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Das Sterben im Klee

Ein Berlin-Krimi

von Mani Beckmann (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: Die Berlin-Krimis, Band 3

Zusammenfassung

"Los Angeles war die Hölle. Der Urlaub eine schlichte Katastrophe. Und natürlich trug Paul an allem die Schuld." Ein toter Schriftsteller, ein verschwundener Privatdetektiv, eine Villa im Berliner Umland und eine "Tödliche Vergangenheit": Pauls Urlaub endet katastrophal. In einem anrüchigen Motel in Los Angeles findet er die Leiche eines heruntergekommenen Schriftstellers. Alles sieht nach Selbstmord aus, doch als Paul nach Berlin zurückkehrt und dort Maria, die Tochter des Opfers aufsucht, stellt er fest, dass weit mehr hinter der Sache steckt. Ein Privatdetektiv ist verschwunden, fast jeder hat ein Geheimnis und die Spur führt sie zurück in die Vergangenheit - zu zwei alten Männern, die eine sehr unterschiedliche Sichtweise auf die Geschichte haben ... "Ein feines Netzwerk hat Autor Mani Beckmann da gesponnen. Das Buch ist unterhaltsam und vor allem: spannend bis zum Schluss." - Tagesspiegel Berlin "Kunstvoll und packend hat Beckmann ein komplexes Geflecht aus Beziehungen und Zufällen, Geschichte und Geschichten, Zwangsläufigkeiten und überraschenden Wendungen geknüpft." - Ruhr-Nachrichten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorbemerkung

Dieser Roman erschien erstmals 2001 unter dem Titel "Tödliche Vergangenheit" im be.bra verlag, Berlin. Die vorliegende Ausgabe ist vollständig überarbeitet und entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.

Weitere Informationen im Internet unter www.manibeckmann.de


Erster Teil

1

Los Angeles war die Hölle. Der Urlaub eine schlichte Katastrophe. Und natürlich hatte Paul an allem die Schuld.

Während er vor der geöffneten Tür auf der Veranda saß, eine Zigarette rauchte und den mexikanischen Angestellten dabei zuschaute, wie sie von Zimmer zu Zimmer eilten, um die Bettwäsche zu wechseln und den einschlägig bekannten Geruch mit einem süßlichen Duftspray zu übertünchen, saß Dorothee schmollend im Zimmer auf dem Bett und starrte auf den Fernseher, aus dem in ohrenbetäubender Lautstärke Rockmusik dröhnte. Sie könne das Gestöhne und Geschreie nicht mehr ertragen, hatte sie vor einer halben Stunde gesagt und ihn seitdem mit Missachtung gestraft. Aber das Zimmer zu verlassen, das kam erst recht nicht in Frage. Sie sei ja nicht lebensmüde!

Adult Motel! Wer konnte auch so etwas ahnen? Selbst Dorothee hatte den kleinen, aber bedeutsamen Zusatz erst gesehen, als es zu spät war und sie den Preis für drei Nächte bereits bar gezahlt hatten. Nur für Erwachsene!

„Three nights?“, hatte die kleine Mexikanerin an der Rezeption gestaunt, die Augenbrauen gehoben und verständnislos mit dem Kopf geschüttelt. „Are you sure, señor?“

„Sure“, hatte Paul geantwortet, die Geldscheine in die Durchreiche gelegt und mit seinen Spanischkenntnissen geprahlt: „Seguro, señorita!“

„Bueno!“ Sie hatte mit den Achseln gezuckt, ihm den Schlüssel gegeben und ihn angestarrt, als wäre er ein widerlicher Sittenstrolch. „Number five, please!“

Dass sie wie eine Kassiererin in einer Bank hinter gepanzertem Glas saß und lediglich durch ein kleines vergittertes Loch in der Scheibe mit ihren Gästen kommunizierte, hatte ihn zwar gewundert, aber nicht wirklich alarmiert. Los Angeles war eben ein heißes Pflaster.

Die Sonne war vor wenigen Minuten untergegangen, aber der mit Gewitterwolken verhangene Himmel leuchtete noch in schwärzlichem Rot. Einzelne verspätete Regentropfen plätscherten aufs Verandadach und von dort in dünnen Bindfäden vor seine Füße in den Hof. Irgendwo erklang eine Polizeisirene. Die Situation war so absurd, dass er gelacht hätte, wenn er nicht selbst betroffen gewesen wäre. Was war er doch für ein Idiot!

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und fuhr sich mit der Hand durch die Haartolle über seiner Stirn. Mit der Zigarette im Mundwinkel, der roten Wildlederjacke und den nach hinten gekämmten Haaren, die vorne wegen eines hartnäckigen Wirbels strubbelig abstanden, erinnerte er ein wenig an Jim Stark in „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Dorothee hatte das einmal scherzhaft behauptet. Er sehe beinahe aus wie James Dean, hatte sie gesagt, aber leider habe er so gar nichts von einem Rebellen an sich.

Paul schlug den Kragen seiner Jacke hoch, schnaufte abfällig und warf die Zigarette in den Hof. Die Neonreklame auf dem Dach des Motels blinkte im Sekundentakt, grüne und blaue Buchstaben vor einem sündig roten Schmollmund. Als sie vor anderthalb Stunden angekommen waren, hatte noch nichts geblinkt. Von leuchtenden Schmollmündern keine Spur.

„Es ist mir inzwischen ganz gleich, wo wir unterkommen“, hatte Dorothee gefaucht, durch die regennasse Scheibe auf die Straße gestarrt und den Stadtplan frustriert zusammengefaltet. „Hauptsache, ich komme bald unter eine warme Dusche und kann mich auf einem Bett ausstrecken. Ich hab keine Lust mehr, Paul!“

Sie waren auf dem Washington Boulevard in östlicher Richtung landeinwärts gefahren und hatten den Strandort Venice, in dem sie eigentlich hatten übernachten wollen, längst hinter sich gelassen. Entweder waren die Motels und Pensionen in Strandnähe ausgebucht oder unverschämt teuer gewesen, und so hatten sie sich schweren Herzens entschlossen, nicht direkt am Venice Beach zu wohnen. Culver City nannte sich der benachbarte Stadtteil, dessen Grenze sie gerade passiert hatten, und er sah alles andere als einladend aus. Umzäuntes Brachgelände zur Linken, neonerleuchtete mexikanische Diners und asiatische Imbissstände zur Rechten, hässliche Flachbauten, die selten mehr als zwei oder drei Stockwerke besaßen und neben den breiten, bis zu sechsspurigen Straßen wie Garagen oder Wohncontainer wirkten. Eine christliche Mission oder Suppenküche, vor der die Leute Schlange standen. „Jesus loves you“, war auf einem Schild zu lesen. „Merry Christmas!“

Dorothee deutete mit einem Mal durch die Windschutzscheibe, auf der die Scheibenwischer sich redlich, aber vergeblich abmühten, dem Wolkenbruch zu trotzen, und rief: „Da vorne ist ein Motel! Sieht nicht allzu teuer aus. Lass uns dort mal fragen!“

Es war kalt, es regnete in Strömen, und sie waren seit dem frühen Morgen unterwegs. Die Müdigkeit steckte ihnen in den Knochen. Der Urlaub hatte an ihren Nerven gezerrt. Sie wollten einfach und endlich ankommen.

Und jetzt hatten sie den Salat.

Auf dem Hof des Motels herrschte mittlerweile ein Treiben wie in einem Bienenstock, ein Kommen und Gehen wie bei einem Drive-In-Schnellrestaurant, und immer war es die ewig gleiche Prozedur: Ein älterer Mann saß am Steuer, eine für ihr Alter viel zu alte Frau auf dem Beifahrersitz. Der Mann zahlte an der Rezeption, das Paar verschwand im Zimmer und kam bald darauf mit erhitzten Gesichtern wieder heraus – zumindest zeigten die Männer rötliche Zeichen der Erregung auf ihren Wangen. Die Frauen zupften an ihren BHs, zogen ihre Lippen mit dem Lippenstift nach und richteten ihre Frisuren, man stieg ins Auto und verschwand. Anschließend kamen die Mexikaner mit der Bettwäsche und dem Spray. Sie trugen hellblaue Schürzen oder Kittel mit einem Aufnäher auf der Brust: Encore-Motel.

Ausgerechnet in einem Stundenhotel hatten sie landen müssen. Fünfunddreißig Dollar die Nacht. Ein Spottpreis. Kein Wunder, schließlich blieb in diesem Etablissement kein Mensch länger als eine halbe Stunde. Jedenfalls nicht aus freien Stücken.

Im Zimmer Nummer eins, auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes, stand die Tür sperrangelweit auf. Ein dicker, glatzköpfiger Mann saß in Unterhemd und Jogginghose auf dem Bett und blätterte in einer Zeitung. Neben ihm auf dem Boden stand eine halb volle Whiskyflasche, aus der er dann und wann einen großen Schluck nahm. Eine Frau konnte Paul in dem Zimmer nicht erkennen, womöglich stand sie noch unter der Dusche. Der Mann schaute einen Moment lang zu ihm herüber, betrachtete ihn scheinbar gelangweilt aus den Augenwinkeln, nahm dann einen Schluck Alkohol und widmete sich wieder seiner Zeitung.

„Was mache ich hier eigentlich?“, murmelte Paul und steckte sich eine weitere Zigarette an. „Ich muss doch total übergeschnappt sein!“

Los Angeles war die Krönung, der finstere und hässliche Endpunkt einer unheilvollen Reise, aber das Desaster hatte viel früher angefangen.

2

Dorothee und Paul waren bereits seit einem Jahr ein Paar, aber die Amerikareise war ihr erster gemeinsamer Urlaub. Noch nie waren sie über so lange Zeit auf so engem Raum und so ausschließlich einander ausgeliefert gewesen, und schon bald hatte sich herausgestellt, dass es ein Fehler gewesen war, ihre Urlaubskompatibilität nicht wenigstens während eines Kurztrips an die Ostsee zu testen. Erst der Urlaub hatte offenbart, wie unterschiedlich sie waren und wie wenig gewillt, diese Unterschiede zu tolerieren. Zu Hause hatte jeder seine eigene Wohnung und ging seiner Wege, sie waren beide berufstätig und sahen sich fast nur an den Wochenenden, an denen sie sich bemühten, friedvoll und harmonisch miteinander umzugehen. Sie hatten nicht genug Zeit gehabt, sich zu streiten oder zu langweilen. Erst der banale Alltag – ausgerechnet im Urlaub! – und das ständige Beieinandersein hatten die schlummernden Konflikte ans Tageslicht gebracht. Dorothees an Stupidität grenzende Langsamkeit, ihre Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, und ihre Angewohnheit, die falschen Entscheidungen anschließend Paul anzulasten, brachten ihn mit hübscher Regelmäßigkeit auf die Palme. Sie lebte gänzlich aus dem Bauch heraus und schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, sich niemals mit ernsthaften Gedanken zu belasten. Gleichzeitig schien sie Paul für einen Spießer und Langweiler zu halten. „Du mit deinem Ordnungs- und Pünktlichkeitsfimmel!“, sagte sie und nannte ihn einen Hektiker, weil er nicht einsehen wollte, worin der Reiz lag, einen Bus oder ein Flugzeug beinahe zu verpassen, nur weil man seinen Kaffee noch nicht ausgetrunken oder seine Maniküre noch nicht beendet hatte.

„Was machst du immer für einen Stress?“, war eine ihrer Lieblingsfloskeln. „Die werden schon nicht ohne uns abfahren.“

„Natürlich werden sie das“, erwiderte er dann gereizt. „In fünf Minuten fährt der Bus, und wenn du weiter so trödelst, kommen wir niemals an die Küste. Kannst du deine Nägel nicht nachher feilen?“

„Die fahren eh nicht pünktlich ab“, lautete ihre prompte Antwort, und mit verkniffener Miene setzte sie hinzu: „Entspann dich doch endlich! Wir sind schließlich im Urlaub.“

Natürlich erwischten sie in letzter Sekunde den Bus, der sie von San Francisco an die Central Coast bringen sollte, und natürlich sagte Dorothee anschließend: „Siehst du! Warum immer diese Hektik?“

Bereits nach wenigen Tagen in Kalifornien gingen sie sich dermaßen auf die Nerven, dass nur die strahlende Sonne, der herrliche Strand von Pismo Beach und die ungeheure Menge neuer Eindrücke sie leidlich bei Laune hielten. Zwar war das Wasser des Pazifiks viel zu kalt, um darin zu baden, und die Sonne hatte ebenfalls an Kraft eingebüßt, aber allein der Gedanke an das verschneite Berlin stimmte sie versöhnlich. Als jedoch der Regen und der Sturm kamen, war es damit vorbei, und der Alptraum begann. Vermutlich war es ein Fehler gewesen, ausgerechnet im Dezember nach Amerika zu fliegen.

Sie beschlossen kurzerhand – nein, Paul beschloss, und Dorothee verdrehte dazu die Augen –, sich ein Auto zu mieten und ins Landesinnere zu fahren, um die zahlreichen Nationalparks abzuklappern. In der Wüste, so glaubte er, würde bestimmt die Sonne scheinen. Außerdem war er der naiven Hoffnung, ein wenig Action und Abenteuer könne ihnen nur gut tun.

Als sie im Death Valley ankamen, war der Regen bereits da. Wo sonst die Luft flirrte und der heiße Sand einem die Füße durch die Schuhsohlen verbrannte, bildeten sich nun Pfützen im Mondgestein. Vom legendären Zabriskie Point aus gab es nichts als schlammig beigefarbenes Gelände zu bestaunen, das an den Tagebau in den ostdeutschen Braunkohlegebieten erinnerte. Zu allem Überfluss wurden die Motels spartanischer und ungepflegter, je weiter sie sich vom Pazifik entfernten, Kakerlaken und spinnenartiges Getier wurden ihre ständigen Begleiter, und da die Wüstenorte, in denen sie übernachteten, kaum mehr als ein paar Dutzend Seelen beheimateten, war an den Abenden nicht gerade für Abwechslung gesorgt. Die Dorfkneipen waren noch waschechte Saloons, in denen eine Vielzahl von Fernsehgeräten die vorwiegend männliche Kundschaft über die sportlichen Ereignisse im Lande auf dem laufenden hielt. Dorothee und Paul wurden beäugt wie Marsmenschen und zogen es bald vor, ihr wässriges amerikanisches Bier im Motelzimmer zu trinken. Was jedoch – nicht allein wegen des Ungeziefers – kaum zur Erheiterung beitrug und zwangsläufig zum Streit und zu gegenseitigen Schuldzuweisungen führte.

Um sich möglichst wenig miteinander beschäftigen zu müssen, hechelten sie von Ort zu Ort, ließen keinen Nationalpark und keine Sehenswürdigkeit aus und bestraften sich anschließend für all die Mühsal mit einem Besuch der weihnachtlich geschmückten Stadt Las Vegas, wo sie Unsummen von Geld verspielten und sich einzureden versuchten, das sei ein Heidenspaß.

Am östlichsten Punkt ihrer Reise, dem Grand Canyon, gerieten sie schließlich in ein derart dichtes Schneegestöber, dass sie vom Rand des Canyons aus weder den Colorado noch die gegenüberliegenden Felsformationen zu sehen bekamen. Wegen des Wetters war es auch nicht erlaubt, in den Canyon hinunterzusteigen. Die atemberaubende Aussicht ins Tal gab es nur auf Ansichtskarten und Videos zu bewundern.

Das war der Zeitpunkt, an dem Dorothee einen hysterischen Anfall bekam. Erst weinte sie, dann schrie sie, und schließlich hämmerte sie mit den Fäusten auf Paul ein. „Du bist an allem schuld!“, kreischte sie und schlug wie wild um sich. „Wenn es nach mir gegangen wäre, dann lägen wir jetzt in der Sonne auf den Kanaren. Aber nein, du wolltest ja unbedingt hierher. Weihnachten in den Staaten. Dass ich nicht lache! Das haben wir nun davon! Hier bleibe ich keine Minute länger!“

„Und was sollen wir deiner Meinung nach jetzt tun?“

„Ich will sofort zurück nach San Francisco!“, antwortete sie, stieg ins Auto und schnappte sich die Landkarte.

„Jetzt?“ Paul setzte sich hinters Steuer und starrte sie ungläubig an.

„Auf der Stelle!“

„Aber das sind fast tausendfünfhundert Kilometer!“

„Nicht wenn wir die kürzeste Route nehmen.“ Sie tippte auf die Karte und nickte energisch. „Lass mich nur machen, Paul. Jetzt sage zur Abwechslung mal ich, wo es langgeht.“

Statt – wie es am einfachsten gewesen wäre – erst auf dem Highway nach Westen bis Bakersfield und von dort in Richtung Norden nach San Francisco zu fahren, wollte Dorothee die direkte Verbindung ausprobieren.

„Wenn wir über Las Vegas und dann in Richtung Sacramento fahren“, erklärte sie, „sparen wir fast vierhundert Kilometer. Außerdem kommen wir mitten durch den Yosemite Nationalpark! Den wollten wir uns doch sowieso ansehen.“

Paul zuckte mit den Schultern, startete den Wagen und fuhr los.

Woran weder Dorothee noch er gedacht hatten, war die Tatsache, dass der Yosemite Nationalpark mitten in den bis zu viertausend Meter hohen Bergen der Sierra Nevada lag und dass die wenigen Pässe mit Beginn des Winters geschlossen wurden. Als sie nach einem ungemütlichen und nicht enden wollenden Husarenritt endlich in den verschneiten Bergen ankamen, mussten sie feststellen, dass sie zwar nur noch dreihundert Kilometer von San Francisco entfernt waren, dass es aber weit und breit keine passierbare Straße gab, auf der sie weiter in westlicher Richtung hätten fahren können.

„Closed for the winter!“, stand auf dem Schild an der Schranke. „No trespassing!“ Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als sechshundert Kilometer nach Süden und in einem riesigen Bogen um die Berge herumzufahren.

„Bakersfield“, empfahl ihnen ein Ranger, den sie um Rat gefragt hatten.

Diesmal war es Paul, der einen hysterischen Anfall bekam.

Nach einer durchfrorenen und durchwachten Nacht in einem zugigen Bergmotel und einem wortlosen Frühstück in einem Trucker-Imbiss, machten sie sich am Morgen auf zur nächsten Etappe. Als sie endlich die südliche Spitze der Sierra Nevada erreicht hatten, waren sie nur noch zweihundert Kilometer von Los Angeles entfernt, und Paul beschloss diktatorisch: „Mir reicht’s! Wir fahren jetzt nach Venice Beach! Basta!“

Kaum hatten sie die Stadtgrenze von Los Angeles erreicht, schon goss es wie aus Kübeln. Und Dorothee schaute ihn an, als hätte sie es gewusst.

3

„Whatta ya doin’ out there?“, erklang plötzlich von irgendwoher eine rauchig krächzende Männerstimme.

Paul fuhr auf, schaute sich um und konnte weit und breit niemanden erkennen. „Sorry?“, antwortete er.

„Why’re ya sittin’ outside?“ Die Stimme kam aus dem Zimmer Nummer eins. Der dicke Mann im Unterhemd stand schwerfällig auf, legte die Zeitung beiseite und stellte sich in den Türrahmen. Die Whiskyflasche hielt er wie einen Säugling im Arm. „It’s fucking raining“, setzte er hinzu und hustete böllernd. „You’re getting wet!“

Paul nickte und deutete auf seine Zigarette. „My girl-friend doesn’t like cigarettes“, sagte er und zuckte mit den Schultern.

„I see“, antwortete der kahlköpfige Dicke und kratzte sich das stoppelige Kinn. „You’re a tourist, right?“

Wieder nickte Paul.

„Where from?“

„Berlin“, erwiderte er. „Germany.“

Für einen Moment flammte der alkoholgetrübte Blick des Dicken auf, doch dann grunzte er abfällig, hielt Paul die Flasche hin und sagte: „Wanna drink?“

„I don’t like whisky!“, erwiderte Paul ausweichend.

„Glaubst du, mir schmeckt das Zeug?“, antwortete der andere in fließendem und beinahe akzentfreiem Deutsch. „Aber darauf kommt’s ja nicht an. Hauptsache, es benebelt die Sinne. Komm schon, Junge, trink mit mir!“ Er lachte anzüglich, winkte Paul zu und ging zurück ins Zimmer.

„Wieso sprechen Sie so gut Deutsch? Waren Sie mal in Deutschland?“

„Kann schon sein“, murmelte der Mann und setzte mit einem Mal die Flasche an den Mund, als wollte er damit die Erinnerung hinunterspülen. Er schüttelte sich, hustete und setzte hinzu: „Come on, pal!“

Paul blieb sitzen, wo er war, er dachte nicht daran, sich von einem betrunkenen Kerl hochprozentigen Fusel aufdrängen zu lassen. Der Typ sah aus, als hätte er den Whisky nicht nur getrunken, sondern auch darin gebadet. Sein Unterhemd hatte er sicherlich seit Wochen nicht mehr ausgezogen, die gelben Flecken unter den Achseln und die schwarzen Brandlöcher auf dem Schmerbauch sprachen Bände. Das Gesicht des Mannes war nicht weniger abstoßend. Die Ränder unter seinen Augen waren von einer tiefen Schwärze, und seinen Stoppelbart hatte er seit Wochen nicht mehr rasiert. Er war weit über fünfzig, zumindest sah er so alt aus.

„What’s the matter with you?“, rief er Paul zu, während er in der einen Hand die Flasche hielt und mit der anderen sein Gemächt kratzte. „Bin ich dir nicht fein genug? Beleidige ich deine Augen und deine empfindliche Teutonennase? Keine Bange, ich bin nur betrunken und ungepflegt, aber nicht wirklich gemeingefährlich. Auch wenn das einige Leute ganz anders sehen!“ Er zog den Rotz hoch und spuckte in hohem Bogen auf die Veranda. „Trink mit mir auf meine Tochter! Sie hat heute Geburtstag.“

Paul wusste nicht, warum er es tat, aber er stand auf, zuckte mit den Schultern und ging hinüber. Seine Neugier war größer als sein Widerwille, und schlimmer konnte es heute ohnehin nicht mehr kommen.

„Cheerio!“, begrüßte ihn der Glatzkopf in seinem Zimmer und reichte ihm ein Wasserglas voll Whisky. „Auf meine kleine Maria!“

„Auf Maria!“, echote Paul zögerlich und nippte an dem Getränk, während er sich gleichzeitig im Raum umschaute. Der Fußboden war übersät mit leeren Bierdosen, halbvollen Schnapsflaschen, zerknülltem Papier und Zigarrenstummeln. In einer Ecke des Zimmers war ein riesiger Stapel von Zeitungen und Zeitschriften angehäuft, auf dem Bett stand eine mechanische Schreibmaschine, und auf der Bettdecke waren Dutzende Seiten beschriebenen Papiers verstreut, etliche von ihnen zerrissen und wieder zusammengeklebt, andere mit handschriftlichen Korrekturen versehen. Ein riesiger Aschenbecher stand neben dem Bett auf dem Boden, doch die Asche darin stammte nicht von Tabak, sondern von verbranntem Papier. Ein beißender Geruch hing in der Luft, es stank nach billigem Rasierwasser, ranzigem Schweiß, abgestandenem Zigarrenrauch und Alkoholausdünstung.

„Was machst du in Berlin?“, fragte der Dicke. „Wovon lebst du? Was ist dein Job?“

„Eigentlich bin ich Mathematiker“, antwortete Paul, „aber ich arbeite im Computerzentrum einer Bank. Buchungen, Statistiken, Abrechnungen und so weiter. Eigentlich nicht der Rede wert. Ziemlich langweilig.“

„Ihr Deutschen!“, rief der andere und lachte abfällig. „Warum müsst ihr euch immer für alles entschuldigen? Weshalb könnt ihr nicht einfach zu dem stehen, was ihr tut? Ständig schämt ihr euch und zerfließt in Selbstmitleid.“

„Das sagt ja der Richtige“, erwiderte Paul, betrachtete das Chaos in dem Zimmer und deutete dann auf die Flasche in seiner Hand. „Ausgerechnet Sie reden von Selbstmitleid? Was soll das hier sein, der grandiose american way of life?“

Der Mann fuhr regelrecht zusammen, schien Paul mit seinem Blick durchbohren zu wollen, winkte dann aber plötzlich ab, lachte trunken und sagte: „Du gefällst mir, wenigstens nimmst du kein Blatt vor den Mund.“ Seine Mundwinkel zuckten ein wenig, als er das sagte, und er setzte hinzu: „Und wie kommt ’n Langweiler wie du in so ’ne Absteige?“

„Aus Dummheit“, antwortete Paul.

„Das ist allerdings ein Grund“, sagte der Dicke, lachte und klopfte Paul anerkennend auf die Schulter. „Und deine Freundin nimmt dir das nun übel?“

Paul sah ihn überrascht an, nickte und fragte: „Woher wissen Sie das?“

„Es stand in deinem Gesicht geschrieben. Als du vorhin von deinem girl-friend gesprochen hast, sahst du nicht besonders glücklich aus. Glaub mir, ich kenne diesen Blick!“

„Und was treiben Sie in dieser Absteige?“, erwiderte Paul, um das Thema zu wechseln. Er nippte erneut an dem Whisky und merkte, wie er ihm zu Kopf stieg. Seit dem Mittag hatte er nichts mehr gegessen, und Hochprozentiges gehörte nicht gerade zu seinen täglichen Grundnahrungsmitteln. „Sie sehen auch nicht gerade so aus, als würden Sie sich hier mit einer Frau amüsieren.“

„Meine Frau liegt dort auf dem Bett“, antwortete der Mann und deutete auf die Schreibmaschine. „Aber sie will nicht so, wie ich es möchte.“ Er grinste und setzte hinzu: „Welche Frau tut das schon?!“

„Sind Sie Journalist?“, hakte Paul nach. „Oder Schriftsteller?“

„Es gibt Leute, die behaupten, dass ich mal einer war. Sogar ’n ziemlich guter, aber was will das schon heißen?“

Der Kerl gab Antworten wie das Orakel in Delphi, dachte Paul. Jede Antwort forderte eine weitere Frage heraus. Doch obwohl er lallte und sich nur schwankend auf den Beinen hielt, schien alles, was er sagte, wohlüberlegt. Sein Äußeres war widerlich, sein Gehabe abstoßend, aber dennoch hatte Paul das Gefühl, als wäre er der Zuschauer eines Schauspiels, als inszenierte der Dicke sich selbst. Auch seine rotzige Sprache klang wie einstudiert. Er gefiel sich als betrunkenes Ekel.

„Übrigens, mein Name ist Phil“, sagte er und hielt Paul sein Glas hin. „Phil Inn. I-double-N. Pleased to meet you! Und du kannst mich ruhig duzen.“

„Paul Weber“, antwortete Paul, stieß mit ihm an, und erst dann wunderte er sich über den Namen. Phil Inn? Fill in! Ein Pseudonym. Oder er hielt Paul einfach zum Narren. „Wie hieß Ihr … dein letztes Buch?“, fragte er. „Könnte es sein, dass ich es kenne?“

„Das glaub ich kaum“, antwortete Phil Inn und schnaufte abfällig. „Als es erschien, gingst du vermutlich noch zur Schule. Und es war nicht gerade ein Schulbuch.“

„Sondern?“

„Sex and crime.“

„Arbeitest du deshalb in einem Stundenhotel? Ist das so eine Art Recherche?“

„Der Schuppen ist diskret und anonym“, antwortete Phil und setzte sich aufs Bett, nachdem er die Papiere achtlos auf den Boden geworfen hatte. „Hier stellt keiner Fragen, niemand will wissen, wer du bist. Man wird in Ruhe gelassen, solange man bar bezahlt. Ich bin so ’ne Art Dauergast und bekomme sogar Rabatt! Ich gehöre mittlerweile zum Inventar dieser Bruchbude. Hin und wieder helfe ich den Blaukitteln sogar beim Saubermachen.“

„Warum willst du in Ruhe gelassen werden? Und von wem?“

Phil zuckte mit den Schultern, bückte sich, soweit sein Bauch das zuließ, und holte eine Zigarrenschachtel unter dem Bett hervor. „Feinstes kubanisches Kraut“, sagte er und bot Paul eine Havanna an.

Eine Zeit lang saßen sie schweigend da, in der einen Hand den lauwarmen Bourbon, in der anderen eine dicke qualmende Zigarre. Draußen nieselte es, es war inzwischen stockfinster, sie befanden sich in einer miesen Bruchbude, und Paul kam es vor, als wären sie Figuren in einer Kurzgeschichte von Ernest Hemingway. Ein in die Jahre gekommener Autor und gestrandeter Alkoholiker und ein grünes Bürschlein, dessen Beziehung sich gerade in Luft auflöste und dem das völlig egal war, weil sich der Whisky und das Nikotin wohlig in seinem Hirn ausbreiteten.

Paul erzählte Phil, woran er dachte, und dieser lachte laut los.

„Ich wag’s kaum zu sagen“, antwortete er, „aber ich kann Hemingway nicht ausstehen. Das sollte ein Amerikaner niemals zugeben und ein amerikanischer Autor schon gar nicht, aber so ist es nun mal. Fucking creep!

„Ist seine Tochter nicht vor einigen Jahren gestorben?“

„Welche Tochter?“, rief Phil und funkelte ihn böse an.

„Hemingways Tochter“, antwortete Paul erschrocken. „Die Schauspielerin. Oder war es seine Nichte?“

Phil wandte sich abrupt ab, zuckte erneut mit den Schultern und nahm einen Schluck aus der Flasche, obwohl er sich gerade erst ein Glas eingeschenkt hatte. „Wen kümmern schon die Töchter?“, zischte er schließlich.

„Maria ist deine Tochter?“, rutschte es Paul beinahe gegen seinen Willen heraus. „Ist das ihr Name?“

„Was willst du von ihr?“, blaffte Phil ihn an und packte ihn am Kragen. „Woher kennst du sie?“

„Ich kenne sie doch gar nicht“, antwortete Paul und wich zurück. „Wir haben vor wenigen Minuten auf ihren Geburtstag angestoßen. Erinnerst du dich nicht? Du wolltest unbedingt, dass ich mit dir auf deine Tochter trinke!“ Ihm wurde es allmählich zu dumm und auch zu mulmig. Er stand auf, stellte sein Glas ab, drückte die Zigarre im Aschenbecher aus und ging schwankend zur Tür. „Danke für den Drink“, sagte er und musste sich am Rahmen festhalten, da ihm schwindlig wurde. „Ich habe keine Lust, mich ohne jeden Grund anmachen zu lassen.“

„Sorry!“, rief Phil ihm nach. „Es war nicht so gemeint. Tut mir leid. I’m really sorry! Komm schon, Junge, sei mir nicht böse, ich wollte dich nicht anbrüllen.“ Er stand auf und ging zu einer Kommode, die direkt neben der Tür zum Badezimmer stand. Er kramte in einer Lade herum, zog ein Foto heraus und kam damit zur Tür. „Das ist meine Maria“, sagte er, deutete auf das Bild und lächelte zärtlich. „Das war sie. Vor zwölf Jahren.“

Auf dem Foto war ein vielleicht achtjähriges pausbackiges Mädchen zu erkennen, das verlegen in die Kamera lächelte. Sie hatte lange schwarze Haare und dunkle Augen, ihre Nase war sehr flach und schmal, eine Stupsnase, und ihr Kinn besaß die unverkennbare Tendenz, sich zu verdoppeln.

„Vor zwölf Jahren?“, fragte Paul, und ein Kloß zwängte sich durch seine Kehle. „Ist sie etwa gestorben?“

„Nein, nicht doch!“, rief Phil, wandte sich um und setzte die Whiskyflasche an den Hals. „Ich hab leider kein neueres Foto“, fuhr er schließlich fort und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. „Hab sie seit Jahren nicht gesehen.“

„Maria?“, wunderte sich Paul. „Das ist kein amerikanischer Name.“

„Ihre Mutter ist Deutsche.“

„Aus Berlin.“

„Woher weißt du das?“, fragte Phil überrascht und ließ sich aufs Bett fallen.

„Weil das der einzige Grund ist, warum du mich überhaupt auf einen Drink eingeladen hast“, erwiderte Paul und setzte sich zu ihm. „Weil ich dir erzählt habe, dass ich Berliner bin. Ich bin nicht blind, Phil, ich habe deinen Blick vorhin genau gesehen.“

Phil zwang sich zu einem Lächeln, reichte ihm das Glas, das er auf der Kommode abgestellt hatte, und sagte: „Gratuliere! Gut kombiniert. Ja, ich war mal ein Berliner, aber als ich die Stadt verlassen habe, gab es die Mauer noch, und Zehlendorf gehörte zum amerikanischen Sektor. Fast wie zu Hause. There’s no place like home!“ Wieder lachte er abfällig und schüttelte den Kopf.

„Hast du dort gewohnt?“, fragte Paul. „In Zehlendorf?“

Phil zuckte lediglich mit den Schultern und zog eine Grimasse.

„Und nachdem du nach Amerika zurückgegangen bist, hast du deine Tochter nicht mehr gesehen?“

„Das wäre eine ziemliche Verdrehung von Ursache und Wirkung“, antwortete Phil und ließ Paul ein weiteres Mal mit ihm anstoßen. „Ich bin hierher zurückgekehrt, weil ich drüben nichts mehr zu suchen hatte. Ich hab’s vermasselt, und jetzt zahle ich die Zeche dafür.“

„Man lässt dich deine Tochter nicht sehen?“

„Ich bin eine Persona non grata, mein Junge, ein widerliches Monster“, murmelte er und sah sein Gegenüber mit irrem Blick an. „Nicht im wörtlichen Sinn, aber hier drin!“ Er tippte sich an den Kopf. „Hier drinnen sieht’s finster aus. Marias Mutter meint, ich sei eine Gefahr für die Menschheit. Deshalb darf ich sie nicht sehen und erst recht nicht mit ihr sprechen. Wer weiß, vielleicht will ich es auch gar nicht. Ich würde mich ohnehin nicht trauen. Jahrelang hatte ich nicht den Mumm, aber diesmal hab ich ihr wenigstens eine Geburtstagskarte geschickt.“ Er seufzte tief und runzelte die Stirn, doch sofort setzte er sein Lächeln wieder auf und widmete sich mit Inbrunst seiner Zigarre. „Ich hoffe, sie hat die Karte auch bekommen. Ich hab sie in ein unauffälliges Kuvert gesteckt.“

„Mit amerikanischer Briefmarke und Poststempel von Los Angeles?“, wunderte sich Paul. „Was soll denn daran unauffällig sein.“

Phil starrte ihn an, als hätte er daran bislang überhaupt nicht gedacht. Er schaute wie ein kleiner Junge drein, dem sein Vater die bittere Wahrheit über das Christkind gebeichtet hat. Er lächelte stupide und schwieg.

„Du vermisst sie sehr, nicht wahr?“

„Als ich noch mit ihnen zusammengelebt habe“, antwortete Phil und schloss dabei die Augen, „da hat sie mich nicht sonderlich interessiert. Ich war viel zu sehr mit mir und meinen Büchern beschäftigt. Ein guter Vater war ich bestimmt nicht.“ Er lachte, klopfte sich auf die Schenkel und rief: „Ich war sicherlich kein so guter Schriftsteller wie Hemingway, aber als Mann ein mindestens ebenso großes Miststück!“

„Und Marias Mutter?“

„Johanna?“ Er grunzte abfällig und nahm einen Schluck Whisky. Er schien sich nicht entscheiden zu können, ob er nun aus dem Glas oder aus der Flasche trinken wollte, und nippte abwechselnd an beiden. Er räusperte sich, wischte sich den Mund ab und sagte: „Ich hab sie mal sehr geliebt! Weiß der Teufel, warum! Sie war ’n verdammter Snob!“ Wieder lachte er, hob sein Glas, leerte es in einem Zug und setzte hinzu: „Damals galt es in ihren Kreisen als schick, sich ’nen Künstler zu halten. Wie ’n Haustier! Philip the pet! Und mir hat’s gefallen, den Bohemien zu spielen. I really lived in clover. Ich hab im Klee gelebt, wie wir Amerikaner sagen. Aber ich werde wohl kaum im Klee sterben.“ Er lächelte bitter und fragte: „Wie heißt das auf deutsch?“

„Wie die Made im Speck“, sagte Paul.

„O ja, das hatte ich ganz vergessen!“, rief er erfreut und lachte herzhaft, als hätte Paul ihm eine amüsante Anekdote erzählt. „Die Made im Speck!“

Paul schaute ihn verdutzt an, wartete vergeblich auf irgendeine Erklärung und fragte schließlich: „Wart ihr verheiratet?“

Wieder lächelte Phil bitter und nickte.

„Warum lässt Johanna dich deine Tochter nicht sehen?“, wiederholte Paul seine Frage von vorhin. „Was ist vor zwölf Jahren geschehen?“

Phil zuckte mit den Schultern, deutete auf den Whisky und sagte: „Ich bin nicht erst seit heute ein Säufer. Sieh mich doch an! Was glaubst du, wie lange man braucht, um so abgewrackt auszusehen? Das war ein hartes Stück Arbeit.“ Er lachte gallig auf und schüttelte den Kopf, als hätte er einen guten Witz erzählt. „Es ist schon nicht einfach, einen normalen Schriftsteller zu ertragen. Aber einen eitlen, egozentrischen, alkoholabhängigen Schriftsteller in seinem Haus zu dulden, das ist wahrlich zuviel verlangt.“

„Ist das der einzige Grund?“

„Was fragst ’n so dämlich?“, zischte Phil. „Natürlich ist das nicht der einzige Grund! Goddammit!“ Er deutete auf die Schreibmaschine, zog das eingelegte Blatt Papier heraus, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. „Seit Jahren versuche ich, mir den Scheiß aus meinem verdammten Schädel zu schreiben, aber es kommt nichts als wertloser, selbstmitleidiger oder affektierter Mist heraus. Loads of crap! Wenn ich soweit bin, wirst du’s schon erfahren, aber bis dahin lass mich in Ruhe mit deinen Fragen!“ Er sah Paul beinahe flehend in die Augen und setzte lächelnd hinzu: „Trink, rauch und halt endlich deinen Mund!“

Paul wollte gerade seiner Bitte Folge leisten, als er von draußen Dorothees Stimme hörte: „Paul? Wo steckst du denn? Paul!“

„Ich muss gehen“, sagte er und stand auf. „Meine Freundin sucht nach mir.“

„Wenn du mal wieder Lust auf ’nen Schluck hast oder in Ruhe eine Zigarre rauchen willst“, erwiderte Phil und fuhr sich über den Bart, „dann schau ruhig bei mir rein. Du weißt ja, wo du mich findest. See ya, buddy!

Paul nickte, hob grüßend die Hand und ging hinaus. Erst an der frischen Luft merkte er, wie betrunken er war.

„Wo steckst du denn?“, wurde er von Dorothee auf dem Hof begrüßt. Sie hatte ihren Mantel angezogen und einen Regenschirm aufgespannt. „Ich hab Hunger“, sagte sie und klimperte mit den Autoschlüsseln. „Lass uns was essen gehen!“ Sie schaute kurz ins Zimmer Nummer eins, zuckte angewidert zusammen und fragte: „Wer ist denn der eklige Kerl?“

„Ein Monster“, antwortete Paul und bekam einen Schluckauf.

4

Es war beinahe Mitternacht, als sie zum Motel zurückkehrten. Der Himmel hatte aufgeklart, der Halbmond lugte hinter den Wolken hervor, der Wind hatte sich gelegt. Selbst das Unwetter zwischen Dorothee und ihm hatte sich in Luft aufgelöst, allerdings wusste Paul nicht, ob er darüber glücklich sein sollte. Schweigend stiegen sie aus dem Wagen. Er blieb auf der Veranda, um noch eine Zigarette zu rauchen, und sie eilte ins Zimmer, um ihre Koffer zu packen. Die Tür fiel ins Schloss, und Paul war allein mit seinen Gedanken. Wieso hatte er nur eingewilligt? Verdammter Feigling!

Sie hatten in einer fürchterlich überteuerten italienischen Pizzeria am Venice Beach gesessen und betreten auf die Tischdecke gestarrt.

„Du bist ja betrunken!“, hatte sie ihn plötzlich angeherrscht. „Du hast eine Fahne, Paul!“

„Natürlich bin ich betrunken“, hatte er erwidert und gegrinst. „Schließlich habe ich auf nüchternen Magen ein ganzes Wasserglas voll Whisky gekippt. Da wärst du auch betrunken!“

Ein gelackter Kellner schlich grinsend um sie herum und versuchte ihnen vorzuführen, was Amerikaner unter Service verstanden. Während er ihnen die Speisekarten reichte, redete er über das Wetter, fragte sie, woher sie kamen, und behauptete, Berlin sei wirklich eine Reise wert. Pauls Frage, ob er schon einmal dagewesen sei, musste er leider verneinen. Aber er habe schon viel davon gehört. Von der Mauer und so. „Ich bin ein Berliner“, zitierte er John F. Kennedy, und dann machte er sich auf zum Nachbartisch.

„Hier bleibe ich keinen Tag länger!“, sagte Dorothee mit gepresster Stimme. Sie hatte plötzlich Tränen in den Augen und nahm Pauls Hand. „Bitte, Paul, lass uns verschwinden!“

„Wir sind doch gerade erst in Los Angeles angekommen“, antwortete er überrascht und kämpfte mit seinem Schluckauf, der in zyklischer Regelmäßigkeit wiederzukehren schien. „Willst du denn die ganze Zeit nur durch die Gegend fahren?“

„Ich rede nicht von dieser Stadt, sondern von dem ganzen verdammten Land“, erwiderte sie, ließ seine Hand los und zupfte an der Stoffserviette. „Unsere Reise ist eine einzige Farce, das weißt du genauso gut wie ich. Wir machen alles kaputt, und wenn wir nicht schleunigst nach Hause fahren, dann ist nichts mehr zu retten!“

Er starrte sie an und verstand kein Wort. „Wovon redest du?“, fragte er und versuchte, sich auf Dorothee, das Gespräch, auf die ganze Situation zu konzentrieren, aber es wollte ihm nicht gelingen.

„Wovon ich rede?“, fuhr sie ihn an und brach erneut in Tränen aus. „Von uns rede ich! Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, ist alles zu Ende. Wir reden nicht mehr miteinander, wir schnauzen uns nur noch an oder ignorieren uns. Das ist doch kein Zustand. Lass uns nach Hause fliegen, bitte, so schnell wie möglich. Am besten gleich morgen. Wir werden schon irgendeinen Flieger bekommen. Ich will, dass dieser Alptraum aufhört.“

„Nach Hause?“, murmelte er verwirrt und glaubte, sich verhört zu haben. Vom Nachbartisch drang die Stimme des Kellners zu ihnen herüber: „Paris? A lovely town. You must be very proud to live there.“

„Ich will nicht, dass unsere Beziehung so den Bach runtergeht“, fuhr Dorothee fort. „Das lass ich nicht zu!“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und setzte schnaufend hinzu: „Oder willst du das? Willst du mich loswerden?“

Paul konnte beim besten Willen nicht sagen, was er wollte oder nicht wollte. Ja, vielleicht war es ihm nur recht, dass sie mit ihrem Urlaub einen solchen Schiffbruch erlitten. Womöglich suchte er lediglich nach einem passenden Vorwand, das Weite zu suchen. Aber sicher war er sich nicht. Er wusste gar nichts mehr und konnte nicht mehr klar denken.

Alles drehte sich.

“He, Paul! Ich rede mit dir!“

„Wie?“, antwortete er. „Was?“

„Ich sagte: Ich rede mit dir! Wo bist du nur immer mit deinen Gedanken?“ Dorothee stand hinter ihm auf der Veranda und legte ihre Hand auf seine Schulter. „Was ist nun? Kommst du ins Zimmer oder willst du noch lange draußen sitzen?“

„Gib mir noch ein paar Minuten“, antwortete er und drehte sich zu ihr um. „Ich komme gleich. Hast du schon gepackt?“

„Komm bloß nicht auf die Idee, dass ich dir den Koffer packe“, antwortete sie und lachte herzlich. „So weit kommt’s noch, mein Liebster!“ Und mit einem weiteren Lachen verschwand sie wieder im Zimmer. Dorothee hatte ihre gute Laune wiedergefunden. Je näher der vorgezogene Abflug rückte, desto gehobener wurde ihre Stimmung.

Warum zum Teufel hatte er nur eingewilligt?! Und wieso war es so einfach gewesen, den Flug von San Francisco nach Berlin umzubuchen? Wenige Tage vor Weihnachten, aber die Fluggesellschaft hatte nicht einmal einen Aufpreis verlangt. Lediglich eine lächerliche Bearbeitungsgebühr. Verflucht! Ihre Maschine von L. A. nach San Francisco startete um sieben Uhr am kommenden Morgen, und den Mietwagen konnten sie einfach am Flugplatz abgeben. Verdammte Kundenfreundlichkeit der Amerikaner!

Auf dem Hof war es mittlerweile ganz ruhig, vereinzelt standen Autos vor den Motelzimmern, und nur wenige Fenster waren erleuchtet.

Dann hörte Paul das Geräusch, ein leises metallischen Klacken, das über den Hof schallte. Er schaute hinüber zu Zimmer Nummer eins. Die Tür war verschlossen, die Vorhänge waren zugezogen, aber es brannte Licht. Phil schrieb auf der Maschine, und wie dem rasanten Anschlag zu entnehmen war, ging ihm das Schreiben gut von der Hand. Einen kurzen Moment lang zögerte Paul, doch dann stand er auf und ging hinüber. Er wollte sich wenigstens von ihm verabschieden.

5

Die Tür war nur angelehnt. Paul klopfte, doch ihm antwortete lediglich das Klappern der Schreibmaschine. Er trat ein und sah Phil am Kopfende auf dem Bett sitzen. Er hatte den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Maschine auf den Oberschenkeln stehen und hämmerte auf die Tasten ein, als hinge sein Leben davon ab. Ein zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen.

„Sorry to disturb you“, sagte Paul und räusperte sich. „I knocked on the door, but you didn’t hear.“

Phil hob den Kopf, blickte ihn zunächst irritiert an, als wüsste er gar nicht, wo er sich befand und wer der nächtliche Besucher war, doch dann lachte er und sagte: „Komm rein, Paul! Sit down!

„Ich wollte mich nur verabschieden“, antwortete Paul, zog eine Flappe und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. „Morgen früh fliegen wir zurück nach Berlin. Unser Urlaub ist zu Ende.“

„Du siehst nicht so aus, als wärst du von dem Gedanken sonderlich angetan“, sagte Phil, und seine Stimme klang gar nicht mehr betrunken. „Willst du zurück, oder musst du zurück?“

„Weder noch!“

„Dann lass es!“, sagte Phil und sah den anderen mit ernstem Ausdruck an, als hätten seine Worte einen geheimen Hintersinn. „Unternimm nie etwas ohne Grund, buddy! Wenn du nicht weißt, wieso du etwas tust, dann tu lieber gar nichts, sonst gibt’s ’ne Katastrophe.“ Mit einemmal jedoch lächelte er wieder und setzte hinzu: „Außerdem fänd’ ich es sehr schade, wenn meine Muse mich verließe.“

„Deine Muse?“

Er grinste lausbübisch und deutete auf einen Stapel beschriebenen Papiers, der neben ihm lag. „THE CRASH“ stand auf der obersten Seite. Paul legte das Titelblatt beiseite und las die ersten Zeilen auf dem darunter liegenden Bogen: „Los Angeles was hell. Their vacation a total catastrophe. And of course it was all Paul’s fault.“

„Nicht so neugierig“, sagte Phil und nahm ihm das Papier aus der Hand. „Sobald das Buch fertig ist, wirst du ein Exemplar bekommen, schließlich ist die Story auch auf deinen Mist gewachsen.“

„Wieso denn das?“

„Du hast mir, ohne es zu wissen, sehr geholfen.“ Wieder lachte er, ließ Paul zwei Whiskygläser füllen und stieß mit ihm an. Er deutete auf seine Schreibmaschine und sagte: „Dies ist die Geschichte eines deutschen Touristen, der in einer billigen Absteige in Los Angeles einen heruntergekommenen Säufer trifft, der sich mysteriös gibt und irgendein Geheimnis mit sich herumschleppt. Unser Held macht sich auf, dieses Geheimnis zu lüften, und stößt auf einen lange zurückliegenden …“

„Crash?“, entfuhr es Paul.

„Yes, Sir!“

„Was für eine Art crash?“, fragte Paul und nippte an seinem Drink. „Ein Absturz oder ein Unfall? Oder ein Börsencrash?“

Phil setzte ein schelmisches Grinsen auf und schwieg.

„Willst du mir nicht verraten, wie es weitergeht?“

„Ich hoffe, du wirst es in einigen Monaten nachlesen können.“

„Ich war noch nie der Held eines Romans“, sagte Paul, zückte einen Kugelschreiber und schrieb seine Adresse auf die Titelseite des Manuskripts. „Wenn es fertig ist, hätte ich gern ein handsigniertes Exemplar.“

„Selbstverständlich“, antwortete Phil und hämmerte wieder auf die Tasten ein. „Du wirst von mir hören.“

Paul stand auf und wollte das Zimmer verlassen, doch Phil hielt ihn zurück.

„Nein, bleib ruhig und trink deinen Whisky aus“, sagte er und hielt dem anderen das Zigarrenkästchen hin. „Rauch eine Havanna, wenn du magst. Deine Anwesenheit scheint mich zu inspirieren. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich in der Zwischenzeit weiterschreibe.“

Paul setzte sich wieder.

Während die Maschine klapperte und Phil dann und wann leise mit sich redete, saß Paul wie eine Krankenschwester neben seinem Bett und starrte zur Decke. Er hatte die Beine aufs Fensterbrett gelegt, schlürfte seinen Whisky und nuckelte an der Zigarre. Sein letzter Urlaubstag! Und der erste Augenblick während dieser verdammten Reise, den er richtig genoss.

Unternimm nie etwas ohne einen Grund!

Gerade als er sich einen guten Grund für seine morgige Unternehmung zurechtlegen wollte, öffnete sich die Tür zur Veranda. Paul erwartete, im nächsten Augenblick Dorothees angeekelten und vorwurfsvollen Gesichtsausdruck zu sehen, doch statt ihrer trat eine ganz in Schwarz gekleidete Frau ins Zimmer. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug und einen schwarzen Hut, ihr Gesicht hatte sie hinter einem dunklen Schleier versteckt, sodass man kaum mehr als ihr spitzes Kinn zu sehen bekam, ihre Hände steckten in schwarzen Samthandschuhen. Vor dem Bauch hielt sie eine Handtasche aus schwarzem Leder, in der sie nun hastig herumkramte. Sie blickte auf, schaute zum Bett, dann zu Paul und fuhr im gleichen Moment zusammen.

„Oh, Entschuldigung!“, murmelte sie und senkte den Kopf. Sie schloss in Windeseile die Handtasche, klemmte sie unter den Arm, drehte sich um und hastete zur Tür hinaus. Als wäre sie nie dagewesen.

„Was war das?“, fragte Phil, der von dem merkwürdigen Auftritt nichts mitbekommen zu haben schien. Er unterbrach sein Tippen und hob den Kopf. „War da nicht jemand?“

„Eine Frau“, antwortete Paul und suchte nach den passenden Worten. „Sie sah aus, als wäre sie direkt von einer Beerdigung gekommen. Mit Schleier und allem.“

„Was wollte sie?“

„Nichts. Sie hat sich wohl in der Tür geirrt.“

„Eine Nutte?“

„Bestimmt nicht“, sagte Paul und schüttelte den Kopf.

Phil zuckte mit den Schultern, machte eine Grimasse, als wollte er sagen: Kann man nichts machen! und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Paul stand auf, ging zur Tür und lugte hinaus in den Hof. Von der Frau in Schwarz war weit und breit nichts zu sehen, das ganze Gelände war verwaist, selbst das mexikanische Aufräumkommando schien Feierabend zu haben. Außer Phils Zimmer war nur die Nummer fünf erleuchtet. Paul konnte Dorothees Silhouette über die Vorhänge huschen sehen.

„Ich glaube, es wird Zeit für mich“, sagte er, leerte das Whiskyglas und reichte Phil die Hand. „Auf in die Höhle des Löwen!“

Phil lächelte traurig, nickte, gab ihm die Hand und sagte kein Wort.

„Soll ich vielleicht irgendeine Botschaft überbringen?“, fragte Paul.

„Eine Botschaft?“, wunderte sich Phil. „Wie meinst du das?“

„In Berlin“, antwortete Paul. „Ich könnte deiner Tochter etwas ausrichten, wenn du mir sagst, wo ich sie finde und was ich ihr sagen soll.“

„Nein, nicht nötig!“, sagte Phil erschrocken und ließ Pauls Hand los.

Der nickte, trat hinaus und sagte: „Wenn du es dir anders überlegst, dann schieb mir einen Brief unter der Tür durch. Wir sind bis fünf Uhr hier. Oder schreib mir nach Berlin. Meine Adresse hast du ja.“

„Du willst also wirklich abreisen?“

„Kann schon sein“, sagte Paul, und diese Worte hätten aus Phils Mund stammen können. „Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler.“

„Du weißt es doch längst“, antwortete Phil, stellte die Maschine beiseite, kam ihm nach und lachte. „Du traust dich nur nicht, es dir einzugestehen.“ Er stand im Türrahmen, kratzte sich den dicken Bauch und setzte hinzu: „See you tomorrow!“

„See you“, murmelte Paul, ertappte sich bei einem Lächeln und hatte prompt ein schlechtes Gewissen. Arme Dorothee! Er durfte gar nicht daran denken, wie sie reagieren würde.

Während Paul wie ein Sünder gesenkten Hauptes über den Hof schlich, suchte er in Gedanken nach den richtigen Worten. Als gäbe es dafür tatsächlich die „richtigen Worte“. Was konnte er schon sagen? Dass es ein Fehler gewesen war? Dass er sich geirrt hatte, als er ihr vor nicht einmal zwei Stunden gesagt hatte, er würde ihre Beziehung nicht beenden wollen? Dass sie nicht zueinander passten? Dass es ihm leid tat?

„Entschuldigung!“, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Das hatte die Frau in Schwarz gesagt. Nicht „Sorry!“ oder „Excuse me!“, sondern „Entschuldigung!“ Dabei hatten weder Phil noch er auch nur ein Wort gesprochen. Als hätte sie gewusst, dass sie deutsch sprachen oder verstanden.

Er überlegte, ob er Phil dieses Detail mitteilen sollte, doch dann hörte er das eifrige Klappern der Schreibmaschine und entschied sich dagegen. Keine Ausflüchte mehr! Erst musste er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und sagen, was er zu sagen hatte.

Im Hof stieß er beinahe mit einer Frau zusammen, die gerade aus einem der Zimmer gekommen war, sich im Gehen die Haare richtete und ebenso wie er zusammenfuhr, als sie unvermittelt voreinander standen.

„Good lord!“, rief die Frau und fasste sich an die Brust. „Watch your step, man! You scared the shit outa me!“ Sie trug ein knallrotes und hautenges Latexoutfit, das ihre voluminösen Brüste und ihren Hintern betonte, und ihre Beine steckten bis zu den Knien in hochhackigen, weißen Lederstiefeln. Ihre schwarz gefärbten Haare waren mit einigen künstlichen Haarteilen versehen und sie allesamt zu einem geradezu babylonischen Turm auf ihrem Kopf hochgesteckt. Ihre wie aufgeblasen wirkenden Lippen waren vom gleichen sündigen Rot wie ihr Latexkostüm, und quer über ihre rechte Wange verlief eine breite, nur unzureichend vom Rouge bedeckte Narbe.

„Sorry“, murmelte Paul, während er gleichzeitig fasziniert auf die Narbe starrte, die vom rechten Ohr bis zum Nasenflügel reichte.

„Fuck off!“, zischte die Frau und marschierte zur Rezeption.

Zögernd wandte er sich um, betrat die Veranda, öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, schaute hinein und bekam beinahe einen Schock. Dorothee lag im T-Shirt auf dem Bett, sie hatte ihr Haar hochgesteckt, räkelte sich in den Kissen, lächelte und wisperte: „Wo warst du denn so lange? Ich hab dich vermisst.“

„Ich war drüben bei Phil“, antwortete er, fuhr sich nervös mit der Hand über den Mund und stammelte: „Ich habe … mit ihm geredet.“

„Phil?“, erwiderte sie, setzte sich auf und sah ihn verständnislos an. „Was denn für ein Phil?“

„Der Kerl von drüben.“

„Der Penner?“, fragte sie. „Was ist denn mit dem?“

„Nichts.“

„Und warum redest du dann dauernd von ihm?“

„Ich rede doch gar nicht von Phil, verdammt noch mal“, entfuhr es ihm, „sondern von uns!“ Er versuchte, ihrem forschenden Blick standzuhalten, schaute dann aber doch zu Boden und zwang sich zu den Worten: „Dorothee, ich … muss mit dir … reden. Es ist wegen …“

Bevor er den Satz beenden konnte, sprang sie auf, wurde kreidebleich, starrte ihn wutentbrannt an und rief: „Sag, dass das nicht wahr ist!“

6

Er hatte mit allem Möglichen gerechnet: mit einem Wutausbruch, mit fliegenden Gegenständen, mit Prügel, mit hysterischem Gekreische oder hasserfülltem Schweigen. Doch Dorothee fiel einfach um. Kreislaufkollaps!

Kaum hatte er umständlich stotternd und sich ein ums andere Mal verhaspelnd herausgebracht, was er sich zuvor in Gedanken zurechtgelegt hatte, schon ging sie wie ein Stein zu Boden. Ihr sackten einfach die Beine weg. An der Heftigkeit, mit der ihr Kopf auf die Fliesen knallte, konnte er erkennen, dass sie keineswegs schauspielerte. Als sie nun vor ihm auf dem Fußboden lag, war sie so weiß wie ein Blatt Papier. Nur ihre Lippen waren bläulich angelaufen.

Paul legte sie aufs Bett, schob mehrere Kissen unter ihre Füße und befeuchtete ihr Gesicht mit Wasser. Sie atmete ruhig, aber ihr Puls flatterte und war kaum zu spüren. Schließlich kam sie wieder zu sich, öffnete langsam ihre Augen, sah ihn lange verständnislos an, griff sich dann an ihren Hinterkopf und schrie vor Schmerz auf.

„Was ist passiert?“, fragte sie. „Wo bin ich?“ Doch dann kam die Erinnerung, und sie schloss die Augen. Tränen traten unter den Lidern hervor, und schließlich schluchzte sie so sehr, dass es sie schüttelte. Sie lag in Embryohaltung auf dem Bett, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und zuckte wie unter Stromschlägen. Paul wollte sie in den Arm nehmen oder doch zumindest ihre Hand halten, aber sie stieß ihn weg und rief: „Lass mich! Wag es ja nicht, mich anzurühren!“ Mit diesen Worten kroch sie vom Bett und verschwand im Badezimmer. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und das Rauschen des Wasserhahns war zu hören.

Ihre Reaktion hatte ihn völlig verstört. Niemals hätte er damit gerechnet, dass ihr soviel an ihm und an ihrer Beziehung liegen könnte. Vielleicht weil ihm nie sehr viel daran gelegen hatte. In dem Jahr, das sie nun zusammen waren, hatte er stets darauf geachtet, dass sie sich nie zu nahe gekommen waren. Emotional jedenfalls. Er hatte eine Mauer um sich herum aufgebaut und peinlich darauf geachtet, dass Dorothee sie nicht durchbrach. Gänzlich von sich und seinem Standpunkt eingenommen, war er davon ausgegangen, dass diese Distanz auch in Dorothees Sinn war. Erst jetzt begriff er, wie wenig er von ihr wusste. Wie fremd sie ihm war.

Und das eigentlich Schlimme: Nachdem er ihr endlich gesagt hatte, wozu er in der ganzen Zeit zuvor nicht den Mut aufgebracht hatte, ging es ihm sofort besser, ja, er fühlte sich erleichtert. Er glaubte nicht, das Falsche gesagt oder getan zu haben, er hatte es nur viel zu spät getan. Was womöglich aufs gleiche hinauslief.

Dorothee war mittlerweile seit einer Viertelstunde im Badezimmer, und außer dem Rauschen des Wasserhahns drang kein Laut aus dem Raum. Was machte sie nur so lange da drin? Warum gab sie keinen Mucks von sich? Wenn sie bloß keine Dummheiten anstellte! Zum Glück rasierte er sich elektrisch, schoss es ihm durch den Kopf. Aber vielleicht hatte sie Schlaftabletten in ihrer Kulturtasche! Ach was, Dorothee hatte noch nie Probleme mit dem Einschlafen gehabt.

Er ging zur Tür und horchte. Nichts! er drückte die Klinke herunter, aber die Tür war verriegelt. „Dorothee!“, rief er. „Alles in Ordnung? Sag doch was!“ Keine Antwort, nur das Rauschen des Wassers. „Hörst du mich?“

Weil sie sich immer noch nicht meldete, rüttelte er an der Tür und hämmerte gegen das Holz. Panik stieg in ihm auf. Womöglich war sie erneut in Ohnmacht gefallen. „Bitte! Mach sofort die Tür auf!“, schrie er und warf sich dagegen. Erfolglos. Gerade als er sich ein weiteres Mal gegen die Tür werfen wollte und bereits Anlauf genommen hatte, öffnete sie sich, und Dorothee erschien im Rahmen.

„Wenn du glaubst, dass ich mich deinetwegen umbringe“, sagte sie und lachte bitter auf, „dann hast du dich aber gründlich geschnitten! Ich mag vielleicht dumm genug gewesen sein, dir zu vertrauen, aber so dämlich, mir für dich die Pulsadern aufzuschneiden, bin ich nun auch wieder nicht.“

Sie war immer noch bleich wie ein Betttuch, ihre Lippen zitterten und verrieten, welche Anstrengung es sie kostete, sich nicht mit dem erstbesten Gegenstand auf ihn zu stürzen und auf ihn einzudreschen. Sie hatte ihren Bademantel übergeworfen und wischte sich nun mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Das Weiße in ihren Augen war blutunterlaufen, und auch die Nase war gerötet. Ihre Haare waren klitschnass, und sie hielt einen feuchten Waschlappen gegen ihren Hinterkopf. Die Beule musste fürchterlich wehtun.

„So einfach wirst du mich nicht los, Paul!“ Dorothee setzte sich aufs Bett, schob sich ein Kissen in den Rücken, hielt mit der einen Hand den Waschlappen, hatte den anderen Arm um die Knie geschlungen und ließ Paul keinen Moment aus den Augen, während er wie ein Raubtier im Käfig im Zimmer auf und ab lief. „Glaubst du wirklich, du könntest mich so einfach wegwerfen wie einen gebrauchten Teebeutel? Pah! Ab in den Müllkorb, Deckel zu und bloß nicht mehr dran denken!“

„Warum machst du es uns so schwer?“, stotterte er und senkte den Blick. Ein dummer und unpassender Satz, er hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt. Er räusperte sich und sagte: „Ich meine nur …“

„Du meinst: Warum ich es dir so schwer mache?“, unterbrach sie ihn. „Tu doch nicht so, als würde es dich interessieren, wie es mir geht. Hauptsache, dir passt es in den Kram! Sobald etwas zu kompliziert wird, ziehst du den Schwanz ein und rennst davon! Bloß keine Konflikte, nicht wahr? Warum sollte ich es dir wohl leicht machen? Kannst du mir das sagen? Erst lässt du mich wie einen wurmstichigen Apfel fallen, und dann soll ausgerechnet ich auch noch Mitleid mit dir haben, weil du jetzt ein schlechtes Gewissen hast?“

„Ich weiß, ich bin ein Arschloch“, sagte er und merkte zugleich, wie verlogen und selbstgefällig es klang.

„Soll ich dir für diese weise Einsicht etwa Applaus spenden?“, rief sie und deutete mit einer theatralischen Geste auf ihn. „Seht her, Paul Weber, wie er sich erniedrigt und martert! Und sich dabei unglaublich toll vorkommt! Du machst es dir zu einfach, mein Lieber, und da spiele ich nicht mit.“ Sie machte eine Pause, hüstelte nervös und setzte schließlich hinzu: „Und glaub mir, ich bin eine gute Spielverderberin!“

„Du willst also hierbleiben?“

„Jetzt solltest du deinen Gesichtsausdruck sehen!“, rief sie böse. „Du guckst wie ein beleidigtes Gör, das seinen Willen nicht bekommt! Gerade noch dachtest du, du hättest alles hübsch berechnet, die Aufgabe gelöst und das Ergebnis sauber eingetragen. Doch plötzlich stürzt dein niedliches kleines Kartenhaus ein!“ Sie lachte ein bitteres und unechtes Lachen und zupfte nervös am Saum ihres Bademantels. „Ich bin keiner von deinen Computern, an denen du so gerne herumtüftelst und die tun, wofür du sie programmiert hast. Dafür bin ich mir zu schade!“

„Aber was willst du?“, rief er und zündete sich eine Zigarette an. Er wusste, dass Dorothee den Gestank nicht ausstehen konnte, aber er brauchte dringend eine Portion Nikotin. „Was möchtest du von mir hören? Egal, was ich tue oder sage, es ist ohnehin falsch und dumm und deplaziert.“

„Ich hab keine Ahnung, was ich will“, erwiderte sie. „Ich kann nur deine selbstgefällige Mitleidsmiene nicht ertragen! Du spielst den Zerknirschten, aber in Wirklichkeit jubilierst du und klopfst dir auf die Schulter. Du hast mich doch längst abgehakt, und ich darf mich jetzt gnädigerweise mit den vollendeten Tatsachen abfinden. Du bist ein verdammter Lügner, Paul!“

Er stand wie ein begossener Pudel vor dem Bett, starrte sie an und brachte kein Wort heraus. Vielleicht weil sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Auch Dorothee bewegte sich nicht. Sie waren beide wie zu Bildsäulen erstarrt und nicht in der Lage, sich vom Fleck zu rühren. Wie gern hätte er irgendetwas gesagt, sich gerechtfertigt oder entschuldigt, aber es hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Und es wäre wiederum verlogen gewesen. Weder hatte er eine Rechtfertigung noch wollte er sich entschuldigen. Ja, womöglich hatte Dorothee recht, am liebsten wäre er tatsächlich davongerannt.

„Warum stehst jetzt da wie eine Ölgötze?“, sagte sie plötzlich und lächelte eigenartig. „Komm ins Bett, und lass uns schlafen!“

Paul fuhr zusammen, glaubte, sich verhört zu haben, und fragte: „Du willst jetzt schlafen?“

„Wegen dir werde ich mir keine Ringe unter den Augen einheimsen“, entgegnete sie mit tonloser Stimme. „Das bist du nun wirklich nicht wert, mein Schatz!“

„Ich glaube nicht, dass ich auch nur ein Auge zukriege.“

„Dann komm wenigstens zu mir und nimm mich in den Arm.“ Sie klang erschöpft und unendlich müde, ein trauriges Vibrieren lag in ihrer Stimme, als sie hinzusetzte: „Ein letztes Mal.“

Er warf die Zigarette nach draußen, zog Schuhe, Hose und Pullover aus, legte sich in einigem Abstand neben Dorothee aufs Bett und hielt ihre Hand.

„Ekelst du dich jetzt schon vor mir?“, fragte sie.

Er rückte näher, zog die Bettdecke über sie und legte seinen Arm um sie.

„Warum tust du das?“, fragte sie, und im nächsten Augenblick hörte er sie leise weinen. „Hat dir das dieser Möchtegern-Bukowski eingeredet?“

„Wer?“

„Der Widerling von gegenüber.“

„Ach, Dorothee“, war alles, was er erwidern konnte, und er weinte nun ebenfalls. „Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun.“

„Du bist so gemein“, wisperte sie, „du machst alles kaputt.“

Eine Zeitlang lagen sie regungslos nebeneinander und hörten sich beim Atmen zu. Dann schliefen sie beide ein.

7

Ein metallisches Geräusch ließ ihn die Augen aufschlagen. Er lag bäuchlings auf der blanken Matratze, das Laken lag auf dem Boden, und auch die Bettdecke hatte er abgestreift. Nur schwerlich vermochte er die Alpträume abzuschütteln, die ihn im Schlaf heimgesucht hatten. Er fror und schüttelte sich. Der Platz, an dem vorhin noch Dorothee gelegen hatte, war verwaist. Die roten Ziffern des Radioweckers auf dem Nachttisch zeigten eine Vier und eine Dreißig, die kleine Lampe über dem Bett leuchtete matt.

Wieder hörte er das metallische Geräusch. Es war das Quietschen der Türangeln. Er drehte sich herum und sah Dorothees Silhouette im Türrahmen. Sie trug ihren Mantel, hatte die Mütze aufgesetzt, hielt ihre Handtasche im Arm und zog ihren Koffer auf Rollen hinter sich her. Durch die geöffnete Tür sah er die Neonreklame des Motels.

„Dorothee?“, murmelte er und setzte sich auf.

Sie schien ihn nicht zu hören, obwohl ihr Blick auf ihn gerichtet war. Sie schüttelte nur den Kopf, holte ein Taschentuch aus der Handtasche und schnäuzte sich. Schließlich räusperte sie sich und schluckte mehrmals, bevor sie mit tonloser Stimme sagte: „Ich gehe.“

Paul rieb sich die Augen und krächzte: „Soll ich dich zum Flughafen fahren?“

Wieder schien sie ihn gar nicht zu hören und in Gedanken ganz woanders zu sein. Sie schüttelte schließlich den Kopf, sah ihn beinahe flehentlich an, und im gleichen Moment brach es aus ihr heraus: „Ich will nach Hause, Paul! Ich will hier weg! Das ist doch alles ein einziger Alptraum. Wenn ich nicht bald nach Hause komme, drehe ich noch durch! Hier ist es wie im Irrenhaus! Das ist doch alles Wahnsinn!“

„Bist du sicher, dass du allein klarkommst?“, fragte er und wollte aufstehen.

„Ich muss gehen“, antwortete sie und wich erschrocken vor ihm zurück, „lass mich!“ Sie fuhr sich mit der Hand über die verweinten Augen, machte eine wegwerfende Handbewegung und rief: „Ach, verdammt!“ Dann rannte sie regelrecht hinaus und warf die Tür zu.

„Verdammt!“, wiederholte er und ließ sich rücklings in die Kissen fallen.

Er hörte den Motor des Autos starten, der Wagen setzte langsam zurück, dann folgte eine lange Pause, als ringe Dorothee noch mit sich. Der Motor tuckerte eine Zeitlang im Leerlauf, und schließlich fuhr der Wagen mit quietschenden Reifen vom Hof.

Und gespenstische Stille setzte ein.

Als Paul das zweite Mal aufwachte, dämmerte es draußen bereits. Die Szenen der vergangenen Nacht erschienen ihm mit einemmal völlig surreal. Gerade so, als hätte er sie in einem Film gesehen, als hätten sie gar nichts mit ihm zu tun. Er konnte sich an alles erinnern, an jedes Wort, jedes Detail, aber dennoch schien ihm das Ganze unendlich fern und unwirklich. Er atmete tief durch, sprang aus dem Bett, zog die Vorhänge beiseite und wagte kaum, seinen Augen zu trauen. Der Morgenhimmel war blau und wolkenlos, die aufgehende Sonne spiegelte sich an den Fassaden der mehrgeschossigen Häuser hinter dem Motel. Ein Vogel zwitscherte. Ein übermüdetes Paar trat aus einem der Zimmer und überquerte den Hof, der Mann stieg gutgelaunt in seinen Wagen, die Frau ließ sich teilnahmslos auf den Beifahrersitz fallen.

„Good morning, America!“, murmelte Paul und musste unwillkürlich grinsen. Dorothee war mittlerweile längst auf dem Weg nach San Francisco, in wenigen Stunden würde sie das Flugzeug nach Berlin besteigen, und ihm kam es so vor, als beginne erst jetzt sein Urlaub wirklich.

Dorothees Worte kamen ihm in den Sinn: „Du spielst den Zerknirschten, aber in Wirklichkeit jubilierst du!“ Sie wäre eine gute Psychologin geworden! Er ging ins Bad, um seine Gedanken und die Erinnerung an die letzten Tage wegzuduschen. Als er in den beinahe blinden Spiegel über dem winzigen Waschbecken blickte, war seine gute Laune allerdings wie weggeblasen. Mit Lippenstift stand dort in großen Lettern auf dem Glas geschrieben: SCHEISSKERL!

Nach der Dusche fühlte er sich wie ein neuer Mensch, er hatte sich rasiert und ein Rasierwasser aufgetragen, das er noch nie zuvor benutzt hatte. Er hatte frische Wäsche aus der Reisetasche gekramt und sich eine Vor-Frühstücks-Zigarette gegönnt. Ein neues Kapitel konnte beginnen.

Er schaute zur Tür hinaus und sah die Mexikaner mit ihrem Reinigungsutensilien das Zimmer betreten, aus dem vorhin das Pärchen gekommen war. In Zimmer Nummer eins brannte immer noch Licht, Phil schien sich in einen wahren Rausch zu schreiben. Paul knöpfte sein Hemd zu und suchte seine Schuhe. Wo hatte er die gestern ausgezogen? Er fand sie unter dem Bett, bückte sich, um sie hervorzuholen, und bemerkte etwas Weißes auf dem Boden. Direkt neben den Schuhen lag ein Briefumschlag, weiß und unbeschrieben. Er stutzte, öffnete das Kuvert und staunte erst recht, als er darin das Foto der kleinen Maria fand. Phils Tochter. Dem Foto war kein Brief beigefügt, aber auf der Rückseite las Paul die handgeschriebenen Worte: „Please tell her I’m sorry!“ Also hatte es sich Phil doch anders überlegt und ihm eine Botschaft für seine Maria mitgeben wollen. Während er das dachte, wunderte er sich bereits. Wie sollte er dem Mädchen, das inzwischen eine junge Frau war, etwas von ihrem Vater mitteilen, wenn dieser ihm weder ihren vollen Namen noch ihre Adresse mitgeteilt hatte. Er untersuchte den Umschlag genauer, aber es gab keine weiteren Notizen oder Hinweise. Phil musste einigermaßen verwirrt oder geistesabwesend gewesen sein, als er ihm den Brief unter der Tür durchgeschoben hatte. Im selben Augenblick stutzte er ein weiteres Mal. Es waren ungefähr zwei Meter von der Tür bis zum Bett. War es überhaupt denkbar, dass das Kuvert soweit über den Boden gerutscht war? Oder hatte ein Windstoß es unter das Bett befördert? Vielleicht als Dorothee heute morgen das Zimmer verlassen und einige Zeit in der offenen Tür gestanden hatte? Er zog die Schuhe an und ging hinaus, um sich die Antworten auf diese Fragen aus erster Hand zu besorgen.

8

Wie am gestrigen Abend waren die Vorhänge zugezogen, und die Tür war verschlossen, aber nicht verriegelt. Mit Erleichterung stellte Paul fest, dass Phil zur Zeit nicht auf seine Maschine einhämmerte und er ihn also nicht bei der Arbeit stören würde. Er klopfte an die Tür, wartete einen Moment auf eine Antwort, die aber nicht erfolgte, und trat schließlich ein.

„Morning, Phil“, rief er gutgelaunt, „look who’s here!“

Phils Augen waren weit aufgerissen und starrten ihn erschrocken an. Aber sie sahen nichts mehr. Sie blickten ins Leere. Sein Unterkiefer war heruntergeklappt, sein Mund ein großes schwarzes Loch. Er saß in seiner üblichen Montur am Bettende gegen die Wand gelehnt, neben sich die Schreibmaschine und in der Hand eine Pistole mit riesigem Schalldämpfer. Über seinem Kopf, an der Wand, klebte eine breiige Masse aus Hirn und Blut. Er hatte sich die Waffe in den Mund gesteckt und sich den Hinterkopf weggeschossen.

Ein Schrei verreckte in Pauls Kehle. Wie angewurzelt stand er auf der Stelle, starrte auf die Leiche und die Pistole in deren Hand. Pauls Knie zitterten, Schauer fuhren ihm über den Rücken, und sein Magen ballte sich zur Faust. Und dann rannte er zur Toilette, um sich zu übergeben.

Nachdem er seinen Magen entleert hatte und schließlich nichts mehr als Galle hochkam, kroch er zum Waschbecken, hielt seinen Kopf unter kaltes Wasser und versuchte krampfhaft zu überlegen, was nun zu tun sei. Er musste den Mexikanern Bescheid geben. Er musste die Polizei alarmieren. Er musste – ja, er musste Phils Tochter mitteilen, dass es ihm leid tat. Beim Gedanken an die pausbäckige Maria drehte sich ihm erneut der Magen um, und er hielt seinen Kopf wieder über die Kloschüssel.

Als er sicher war, dass sich nichts mehr in seinem Inneren befand, das den Weg nach draußen suchte, stand er schwankend auf, stützte sich aufs Waschbecken und starrte in den Spiegel. Er war mindestens so blind wie der in Pauls Zimmer, aber hier stand nichts geschrieben. Kein Menetekel. Allerdings sah er direkt neben dem Waschbecken auf dem Boden etwas Schwarzes liegen. Er bückte sich und hob es auf. Es war weich und aus Samt, sehr lang und sehr schmal. Ein schwarzer Frauenhandschuh, wie geschaffen für eine Beerdigung.

Paul fuhr zusammen, starrte auf den Handschuh und lief zurück ins Zimmer, um sich das fürchterliche Bild noch einmal anzusehen. Diesmal allerdings mit anderen Augen. Wie eine Gleichung mit zwei Unbekannten: Phil hielt die Pistole in seiner rechten Hand, den gekrümmten Zeigefinger am Abzug. Sein Mund war weit geöffnet, Kinn und Brust waren blutverschmiert. Er saß auf dem Bett, als hätte er in aller Seelenruhe eine Zigarre geraucht oder an seinem Whiskyglas genippt. Nichts deutete auf einen Kampf hin, es gab keinerlei Anzeichen für Gegenwehr. Nur die aufgerissenen Augen und der erschrockene Blick. Aber konnte man an den Augen eines Toten wirklich die Gedanken im Augenblick des Todes ablesen? Es gab nicht den geringsten Hinweis, dass Phil nicht Selbstmord begangen hatte. Warum hätte er Paul auch sonst dieses „Please tell her I’m sorry!“ mit auf den Weg gegeben?! Doch dann starrte Paul auf den schwarzen Handschuh in seiner Hand und schüttelte den Kopf. „Entschuldigung!“, hatte die Frau in Schwarz gesagt.

Erneut blickte er sich im Zimmer um. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas fehlte! Auf den ersten Blick war alles wie am gestrigen Abend. Die leeren Bierdosen und Schnapsflaschen auf dem Boden. Der Stapel Zeitungen in der Ecke. Zerknüllte, zerrissene oder angekokelte Papiere überall, ein kleines Häuflein Asche im Aschenbecher.

Das Manuskript! schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Phils Roman!

Der Stapel mit dem Manuskript, an dem Phil in der Nacht gearbeitet hatte, war verschwunden. Kein Blatt Papier steckte in der Maschine, kein Text mit der Überschrift „THE CRASH“ lag auf der Bettdecke.

Als Paul am vergangenen Abend in Phils Zimmer gewesen war, hatten bestimmt dreißig, wenn nicht fünfzig Seiten neben der Schreibmaschine gelegen, hübsch ordentlich gestapelt und mit fein säuberlichem Deckblatt. Doch nun war dieses Manuskript verschwunden. Er schaute unter das Bett, öffnete die Schubladen am Nachttisch und an der Kommode, aus der Phil das Foto seiner Tochter hervorgeholt hatte, aber nirgendwo war auch nur ein einziger Bogen beschriebenen Papiers zu sehen. Er faltete einige der auf dem Boden liegenden Bogen auseinander, aber auf den meisten Seiten standen kaum mehr als ein oder zwei Zeilen, und selten waren die Sätze beendet. Er sah in den Papierkorb, aber dort fand er nur weitere leere Bierdosen und Whiskyflaschen. Sonst nichts!

„Socorro!“, schrie plötzlich jemand hinter ihm. „Asesinato! Socorro!“

Paul fuhr herum und schaute in die weit aufgerissenen Augen einer blau bekittelten Mexikanerin, die auf der Türschwelle stand und ihn anstarrte, als hätte sie den leibhaftigen Teufel vor sich. Sie zog einen kleinen Wagen mit Reinigungsmitteln hinter sich her und hielt einen Staubwedel in der Hand, mit dem sie nun herumfuchtelte und Paul auf Abstand halten wollte. Er hob abwehrend die Hände, ging einen Schritt auf sie zu und sagte: „No, please, I didn’t do it!“

Ein lautes Kreischen war die Antwort. Der Staubwedel flog durch die Luft und landete vor seinen Füßen. Der Reinigungswagen fiel um und entleerte sich auf der Veranda. Bevor er sie zurückhalten konnte, rannte die Mexikanerin auf den Hof und schrie: „Murder! Asesinato! Help!“

Resignierend ließ Paul sich auf den Stuhl neben dem Bett fallen, auf dem er am Vorabend gesessen und sich so wohl gefühlt hatte. Gestern war er sich wie eine Krankenschwester am Bett eines Kranken vorgekommen, und heute war er die Totenwache an seiner Leichenstatt. Er schaute Phil von der Seite an, als könnte dieser ihm erklären, was das alles zu bedeuten hatte, und er wünschte sich, er hätte auf Dorothee gehört.

Dann schloss er die Augen und wartete.

9

Lieutenant Montagna vom LAPD war erstaunlich zuvorkommend und höflich. Er entschuldigte sich sogar dafür, dass seine Kollegen derart rabiat mit Paul umgegangen seien, und klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. Es käme halt nicht so oft vor, dass jemand ganz seelenruhig neben der Leiche eines Erschossenen auf das Eintreffen der Polizei warte. Vor allem die Tatsache, dass Paul ein Glas Whisky in der Hand und eine Zigarre im Mund gehabt hätte, sei den Kollegen merkwürdig erschienen. Er dürfe die Tritte und Beschimpfungen nicht persönlich nehmen, man wisse eben nie, was sich im Kopf eines Menschen abspiele. In Los Angeles gäbe es Gestalten, da käme man in Deutschland gar nicht drauf. Lauter Verrückte! Da sei Vorsicht nun mal angebracht. All dies erzählte er ihm mit auffallendem italienischen Akzent und entsprechender Gestik, während er gleichzeitig einen vegetarischen Burrito verschlang und diesen mit einer Diät-Cola hinunterspülte.

Paul nickte und versuchte dem Lieutenant zu erklären, was es mit der Havanna und dem Whisky auf sich gehabt habe, dass es sich dabei um eine Art persönlichen Abschied von dem Toten gehandelt habe, aber der Polizist winkte verständig ab und lächelte väterlich.

„Sure“, sagte er und rollte das R, „I see, my friend.“

Sie saßen in einem schmuddeligen mexikanischen Schnellrestaurant unweit des „Encore-Motels“ und starrten durch die schmierige Scheibe auf den sonnenbeschienenen Washington Boulevard. Es war der 20. Dezember, die Straße war mit gigantischen Weihnachtsbäumen und unzähligen bunten Lichterketten geschmückt, Menschen hetzten über die Kreuzungen und von Laden zu Laden, um die letzten Besorgungen fürs Fest der Liebe zu tätigen. Vor einem asiatischen Feinkostgeschäft stand ein dunkelhäutiger Weihnachtsmann mit weißem Rauschebart und einer Glocke, mit deren Geläut er die Vorbeigehenden lautstark zum Kauf einiger „delicatessen“ einlud.

Man müsse ja nicht unbedingt im Angesicht eines Toten miteinander reden, hatte der Lieutenant vorhin gemeint und Paul am Arm genommen, das verderbe einem nur die Laune und damit sei niemandem gedient. Die Kollegen vor Ort kämen auch ohne sie zurecht, außerdem habe er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und mittlerweile einen Mordsappetit.

Paul wunderte sich über sein allzu joviales Gehabe, es wirkte unecht und falsch, aber es war dennoch besser zu ertragen als das unverblümt brutale Vorgehen seiner uniformierten Kollegen. Zu fünft und mit vorgehaltenen Pistolen waren sie vor gut einer Stunde in das Motelzimmer gestürmt, hatten sich ohne Vorwarnung auf ihn gestürzt, sodass er bäuchlings zu Boden ging und man ihm die Hände auf dem Rücken fesselte. Während zwei der Männer sich um Phils Leiche und die Tatortsicherung kümmerten, umringten die anderen den Gefesselten und traten ihm mit ihren Stiefeln in die Seite und gegen den Brustkorb, sobald er auch nur versuchte, sich zu bewegen oder irgendetwas zu sagen.

„Wollen Sie nichts essen? Es geht aufs Haus“, sagte Montagna in seinem aufgesetzt wirkenden Italo-Amerikanisch. Es klang wie eine einstudierte Masche, eher komisch als bedrohlich, nicht wie ein Mafioso, sondern wie ein alberner Clown. Auch seine übertriebene Gestik erinnerte eher an die Komödien von Adriano Celentano als an die Mafiafilme eines Martin Scorsese. Man lief leicht Gefahr, den Lieutenant aufgrund seines Akzents zu unterschätzen, und vermutlich war dies genau das, was er damit bezweckte. Der Columbo-Effekt. Er spielte den gutmütigen Trottel.

„Ich bin nicht hungrig“, antwortete Paul auf englisch, aber ebenfalls mit übertriebenem deutschen Akzent. „Ich bekomme keinen Bissen hinunter.“

„Das ist aber schade. Jorge macht die besten Burritos in ganz Culver City“, antwortete der andere und klopfte dem Mexikaner, der gerade an ihrem Tisch vorbeiging, kumpelhaft auf die Schulter. „Nicht wahr, amigo?“

Si, señor Montagna“, erwiderte der Mexikaner, verneigte sich devot und lächelte gequält.

Paul winkte ab und bedankte sich auf italienisch: „Grazie.“

Ein böses Funkeln schoss ihm entgegen, aber der Lieutenant beherrschte sich augenblicklich und setzte sein routiniertes Lächeln auf, bei dem er zwei Reihen blendendweißer Zähne zeigte. „Na, dann schießen Sie mal los, mein verehrter deutscher Freund!“, sagte er, und obwohl er Paul mit seinen Worten gemeint hatte, schaute er dabei dem armen Jorge in die Augen und packte ihn mit einemmal wie ein Kaninchen im Nacken, dass dieser vor Schreck oder Schmerz zusammenfuhr.

Montagna war ein asketisch wirkender langer Kerl, dürr und eingefallen, sein Gesicht war faltig, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er trug einen Schnauzbart und versuchte, sein schütter werdendes Haar mit einem Seitenscheitel direkt über den Ohren zu kaschieren. Sein Hemdkragen war verschwitzt, und bei jeder Bewegung seiner Arme wehte ein ranziger Geruch herüber. Dieser Körpergeruch und der Anblick, wie der Polizist mit fettigen Fingern den Burrito in sich hineinstopfte, ließ Übelkeit in Paul hochkriechen. Er bestellte bei Jorge ein Mineralwasser und begann seine Aussage.

Montagna hörte aufmerksam zu, schaute ihn dann lange skeptisch an, fuhr sich mit einer Papierserviette über den Mund und fragte nach dem Foto von Maria. Paul wartete, bis der Lieutenant sich auch die Finger abgeputzt hatte, und reichte ihm dann den Briefumschlag. Er nahm das Foto heraus, betrachtete es kurz und desinteressiert und schien sich im folgenden mehr für das Kuvert zu interessieren. Er runzelte die Stirn, hielt den Umschlag gegen die Scheibe, grinste plötzlich und sagte: „Nice!“

Paul nahm ihm das Kuvert aus der Hand und betrachtete es nun seinerseits gegen das Sonnenlicht. Und dann verstand er, was der andere gemeint hatte. In der Lasche des Briefumschlags war ein Wasserzeichen zu sehen: ein üppiger Schmollmund mit der Überschrift „Encore-Arts“. Und darunter in kleineren Buchstaben: „Mags & Videos, Culver City, California“.

Paul pfiff durch die Zähne und fragte auf englisch: „Magazine und Videos?“

„Pornografie!“, sagte der Lieutenant und grinste anzüglich.

„Sie meinen, das ‚Encore-Motel’ ist ein …?“ Paul suchte nach dem rechten Wort, aber es wollte ihm nicht einfallen. Weder auf deutsch noch auf englisch.

Montagna zuckte lediglich mit den Schultern, nahm ihm das Kuvert aus der Hand, steckte das Foto wieder hinein und gab ihm beides zurück.

„Richten Sie dem kleinen Mädchen aus, dass es ihrem Daddy leid tut“, sagte er und schien für einen Moment seinen italienischen Akzent vergessen zu haben. Er sprach plötzlich breitestes Kalifornisch, grinste Paul wissend an und wollte sich erheben. „Es war schließlich sein letzter Wille.“

„Sie brauchen das Foto nicht als Beweismaterial?“

„Wofür?“

„Für den Mordfall!“

„Es gibt keinen Mord“, antwortete Montagna gleichgültig, „und es gibt keinen Fall.“ Er sah Paul beinahe mitleidig an und stand im gleichen Moment auf. „Wenn wir jeden noch so klaren Selbstmord in Los Angeles anzweifeln wollten, hätten wir nichts anderes mehr zu tun. An jedem Wochenende sterben in dieser verdammten Stadt zwanzig Menschen eines unnatürlichen Todes. Crash-Kids mit gestohlenen Autos, Junkies an einer Überdosis, Selbstmörder, die sich eine Pistole in den Mund stecken! Hier gibt es Gestalten, da kommen Sie in Deutschland gar nicht drauf. Lauter Verrückte!“ Wieder lachte er anzüglich und wischte sich mit einer Serviette über den Mund. „Erscheinen Sie morgen früh auf dem Revier, damit wir Ihre Aussage protokollieren können. Es soll schließlich alles seine Ordnung haben.“ Er gab Paul seine Karte mit der Adresse der Polizeistation, wandte sich zum Gehen und sagte: „Frohe Weihnachten!“

„Glauben Sie, dass Phil Inn sein richtiger Name war?“

„Phil Inn?“ Der Lieutenant lachte und schüttelte ungläubig den Kopf.

Paul nickte und sagte: „I-double-N.“

Wieder lachte der Lieutenant, griff in seine Aktentasche, die die ganze Zeit neben ihm auf der Bank gelegen hatte, reichte Paul einen abgegriffenen und fleckigen Personalausweis und sagte: „Sehen Sie selbst!“

Das Foto auf dem Ausweis zeigte einen circa vierzigjährigen Mann, der eine starke Ähnlichkeit mit Phil besaß, nur war sein Gesicht nicht so aufgedunsen und der Kopf noch nicht kahl. Sein Name lautete Philip Meadows, geboren am 25. Dezember 1949 in Inglewood, einem Stadtteil von Los Angeles.

„Meadows?“, murmelte Paul und gab dem Lieutenant den Ausweis zurück.

Wieder zuckte dieser mit den Schultern, klemmte sich die Aktentasche unter die Achseln, grinste belustigt und sagte: „Arrivederci!“ Dann drehte er sich plötzlich um und verschwand.

Paul blieb am Tisch zurück und starrte ungläubig auf das Kuvert in seiner Hand. Wieder hielt er es gegen das Licht und las den Schriftzug im Wasserzeichen. Ein Gedanke schoss ihm mit einemmal durch den Kopf. Die Geburtstagskarte! Er habe die Karte an seine Tochter in ein unauffälliges Kuvert gesteckt, hatte Phil am Abend zuvor gesagt. Unauffällig! Mit amerikanischem Poststempel und Wasserzeichen in der Lasche: „Encore-Arts“!

Paul winkte dem Mexikaner und wollte sein Mineralwasser bezahlen.

„No pay“, sagte Jorge und machte einen Bückling. „You are friend of señor Montagna, you not pay.“

„I’m nobody’s friend“, antwortete Paul und legte ihm das Geld auf den Tisch. „Gracias!“

10

Wie am Tag zuvor saß er auf der Veranda vor dem Zimmer Nummer fünf, starrte auf die im Westen untergehende Sonne und rauchte eine Zigarette. Die Mexikaner tuschelten miteinander und starrten furchtsam oder skeptisch aus den Augenwinkeln zu ihm herüber, als hielten sie ihn für Jack the Ripper.

Er hielt das Foto der kleinen Maria in der Hand und hatte keine Ahnung, was nun zu tun war. Er wusste nicht, wer diese Maria wer und wie er sie finden sollte, um ihr die letzten Worte ihres Vaters zu übermitteln. Er wusste nicht, ob er sie überhaupt finden wollte. Er konnte ja nicht einmal mit Sicherheit sagen, wer oder was ihr Vater war. Am frühen Nachmittag hatte er sich in einem Buchladen am Venice Beach erkundigt, aber niemand hatte ihm Auskunft über einen gewissen Phil Inn oder einen Philip Meadows geben können. Bücher dieser Autoren waren nicht zu finden, jedenfalls nicht in englischer Sprache. Selbst in dem Verzeichnis der „out-of-print books“ war nicht die geringste Spur zu entdecken gewesen. Vielleicht hatte er seine Bücher auf deutsch geschrieben? Oder waren sie etwa nur in Deutschland verlegt worden?

Paul erinnerte sich an die Geschichte, an der er zuletzt gearbeitet hatte, an das Manuskript mit dem Titel „The Crash“, das auf so merkwürdige Weise verschwunden war. Ein Unfall! In Berlin.

„Die Adresse!“, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Er hatte seine Anschrift auf das Deckblatt des verdammten Manuskripts geschrieben.

„Mist!“, rief er und warf die Zigarette in den Hof. Am gestrigen Abend noch hatte er geulkt, er sei noch nie der Held in einem Roman gewesen, und heute war er plötzlich Teil einer Geschichte, die ihn … Ja, was eigentlich?

Und er ging ins Zimmer, um seine Koffer zu packen.


Zweiter Teil

1

Eigentlich hieß er Peter Luschin, aber alle nannten ihn nur „der Russe“. Kein Mensch wusste genau, wieso das so war und woher der seltsame Beiname stammte, er selbst am allerwenigsten. Vielleicht lag es an dem ein wenig russisch klingenden Nachnamen, aber weder gab es Russen in seiner Familie noch sprach er die Sprache oder hatte eine Vorliebe für die Literatur des Landes. Es hatte sich einfach so eingebürgert, irgendwann war der Name wie aus dem Nichts aufgetaucht, und mittlerweile nannte ihn kaum noch jemand bei seinem wirklichen Namen (sah man einmal von seinen Eltern ab). Auch Peter hatte sich mit der Zeit an seinen Spitznamen gewöhnt und ihn sogar ein wenig liebgewonnen. „Der Russe“, das klang irgendwie geheimnisvoll und auf jeden Fall besser als „die Lusche“, wie er früher in der Schule genannt worden war. Und schließlich musste nicht immer alles einen Grund haben.

Auch für seine Flucht nach Berlin hatte es nicht wirklich einen Grund gegeben. Eigentlich war es überhaupt keine Flucht gewesen, seine Eltern hatten ihm sogar die Zugfahrkarte gekauft und ihm die Adresse eines befreundeten Wohnungsmaklers mit auf den Weg gegeben. Der Mann sei ein alter Schulfreund von ihm, hatte sein Vater gesagt und ihm kameradschaftlich auf die Schultern geklopft. Der Russe hatte seine Mutter regelrecht beknien müssen, damit sie nicht vorher bei diesem Makler anrief und bereits alles in die Wege leitete. Was wäre das auch für eine Flucht gewesen?!

„Dürfte ich Ihren Fahrschein sehen?“

Der Russe erschrak, schaute sich desorientiert um, fuhr sich mit der Hand über den Kopf und erschrak erneut. Erst am Vortag hatte er seine bislang schulterlangen Haare abschneiden und sie auf Streichholzlänge stutzen lassen, und jedes Mal, wenn er sich über den geschorenen Kopf strich, fuhr ihm ein Schreck in die Glieder. Der Besuch beim Friseur war vermutlich keine gute Idee gewesen. Auch seine Mutter hatte entsetzt aufgeschrien, als sie ihn mit der neuen Frisur gesehen hatte. „Was machst du nur für Sachen!“, hatte sie gesagt. „Ich erkenn dich gar nicht wieder.“

„Das Zugpersonal hat in Hannover gewechselt.“ Der Schaffner stand vor ihm, tippte ungeduldig mit einem Stift auf seinen tragbaren Bordcomputer und wiederholte: „Den Fahrschein bitte!“

Der Russe nickte entschuldigend und händigte das Ticket aus.

„Sie haben einen Fahrschein erster Klasse“, wunderte sich der Schaffner, „dies ist aber die zweite Klasse.“

„Ich w-weiß.“ Wenn er nervös war, stotterte er ein wenig, nur ganz leicht und seltsamerweise nur beim Buchstaben W.

„Die Wagen der ersten Klasse befinden sich im vorderen Teil des Zuges“, sagte der Schaffner, als hätte er die Worte auswendig gelernt. „Gleich hinter dem Bordrestaurant.“

Wieder sagte der Russe: „Ich w-weiß.“

Der Schaffner zuckte mit den Schultern, gab ihm den Fahrschein zurück und verließ staunend das Abteil.

Der Russe grinste zufrieden und schloss die Augen. Dreiundzwanzig elendig lange Jahre hatte er in einem kleinen Dorf im Oldenburger Land gelebt, hatte brav, wenn auch mit Ach und Krach, sein Abitur gemacht, anschließend seinen Dienst bei der Bundeswehr geleistet und danach ein zweijähriges Volontariat bei der Lokalzeitung durchlitten. Sein Vater war dort als Chefredakteur tätig und hatte ihm den Job verschafft. Dreiundzwanzig Jahre Langeweile und immergleiche Routine. Zuerst das Gymnasium, an das er sich erinnerte wie an ein Pandämonium voller böser Geister und das er nur bewältigt hatte, weil seine Eltern Unsummen für Nachhilfeunterricht ausgegeben hatten und mit einigen der Lehrer befreundet gewesen waren. Darauf war die Zeit beim Bund gefolgt. Während andere Wehrdienstleistende quer durch die Republik geschickt worden waren, um in Bayern als Gebirgsjäger oder an der Ostsee bei der Marine zu rödeln, hatte man ihn in einen nahe gelegenen Fliegerhorst zum Funker ausgebildet. Nicht einmal als Soldat hatte er die Landesgrenze Niedersachsens überschritten. Auch die anschließende Arbeit in der Lokalredaktion war nicht gerade aufregend gewesen, worüber sollte man auch schreiben, wenn nie etwas passierte! Zumeist hatte er am Kopiergerät gestanden, als Botenjunge fungiert oder die Termine der Taubenzüchter und Sportschützen in der Rubrik „Aus den Vereinen“ geordnet. An den Wochenenden hatte er sich mit der üblichen Clique getroffen und die wenigen Kneipen und Discos der Gegend abgeklappert, die zumeist von lärmenden Dummköpfen belagert waren.

Viele seiner Freunde waren seit Jahren mit dem gleichen Mädchen zusammen, einige hatten ihre Sandkastenfreundinnen sogar geheiratet und sich ein kleines Häuschen gebaut, das sie nun jahrzehntelang abzahlen würden. Der Russe hatte sich nie besonders viel aus Mädchen gemacht und bislang keine Freundin gehabt, nicht weil er schwul war (wie seine Mutter eine Zeitlang befürchtet hatte), sondern weil ihm die Exemplare des weiblichen Geschlechts, mit denen er tagtäglich konfrontiert gewesen war, Schüttelfrost und Magenkrämpfe verursacht hatten. Was allerdings, wie er durchaus wusste, auf Gegenseitigkeit beruhte.

Doch damit war es nun vorbei, ein für allemal, was scherte ihn sein bisheriges Leben. Er war geflohen. Nach Berlin. In die Hauptstadt Deutschlands! Seitdem er vor einigen Jahren eine Studienfahrt mit dem Geschichtskurs hierher unternommen hatte, war es sein sehnlichster Wunsch gewesen, in Berlin zu leben. Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen. Wieder zu Hause besorgte er sich sofort einen Stadtplan, den er stundenlang betrachtete, er las Döblin und kramte die alten „Ideal“-Platten wieder hervor: Ich steh auf Berlin. Und nun war es endlich soweit!

„Höchste Zeit!“

Der Russe wachte auf und rieb sich die Augen.

„Höchste Zeit, junger Mann, sonst fahren Sie weiter bis zum Ostbahnhof.“ Die alte Frau, die im Abteil neben ihm gesessen hatte und nun im Mantel vor ihm stand, wies mit der ausgestreckten Hand durchs Fenster. „Dies ist der Bahnhof Zoo. Sie müssen aussteigen.“

„Danke“, murmelte er, schulterte seinen Rucksack und lächelte glücklich.

Er würde Publizistik und Geschichte studieren, hatte er sich überlegt, oder etwas Praktischeres: Betriebswirtschaft oder Jura. Zwar hatte das Wintersemester längst begonnen und wenn er sich jetzt fürs kommende Semester bewerben und einen Studienplatz erhalten würde, so könnte er frühestens nach Ostern mit dem Studium anfangen, aber so dringend war es ihm damit auch nicht. Erst einmal wollte er ein wenig herumjobben, vielleicht in einer Kneipe oder als Fahrradkurier, er würde endlich tun und lassen können, was er wollte. Niemand würde ihn gängeln oder ihm Vorschriften machen. Er würde leben!

Zunächst aber musste er sich ein Zimmer in der Pension besorgen, die er von der Studienfahrt her kannte, und sich um eine Wohnung kümmern. Und dann musste er seine Eltern anrufen, um ihnen zu sagen, dass er heil und wohlbehalten in Berlin angekommen war. Damit sie sich nicht sorgten. Seine Mutter war keineswegs von dem Gedanken angetan gewesen, ihren Sohn ausgerechnet zu Weihnachten allein in der großen Stadt zu wissen. Ob er nicht wenigstens die Festtage abwarten wolle, hatte sie gefragt. Das mit der großen, weiten Welt habe doch wohl noch ein paar Wochen Zeit. Außerdem kenne er doch niemanden in Berlin. Was sei denn das für ein Weihnachten?

Wie hätte der Russe seiner Mutter erklären sollen, dass es gerade das bevorstehende Weihnachtsfest gewesen war, das ihn in die Fremde trieb. Und dass es vor allem die Fremde war, die ihn anzog. Noch einen Heiligen Abend im trauten Kreis der Familie hätte er gewiss nicht überstanden. Heute war der 20. Dezember, er war im letzten Moment entkommen.

2

Der Mann hieß Ferdinand Merk und hatte sein Büro am Kurfürstendamm, Ecke Joachimstaler Straße, direkt gegenüber vom Café Kranzler, das aber im Moment vor lauter Baugerüsten und Absperrgittern kaum auszumachen war. Überhaupt hatte sich am Ku’damm seit seinem letzten Besuch einiges geändert, überdimensionale gläserne Hochhäuser schossen hier in die Höhe, das alte, zugegeben sehr hässliche Ku’damm-Eck war einem Neubau gewichen, und wo vor kurzem noch die Kinos lockten, wurden nun Schuhe oder Kleidung verkauft.

„Hausverwaltung und Wohnungsvermittlung Merk“ las der Russe auf einem Messingschild, und als er an der gläsernen Haustür klingelte, meldete sich eine freundliche Frauenstimme: „Hallo. Wer ist dort bitte?“

„Der Russ…“, rutschte es ihm heraus, doch dann verbesserte er sich: „Mein Name ist Luschin. Peter Luschin.“

„Hallo Peter“, antwortete die Stimme. „Deine Mutter hat dich bereits angekündigt, Herr Merk erwartet dich. Komm doch rauf! Vierter Stock.“

Der Summer summte, der Russe seufzte und betrat das Haus.

„Hallo, mein Junge!“, begrüßte ihn der Makler im Flur und reichte ihm die Hand. „Du trinkst doch sicherlich Kaffee?“ Merk war ein kleiner, schmächtiger Mann mit unreiner Haut, wässrigen Augen und Designerbrille. Doch was dem Russen vor allem auffiel, war sein Toupet. Es hatte sicherlich einmal die Farbe der übrigen Haare besessen, doch diese waren mittlerweile angegraut und wollten so gar nicht zu dem dunklen Braun des Haarersatzes passen. Das Toupet war etwa so unauffällig, als hätte Merk sich einen Topflappen auf den Kopf gelegt. Der Russe konnte den Blick gar nicht davon abwenden und starrte ihm unentwegt auf den Scheitel.

„Setz dich doch schon mal dort drüben ins Zimmer“, sagte der Makler, „ich komme gleich.“ Damit verschwand er in einem Nebenraum und schloss die Tür hinter sich.

Der Russe hatte nicht ein einziges Wort erwidern können und stand etwas verloren im Flur herum. Die Frau mit der freundlichen Stimme saß wie eine Sprechstundenhilfe hinter einer Theke, unterbrach ihre Arbeit und deutete mit gespreizten Fingern auf eine hohe Flügeltür.

„Danke“, sagte der Russe und betrat einen riesigen Raum, in dem sich außer einem gläsernen Schreibtisch, zwei Ledersesseln und einem leidlich gefüllten Regal nur einige abstrakte Gemälde an den Wänden befanden. Die Wände waren etwa vier Meter hoch und halogenbestrahlt, der Parkettfußboden knarrte leise unter seinen Füßen. Vom Fenster aus hatte man einen hübschen Ausblick auf das gegenüberliegende Hochhaus des Neuen Kranzler Ecks und auf den Bahnhof Zoo.

Der Russe zog seine schwarze Lederjacke aus, suchte eine Garderobe, fand keine und hielt die Jacke im Arm. Er setzte sich in einen der Sessel und versank darin wie in einem Federbett. Als der Makler mit dem Kaffee kam, wollte er sich erheben, blieb aber wie von einem Magneten angezogen im Ledersessel kleben.

Merk lächelte nachsichtig, gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sitzenbleiben solle, und sagte: „Milch und Zucker?“

Der Russe nickte und schwieg.

„So, so“, sagte Merk und setzte sich hinter dem Schreibtisch in seinen Chefsessel. „Du willst dir also in Berlin ein wenig die Hörner abstoßen? Eine gute Idee, mein Junge, tu das nur. Nichts dagegen zu sagen!“

Der Russe hasste es, „mein Junge“ genannt zu werden, er lächelte gezwungen und seufzte unhörbar.

„Das hab ich auch deinem Vater gesagt.“ Merk reichte ihm eine Tasse, die er umständlich ergriff, weil er immer noch die Lederjacke in der Hand hielt.

„Er scheint sich ein wenig Sorgen zu machen“, sagte der Makler. „’Unsinn, Michael’, hab ich gesagt, ‚lass den Jungen sich ruhig ein bisschen austoben. Hat noch keinem geschadet. Außerdem ist er ja kein Kind mehr.’“ Er lachte laut, schlürfte seinen Kaffee und schaute den Russen eindringlich und skeptisch an. „Siehst deinem alten Herrn gar nicht ähnlich. Ist ein feiner Kerl, mein Junge. Mit deinem Vater kann man Pferde stehlen. Ohne Michael hätte ich mein Abitur nie und nimmer geschafft, ich hab ihm einiges zu verdanken. Wie schön, dass ich mich jetzt ein wenig revanchieren kann.“

„Sie haben eine W-Wohnung für mich?“

„Wie maßgeschneidert. Zwei Zimmer, Zentralheizung, gefliestes Bad, Balkon und beste Lage.“ Er lächelte ein beinahe anzüglich wirkendes Lächeln und setzte hinzu: „Handjerystraße, Friedenau.“

„Wie viel soll die Wohnung kosten?“, fragte der Russe und stellte die Tasse auf dem Schreibtisch ab.

„Mach dir darüber mal keine Gedanken.“

„W-Wie viel?“

Merk zuckte mit den Schultern und sagte: „Neunhundertfünfzig kalt, aber weil du es bist, gehe ich einen Fünfziger runter.“

„Das ist viel zu viel“, erwiderte der Russe und schüttelte entschieden den Kopf. „Das kann ich mir nicht leisten.“

„Ich sagte doch, du sollst dir darüber nicht den Kopf zerbrechen“, sagte der Makler und schaute wie nebenbei auf seine Armbanduhr. „Ich hab das alles längst mit deinem Vater besprochen. Du zahlst ihm, was du monatlich aufbringen kannst, und er schießt den Rest dazu und überweist mir die volle Miete. Wär doch gelacht, wenn ich den Sohn meines alten Freundes Michael nicht unterbringen könnte.“

„Nein“, beharrte der Russe, „Sie verstehen nicht! Ich will kein Geld von meinem Vater. Ich will keine Wohnung, die ich nicht allein finanzieren kann. Da hätte ich ja gleich zu Hause bleiben können.“

„Das wäre deiner Mutter eh am liebsten gewesen“, murmelte Merk und grinste abfällig. „Sie war halbtot vor Angst um dich, ich konnte sie erst beruhigen, als ich ihr versicherte, dass ich dir eine schicke Wohnung in einem sicheren Bezirk besorge. Du wärst dumm, wenn du mein Angebot nicht annehmen würdest. Die Wohnung ist ein echtes Prachtstück.“

„Ich will sie nicht, ich kann sie mir nicht leisten“, antwortete der Russe, beugte sich vor und fragte: „Haben Sie nichts Billigeres? Irgendetwas Einfaches? Ich brauche kein gefliestes Bad und keine Zentralheizung. Ein Raum mit vier W-Wänden, eine Kochgelegenheit, ein Waschbecken und ein Klo, das würde völlig ausreichen.“

„Ich vermittle Wohnungen und keine Asylantenabsteigen“, erwiderte Merk pikiert. Er schien in seiner Maklerehre – wenn es denn so etwas gab – gekränkt, fuhr sich mit der Hand über sein Toupet, das dabei ein wenig verrutschte, und rümpfte die Nase. „Ich habe nur diese eine Wohnung frei, und wenn du sie nicht willst, dann kann ich dir leider nicht helfen.“

Der Russe erhob sich umständlich aus seinem Sessel, nickte dem Makler unsicher zu und sagte: „Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben, Herr Merk. Das war sehr nett von Ihnen. Auf W-Wiedersehen!“

„Warte mal!“ Das Gesicht des Maklers hellte sich mit einemmal auf. Er hob abwehrend die Hände und schaute drein, als überlegte er etwas. „Nicht so voreilig, mein Junge. Mir fällt da gerade etwas ein. Es gibt da eine Wohnung.“ Merk nahm einen Schluck Kaffee und wischte sich nachdenklich mit der Hand den Mund ab. „Anderthalb Zimmer, Ofenheizung, kleine Duschkabine in der Küche, Hinterhaus und Erdgeschoss.“

„Hört sich gut an.“

„Hast du eine Ahnung“, erwiderte Merk kopfschüttelnd und grinste. „Die Wohnung liegt im hintersten Kreuzberg und zur nächsten U-Bahn sind es etliche Minuten Fußweg. Nicht gerade eine Vorzeigeadresse.“

„Was soll sie kosten?“

„Dreihundertfünfzig Mark, inklusive Nebenkosten.“

„Ich nehme sie“, sagte der Russe.

„Von mir aus gern“, antwortete der Makler, fuhr sich mit der rechten Hand über den Mund und kratzte sich anschließend mit der linken den Nacken.

„Aber?“

„Es gibt da ein klitzekleines Problem.“ Merk stand auf und musterte den Russen nachdenklich. „Komm, mein Junge! Überzeug dich selbst.“

3

Die Ratiborstraße war eine schmale und unscheinbare Seitenstraße im entlegensten Winkel Kreuzbergs, unweit des Landwehrkanals und beinahe an der Grenze zum Bezirk Treptow. Die Wohnhäuser auf der einen Seite waren Altbauten mit grauen oder braunen Fassaden, bei denen der Putz abbröckelte, auf der anderen Seite der Straße standen kleine, containerartige Werkstätten und winzige Gewerbehöfe, die von mannshohen Mauern umgeben waren. Ausgediente Waschmaschinen und Fernsehgeräte standen auf dem Gehweg.

„Da vorne fängt die Zone an“, sagte Merk, als er seinen Wagen am angrenzenden Görlitzer Park abstellte und gen Osten deutete. „Da, wo heute die Leute am Kanal entlangspazieren, stand früher die Mauer. Und um ganz ehrlich zu sein …“ Er machte eine Pause, zwinkerte dem Russen zu und setzte flüsternd hinzu: „Von mir aus könnten sie die Mauer gleich wieder aufbauen. Lieber heute als morgen!“ Er lachte über seinen Witz, klopfte dem Russen auf den Rücken und stieg aus.

Der Russe grinste gequält, kletterte ebenfalls aus dem Wagen und versuchte, den Makler auf das eigentliche Gesprächsthema zurückzubringen. „Sie wollten von dem Vormieter erzählen“, sagte er und folgte Merk über die Straße.

„Ein Widerling mit Namen Thornbush“, sagte Merk. „Jake Thornbush.“

„Seltsamer Name“, wunderte sich der Russe.

„Ein Amerikaner“, meinte Merk achselzuckend. „Sprach aber ziemlich gut Deutsch, hätte man gar nicht gedacht, dass das ein Ami ist. Lebte wohl schon einige Zeit in Deutschland. Er war früher mal beim Militär, glaub ich, aber da haben sie ihn anscheinend gefeuert oder beurlaubt, und darum hat er sich in den letzten Jahren als Privatdetektiv versucht. Auch wenn ich bezweifle, dass der ’ne Lizenz dafür hatte. Wenn der überhaupt ’ne Arbeitserlaubnis hatte.“ Er grunzte abfällig, neigte dann den Kopf und setzte hinzu: „Ein riesiger Kerl, ein richtiger Hüne. Ziemlich gerissener Typ, der hat immer so komisch gegrinst, als würd er sich über alles lustig machen.“ Merk verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln. „Ein unangenehmer Bursche, und auf seinem Konto war ständig Ebbe.“

„Warum haben Sie ihm dann die Wohnung vermietet?“

„Was soll ich machen? Bei der Bruchbude kann ich nicht viel verlangen, die werde ich ja nicht mal an die Türken los.“ Wieder lachte er schallend, wandte sich an den Russen und fügte hinzu: „Ich hab dich gewarnt!“

„W-Wie alt ist denn dieser Thornbush?“

„Mitte Dreißig, würde ich schätzen.“

„Und was ist mit ihm passiert?“

„Er konnte die Miete nicht mehr zahlen. Entweder hat er sein Geld versoffen oder verspielt, oder seine Detektei lief so schlecht, dass er besser vom Betteln gelebt hätte. Vier Monate war er mit der Miete im Rückstand. Da ist mir der Kragen geplatzt.“

Sie waren an der Hausnummer drei angekommen. Der Russe betrachtete die schwärzliche und notdürftig ausgebesserte Fassade des Vorderhauses und schluckte. Bei einigen der Balkone fehlte die gemauerte Verkleidung, die Eisenträger ragten heraus und waren so verrostet, dass sie jeden Moment abzubrechen drohten. Die Mieter hatten das fehlende Mauerwerk durch Wellblech oder Holz ersetzt. Das Ganze wirkte provisorisch und sehr abenteuerlich, und der Russe bezweifelte, dass diese Konstruktionen vom Bauamt genehmigt worden waren. Das Erdgeschoss des Hauses war mit Graffiti und politischen Parolen übersät, die allerdings nicht auf dem neuesten Stand waren. „Reagan, hau ab!“, las der Russe und „Schluss mit der politischen Gefangenschaft in der BRD“. Ein anderer hatte darunter geschrieben: „Freiheit für Muff Potter“. Der Russe stutzte und folgte dem Makler durch einen düsteren Durchgang, in dem es nach Urin roch. Sie gelangten in einen winzigen Hof, wo sich die Gerippe schrottreifer Fahrräder stapelten.

„Die Wohnung ist im Gartenhaus“, sagte Merk.

„Garten?“, wunderte sich der Russe. „Davon sehe ich aber nichts.“

„Das heißt nur so“, antwortete der Makler und zog einen riesigen Schlüsselbund aus der Manteltasche. „Das bedeutet bloß, dass es ein freistehendes Hinterhaus ist. Viele Außenwände und im Winter kaum zu heizen.“

Dem Russen wurde es allmählich mulmig, aber er ließ sich nichts anmerken. Er redete sich ein, dass der Makler die Wohnung nur deshalb so madig machte, weil er lieber die teure Wohnung in Friedenau vermieten wollte. Vermutlich hatte Merk mit seinem Vater bereits die Provision ausgehandelt.

„Wo war ich stehen geblieben?“ Merk räumte den verbogenen Rahmen eines Fahrrads beiseite und warf einen angeekelten Blick auf die überquellenden Mülltonnen. Der Papiercontainer stand offen und war gefüllt mit normalem Hausmüll. Windeln und kaputte Blumentöpfe ragten daraus hervor.

„Ihnen ist der Kragen geplatzt“, half ihm der Russe auf die Sprünge.

„Richtig! Vor zwei Wochen hab ich mir diesen Thornbush vorgeknöpft und ihn zum wiederholten Mal zur Rede gestellt. Ich hab ihm gesagt, dass ich ihn auf die Straße setze, wenn er nicht augenblicklich seine Schulden begleicht.“

„Und haben Sie Ihr Geld von Thornbush bekommen?“

„Wo denkst du hin!“, ärgerte sich Merk. „Er hat herumgewinselt und mich angebettelt, ihm noch ein paar Tage Frist zu geben. Er sei an einer ganz großen Sache dran, und wenn ich mich noch ein wenig gedulden würde, dann würde er mich für meine Nachsicht fürstlich entlohnen.“

„Eine große Sache?“

Merk zuckte mit den Schultern und sagte: „Er hat getan, als ginge es um eine Staatsaffäre, aber was es genau war, das hat er nicht gesagt. Es hörte sich an, als hätte er im Lotto gewonnen und wartete nur noch auf die Auszahlung. Er sei auf eine Goldader gestoßen, hat er gemeint.“

„Aber er hat nicht gezahlt“, ergänzte der Russe.

„Seit unserem letzten Treffen hab ich nichts mehr von ihm gehört, und Geld ist auch nicht auf unserem Konto eingegangen. Der Kerl ist wie vom Erdboden verschwunden, sein Telefon hat die Telekom inzwischen abgestellt und auch den Strom haben sie ihm abgedreht. In seiner Wohnung hab ich ihn nicht mehr angetroffen, auch nachts nicht. Nicht mal seine Frau weiß, wo der Kerl steckt.“

„Er ist verheiratet?“

„Geschieden“, erklärte Merk, „Seine Ex-Frau scheint sich aber ’nen feuchten Kehricht für ihren Verflossenen zu interessieren. Und Geld war aus der erst recht nicht herauszuholen. Und deshalb hab ich gestern Abend die Schlösser austauschen lassen.“

Sie standen im Erdgeschoss des Hinterhauses. Die Beleuchtung im Treppenhaus funktionierte nicht, und nur mit Mühe konnte der Russe ein kleines Pappschild entziffern, das mit Heftzwecken an der Wohnungstür angebracht war: „Detektei Thornbush“, stand darauf, „Ermittlungen aller Art.“

Plötzlich fuhr der Russe zusammen, starrte den Makler an und schien erst jetzt zu begreifen, was dieser soeben gesagt hatte. „Gestern Abend?“, rief er. „Soll das heißen, dass der Vormieter noch gar nicht w-weiß …“

„Ich hab ja gesagt“, unterbrach ihn Merk, hob die Achseln und schloss die Wohnungstür auf, „es gibt da ein klitzekleines Problem.“ Mit diesen Worten bat er den Russen hinein.

Die Wohnung war wirklich winzig. Das kleinere der beiden Zimmer war nicht mehr als eine geräumige Abstellkammer, und der eigentliche Wohnraum hatte kaum fünfzehn Quadratmeter Grundfläche. Die Küche war gerade groß genug, um neben dem Fenster einen Bistrotisch mit zwei Klappstühlen aufzustellen, und in einer Ecke des Raumes, gleich neben dem Herd, war nachträglich eine Duschkabine eingebaut worden. Da der Strom abgestellt war und aus dem Hof kaum Licht in die Zimmer fiel, war es beinahe so finster wie im Keller. Die Wohnung war ein Loch.

„Ich hatte noch keine Zeit, die Möbel abtransportieren zu lassen“, sagte der Makler, führte den Russen ins Wohnzimmer und zog die Vorhänge am Fenster auf. „Wenn du die Wohnung nimmst und sie entrümpelst, mein Junge, dann verzichte ich auf die übliche Provision. Du kannst die Sachen natürlich auch behalten“, fügte er hinzu und setzte ein schiefes Lächeln auf, „wenn sie dir gefallen.“

Der Russe schaute sich um und war unschlüssig. Er fühlte sich unbehaglich und wusste nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Das Zimmer sah tatsächlich so aus, als hätte der Vormieter es erst vor kurzem verlassen. Der Schreibtisch unter dem Fenster wirkte zwar nicht so, als wäre viel auf ihm gearbeitet worden, aber Briefpapier, Stifte und eine in die Jahre gekommene elektrische Schreibmaschine waren doch vorhanden. Ein Hängeregal an der Wand war mit Büchern, einem Lexikon und einigen Aktenordnern gefüllt, weitere Ordner lagen neben dem Schreibtisch auf dem Boden. In einer Ecke des Raumes befand sich ein kleiner Tisch mit zwei Sesseln, und ein großer Kleiderschrank stand zur Rechten an der Wand. Staub hatte sich überall abgesetzt, nur eine dünne Schicht, aber doch sichtbar. Allerdings konnte man nicht davon reden, dass es im Zimmer unordentlich oder dreckig war. Die Wände waren mit ehemals weißer Rauhfasertapete tapeziert, die an einigen Stellen lose war und sich wellte. Wände wie Türen konnten einen neuen Anstrich gebrauchen, aber in unsäglich schäbigem Zustand waren sie nicht. Gleiches galt für die dunkelblauen Vorhänge und den billigen grauen Teppich, der zwar reichlich ausgetreten wirkte, aber abgesehen von einigen Brandspuren vor dem Ofen und kleineren Flecken in der Sitzecke durchaus passabel war.

Der Russe schaute durch eine kleine Verbindungstür in die Abstellkammer, die von dem Vormieter als Schlafzimmer benutzt worden war. Die Bettwäsche lag noch auf der Matratze, und unter dem Kopfkissen lugte der Zipfel eines hellblauen Schlafanzugs hervor. Auf dem Nachttisch stand ein altes Kofferradio und daneben ein mechanischer Wecker. Er war um neun Uhr stehen geblieben.

„Was ist“, fragte er und wandte sich zu Merk um, „wenn Thornbush plötzlich vor der Tür steht?“

„Sein Schlüssel wird nicht passen.“

„Und was mache ich dann?“

„Er wird bestimmt nicht mehr auftauchen“, antwortete der Makler, ging zum Kleiderschrank und öffnete ihn. „Der Schrank ist leer! Siehst du, der Vogel ist ausgeflogen. Er hat mitgenommen, was er brauchte, und den Rest hiergelassen. „

Tatsächlich befand sich kein einziges Kleidungsstück mehr in dem Schrank, auch an der Garderobe neben der Tür, auf die Merk nun wies, hingen lediglich ein kaputter Regenschirm und ein grüner Wollschal.

„Ich hab den Schreibtisch und sämtliche Schränke und Regale durchstöbert“, fuhr der Makler fort. „In der ganzen Wohnung gibt es nichts Persönliches von Thornbush. Keine Papiere, kein Geld, keine Scheckkarten. Nicht einmal Fotos. Nichts!“

„Nur seinen Schlafanzug“, murmelte der Russe.

„Mach dir keine Sorgen, Peter“, sagte Merk und legte seine Hand auf die Schulter des Russen. „Thornbush wird sich hier nicht mehr blicken lassen. Aus seiner großen Sache, von der er gefaselt hat, scheint nichts geworden zu sein, und jetzt ist er über alle Berge und schnorrt sich woanders durchs Leben. Vermutlich ist er längst wieder in Amerika.“

„Und ich kann mich ins gemachte Bett legen“, sagte der Russe und ließ sich in einen der beiden Sessel fallen, sodass der Staub aufwirbelte.

„Du nimmst die Wohnung?“

Der Russe nickte zögerlich, und Merk lächelte zufrieden.

Plötzlich jedoch wurde er nachdenklich, zog die Stirn kraus und sagte: „Deinem Vater dürfte die Wohnung allerdings gar nicht gefallen.“

„Er muss ja nicht darin wohnen“, erwiderte der Russe.

„Trotzdem“, sagte Merk. „Ich möchte ihn nicht verärgern.“

„Sie scheinen ja eine hohe Meinung von meinem Vater zu haben.“

„Dein alter Herr ist ein Mordskerl“, antwortete der Makler, „lass dir das ruhig gesagt sein, mein Junge. Weißt du, welchen Spitznamen Michael in der Schule hatte?“

Der Russe tippte: „Die Lusche?“

„Die Lusche? Wie kommst du denn darauf?“, empörte sich Merk, zog eine Flappe und nestelte an seinem Schlüsselbund herum. „Nein, er hieß ‚der Champ’“, sagte er und setzte mit Nachdruck hinzu: „Und er war auch einer.“

„Sicher“, antwortete der Russe kleinlaut und ließ sich vom Makler die Wohnungsschlüssel geben. „Das sollte nur ein W-Witz sein.“

„Lusche!“ Merk brummte missfällig, schüttelte den Kopf und überreichte dem Russen ein Papier. „Füll doch bitte dieses Formular aus und bring es morgen mit, wenn wir den Vertrag unterschreiben.“

Der Russe betrachtete das Papier und staunte. Es war eine Art Fragebogen mit Angaben zur Person, zu den Lebenspartnern, Eltern oder sonstigen Bürgen, zur finanziellen Situation des Mieters, zu momentanen oder vorherigen Arbeitgebern und zu den bisherigen Wohnorten und Vermietern. Ein Verhör durch die Polizei hätte nicht indiskreter sein können. Kein Wunder, dass Merk so gut über die Lebensverhältnisse seiner Mieter Bescheid wusste.

„Für unsere Unterlagen“, erklärte der Makler und grinste säuerlich. „Wir wissen halt gerne, wem wir unsere Wohnungen überlassen.“

„Sicher“, sagte der Russe. „Das verstehe ich.“

4

„Luschin.“

„Hallo, Papa, hier ist Peter.“

„’n Abend, mein Sohn, wo steckst du denn gerade?“

„In der Pension.“

„Warst du noch nicht bei Merk?“

„Doch.“

„Und? Gefällt dir die Wohnung in der Handjerystraße?“

„Sie war mir zu teuer.“

„Aber das Finanzielle hatte ich mit Ferdinand doch längst geregelt.“

„Ich w-weiß, aber ich möchte nicht, dass du irgendetwas für mich regelst. Ich hatte euch ausdrücklich gebeten, nicht bei diesem Makler anzurufen.“

„Ein Anruf kann manchmal Türen öffnen.“

Schweigen.

„Und du bist immer noch unser Sohn, Peter.“

„Ja.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739365381
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
Thriller Berlin Brandenburg Krimi Spannung Kreuzberg

Autor

  • Mani Beckmann (Autor:in)

Mani Beckmann wurde 1965 in Alstätte/Westfalen geboren. Nach Abitur und Zivildienst zog er 1986 nach Berlin und studierte Filmwissenschaft und Publizistik. Seit 1988 arbeitet er als Journalist und Filmkritiker und seit 1994 als Drehbuchlektor des WDR. Im Jahr 1994 erschien sein erster Kriminalroman, seitdem arbeitet er als Autor von Krimis und historischen Romanen. Mani Beckmann ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.
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Titel: Das Sterben im Klee