutigen Identifikation des Geräts unentbehrlich). Er sendete eine Test-SMS und konnte so erkennen, welches Gerät das von Iwan war (die Dame reagierte auf die SMS, also war die andere IMEI jene von Iwan, folgerte Igor). Nun wurde es technisch – Iwans Handy war offen wie ein Scheunentor – sowohl Bluetooth als auch WLAN waren aktiviert. Es waren zwar Sperren vorhanden, aber die konnten Igors teuren Programmen keine zehn Minuten widerstehen. Danach war das Handy von Iwan ein ‚Zombie‘ und Igor installierte von seinem Tablet aus eine Überwachungsapplikation, die er fernsteuern konnte. Wichtig war ihm, dass die App auf Anfrage GPS Daten übertrug und alle Gespräche aufzeichnen konnte.

Somit konnte Igor nach dem Abendessen durch einen Spaziergang herausfinden in welches Zimmer sich Iwan zurückgezogen hatte, nur indem er die Gänge des Hotels auf und ab ging.

Danach, in seinem Zimmer gönnte er sich einen Talisker, 18 Jahre, von der Isle of Sky aus der Zimmerbar und wartete, bis es in der Karaoke Bar lauter wurde. Als dies eintrat, wandte er sich an die Rezeption, nachdem er sich vergewissert hatte, dass dort das Personal inzwischen gewechselt hatte, und verlangte, Verärgerung über den Lärm vorgebend, ein ruhigeres Zimmer. Durch geschickte Gesprächsführung wurde es dann das Zimmer neben Iwan, wohin er sich nun, nachdem Iwan zu Bett zu gehen schien, auch zurückzog.

Das Zimmer war im obersten Stockwerk und der Ausblick auf das Meer selbst vom Bett aus wunderbar. Igor saß im Bett, einen Notizblock in der Hand, das Tablet neben sich und über Kopfhörer die Gesprächsnotizen der Spionage-App abhörend.

„In Grönland wird es schwierig“ …. „Du bist ein Hund und solltest dich ein wenig unauffälliger verhalten – belle ein wenig öfter“ … „was wird Nick sagen? Reicht das für die Freiheitspartei?“ … „das Gold kommt in den Tank oder lieber die Edelsteine?“ … „Tulcinea, das ist aber nicht dein Ernst“ … „Das mit den Beamten ging gut, die Papiere bekommen wir zum Mittagessen“ ... „Wie ist das Wetter in Astana? Warm oder kalt?“ … „Gute Nacht“.

Igor war etwas frustriert. Eigentlich dachte er bisher nahe am Ziel seines Auftrages gewesen zu sein und das Geturtel von Iwan und dieser Tulcinea als Beweis der Untreue von Iwan mit nach Moskau nehmen zu können. Aber davon war keine Spur. Es wurde nur sehr allgemein gesprochen, gealbert und es gab ein paar kryptische Sätze, die Igor nicht verstand. Auch wunderte er sich darüber, dass da neben Iwan und Tulcinea eine dritte Person im Zimmer zu sein schien. Außerdem gab es einen Hund.

Nun denn. Igor legte die Kopfhörer zur Seite, stellte die App auf Iwans Handy wieder auf Überwachung und legte sich schlafen.

Im Bett liegend grübelte er weiter. Wenn es in der Nacht etwas zwischen Iwan und Tulcinea geben würde, würde die App das aufzeichnen, weil das Handy günstig zu liegen schien – man konnte leichte Schlafgeräusche vernehmen. Falls nicht – musste er dranbleiben und entweder später Beweise finden oder es gab noch eine andere Dame in diesem Spiel, die es zu finden galt.

Nun, die App war installiert und es genügte, wenn er ab jetzt alle paar Tage in die Nähe von Iwan kam, um die Daten abzusaugen. Der Detektiv war mit sich zufrieden und schlief vorerst ruhig und entspannt ein.

Igor - Frühstücksraum

Von gierigen Polizisten im Traum verfolgt, wachte Igor schwitzend auf und brauchte eine Weile, bis er sich seines Aufenthaltsortes bewusst wurde.

Ah ja, das oberste Stockwerk des Park Hotels, gleich neben dem Zimmer des vermeintlich untreuen Iwans. Vermeintlich, weil Igor trotz funktionierender Überwachung bisher ohne Beweise dafür dastand. Das überprüfte er auch sofort, indem er durch die Aufzeichnungen der Nacht zappte – Spracherkennung an – und aus drei Stunden aktiver Aufzeichnung wurden 2,95 Stunden Schlafgeräusche ausgefiltert. Es blieb nur ein wenig Gebrabbel übrig. Die Software konnte nicht eindeutig zuordnen, ob das Gebrabbel von Iwan oder der unbekannten dritten Person stammte. Tulcinea schlief entweder geräuschlos oder war die Nacht über nicht in der Nähe von Iwans Handy gewesen.

Nach dem Abspulen der Nachtaufzeichnung ging Igor noch zweimal die Audiofiles durch, die er bereits in der Nacht gehört hatte und stockte bei den Sätzen: … „was wird Nick sagen? Reicht das für die Freiheitspartei?“ … „das Gold kommt in den Tank, oder lieber die Edelsteine?“

War Nick die dritte Person? Eher nicht, denn sie redeten über einen Abwesenden. Und was hatte es mit Gold und Edelsteinen auf sich? War er da in was Größeres hineingeraten? Igor stellte es bei diesem Gedanken die Nackenhaare auf.

Er schaute auf die Uhr: 7:30. Das war sehr früh für seine Verhältnisse, aber es konnte nicht schaden, schon mal in den Frühstücksraum zu gehen. Vielleicht konnte er die Beamten von gestern Nacht noch mal belauschen.

„Guten Morgen mein Herr!“, sagte die freundliche Dame am Frühstücksbuffet. „Was darf ich ihnen zu trinken anbieten?“

Igor überlegte kurz, ließ seinen Blick über das Angebot schweifen und bestellte einen Earl Grey mit Milch. Dazu ein Omelette mit Fisch und ein paar Brötchen. Er ging zu einem der Tische auf der Veranda und ließ sich gemütlich nieder.

Die Sonne begann sich über die Dächer der Häuser zu erheben. Igor war froh, einen schattigen Platz nahe am Hotelpool gewählt zu haben. Am Schwarzen Meer konnten bereits die Morgen an Sommertagen unangenehm heiß werden, wenn man sich falsch platzierte. Igor genoss den wirklich ausgezeichnet gewürzten Fisch und spielte ein wenig mit seinem Handy herum. Bevor er Privatdetektiv geworden war, war er eine Zeit lang für ein kleines Moskauer Unternehmen als App-Entwickler tätig gewesen und war mit Android auf Du und Du. So etwas blieb hängen und führte dazu, dass er oft und gerne Apps einfach so auf ihre Usability testete. Gerade hatte er ein Mappingtool entdeckt, welches ungewöhnliche 3D Effekte mit Multiuserfunktionalität verband. Eventuell ein gutes Werkzeug, um Teams zu koordinieren. Zum Beispiel für eine Treibjagd oder Rastersuche. Leider war die Performance miserabel und seine Prüfprogramme erkannten jede Menge Zugriffe auf private Bereiche seines Testhandys. Also wieder mal eine App, die einen ausspioniert, ohne das anzugeben. Da sollte man doch….
„Entschuldigung, ist da noch frei?“, fragte eine Person seitlich von ihm stehend. Igor sah hoch und seine Augen blitzten verwundert. Stand da doch der Leibhaftige persönlich. Natürlich nicht der Leibhaftige, aber fast – Iwan stand da und wiederholte „Ist der Platz noch frei? Überall sonst scheint schon die Sonne hin und ich habe es lieber schattig. Wenn Sie erlauben?“ Igors Nicken kurz abwartend schob Iwan mit dieser Bemerkung den Sessel zurück und ließ sich leicht schnaubend nieder. Sein Tablett hatte er bereits auf den Tisch vor sich abgestellt.

„Ist schon eigenartig, dass die vom Hotel hier so wenige Sonnenschirme aufstellen, wo doch schon seit Tagen so heißes Wetter ist, nicht wahr?“ setzte Iwan seinen Redeschwall fort und ergänzte schmunzelnd „Vielleicht haben sie die alle an die Front geschickt, um unsere Soldaten zu schützen?“
Igor lächelte höflich über den schlechten Scherz und stellte sich als Victor, Kaufmann und aufgrund des Krieges kurzzeitig hier Gestrandeter vor. „Besser hier im Park Hotel sitzen und warten, als da draußen irgendwo versehentlich von einem Querschläger getroffen zu werden, oder auf eine Mine aufzufahren und die Beine zu verlieren, oder?“ seufzte er, um seinem Standpunkt die seiner Meinung nach notwendige Tiefe zu verleihen.

„Und Sie, Herr…?“, fragte nun er den Neuankömmling.
„Also ich heiße Iwan Ignotsik, komme aus Moskau und begleite eine kleine Reisegruppe als ihr Führer. Die reisende Dame heißt Tulcinea und sie kann gut singen.“ scherzte er. „Die Bezahlung ist auch nicht schlecht. Auch wir stecken gerade fest, werden aber bald aufbrechen.“

Igor konnte jetzt schlecht wegen der geheimen Liebhaberin nachfragen. Auch eine Frage bezüglich der Buk-Raketenstellung und seine Tarnung als Reporter passte jetzt nicht mehr. Warum war Iwan nicht Raketentechniker? Oder besser, warum erfand Iwan eine andere Geschichte und redete so offen darüber?

Igor dachte fieberhaft nach, wie er die Situation zu seinen Gunsten nutzen konnte und entschied sich für den Angriff.

Also stellte er nach einigem Smalltalk über Wetter und Krieg die entscheidende Frage: „Und wo geht es mit Ihrer Reisegruppe hin? Wolltet ihr eventuell in den Donbass, bevor das hier losging?“

Iwan erklärte ihm recht freizügig, dass sie tatsächlich durch den Donbass wollten. Aber nur zur Durchreise nach Russland.

„Unser Lastwagen erlitt einen Schaden und ich hatte außerdem ein paar Tage hier zu tun. Wir fahren morgen weiter. Wenn sie wollen, können sie abends zu uns in die Karaoke Bar kommen. Tulcinea liebt es zu singen und mir schmecken die Cocktails“. Das war der letzte Satz, bevor Tulcinea begleitet von einem großen Hirtenhund an den Tisch trat und Iwan aufforderte Platz zu machen. Igor, ganz alte Schule, stand auf und stellte sich vor „Gestatten, Victor, reisender Kaufmann!“

Tulcinea lächelte ihn an, sagte „Ich weiß. Mein Name ist Tulcinea und meine Reise führte mich von Hamburg hierher nach Mariupol“, setzte sich nieder, herzte den Hund und stellte ihn als Benno vor. „Benno ist ein ganz ein braver Hirtenhund, der gut auf uns alle aufpasst.“

Der Hund knurrte ein wenig und Igor hörte auf Tulcinea anzustarren. Das Frühstück wurde in andächtiger Stille eingenommen und man verabschiedete sich höflich voneinander.

Igor - Werkstatt

Igor hatte sich eines seiner Freizeithemden übergezogen und sah jetzt mit seinem hellblauen Sonnenhut und dem bunten, geblümten, kurzärmeligen Hemd mehr wie ein lächerlicher deutscher Tourist auf Mallorca aus als wie ein in geheimer Mission tätiger Privatdetektiv. Aber das war ihm im Moment auch recht. Er wollte unbedingt harmlos aussehen und schlenderte den Boulevard Richtung Hafen entlang. Auf der großen Durchzugsstraße donnerten gerade Lastwagen mit angehängten Feldhaubitzen und etliche Schützenpanzer der regulären ukrainischen Armee vorbei. Die Gesichter der Soldaten waren zumeist jung und wirkten stolz, waren aber auf den zweiten Blick hin auch ängstlich. Es war hinlänglich bekannt, dass die ukrainische Armee zwar zahlenmäßig den Aufständischen überlegen war, diese aber besser ausgerüstet waren und mit hoher Wahrscheinlichkeit von russischen Spezialeinheiten unterstützt wurden. Wie auch sonst wäre es möglich, dass die Armee derart große Verluste zu Land und in der Luft in diesem Bürgerkrieg hatte. Das wussten diese Soldaten und das dämpfte die Euphorie über den bevorstehenden Einsatz, sofern überhaupt eine vorhanden gewesen war.

Zwei Armeehubschrauber waren in der Ferne zu sehen. Hier im Hinterland waren sie sicher. Aber an der Grenze gab es moderne Flugabwehrbatterien vom Typ Buk. Diese waren dazu in der Lage, fast jede Art von Flugzeug vom Himmel zu holen. Und Igor war nach wie vor davon überzeugt, dass sein neuer Bekannter Iwan ein russischer Spezialist war, der die Rebellen mit diesen Geräten trainieren sollte. Wie konnte man das herausfinden? Und warum war es von Bedeutung? Ging es nicht um den Betrug an dessen Frau? War Igor nicht deswegen hier, im heißen Süden Russlands, äh, Neurusslands, nein, der Ukraine natürlich?

Igor musste sich eingestehen, dass ihm das Frühstücksgespräch in Kombination mit der Mittagshitze mental arg zusetzte und seine klare Planung durcheinander gekommen war.

Die meisten Eindrücke einer in Frontnähe befindlichen Stadt ignorierend und eine alte Oma fast zu Sturz bringend, kam er nun bei einer großen und recht modern ausgestatteten Werkstätte an. Es gab eine Ausstellungsfläche für Gebrauchtwagen, ein paar auf Podesten stehende Neuwagen und dahinter eine große Werkstätte mit fünf, nein sieben Einfahrten. Alle waren weit offen, damit ein wenig Wind das Arbeiten für die Mechaniker erträglicher machen konnte. Auf den Hebebühnen befanden sich unterschiedlichste Vehikel – ein Kommandofahrzeug der Armee, ein Mercedes, ein prächtiger Land Rover, und, und, und, aber kein Lastwagen. Hier sollte der Laster mit dem Gold im Tank für seine Weiterfahrt aufgepäppelt werden, aber er war nicht da. Mechaniker gab es auch keine zu sehen, weil die alle gerade Mittagspause zu machen schienen.

Also sah sich Igor ein wenig auf dem Gelände um und fand tatsächlich einen bulligen, verstaubten, schweren Laster mit russischem Kennzeichen. Die Planen hinten waren festgezurrt. Igor ging mehrmals um den Laster herum, stieg auf das Trittbett, um in die Fahrerkabine schauen zu können und ging wieder ein wenig auf Distanz. Der Laster war enorm – sehr stabil, große Tanks, Allradantrieb, schwere Reifen, mehrere Reservereifen außen montiert, eine große Fahrerkabine, in der man gut übernachten konnte, etc. Ein Fahrzeug fürwahr, um große Distanzen in entlegenen Gebieten zu überwinden.

Igor begann an den Bändern zu hantieren, welche die Planen sicherten, löste ein paar davon und warf einen Blick durch die kleine dadurch entstandene Öffnung auf die Ladefläche. Es war sehr dunkel dort, weil sein Kopf fast die ganze Öffnung ausfüllte und ansonsten nur durch ein paar kleine Ritzen Licht in das Innere des Laderaumes drang. Aber Igor sah die Umrisse etlicher Kisten, eine ganze Reihe Benzinkanister, Werkzeuge und…

Ein tiefes Knurren ließ ihn vom Kotflügel des Lasters zurück auf den Boden gleiten und sich misstrauisch langsam rückwärts drehen. Dort hinter sich sah er in etwa zehn Meter Entfernung Benno den Hirtenhund stehen und ihn argwöhnisch mit seinen Knopfaugen ansehen. Igor war kein Hundeflüsterer, aber die Körperhaltung und der Gesichtsausdruck Bennos ließen ihn langsam rückwärtsgehend das Umfeld um den Laster verlassen. Benno machte keinen Mucks mehr, ließ aber Igor nicht aus den Augen, bis dieser in den Büroraum der Werkstätte verschwunden war.

„Mahlzeit“, sagte der Fliehende etwas verlegen zu den beiden Männern am dort befindlichen Bürotisch. Die Männer aßen Jausenbrote und tranken Wodka aus einer Flasche.

Der Ältere meinte: „Der Laster ist fertig. Bist du zum Zahlen da?“

Er schien ihn als Teil des Teams vom Laster zu halten. Das musste er nutzen.

„Nein, ich wollte nur noch mal checken, ob ihr auch alles gemacht habt, was notwendig war. Gab es Probleme? Ist alles erledigt?“

„Sicher doch. Nur haben wir die Platten mit Schienen verstärkt, weil durch die Breite des Lastwagens sonst der doppelte Boden zum Schwingen gebracht werden könnte. Das kostet extra. Und die verschließbaren Fächer sind doch nicht so groß geworden, wie im Plan angegeben war. Da können wir aber nichts dafür. Der Plan war nicht genau genug.“

„Ah ja, ich werde das ausrichten. Lasst es euch noch schmecken. Ich gebe Bescheid. Auf Wiedersehen!“ grummelte Igor.

„Auf Wiedersehen! Bis zum Abend ist der Laster weg und die Arbeit bezahlt!“ forderte der Alte noch nicht unfreundlich von ihm und wandte sich wieder seinem Kollegen zu, um über Politik zu reden.

Igor überlegte, wie er die Informationen vom Werkstattmeister möglichst unverfänglich an die dafür vorgesehene Adresse weiterleiten konnte, ohne dass von seinem Ausflug etwas bekannt würde.

Er sprach einen herumlungernden Jugendlichen an, bat ihn für ein Trinkgeld ins Park Hotel zu gehen und an der Rezeption bekanntzugeben, dass Herr Iwan, bzw. Frau Tulcinea den Lastwagen abholen könnten, da dieser anscheinend früher als erwartet fertig geworden sei. Mit sich zufrieden gönnte er sich danach ein kleines Nickerchen.

Igor - Karaoke singen

So gegen 22:00 erschien Igor in der Karaoke Bar. Iwan und Tulcinea hatten bereits an einem Tisch Platz genommen. Diesen Abend waren sie aber ohne Begleitung. Wie er die Beiden so sitzen sah, konnte er sich den Gedanken nicht verkneifen, dass sie doch ein gutes Paar abgäben. Vielleicht war sein ursprünglicher Auftrag doch noch aktuell?

Er grüßte förmlich und setzte sich wortkarg zu ihnen an den Tisch.

„Hast du dir schon Gedanken gemacht was du heute singen wirst?“, fragte ihn Tulcinea. Und Iwan, der Igors skeptischen Blick richtig deutete, fügte spöttisch lächelnd hinzu „Hier müssen immer alle singen.“

„Wenn dann nur die russische Hymne. Und ihr werdet schon sehen was das hier für Folgen hätte“ entgegnete Igor bissiger als beabsichtigt.

„Wir haben auf einem Flohmarkt einen getürkten Würfel erstanden. Die Sechs kommt etwa doppelt so oft, als es sein sollte, das haben wir durch Ausprobieren ermittelt“ klärte Iwan auf.

„Jeder würfelt. Wer eine sechs hat, singt. Gibt es zwei Sechsen, wird es ein Doppel. Wer eine eins würfelt bestellt eine Flasche Wodka mit Beilagen. Los geht’s!“ Mit diesen Worten nahm Iwan den Würfel von der linken in die rechte Hand und ließ den Würfel energisch über den Tisch rollen. Er hatte eine Sechs. Igor bekam Herzklopfen und würfelte eine Drei. Tulcinea eine Zwei.

„Na, dann halt nur eine erste Runde Hemingways für uns alle und ein Gläschen Wodka zusätzlich für Iwan“ stellte Tulcinea fest. Sie sah die Nähe zur Eins als Aufforderung eine Runde zu ordern.

Iwan musste auf die Bühne und entschloss sich auf eine Zufallsauswahl beim Lied. ‚Chasing cars‘ von Snow Patrol wurde es. Selber Schuld dachte Igor, der das Lied als sehr schwierig empfand. Und tatsächlich war Iwans grölende Stimme wenig geeignet den melancholischen Grundton des Liedes ausreichend wiederzugeben. Das an diesem Abend überraschend zahlreiche Publikum gab alsdann auch nur spärlich Applaus. Iwan trank, an den Tisch zurückkommend, das inzwischen von der diensteifrigen Bedienung gelieferte Gläschen Wodka mit einem Zug aus und sah dann wieder etwas zufriedener aus. Überraschenderweise hatte er sogar eine gewisse Röte im Gesicht, welche von Scham zeugen könnte, dachte Igor.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739409573
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Februar)
Schlagworte
Earth Formwandler PSI Rätsel Reise Fantasie SciFi Verfolgung Alternate Space Opera Dystopie Utopie Science Fiction

Autor

  • Arnold Nirgends (Autor:in)

Arnold Nirgends ist gelernter Starkstrommonteur, Nachrichtentechniker und Wirtschaftsinformatiker. Seit etwa zwanzig Jahren bastelt er hobbymäßig an der Ausgestaltung einer fiktiven Welt namens Arca-Nihil. Und um dieser Welt nun auch ein wenig Leben einzuhauchen begann er 2016 damit Romane zu schreiben. Seine Vorbilder sind z.B. Isaac Asimov (Der Tausendjahresplan), Stanislaw Lem (Solaris, Der Unbesiegbare) , Larry Niven (Ringwelt) und Frank Herbert (Der Wüstenplanet).
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Titel: Eine ungewöhnliche Reise