F.E.O. - Future Eyes Only

F.E.O.-Future Eyes Only

Kirk Spader

James Fenwick Barton sah auf das Dokument in seinen Händen. Es war vor fast vierhundert Jahren geschrieben worden.

Seine Hände zitterten und obwohl kühle Nachtluft durch die riesigen offenen Fenster in das Büro strömte, war ihm heiß. Schauer durchliefen seinen Körper. In dem großen Büro war es dunkel, nur die Schreibtischlampe warf warmes Licht auf die Bilder an den Wänden. Durch die offenen Fenster schien das Licht einer Vollmondnacht.

Wieder und wieder las er den Brief. Er hatte ihn in den letzten Wochen häufiger gelesen, als er jemals ein Buch oder etwas anderes gelesen hatte.

Konnte ihn auswendig, jedes Wort und jeder Satz der energischen, exakten Handschrift hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt.

In einer Mappe auf seinem Schreibtisch befanden sich die Übersetzung des Briefes, eine exakte Analyse der Handschrift, der Zeichnungen und der mathematisch-technischen Hintergründe des Schriftstückes.

Barton ließ den Brief sinken und lehnte sich zurück.

Er strich sich durch sein schütter werdendes Haar und fuhr gedankenverloren die Konturen seines hageren, kantigen Gesichts entlang. Schweiß lief ihm in den Hemdkragen und er lockerte die Krawatte. Dann nahm er sie ganz ab und wischte sich damit über die feuchte Stirn.

Das war es jetzt also.

Er stand auf und ging zu der versteckten Bar, die als Buchregal getarnt war. Aus dem Glasregal nahm er eines der größeren Gläser heraus und füllte es mit Eis.

Die Flasche McCallen fühlte sich angenehm kühl an, als er das Glas fast bis zum Rand füllte. Er trank einen großen Schluck des 40 Jahre alten Whiskys.

Auf einem der Monitore, die in dem Büro aufgestellt waren, sah man einen Strand, einen leeren Strand, der sich fast bis zum Horizont dehnte. Vollmond beleuchtete eine gespenstische Szenerie: Das Meer war zurückgewichen, angezogen von der gewaltigen Masse im All. Fische und andere Meereslebewesen zappelten auf dem matschigen Grund.

Barton schaltete den Monitor ab und setzte sich schwerfällig in den alten, lederbezogenen Schreibtischstuhl. Er fühlte sich unendlich alt, obwohl er erst Anfang fünfzig war.

Von draußen drangen die Geräusche der Nacht herein, Polizeisirenen, hupende Autos, Gelächter von Menschen.

Er nahm den Brief wieder in die Hand. Ein Meisterwerk. Das Testament eines Genies, das ihm aus der Vergangenheit höhnisch über die Schulter sah.

Als ihm ein Mitarbeiter vor einer Woche den Brief aus dem geheimen Archiv der Nationalbibliothek brachte, hatte er genervt aufgestöhnt.

Das Dokument stammte aus einem geheimen Tresorraum unterhalb der Bibliothek. In Regierungskreisen hieß der Raum „Fortune Cookie“. Barton hatte den Raum selbst noch nie betreten, aber er wusste um seine Geschichte. Das Archiv war vor 50 Jahren gegründet worden und eine geheime Legende.

Der erste Leiter des Archivs, Professor Randall Sparks, hatte die Dokumente heimlich gesichtet und den Verstand verloren, sagte man.

Auf der Tür stand »Future Eyes Only«, dass stand auch auf der Mappe, in dem der Brief vorgelegt worden war. Alles, was dort gelagert wurde, bedeutete Ärger.

»F.E.O.-Future Eyes Only«, nur zur Kenntnisnahme zukünftiger Personen.

Das konnte eine geheime Akte sein, die den „Freedom of Information Act“, der die Freeigabe geheimer Schriftstücke regelte, niemals erleben würde. Oder irgendein riesiger Bock, den einer seiner Vorgänger vor Jahrzehnten geschossen hatte. Der heilige Gral der Verschwörungstheoretiker. Die Wahrheit über die Mondlandung, das Kennedy-Attentat, Roswell.

Ein Erbe für spätere Generationen, die sich mit den Konsequenzen rumschlagen durften. Verwahrt in massiven einzelnen Schließfächern, die mit elektronischen Zeitschaltuhren ausgestattet waren und sich erst öffneten, wenn der in dem jeweiligen Dokument genannte Zeitpunkt erreicht war.