Lade Inhalt...

Promise

Die Trilogie

von Maya Shepherd (Autor:in)
548 Seiten

Zusammenfassung

Weit mehr als die Hälfte der Menschheit starb an einer unbekannten Seuche. Jegliche Strom-, Wasser- und Nahrungsversorgung ist zerstört. Es gibt weder eine Regierung noch Gesetze oder Regeln. Die Städte liegen in Trümmern und Gangs beherrschen die Straßen. Das ist die Welt, in der Nea lebt. Nach dem Tod ihres besten Freundes und großer Liebe Miro begibt sie sich auf die Reise nach Promise, in der ein normales Leben möglich sein soll. Vor ihr liegt ein weiter Weg voller Gefahren und Zweifel. Zudem lastet auf ihrem Herzen eine schwere Schuld.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Widmung

Für meine wundervollen Leser,

die Nea auf ihrer Reise nach Promise begleiten

 

Durch euch ist es mir möglich meinen Traum zu leben und als Autorin zu arbeiten. Ihr inspiriert und motiviert mich täglich mehr und besser zu schreiben.

Danke!

 

Ich freue mich, wenn ihr mir nach dem Lesen eine Rezension hinterlasst.

 

Karte

chapter2Image1.jpeg

Prolog

chapter3Image1.jpeg

Kennt ihr das Gefühl, wenn man spürt, dass etwas Schreckliches passieren wird? Aber anstatt auszuflippen, fühlt man sich leer und wie innerlich erfroren. Einfach weil man weiß, dass man es nicht ändern kann. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als machtlos dazustehen und dem Unheil entgegenzublicken. Zudem ist da die Hoffnung, dass alles doch nicht so schlimm werden wird. Der Wunsch nach einer Rettung in letzter Sekunde.

 

Wir sind alle betroffen, egal ob alt oder jung, dick oder dünn, schwarz oder weiß. Die Seuche macht keine Unterschiede. Es kann jeden treffen.

Es werden Menschen sterben, die wir nicht einmal kennen, und mit ihnen sterben der Strom, das Licht, die Wasserversorgung, die Nahrungsmittelproduktion und alles, was man sonst noch zum Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert braucht. Das alles wegen einer Krankheit, die mit einem kleinen Schnupfen beginnt und mit hohem Fieber, Haarausfall und Hautausschlag am ganzen Körper endet. Solange, bis einem nichts mehr übrig bleibt, als auf den eigenen Tod zu hoffen.

Die Nachrichten überschlagen sich mit Theorien zu der Seuche. Die Presse hat sie Polyora getauft. Poly steht für die vielen Menschen, die ihr bereits zum Opfer gefallen sind und Ora bedeutet das Ende.

Die Erwachsenen haben kein anderes Gesprächsthema mehr. Egal, wohin man geht, überall trifft man Menschen, in deren Bekanntenkreis bereits jemand an dem Virus gestorben ist. Jeden Abend werden im Fernsehen Statistiken eingeblendet, die zeigen, wie viel Prozent der Welt-bevölkerung der Seuche bereits zum Opfer gefallen sind. Gleichzeitig werden die Forscher aber nicht müde zu betonen, dass sie an einem Gegenmittel arbeiten. Es hat selbstverständlich höchste Priorität und alle anderen Forschungen wurden eingestellt. Jeder, der auch nur ein wenig Ahnung von dem Thema hat, beschäftigt sich Tag und Nacht nur noch mit der Suche nach dem dringend benötigten Impfstoff. Es ist die größte Katastrophe in der Geschichte der Menschheit. Nicht einmal der Pest fielen so viele Menschen zum Opfer und doch muss es einen Weg zur Heilung geben. Die Lösung muss zum Greifen nahe sein. Denn anders wäre es nicht zu erklären, weswegen manche Menschen verschont bleiben.

Bei all der Panik bilden sich viele Sekten und neue Glaubensgemeinschaften, die die Verschonten damit erklären, dass sie ohne Schuld seien. Alles sei der Wille Gottes, der die Welt reinwaschen wolle. Doch daran glauben weder meine Eltern noch ich. Wir waren nie besonders gläubig, sind nie in die Kirche gegangen. Nicht einmal ein Tischgebet haben wir gesprochen. Warum sollten wir dann jetzt damit anfangen? Doch trotzdem erwische ich meine Mutter immer häufiger dabei, wie sie in einem ruhigen und scheinbar unbeobachteten Moment die Hände faltet und still vor sich hin betet. Sie hat große Angst, das sehe ich ihr an. Ihre Augen sind oft vom Weinen gerötet und geschwollen.

Als ich zwölf Jahre alt war, hatten meine Eltern aufgehört, abends an mein Bett zu treten, mir einen Gute-Nacht-Kuss zu geben und mir schöne Träume zu wünschen. Es war mir peinlich und ich habe ihnen erklärt, dass man so etwas bei großen Kindern nicht mehr macht. Doch seit vier Wochen kommen sie wieder jeden Abend zu mir. Sie setzen sich auf meine Bettkante und blicken mich voller Sorge an. Sie erzählen mir dann, dass ich mich nicht fürchten solle, dass alles sich schon irgendwie regeln würde. Egal was passieren wird, das Leben würde für mich weitergehen und es würde alles wieder gut werden. Ich weiß nicht, wovor sie sich mehr fürchten: Dass ich die Seuche bekomme und vor ihnen sterbe oder dass sie sterben und mich alleine zurücklassen müssen?

Oft liege ich die ganze Nacht lang wach in meinem Bett und versuche mir wirklich ernsthaft vorzustellen, wie die Welt ohne meine Eltern sein wird, ohne Strom und all die Dinge, die für mich zum Alltag dazugehören. Doch es gelingt mir nicht.

Vor einigen Tagen habe ich in unserem Garten versucht, mit zwei Stöcken ein Feuer zu entfachen. Aber anstatt Funken zu produzieren, habe ich mich nur mit einem der beiden Stöcke in den Arm geritzt, sodass es blutete. Wie soll ich in dieser veränderten Welt jemals überleben? Ich werde in einer Welt ohne Strom nicht einmal ein Licht in der Dunkelheit haben.

Natürlich könnte ich mich mit anderen Überlebenden zusammentun, aber ich hatte noch nie viele Freunde. Schon immer war ich eher eine Einzelgängerin, weil ich mich nicht gerne auf andere verlasse.

Neben meinen Eltern gibt es nur einen Menschen, für den ich bedingungslos alles tun würde: Miro. Er ist mein bester Freund. Mehr als das, er ist der Bruder, den ich nie hatte. Mit ihm teile ich meine Wünsche und Träume ebenso wie meine Sorgen und Ängste. Wann immer ich traurig bin, zaubert er mir ein Lächeln ins Gesicht.

Wenn die Welt untergeht, wird er meine Hand halten und mit mir auf den Trümmern tanzen.

1 - Die Bärentöterin

chapter4Image1.jpeg

(Sechs Jahre später)

 

Ein kalter Wind weht Nea ins Gesicht, während sich ihre nackten Zehen in den nassen Sand bohren und das Meerwasser ihr über die Füße schwappt. Es ist früher Morgen. Die Sonne geht langsam am Horizont auf und taucht die Welt in einen goldenen Glanz, der das tiefe Blau der Nacht vertreibt. Ihre Augen hält sie geschlossen. Sie atmet den salzigen Geruch ein und versucht, sich das Rauschen des Meeres einzuprägen. Beides ist für sie so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen. Seit ihrer Geburt lebt sie in dem kleinen Dorf am Meer. Hier hat sie nicht nur Laufen gelernt, sondern jeden ihrer Geburtstage mit Lagerfeuer und gegrilltem Fisch am Strand verbracht. Den Ort ihrer Kindheit zu verlassen, soll einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben ziehen. Zu viele Menschen sind gestorben. Zu viel Leid musste sie ertragen. Hier gibt es keine Zukunft und keine Hoffnung. Ihr Ziel ist die neu errichtete Stadt Promise im Süden. Nea wird mehrere Wochen unterwegs sein, um sie zu erreichen, doch das ist es ihr wert. Sie würde jede Gefahr und Anstrengung auf sich nehmen, um zu vergessen und von vorne anfangen zu können. Vor ungefähr zwei Jahren hatte sie von Promise erfahren. Die einzige Stadt, die über Strom verfügt. Die einzige Stadt, die ein Leben ohne Angst ermöglicht. Die einzige Stadt, die eine bessere Zukunft verspricht. Natürlich gewähren sie nicht jedem Zutritt. Es gibt strenge Auswahlverfahren, denn es ist eine Ehre, Einlass in Promise zu erhalten.

Nea ist weder Hochleistungssportlerin noch ein Technik-Genie, aber sie ist nicht auf den Kopf gefallen und lernt schnell. Sie hat in den letzten sechs Jahren einen starken Überlebenswillen entwickelt und weiß, dass sie viel schaffen kann, wenn sie erst einmal der Ehrgeiz gepackt hat. Sie gehört nicht zu den Mädchen, die sich irgendeinen starken Typen suchen, der sie beschützt, sondern hat gelernt, sich allein durchzuschlagen. Sie musste es lernen. Denn sie war alleine auf der Welt, ohne Familie oder Freunde.

Viele machen sich deshalb die Macht der Gemeinschaft zunutze und jagen oder überfallen zusammen. Gemeinsam ist man stärker als allein, doch je mehr Personen aufeinander treffen, umso deutlicher unterscheiden sich die Starken von den Schwachen. Während sich die Starken nehmen, was sie wollen, bleibt für die anderen nur der Rest.

Das beste Beispiel dafür sind die Carris. Sie sind eine Art Sekte, die sich nach der Seuche gebildet hat. Anfangs hat sie jeder als Spinner abgetan, da sie einen von ihren eigenen Leuten als Gott verehren. Angeblich ist er von den Toten wiederauferstanden und aus dem Meer gestiegen. Sie nennen ihn Ereb, den Gott des Chaos. Nie hat ihn jemand zu Gesicht bekommen. Nea glaubt nicht an Götter, weder gute noch böse.

Chaos herrscht auf der ganzen Welt, in jeder noch so kleinen Ecke, doch weder Ereb noch sonst irgendjemand kann es kontrollieren.

Doch im letzten Jahr haben die Carris immer mehr Mitglieder gefunden, sodass sie nun ein ganzes Gebiet beherrschen. Sie nennen es Dementia. Die wenigsten Menschen glauben wohl wirklich an Ereb, den Gott des Chaos, sondern haben sich den Carris nur angeschlossen, weil sie dort für ihren Glauben mit Nahrung belohnt werden. Es ist nicht unbedingt ein schlechtes System. Für viele ist es das Einfachste, aber Nea ist ihre Freiheit wichtiger als ein Dach über dem Kopf.

Jeder Bewohner in Dementia bekommt von den Carris eine Aufgabe zugeteilt. Die meisten müssen auf den Feldern arbeiten oder das Land verteidigen. Wenige Auserwählte dürfen die Zeremonien rund um die Huldigung Erebs leiten und sind damit eine Art Priester. Wer einmal Dementia betritt, den lassen sie nicht wieder gehen. Entweder schließt man sich ihnen an oder man stirbt. Doch die Carris sind nicht wirklich schlau. Man kann ihnen leicht etwas vorspielen. Genau das beabsichtigt Nea zu tun. Denn um Promise näher zu kommen, führt kein Weg an Dementia vorbei.

 

Bevor Nea geht, braucht sie sich von niemandem zu verabschieden. Denn obwohl sie hier aufgewachsen ist, hat sie nie engere Bindungen geschlossen. Nur das Meer, das wollte sie heute noch einmal sehen. Es war ihr stets der treueste Freund. Am Anfang, als die Trauer um ihre Eltern noch übermächtig war, hat sie Tag und Nacht am Strand verbracht und nur das stete Rauschen der Wellen konnte sie in den Schlaf wiegen. Gleichzeitig war es ihr immer auch eine Nahrungsquelle. Es hat nicht lange gedauert, bis sie gelernt hatte, ein Feuer zu entzünden. Etwas, was ihr doch im schützenden Garten ihres Elternhauses noch als ein Ding der Unmöglichkeit erschienen war. Doch die Not lehrt die einen beten und die anderen Feuer zu machen.

Das Meer gab ihr Zuversicht, wenn sie hoffnungslos war, und Ruhe, wenn sie vor Wut tobte. Es war immer da, ihr ganzes Leben lang, und es nun zurückzulassen, fällt ihr schwerer als alles andere. Doch sie muss endlich losziehen, wenn sie etwas an ihrem Leben ändern will. Nea ist schließlich nicht ohne Grund noch vor dem Morgengrauen aufgestanden und hat ihr Lager mit Schlafsack und Rucksack verlassen. In letzterem befindet sich nur das Nötigste. Ein paar Konserven, zwei Wasserflaschen, ein dünnes Seil, ein Netz, zwei Feuersteine, einen Kompass, eine Landkarte und ein Messer, mit dem sie sich sowohl verteidigen als auch ernähren kann. Kein sentimentaler Ballast. Sie besitzt weder ein Foto noch ein Andenken, Schmuckstück oder Tagebuch ihrer Eltern. Sie weiß, dass andere an solchen Erinnerungsstücken hängen, mehr als ihrem Leben gut tut. Leicht lassen sie sich damit erpressen. Dieser Gefahr kann Nea nicht zum Opfer fallen, dabei hätte sie sich so leicht ein Erinnerungsstück aus ihrem Zuhause holen können. Sie lebte schließlich bis heute in der Stadt, in der sie geboren wurde. Doch seit sechs Jahren, seit Polyora, hat sie das Haus nicht mehr betreten, sich nicht einmal in die Nähe davon gewagt. Sie will nicht sehen, wie verwüstet es nun von den Überfällen der Gangs daliegt. Sie will es so in Erinnerung behalten, wie es war, als ihre Eltern und sie noch eine glückliche Familie waren und ihr Lachen durch die großen Fenster auf die Straße drang.

Ihre Gedanken an glücklichere Zeiten versuchen sie krampfhaft an diesem Ort zu halten, doch ihre Entscheidung ist gefallen. Konsequent lenkt Nea ihre Füße aus dem Wasser und zieht sich erst ein Sockenpaar und dann noch ein zweites an. Die Löcher des einen Sockenpaares werden von dem anderen verdeckt, um so ihre Füße vor Kälte zu schützen. Zudem sind die braunen Armeestiefel etwas groß. Sie gehörten Miro.

 

Konzentriert bindet sie sich die Schuhe, bloß nicht wieder aufs Meer blicken und in Gedanken verfallen. Viel zu lange hat sie sich aufhalten lassen. Ein weiter Weg liegt vor ihr, quer durch den Wald, voller unbekannter Gefahren, und so stapft sie die sandigen Hügel empor, ohne sich auch nur noch einmal umzublicken.

Der Wind bläst ihr entgegen, als wolle er sie zurückdrängen, sie aufhalten. Nea wandert durch das hohe Schilfgras, immer weiter geradeaus, bis sie hinter einer bestimmt einen Meter hochgewachsenen Wiese den Wald erblicken kann. Er liegt still und verlassen da, doch es ist bereits hell genug, um ihm die Schrecken der Nacht zu nehmen. Das hohe Gras ist noch feucht vom Tau und wieder ist sie dankbar für ihren nässeabweisenden Mantel und die festen Stiefel.

Sie lässt das taufeuchte Gras hinter sich und betritt den von Nadeln übersäten und von Moos bedeckten, weichen Boden des Waldes. Von nahem wirkt er nicht länger angsteinflößend, ganz im Gegenteil. Durch die Baumkronen strahlt sanft das Licht der mittlerweile aufsteigenden Sonne und hüllt alles in einen märchenhaften Glanz. Zwischen den Bäumen tanzen einzelne Lichtstrahlen umher. Leises Vogelgezwitscher und das sanfte Rascheln von Blättern ist zu hören. All das erinnert Nea plötzlich an ein Buch aus Kindertagen, aus dem ihr Vater ihr oft vorgelesen hat. Es handelte von einer Fee, die sich in einen Menschenjungen verliebt hatte. In ihrer Phantasie hat sie sich den Wald, in dem die Fee, die in einem Baumloch lebte, neben Herrn Eichhörnchen, den Tau der Blätter zum Frühstück trinkend und saftige rote Waldbeeren zu Mittag und ein paar Nüsse am Abend essend, immer genau so vorgestellt, wie der, durch den sie jetzt wandert. Die Fee sang mit den Vögeln um die Wette, badete in Tümpeln und legte sich auf weichem, tannengrünem Moos zu Bett. So sorglos und unbeschwert. Gerade diese alberne Geschichte gibt ihr nun Mut für ihre Reise.

 

Mittlerweile ist es Abend geworden. Die Sonne sendet ihre letzten Strahlen über die Welt, um sie dann dem Mond zu übergeben. Ein ewiger Kreislauf. Die Strahlen, die heute Morgen zwischen den Bäumen durchschienen und den Wald in eine Zauberlandschaft verwandelten, sorgen nun dafür, dass die Bäume lange dunkle Schatten werfen. Das Licht ist zwar immer noch golden, und würde man in einem geheizten Zimmer sitzen, könnte man annehmen, dass es angenehm warm in der Sonne ist, doch die Realität sieht anders aus. Es ist bitterkalt. Auch wenn im Wald kaum Wind weht.

Es riecht nach Schnee. Auf dem freien Feld wäre es sicher noch lange hell, doch hier mitten im Wald, wo die Bäume das Licht abfangen, wird es bald so dunkel sein, dass man kaum noch die eigene Hand vor Augen sehen kann.

Für Nea bedeutet das, sich Nahrung und ein Nachtlager zu suchen. Den ganzen Tag ist sie quer durch den Wald gelaufen. Ihre einzige Orientierungshilfe ist der Kompass und eine Karte, die sie einst von einem Reisenden geschenkt bekommen hatte. Sie erinnert sich, wie er damals in das kleine Dorf am Meer kam und für einen warmen Platz am Feuer in der Gemeindehalle mit Geschichten über seine Reisen bezahlte. Angeblich war er selbst schon in Promise gewesen und hatte dort einen Spielfilm auf einer Kinoleinwand gesehen, ganz wie in alten Zeiten.

Nea war es schwer gefallen, ihm zu glauben, denn wer würde Promise freiwillig wieder verlassen, wenn er erst einmal Zutritt erhalten hatte? Normalerweise hatte sie keine Freude an unnötigen Konversationen, doch es hatte sie interessiert, was der Reisende zu berichten hatte, und so hatte sie ihn gefragt, warum er nicht in Promise geblieben sei. Er hatte gelacht und geantwortet, dass ihm dafür seine Freiheit zu wichtig sei. Er wolle selbst darüber entscheiden, wie er seinen Tag gestalte, und bräuchte niemanden, der ihm vorschreibt, was er zu tun habe. Schon damals hielt Nea dies für eine blöde Ausrede und ist auch heute noch davon überzeugt, dass er einfach nicht gut genug war, um in Promise bleiben zu dürfen. So wichtig ihr selbst auch ihre Freiheit ist, weiß sie, dass ein Leben ohne Regeln in einer Gemeinschaft nicht funktioniert. Das war schon immer so und wird wohl auch immer so bleiben. Entscheidend ist nur, wie die Regeln festgelegt werden: Demokratisch in gemeinsamer Wahl oder diktatorisch von einem Einzelnen, der nur sich selbst in die Taschen spielt. Wahrscheinlich hatte der Reisende nicht einmal Eintritt erhalten, sondern die Leinwand nur von den Stadttoren aus bewundert. Doch das hatte Nea ihm natürlich nicht ins Gesicht gesagt. Er schien sie wohl ganz nett gefunden zu haben, denn er hatte ihr eine Karte geschenkt, in die er alle Gebiete eingezeichnet hatte, die er bereits kannte. Über die alten Städtenamen sind neue Linien und Namen gezogen. Mit Rot hatte er das Gebiet der Carris markiert. Fast am anderen Ende der Karte liegt in leuchtendem Grün Promise, die Stadt der Verheißung.

Allein durch die Wege und Abstände auf der Karte scheint es Nea unmöglich zu sagen, wie viele Tage oder Wochen sie unterwegs sein wird, bis sie erst Dementia und schließlich Promise erreicht. Sie wird Dementia erst an den roten Kutten der Carris erkennen. Bis es soweit ist, darf sie sich nur wenig Zeit zum Ruhen gönnen, muss immer auf der Hut sein. Denn der Wald ist Niemandsland und man kann nie wissen, wer oder was einem dort droht. Befindet man sich erst einmal in Dementia, so weiß man, dass die Carris einen gefangen nehmen werden, sobald sie eine Person ohne Kutte entdecken. Doch auch schon hier, mitten im Wald, lauern Gefahren. So kann man sowohl auf wilde Tiere treffen, als auch auf Reisende, die sich fremdes Eigentum erschleichen wollen. Es können Fallen von Wilderen ausgelegt sein, oder man trifft einfach auf einen der Wahnsinnigen, die jemanden nicht bedrohen oder töten, weil sie Hunger haben oder das fremde Eigentum stehlen wollen, sondern einfach, um einen leiden zu sehen. Denn das Leid und der Schmerz anderer sind zu ihrem Lebenselixier geworden. Nea kann ihnen das nicht einmal zum Vorwurf machen, denn sie sind auch nur ein Opfer der neuen Welt, so wie alle anderen auch. Aber trotzdem entscheidet in so einem Fall über Leben und Tod, wer als erstes seine Waffe zieht und zusticht, zuschlägt oder sein Leben auf andere Weise rettet.

Seit einiger Zeit hört Nea das stetige Rauschen eines Gewässers und folgt ihm. Langsam wird es lauter und bald sieht sie einen schmalen Bachlauf, der sich mitten durch den Wald windet. Seitdem es keine Autos, Flugzeuge oder andere Maschinen mehr gibt, die Lärm erzeugen könnten, ist das Plätschern eines Flusses oder auch nur der Gesang einer Lerche meilenweit zu hören. Noch einer der vielen Punkte, die sie sich oft ins Gedächtnis ruft, um am Ausbruch der Seuche etwas Positives zu finden.

Der Bach ist nicht sehr tief, aber tief genug, um verschiedenen Fischen als Lebensraum zu dienen. Nea bleibt nicht mehr viel Zeit, um sich einen Fisch zu fangen, ihn zu braten und sich ein Nachtlager einzurichten. So zögert sie nicht lange, zieht die Schuhe und die zwei Paar Strümpfe aus und steigt in das eiskalte Wasser. Am Anfang hatte sie das immer die meiste Überwindung gekostet, doch mittlerweile zuckt sie kaum noch zurück. Der Hunger treibt sie zu sehr an. Es ist um einiges leichter, einen Hasen oder ein Wiesel in eine Falle zu locken, als einen Fisch zu fangen. Dafür braucht man Geduld. Langsam und vorsichtig bewegt sich Nea im Wasser, bloß keine ruckartigen Bewegungen machen. Sie bleibt so ruhig wie möglich im kalten Wasser stehen und passt sich der Umgebung an, wird ein Teil von ihr, bis ihr die Fische um die Beine schwimmen. Dann beugt sie sich nach vorne und nähert sich einem in der Strömung stehenden Fisch von hinten, indem sie mit der Hand eine Halbröhre formt, die sowohl vorne als auch hinten offen ist. Vorsichtig bewegt sie die Hand zum Mittelteil des Fisches, wobei sie ihn in Längsrichtung sachte streift. Der Fisch bleibt ruhig und schwimmt nicht weg. Er erkennt die nahende Gefahr nicht. Als sie die Kiemen des Fisches erreicht, zögert sie nicht, sondern greift gezielt zu. Er ist mittelgroß und zappelt in ihrer Hand, ringt mit dem Tod. Sie könnte ihn nun so festhalten und dabei zuschauen, wie langsam das Leben in seinen Augen erlischt, bis er still und schlaff in ihrer Hand liegt. Doch Nea tötet den Fisch nicht aus Grausamkeit, sondern um zu überleben, und so schlägt sie seinen Kopf auf den harten Stein, um ihn nicht länger leiden zu lassen. Nea tötet niemals zum Spaß, nicht einmal einen Fisch.

 

Nun kommen ihre Feuersteine zum Einsatz. Sie sind von großem Vorteil, wenn das Holz im Wald feucht ist. Nea stapelt ein paar trockene Laubblätter übereinander und schlägt dann die beiden Steine nur wenige Male aneinander, sodass ein Funke in das Laub fliegt. Ein sanfter Atemstoß genügt, um den Funken in ein kleines Feuer zu verwandeln. Den Fisch nimmt sie aus, spießt ihn auf einen Stock und hängt ihn ins Feuer. In der Zwischenzeit befestigt sie in einem Busch am Fuße eines Baums ihr Netz. Wenn sie Glück hat, wird sich in der Nacht ein kleines Tier darin verfangen, das sie dann am Morgen braten und mitnehmen kann. Der Fisch duftet köstlich, auch ganz ohne Gewürze. Nea hofft nur, dass sein Geruch keine Fremden anlocken wird. Denn sie ist nicht bereit zu teilen, weder ihren Fisch noch ihre Zeit oder sonst irgendetwas. Deshalb zieht sie schnell den Fisch aus dem Feuer und löscht es, sodass nur noch die Glut leise vor sich hin zischt. Es ist gerade noch hell genug, um die verbrannten Stellen am Fisch zu finden und sie mit dem Allzweckmesser abzuziehen. Der Fisch ist noch heiß, aber sein Fleisch zart. Er füllt Neas Magen mit einer wohligen Wärme. Es ist ein Moment der Ruhe, der einem nur selten in dieser Welt gewährt wird. Als sie das kleine Mahl beendet hat, wirft sie die Reste des Fisches zurück in den Bach, um keine Fleischfresser anzulocken. Sie geht zu dem Baum, an dessen Fuß sie ihre Falle aufgestellt hat, holt ihr Seil aus dem Rucksack, wirft es über eine der unteren Astgabeln und zieht es straff, testet, ob es ihr Gewicht hält. Dann zieht sie sich an dem Seil nach oben. Nachdem sie den Ast erreicht hat, wirft sie das Seil erneut ein Stück höher auf den Baum, auf einen Ast, der ihr dick genug erscheint, um ihr Gewicht tragen zu können. Wieder zieht sie sich an dem Seil empor. Als sie sicher auf dem Ast steht, steckt sie ihren Rucksack tief in den Schlafsack. Nur das Messer lässt sie draußen und schiebt es in eine Schlaufe am Bund ihrer Hose. Den Schlafsack wirft sie über den breiten Ast und steigt vorsichtig hinein. Sobald sie in dem Schlafsack liegt, bindet sie sich mit dem Seil am Ast fest. Als Miro ihr nach dem Tod ihrer Eltern vorschlug, auf diese Weise zu schlafen, hatte sie nur ungläubig mit dem Kopf geschüttelt…

 

„Ich werde vom Baum fallen“, rief Nea lachend aus, während sie den hohen Apfelbaum empor spähte.

„Wovor hast du mehr Angst? Vom Baum zu fallen oder überfallen zu werden?“, fragte Miro sie mit ernster Stimme. Ohne zu zögern warf er das

Seilende über den dicksten Ast und zog es fest.

So galant wie eine Katze erklomm er den Baum und grinste Nea von oben herab an: „Komm schon, Angsthase, ich helfe dir.“

Mit einem Seufzen gab Nea nach und zog sich an dem Seil den Baum empor, doch dabei war sie weder so schnell, noch so elegant wie Miro. Sie fühlte sich mehr wie ein nasser Sack Kartoffeln. Bei dem letzten Meter kam ihr Miro zur Hilfe. Mit einem festen Händedruck zog er sie neben sich auf den Ast. Während Miro in der Höhe stand, als hätte er schon immer auf einem Baum gelebt, hatte Nea Probleme, das Gleichgewicht zu halten. Nur ein Blick in Richtung Boden genügte, um sie zum Schwanken zu bringen. Verzweifelt klammerte sie sich an Miros Arm fest.

„Ich kann hier ja nicht mal stehen, wie kannst du dann von mir erwarten, hier zu schlafen?“

„Ich erwarte es nicht, es ist allein deine Entscheidung.“

Ohne sie weiter zu beachten, breitete er den Schlafsack auf dem Ast aus.

„Außerdem haben wir nur einen Schlafsack“, drängte Nea weiter.

„Seit wann stört dich das? Als wir noch in Betten geschlafen haben, bist du ohnehin jede Nacht zu mir gekommen“, zog Miro sie auf. Auch wenn sie nur seinen Rücken sah, konnte sie sein freches Grinsen vor sich sehen. Verärgert gab sie ihm einen leichten Stoß. Miro stolperte stärker, als sie erwartet hätte. Er wirkte so sicher, dass sie nicht gedacht hätte, dass etwas passieren könnte. Doch anscheinend konnte er sich plötzlich nicht mehr halten und stürzte vom Baum. In letzter Sekunde bekam er den Ast noch zu packen und hielt sich daran fest.

„Miro, Miro, das wollte ich nicht“, kreischte Nea, stürzte an seine Seite und streckte ihm hilfsbereit ihre Hände entgegen. „Komm, ich helfe dir.“

„Mach das bloß nicht noch einmal“, schimpfte Miro und ließ sich von ihr zurück auf den Ast helfen.

Kaum, dass er wieder sicher saß, begann er jedoch erneut schelmisch zu grinsen und äffte Neas Stimme nach: „Miro, darf ich bitte bei dir schlafen? Ich hatte einen Alptraum.“

Nea verkniff es sich, ihn erneut zu schlagen, stattdessen presste sie ihre Lippen schmollend aufeinander. „Dir ist das doch ganz recht. Du hast nämlich genauso Alpträume.“

„Ja, von dir, die mir jede Nacht die Hälfte meines Bettes klaut. Ich bete jeden Abend, wenigstens für eine Nacht mal mein Bett für mich alleine zu haben.“

An seinem Lächeln merkte sie, dass Miro sie nur weiter aufziehen wollte und seine Worte nicht ernst meinte.

„Gib es zu, ohne mich wärst du hoffnungslos verloren. Ohne mich könntest du nicht einmal schlafen.“

„Gar nichts gebe ich zu. Ohne dich müsste ich mir nicht immer dieses eingebildete Gerede anhören. Ohne dich hätte ich endlich meine Ruhe.“

 

Jetzt hat sie ihre Ruhe. Aber was gäbe sie nun dafür, noch einmal Miros überhebliche Stimme zu hören? Wütend schüttelt sie den Kopf, um die Gedanken an ihn zu vertreiben. Ein Blick durch das Blätterdach in den klaren Sternenhimmel reicht, damit ihre Augen zufallen und sie in einen traumlosen Schlaf versinkt.

 

Träume rauben einem oft die Kraft, da man in dieser Welt nur noch selten von schönen Dingen träumt. Meistens befindet man sich dann in einer Traumwelt, die der Realität nicht unähnlich ist. Nur mit dem Unterschied, dass sich eine ständige Nebelbank über alles legt und es oft noch grausamer zugeht, als es ohnehin schon ist. Wenn man dann morgens schweißgebadet zu sich kommt, verfolgen einen die Ängste der Nacht den ganzen Tag. Sie legen sich wie Wolken auf die eigene Konzentration, die in dieser Welt überlebensnotwendig geworden ist. Man muss auf jedes kleinste Knacken eines Zweiges lauschen und auf jeden eigenartig wirkenden Schatten achten, denn überall könnte ein Hinterhalt verborgen sein.

2 - Die Bärentöterin

chapter5Image1.jpeg

Ein leises Wimmern und Jaulen reist Nea aus dem Schlaf. Benommen öffnet sie die Augen und sieht, dass es langsam zu dämmern beginnt. Sie hört wieder das flehende Fiepen und erinnert sich an die Falle, die sie am Vorabend aufgestellt hat. Wahrscheinlich hatte sie Glück und es hat sich ein Tier darin verfangen, das nun verzweifelt zu entkommen versucht. Vorsichtig löst sie das Seil, welches sie auf dem Baum hält. Es fällt ihr nicht mehr schwer, sich im Baum sicher zu bewegen und in Ruhe ihr Nachtlager zusammenzupacken. Früher ist ihr dabei oft etwas heruntergefallen, und einmal hat sie sogar das Gleichgewicht verloren und ist selbst hinabgestürzt. Als sie nun wieder am Boden ankommt und ihre Falle betrachtet, ist sie mehr als enttäuscht. Nea hatte mit einem Marder oder einem Waschbären gerechnet, doch stattdessen befindet sich in dem Netz ein schmutziger, halbverhungerter Hund. Mit traurigen Augen schaut er zu ihr empor und winselt sie flehend an. Eigentlich wäre er sogar ein besserer Fang als ein Waschbär, einfach weil er größer ist, doch das arme Ding besteht nur noch aus Fell und Knochen. Noch nie hat sie einen Hund getötet. Nea zieht ihr Messer aus dem Hosenbund und kniet sich neben den Hund. Er zuckt kurz zusammen, doch dann blickt er ihr hilflos entgegen und wartet auf ihren nächsten Schritt.

Wie dumm er doch ist’, denkt Nea bei sich. Wäre sie an der Stelle des Hundes und jemand würde mit einem Messer vor ihr knien, würde sie mit aller Macht versuchen sich zu befreien, sie würde knurren und die Zähne fletschen. Doch dieser Hund sitzt nur da und wartet ergeben auf sein Schicksal. Umso leichter wird es für Nea, ihm die Kehle durchzuschneiden. Langsam bewegt sie ihr Messer in die Richtung seines Halses. Doch als sie gerade zum tödlichen Schnitt ansetzen will, schmiegt der Hund plötzlich seinen Kopf mit dem struppigen hellbraunen Fell an ihren Arm und leckt ihr mit seiner rauen Zunge über die Hand, die das Messer umklammert hält. Wie erstarrt blickt Nea den Hund an und weiß, dass sie es nun nicht mehr schaffen wird, ihn zu töten. Es ist lächerlich, denn er ist nicht mehr wert als ein Marder oder ein Kaninchen. Doch zu oft wurden ihr als Kind Geschichten von kleinen Hunden oder Katzen erzählt, sodass sie jetzt Skrupel hat, einen von ihnen zu töten. Als Kind hat sie sich immer einen Hund gewünscht. Nea lässt die Hand mit dem Messer langsam sinken und schaut dem Hund so böse, wie sie nur kann, in die Augen.

„Wage es nicht, mir zu folgen“, zischt sie ihm zu. Als Antwort bekommt sie jedoch ein freundliches Schwanzwedeln von ihm. Mit einem Seufzen befreit Nea den Kleinen aus seinem Gefängnis und ist heilfroh, dass das Netz dabei nicht beschädigt wird. Der Hund bleibt neben ihr stehen und schaut sie erwartungsvoll und mit aufmerksam gespitzten Ohren an. Er ist nicht mal groß genug, um sie zu beschützen. Er geht ihr gerade mal bis zum Knie. Nea stapft fest auf den Boden auf und versucht, den Hund mit den Händen und lauter Stimme zu verscheuchen. „Verschwinde!“ Dieser lässt die Ohren und seine Rute traurig hängen, rührt sich jedoch nicht von der Stelle und so läuft Nea einfach los.

Nach wenigen Metern dreht sie sich um und natürlich erblickt sie direkt den kleinen Hund, der zwar Abstand zu ihr hält, doch ihr eindeutig folgt. Sie hätte ihn eben doch töten sollen, das wäre das Beste für beide gewesen, doch dafür ist es nun zu spät. Er wird bei ihr nicht glücklich werden. Sie ist zu egoistisch, um sich um das Wohlergehen eines anderen zu scheren. Das wird der Hund auch noch merken. Je früher, desto besser. Am besten beachtet sie ihn also nicht mehr.

Nea läuft weiter mit einem stetigen Blick auf den Kompass und ihre Karte. Sie achtet darauf, sich nicht noch einmal zu dem Hund umzudrehen, sodass sie ihn irgendwann fast vergisst.

Den ganzen Vormittag läuft sie mit zügigem Tempo durch den Wald. Es ist noch kälter als am Vortag und der Himmel ist eine einzige graue Masse. Die Sonne schafft es nicht mehr, durch die Wolken zu brechen, sodass selbst am Mittag noch viele Blätter gefrorene Ränder haben. Es ist ein deutliches Zeichen dafür, dass bald Schnee fallen wird. Nea kann nur hoffen, dass sie Dementia bereits näher ist, als es den Anschein macht.

Schon bald fühlt sie sich in ihrer Hoffnung bestätigt, denn der Wald lichtet sich langsam. Doch als sie dem Waldrand näher kommt, hört sie das laute Rauschen eines Flusses und schließlich steht sie an dessen Ufer. Es ist kein kleiner Bach, wie der, in dem sie den Fisch gefangen hatte, sondern ein reißender, breiter und, wie es ihr scheint, tiefer Fluss. Er fließt den Berg hinab, hinunter ins Tal. Von dem Flussufer aus kann sie trotz des leichten Nebels seinen Lauf verfolgen und muss erkennen, dass keine Brücke in Sicht ist.

Die Karte, auf der sie erst jetzt ihren genauen Standpunkt bestimmen kann, spricht eindeutig dafür, dass der Weg durch den Fluss der kürzeste wäre. Doch wenn sie versucht, den Fluss zu durchschwimmen und sollte sie überhaupt gegen die starke Strömung ankommen, werden ihre Haare und Kleider komplett durchnässt sein. Die Gefahr einer schweren Unterkühlung ist bei dieser Kälte mehr als wahrscheinlich. Also bleibt Nea die Wahl zwischen einem Umweg, der sie um Stunden zurückwerfen kann, und einer möglichen Lungenentzündung, die sie vielleicht nicht überleben wird.

Es hat Jahre gedauert, bis sie sich dazu überwinden konnte, den Weg nach Promise tatsächlich aufzunehmen, deshalb sollte sie nun wohl auch keine unnötigen Risiken auf sich nehmen. Schließlich will sie ja irgendwann auch in Promise ankommen und nicht auf dem Weg dorthin sterben. Deshalb wählt sie den Umweg und hofft, dass der Fluss an anderer Stelle vielleicht seichter werden wird und sie ihn dann doch überqueren kann.

Das Gute ist, dass sie nun nur noch bergab dem Flusslauf folgen muss und so viel schneller vorankommt als über den mit Laub und Moos bedeckten Waldboden. Zwar ist das Gras am Flussufer auch etwas rutschig von der Nässe, doch das gleichen ihre Stiefel mit dem stark ausgeprägten Profil gut aus.

 

Nachdem Nea einige Zeit den Berg hinab gelaufen ist und der Fluss weder seichter wird, noch eine Brücke in Sicht kommt, spürt sie, wie ihr Magen knurrt und ihre Kräfte beginnen, zu schwinden. Deshalb bleibt sie stehen und atmet einmal tief durch. Sie holt die Wasserflasche aus ihrem Rucksack und nimmt einen großen Schluck. Das Wasser gluckert in ihrem leeren Magen, und da muss sie zum ersten Mal wieder an den Hund denken. Wenn sie sich am Morgen nicht so angestellt und ihm sein dämliches Fell abgezogen hätte, hätte sie nun etwas zu essen und müsste nicht hungern. Vielleicht sollte sie ihren Fehler vom Morgen nun wieder gut machen. Zögernd dreht sie sich um und erwartet eigentlich, den Hund direkt hinter sich stehen zu sehen. Doch er ist nicht da.

Auch in einiger Entfernung ist keine Spur mehr von ihm zu sehen. Anscheinend wusste er wohl doch, was das Beste für ihn ist, und hat das Weite gesucht. Neas Chance auf eine warme Mahlzeit löst sich somit in Luft auf. Wieder versucht sie, das Gute darin zu sehen und sagt sich, dass sie sowieso keine Zeit gehabt hätte, den Hund zu braten und zu essen. Nach einem weiteren großen Schluck Wasser macht sie sich mit eiligen Schritten auf den Weg. Wenn sie nicht genau wüsste, dass sie sich vorwärts bewegt, weil sie einen Fuß vor den anderen setzt, könnte sie meinen, dass sie auf der Stelle läuft. Denn der Weg verändert sich kein bisschen. Rechts von ihr fließt stetig und wild der Fluss und links liegt der Wald, der, je später es wird, auch immer düsterer wird.

Sie läuft weiter, obwohl ihre Füße schmerzen und sich nach einer Pause sehnen. Immer langsamer und schwerfälliger werden ihre Schritte, während der Himmel sich immer weiter verdunkelt, bis Nea den ersten kalten Tropfen an ihrer Wange spürt. Aus ihrer Lethargie gerissen, hebt sie den Kopf dem Himmel entgegen, da fällt bereits die nächste Flocke auf ihre Nasenspitze. Es schneit. Kleine, vereinzelte Flocken fallen vom Himmel, doch sie weiß, dass diese nur Vorboten von vielen sind. Schnell läuft sie weiter, zieht sich ein Stück in den Wald zurück, um wenigstens etwas Schutz vor dem Schnee zu haben. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der Flusslauf direkt nach Dementia führt, doch ihr bleibt nichts anderes übrig, als weiterzugehen.

Sie läuft immer weiter und verliert dabei jegliche Orientierung. Dicke Schneelocken fallen mittlerweile in Massen vom Himmel. Es ist dunkel geworden und Nea kann kaum noch die Hand vor Augen sehen. Der Schnee legt sich über die ganze Landschaft, wie um sie zu ersticken. Das laute Brausen des Flusses hat sie über den Tag hinweg ausgeblendet, sodass ihr nun nicht einmal auffällt, dass es schwächer wird. Sie kann durch das Schneetreiben kaum noch etwas erkennen. Gleichzeitig ist ihr eiskalt und sie hat das Gefühl, dass ihr Finger und Füße vor Kälte abfallen werden. Trotzdem setzt sie weiterhin tapfer einen Fuß vor den anderen. Sie stolpert vor Erschöpfung mehr, als dass sie läuft. Doch hier kann sie auf keinen Fall stehen bleiben. Der Schnee würde sie unter sich begraben.

Ihren Kopf hält sie gesenkt, damit ihr der Wind den Schnee nicht ins Gesicht bläst, doch plötzlich nimmt sie aus dem Augenwinkel ein Leuchten von der anderen Seite des Flusses wahr. Selbst den Kopf zu drehen, schmerzt mittlerweile, aber es lohnt sich. Denn sie sieht durch das Schneegestöber eine Art Lager. Es sind drei Zelte zu erkennen, die dicht beieinanderstehen und in deren Mitte ein großes Lagerfeuer flackert, das durch die Zelte vor dem Schneetreiben geschützt zu sein scheint. Alleine der Anblick reicht, dass ihr etwas wärmer wird. Nun erkennt sie auch, dass der Fluss schon seit einigen Metern viel seichter ist. Er dürfte nur noch kniehoch sein, sodass sie problemlos durch das Wasser auf die andere Seite waten könnte. Gerne würde Nea direkt loslaufen und sich an dem Feuer wärmen, doch trotz der Kälte, ihrem Hunger und der Müdigkeit vergisst sie nicht die Gefahr, die von so einem Lager ausgehen kann. Sie weiß schließlich nicht, welcher Sorte Menschen es gehört.

Vorsichtig verlässt sie den Wald und tritt näher an den Fluss heran, versucht, etwas auf der anderen Seite zu erkennen. Da erhebt sich am Feuer auch schon eine Gestalt. Durch den Schnee und die Dunkelheit sind nur die Umrisse zu erkennen. Nea glaubt eine männliche Statur zu erkennen. Er scheint sie zu sehen, denn er tritt ein Stück in ihre Richtung. Es erhebt sich eine weitere Gestalt am Feuer, die zu ihr hinblickt. Auch wenn Nea nicht viel erkennen kann, scheint die zweite Person sehr groß und, was in diesen Zeiten sehr ungewöhnlich ist, wohlgenährt, ja fast dick zu sein.

Nea dreht sich um und will zurück in den Wald flüchten, doch da hört sie bereits eine Stimme rufen. „Hey, warte doch! Komm und setz dich zu uns ans Feuer!“

Unter anderen Umständen wäre Nea niemals auf so ein Angebot eingegangen, zu groß wäre ihre Angst vor den Fremden. Doch ihre Kräfte sind so gut wie aufgebraucht. Der Schnee legt sich unerbittlich über die Welt und ihr Bauch knurrt so laut, dass man ihn für einen Bären halten könnte. So bleibt Nea stehen und dreht sich ängstlich zu den Fremden um. Sie sind noch ein Stück näher an den Fluss herangetreten, sodass Nea nun in der ersten Gestalt tatsächlich einen Mann erkennen kann, während der Dickere sich nun als eine beeindruckend große und kräftige Frau entpuppt. Beide schauen sie besorgt an.

„Setz dich zu uns ans Feuer, da draußen holst du dir noch den Tod“, ruft die Frau besorgt und hebt ihre Hand, wie um sie Nea zu reichen.

„Es ist noch Suppe da, die kannst du haben“, brüllt der Mann einladend gegen den starken Wind hinterher.

Nur einen Moment zögert Nea noch, doch dann treibt sie ihre Beine in das eisige Wasser, ohne ihre Stiefel auszuziehen, und bewegt sich in Richtung der Fremden. Das Wasser reicht ihr bis über die Knie und die Strömung ist, anders als erwartet, noch sehr stark. Nea hat das Gefühl, dass sie dem Wasser nicht länger standhalten kann, und rudert wild mit den Armen, um irgendwie ihr Gleichgewicht halten zu können. Sie merkt, wie sie den Boden unter den Füßen verliert und mit dem ganzen Körper unter Wasser gerät.

Kaltes Nass dringt in ihren Rachen, sodass sie kaum noch Luft bekommt, während sie verzweifelt versucht, sich aus dem Wasser zu stemmen. Plötzlich spürt sie, wie starke Arme sie unter den Achseln packen und an die Oberfläche ziehen. Doch Neas Füße sind nicht mehr in der Lage, sich alleine zu bewegen, und so hängen sie nur nutzlos herunter und knicken immer wieder ein. Fremden Hände stützen sie und ziehen sie weiter durch das tosende Wasser. Als sie gemeinsam das andere Ufer erreichen, ist es nur noch kälter. Der kalte Wind peitscht gegen Neas nasse Kleidung. Das reicht, um ihr das Bewusstsein zu rauben. Alles um sie herum wird schwarz.

3 - Die Bärentöterin

chapter6Image1.jpeg

Leises Stimmengewirr und das gemütliche Knistern eines Feuers dringen in Neas Bewusstsein. Der Duft von gekochtem Gemüse steigt ihr in die Nase, lässt ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihr ist angenehm warm und sie spürt, dass sie in eine weiche, flauschige Decke gehüllt ist. Es ist Jahre her, dass sie sich so wohl und geborgen gefühlt hat. Damals hatte sie wirklich eine Lungenentzündung.

 

Ein lautes Husten drang aus Neas Brust, die dabei so schmerzte, dass ihr die Tränen in den Augen standen. Ihr war eiskalt, obwohl Schweiß in Perlen auf ihrer Stirn stand. Über ihrem Körper lagen gleich zwei Schlafsäcke und unter ihrem Kopf die zusammengefaltete Jacke von Miro. Sein Geruch, der sie immer an saftige Orangen erinnerte, stieg ihr tröstend in die Nase. Sie schloss die Augen und atmete ihn tief ein, was sofort eine erneute Hustenattacke verursachte. Auf ihrer Wange spürte sie seine Hand, welche für einen Jungen ungewöhnlich weich war. Nea schlug die Augen auf und blickte in Miros hellblaue Augen. Besorgt sah er auf sie hinab, während er mit seiner Hand ihre Temperatur an der Stirn fühlte. Die Kälte seiner Haut war angenehm auf ihrem glühenden Gesicht, sodass sie es in seine geöffnete Handfläche schmiegte.

Verschlafen blinzelte sie ihm entgegen und sah, dass er nur seinen schwarzen Strickpullover trug, und das im Winter. Natürlich, schließlich lag seine Jacke unter ihrem Kopf.

Doch als sie Anstalten machte, ihm diese zurückzugeben, hielt er nur ihre Hände fest und schüttelte den Kopf. „Lass nur, ich bin nicht so verweichlicht wie du.“

Weil ihr das Sprechen zu sehr im Hals schmerzte, legte sie ihre Stirn verärgert in Falten.

Miro verstand sie auch ohne Worte. „Hauptsache, du wirst wieder gesund.“

Er beugte sich zu ihr hinab und hauchte einen zarten Kuss auf ihre Stirn. Allein diese winzige Berührung jagte Nea einen angenehmen Schauer über den gesamten Körper. Früher hatten nur ihre Eltern sie auf diese Weise geküsst, doch bei Miro war es anders. Obwohl sie ihn bereits seit ihrer Geburt kannte und ihn genauso hasste wie liebte, veränderten sich ihre Gefühle in letzter Zeit für ihn.

 

Schlaftrunken öffnet Nea ihre Augen und blickt an die vom Feuer angestrahlte Decke eines Zeltes. Ihr Blick wandert weiter und sie sieht, dass das Zelt geöffnet ist und sie, in Decken und Felle gehüllt, direkt an einem Feuer liegt, auf dem ein Topf mit etwas Essbarem vor sich hin brutzelt. Neben ihrem Bettlager stehen ihre Schuhe, und ihr Mantel liegt ebenfalls dort. Gegenüber von dem Zelt steht ein großer vollgepackter Kutschwagen, neben dem zwei wohlgenährte, braune Kühe Gras aus dem zum Teil schneebedeckten Boden zupfen. Nur vage kehrt Neas Erinnerung zurück. Überall war Schnee und sie fühlte sich hilflos und von aller Welt verlassen. Sie weiß noch, dass sie durch den reißenden Fluss auf ein Feuer zugelaufen ist. Ihr waren die Beine weggeknickt und sie hatte Angst zu ertrinken, doch irgendjemand hatte ihr geholfen. Ein leises Kichern weckt ihre Aufmerksamkeit und sie setzt sich vorsichtig auf. Da erblickt sie einen kleinen Jungen, der hinter der Zeltwand zu ihr hervor schielt.

„Hast du endlich ausgeschlafen?“, fragt er sie mit einem lausbübischen Grinsen und tritt etwas schüchtern aus seinem Versteck hervor. Er kann nicht viel älter als zehn Jahre alt sein. Seine Haut ist von der Sonne gebräunt und über seine Nase ziehen sich ein paar Sommersprossen. Wenn er spricht, sieht man eine kleine Zahnlücke hervorblitzen.

„Wenn ich den ganzen Tag faul im Bett herumliegen würde, würde mir Mama Beine machen. Sie sagt, wir müssen alle mit anpacken, wenn wir überleben wollen.“

Immer näher tritt der kleine Junge an Nea heran, während sie nicht weiß, was sie sagen soll. Er blickt ihr erwartungsvoll entgegen.

„Wo ist mein Rucksack?“, ist das Einzige, was sie über die Lippen bringt, und im selben Moment bemerkt sie selbst, wie unhöflich es sich anhören muss.

„Den haben wir zum Trocknen in die Sonne gelegt.“ Er fasst in seine Hosentasche und holt ein zusammengefaltetes Papier zusammen mit Neas Kompass hervor und streckt ihr beides entgegen. „Das hattest du in deiner Manteltasche. Man erkennt leider kaum noch etwas auf der Karte.“

Nea nimmt die Sachen aus seinen kleinen, warmen Kinderhänden entgegen.

„Wie schön, dass du wach bist!“ Die wohlgenährte, große Frau steht im Zelteingang und lächelt breit. Sie tritt heran und sofort ist zu erkennen, dass der Junge und sie miteinander verwandt sein müssen. Sie haben beide das gleiche Grinsen und Sommersprossen auf der Nase. Die Frau trägt ihre Haare offen. Diese haben einen warmen Rotton und fallen ihr locker über die Schultern. Eine braune Latzhose und ein buntes Flanellhemd schützen ihren Körper. Obwohl sie eindeutig Übergewicht hat, strahlt ihr Gesicht etwas Schönes und Fürsorgliches aus. Sie erinnert Nea an eine ihrer Tanten, die einen Bauernhof hatte. Als die Frau ihr ihre ebenfalls warme, jedoch von Schwielen übersäte Hand auf die Stirn legt, sagt sie: „Fieber hast du auch keins mehr!“

Sie lächelt Nea an. Genau wie der kleine Junge, hat sie auch einige Zahnlücken, aber es stößt Nea nicht ab, sondern lässt die Frau auf sie noch freundlicher wirken. Ihre Augen strahlen Nea entgegen und scheinen auf eine Reaktion von ihr zu warten. Als nichts passiert, hält sie Nea ihre Hand hin: „Ich bin Luica und das ist mein Sohn Zippi.“

„Ich bin Nea“, antwortet sie schüchtern und ergreift Luicas ausgestreckte Hand.

„Möchtest du etwas Eintopf essen, Nea? Das wird dir bestimmt helfen zu Kräften zu kommen!“

Stumm nickt Nea. Sie fühlt sich sehr wohl bei den beiden, obwohl sie nichts über sie weiß, außer, dass sie ihr das Leben gerettet haben. Trotzdem macht ihr die Freundlichkeit Angst, denn das ist sie nicht gewöhnt. Außerdem hat sie gelernt, dass meistens für jeden Gefallen eine Gegenleistung verlangt wird. Aber daran will sie im Moment nicht denken, also zieht sie sich ihre Stiefel und den Mantel an, in dessen Taschen sie die verwaschene Karte und ihren Kompass fallen lässt.

Sie folgt Luica und Zippi aus dem Zelt. Draußen brennt ein weiteres Feuer, an dem ein bärtiger alter Mann steht und Holz mit einer Axt hackt. Als er Nea sieht, grinst er und winkt ihr zu. „Das ist mein Vater Harold“, stellt Luica ihn vor. Ein Stück weiter bei den Kühen grasen noch drei Ziegen, und vier Käfige stehen auf dem Boden vor dem Kutschwagen, vor denen sich ein paar Hühner herumtreiben und Körner aus dem Boden picken.

„Wir drei reisen mit unseren Tieren umher und tauschen Eier und Milch gegen andere Nahrung oder was man sonst noch so zum Leben braucht“, erklärt Harold.

Zippi drückt Nea eine Schüssel mit dampfender Brühe in die Hände, darin schwimmen Möhren, Kartoffeln und Lauch. Es ist ewig her, dass sie frisches Gemüse gegessen hat. Die Suppe duftet einfach köstlich und so macht sie sich schnell daran, sie zu verzehren. Als sie die Schüssel leer gegessen hat, schüttet Luica ihr noch einmal großzügig nach und setzt sich neben sie. „Du sprichst wohl nicht allzu viel?“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ihr habt mir das Leben gerettet und teilt euer Essen mit mir, und ich habe nichts, was ich euch zurückgeben könnte.“

„Wir glauben an das Karma. Das bedeutet, wenn man jemand anderem etwas Gutes tut, wird einem selbst auch irgendwann Gutes widerfahren.“

Nea bewundert ihre Lebenseinstellung, auch wenn sie sie nicht nachvollziehen kann. Sie glaubt viel mehr, dass man mit so einer Einstellung eher ausgenutzt wird, als dass einem etwas Gutes passiert. Aber das behält sie lieber für sich.

Luica fragt sie, wo sie herkomme und was ihr Ziel sei. Da erzählt ihr Nea von ihrer bisher sehr kurzen Reise. Sie erwähnt ebenfalls, dass sie beabsichtigt, durch Dementia zu ziehen, um irgendwann Promise zu erreichen. Als sie ihre Erzählung beendet, schaut Luica sie traurig an. „Und du bist ganz alleine unterwegs? Fühlst du dich da nicht einsam?“

Nea schüttelt den Kopf und meint, dass es so leichter sei.

„Alleine ist es nie leichter. Eine Familie gibt einem Halt. Jeder ist für den anderen da.“

Nea weiß nichts darauf zu erwidern, so wie Luica es sagt, verblassen ihre eigenen Worte, scheinen plötzlich keinen Sinn mehr zu machen. Die drei sind wirklich eine Familie: Großvater, Mutter und Kind. Es stimmt sicher, dass sie sich gegenseitig beschützen, einfach weil sie einander lieben und keinen der Ihren verlieren wollen. Doch alle Menschen, die Nea je geliebt hat, sind tot. Alleine die Vorstellung, Miro durch andere Menschen zu ersetzen, bricht ihr das Herz. Auch wenn es nicht das Gleiche wäre.

Zippi, der ebenfalls Neas Erzählung gelauscht hat, tippt Luica nun ganz aufgeregt auf den Arm.

„Ich habe eine Idee“, sagt er verschwörerisch und flüstert daraufhin Luica etwas ins Ohr. Luica lächelt ihn liebevoll an und zieht Zippi sanft an seinem rechten Ohr. „Frag sie doch selbst!“

Zippi grinst und blickt schüchtern zu Nea hinüber. „Wir wollen auch nach Dementia. Du kannst doch mit uns kommen!“

Nea zögert, immerhin legt sie keinen Wert auf eine Reisebegleitung, aber die drei bieten ihr einen trockenen Schlafplatz und Essen, zudem scheinen sie sich hier auszukennen. Wenn Sie bei ihnen bliebe, käme sie sicher schneller nach Dementia, und so stimmt sie Zippis Vorschlag zu. Er klatscht erfreut in die Hände.

Luica und Harold beschließen, erst am nächsten Tag wieder aufzubrechen, weil es heute dafür schon zu spät ist. Zum Dank zeigt Nea Zippi, wie er Fische mit der bloßen Hand fängt. Sie setzt sich in eine Decke gewickelt an das steinige Flussufer und gibt Zippe Anweisungen, während er bis zu den Knien im kalten Wasser steht. Bewundernd stellt Nea fest, dass ihm die Kälte nichts auszumachen scheint. Anfangs ist er sehr ungeduldig und zappelig, doch nachdem seine Kleidung von oben bis unten durchnässt ist, hält er stolz triumphierend den ersten Fisch in der Hand. Er schwenkt ihn vor lauter Freude durch die Luft und will damit Harold und Luica zuwinken, doch dabei rutscht ihm der glitschige Fisch wieder aus den Händen, und alle fangen an zu lachen. Zippi ärgert sich erst, doch dann lacht auch er mit. Es ist Neas erstes Lachen seit langer Zeit. Die letzten beiden Jahre brachte sie nicht mehr als ein leichtes Schmunzeln zustande. Aber nie ein Lachen, bei dem man sich den Bauch halten muss und einem Tränen aus den Augen treten. Ein volles herzhaftes Lachen, bei dem man sich vor lauter Spaß auf dem Boden herumrollen will.

 

Später hat Zippi vier Fische gefangen. Zu viert setzen sie sich an das Lagerfeuer und braten die Fische, während Zippis nasse Kleidung an einer Leine trocknet. Dazu gibt es noch den Eintopf vom Mittag. Es ist angenehm, am Feuer sitzen zu können und sich die Hände, Füße und Wangen zu wärmen, ohne Angst haben zu müssen, dass das Feuer jemanden anlocken wird. Als die letzten Sonnenstrahlen erlöschen und nur noch die Sterne, der Mond und das Lagerfeuer die Nacht erhellen, holt Harold eine Mundharmonika hervor und fängt an darauf zu spielen. Es ist eine traurige Melodie und sie macht Nea bewusst, wie einsam sie in Wirklichkeit doch ist. Sie blickt zu Luica, in deren Armen Zippi eingeschlafen ist. Luicas Kopf lehnt an Harolds Schulter und verträumt blickt sie ins Feuer. Als die Melodie endet, küsst sie ihren alten Vater liebevoll auf die Wange und Nea fühlt sich wie ein Eindringling. Deshalb verabschiedet sie sich höflich und legt sich in das Zelt auf ihren Schlafplatz. Nach wenigen Sekunden fallen ihr bereits die Augen zu und sie schläft zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit ohne Furcht ein. Denn bei der großen Luica, Harold und Zippi fühlt sich Nea sicher.

 

Am nächsten Morgen weckt Luica Nea bereits früh. Zu Neas Erstaunen haben die anderen bereits so gut wie das ganze Lager alleine verstaut. Augenblicklich schämt sie sich, dass sie ihnen nicht geholfen hat. Immerhin schuldet sie ihnen auch so schon mehr als genug. Normalerweise ist Neas Schlaf nicht allzu tief, doch wahrscheinlich holt sie gerade den Schlaf der letzten zwei Jahre nach.

Als sich Nea entschuldigt, sagt Harold, dass es gar nicht schlimm sei, da sie ohnehin nicht wüsste, wohin die Sachen gestellt werden müssen. Sie haben darin Routine und wahrscheinlich hätte Nea ihnen nur im Weg gestanden. Nach wenigen Minuten ist dann der Rest des Lagers auch noch verstaut. Die beiden Kühe werden vor den Planwagen gespannt. Luica und Harold steigen auf den Kutschbock, während Nea Zippi dabei helfen soll, die Ziegen hinter dem Planwagen her zu scheuchen. Doch auch die Ziegen scheinen Routine zu haben, denn sie trotten brav hinter dem vollgepackten Wagen her.

Nea ist nun viel langsamer, als wenn sie alleine unterwegs wäre, dafür scheinen die drei sich wenigstens auszukennen, denn augenscheinlich besitzen sie weder eine Karte noch einen Kompass.

„Woher wisst ihr, wo ihr lang müsst?“, fragt Nea deshalb neugierig Zippi, froh ein Gesprächsthema gefunden zu haben.

„Wir gehen immer dieselbe Strecke. Irgendwann kann man sie sich im Schlaf merken. Man lernt, wo man am besten Nahrung findet und wo die besten Schlafplätze sind.“

„Geht ihr denn nur nach Dementia oder noch weiter?“

„Wir besuchen noch ein paar Dörfer außerhalb von Dementia, aber die besten Geschäfte machen wir immer mit den Carris. Sie haben immer Bedarf und zahlen gut.“

„Wollten sie euch denn noch nie gefangen nehmen?“

„Nein, denn sonst könnten wir ihnen ja keine Ware mehr bringen.“

Nea zögert, denn ihr fällt ein, dass die Carris für ihre hervorragende Landwirtschaft bekannt sind. Warum sollten sie also Milch oder Eier von Fremden brauchen?

„Haben die Carris denn keine Tiere?“

„Doch natürlich, aber das ist nicht dasselbe!“

Verwirrt blickt Nea Zippi an, doch als sie weiter nachfragen möchte, wechselt er schnell das Thema.

„Das letzte Stück vom Weg dürfen wir auf den Kutschbock“, meint er und grinst sie mit seinem Zahnlücken-Lächeln an.

Gegen Mittag machen sie eine kleine Rast, essen selbstgebackenes Brot und trinken frische Kuhmilch. Luica erzählt, dass sie heute noch Dementia erreichen werden. Doch bei ihrem Handelsposten werden sie erst am nächsten Tag ankommen.

Sobald sie ihre Ware abgeliefert haben, werden sie Dementia wieder verlassen. Luica bietet Nea an, für sie ein gutes Wort bei den Wachen einzulegen und sie um eine Durchreise für sie zu bitten, doch Nea lehnt dankend ab. Es mag zwar sein, dass die Carris gerne Geschäfte mit den dreien machen, aus welchen Gründen auch immer, doch sie bezweifelt, dass Luicas Einfluss soweit reicht, dass sie ihr eine Durchreiseerlaubnis besorgen könnte. Deshalb sagt Nea, dass sie am nächsten Morgen alleine weiterziehen werde. Daraufhin brüllt Zippi mit vollem Mund, dass sie am Abend ein Abschiedsfest feiern sollten. Nea muss wieder lachen und fast wird ihr etwas schwer ums Herz, wenn sie daran denkt, wieder alleine weiterziehen zu müssen.

Sie ist gerade mal zwei Tage mit den dreien zusammen und schon fällt es ihr schwer, sie zu verlassen, weil sie sie so herzlich bei sich aufgenommen haben. Vor allem der kleine vorlaute Zippi wird ihr fehlen.

 

Nachdem sie etwa eine weitere Stunde im Wald unterwegs waren, lichtet sich das Geäst langsam. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem Luica und Harold mit Zippi und Nea die Plätze tauschen. Nea bräuchte eigentlich keine Pause, denn durch das langsame Tempo fühlt sie sich kein bisschen schlapp. Sie ist längere Fußmärsche gewöhnt. Trotzdem freut sie sich, auf den Kutschbock steigen zu können.

Es gehört nicht viel dazu, die Kühe auf der ebenen Straße zu lenken, denn sie kennen den Weg genauso gut wie ihre Besitzer. Der Wagen holpert auf und ab, doch trotzdem sieht man so viel mehr von der Landschaft um einen herum als zu Fuß. Mittlerweile kommt die Sonne auch wieder durch die Wolken und schmilzt die letzten Reste Schnee davon. Die Tannenbäume werden durch kahle Laubbäume ersetzt und der weiche Moosboden durch grüne Wiesen. Der Wald wird immer lichter, je weiter sie gehen, und schließlich sieht man nur noch hier und dort einen vereinzelten Baum.

Sie befinden sich nun zwischen ehemaligen Tierkoppeln. Das Holz der Zaunpfähle ist ganz verwittert. Viele sind umgestürzt und unter dem hohen Gras begraben. Die Sonne, die gegen die Wolken gesiegt hat, veredelt die Welt mit ihrem rotgoldenen Glanz. Als die vier eine Lichtung erreichen, bleiben die Kühe stehen. Sie warten auf einen Befehl, der ihnen sagt, wohin sie gehen sollen. Doch Harold ist der Meinung, dass sie für heute genug gereist seien und es jetzt Zeit sei, das Lager aufzuschlagen. Während Zippi Harold hilft, die Zelte aufzubauen, und sich Luica um das Feuer kümmert, bietet Nea an, ein paar Hasen jagen zu gehen. Gerne nehmen die anderen ihr Angebot an und so begibt sie sich, bewaffnet mit ihrem Messer, auf die Jagd. Als sie so weit gelaufen ist, dass sie die anderen durch das Gras nicht mehr sehen kann, sondern nur noch ab und zu leise ihre Stimmen hört, schließt sie ihre Augen und versucht, ein Rascheln auszumachen.

 

Miros Hände lagen ruhig auf Neas Hüfte, während sein Atem sie in ihrem Nacken kitzelte.

„Schließ die Augen und entspann dich“, flüsterte er ihr zu, wobei Nea die Luft vor Spannung anhielt. Sie schloss ihre Augen und versuchte, nicht an Miros Hände auf ihrem Körper zu denken. Früher hatten sie seine Berührungen nie gestört. Doch seit einiger Zeit machte sie diese wahnsinnig. Wenn seine Haut nur leicht die ihre streifte, konnte sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Manchmal machte sie das so wütend, dass sie ihn grundlos beleidigte, nur um es im nächsten Moment bereits zu bereuen.

„Hörst du das Rascheln?“

Nein, sie hörte nichts außer dem wundervollen Tenor seiner zärtlichen Stimme. Wie Samt strich sein Atem an ihrem Ohr vorbei. ‚Konzentrier dich’, ermahnte sie sich und lockerte ihre Schultern.

Sie hörte, wie der Regen auf die Blätter fiel, und dann in weiter Ferne das leise Rascheln eines Tieres.

„Hörst du es?“

Nea nickte.

 

Sie muss nicht lange warten, da hört sie leises Getrappel ganz in ihrer Nähe. So leise wie möglich nähert sie sich dem Geräusch. Sie kommt ihm immer näher, doch dann sieht sie nur noch hellbraunes Fell vor sich weghuschen. Sie versucht dem Tier zu folgen, doch das einzige, was sie sieht, sind fliehende Hinterläufe. Immer wieder verfehlt sie das Tier, wenn sie mit ihrem Messer nach ihm wirft. An dieser Stelle könnte sie ihr Netz gebrauchen, doch das ist in ihrem Rucksack, den Harold bei ihren Sachen verstaut hat. Und so muss sie sich irgendwann geschlagen geben und mit leeren Händen zu den anderen zurückkehren. Sie machen ihr keine Vorwürfe, und Luica erhitzt ein paar alte Dosen Ravioli über dem Feuer, deren Haltbarkeitsdatum wahrscheinlich schon lange abgelaufen ist. Doch es ist Nea wichtig, ihnen ihre Dankbarkeit zu zeigen. Deshalb fragt sie Harold nach ihrem Rucksack und stellt in der Nähe des Lagers eine Falle mit dem Netz auf. Mit viel Glück wird sich das Tier, welches sie jetzt nicht fangen konnte, in der Nacht darin verfangen. Nea erinnert sich an den Hund, der ihr beim letzten Mal ins Netz ging. Sein Fell hatte dieselbe Farbe wie der Hase, dessen Hinterläufe sie immer nur zu Gesicht bekommen hatte.

 

Die Ravioli sind nichts Besonderes, trotzdem isst Nea sie andächtig, denn es ist ihre letzte Mahlzeit zusammen mit den dreien, danach wird sie sich wieder alleine durchschlagen müssen. Sie genießt die Wärme des Feuers und lauscht dem schwachen Knistern. Als sie alle aufgegessen haben, holt Harold wieder seine Mundharmonika hervor und stimmt eine lustige Melodie an, die Luica und Zippi zu kennen scheinen. Beide strahlen über das ganze Gesicht und fangen lauthals an mitzusingen.

In dem Lied geht es um einen Mann, der sich von allen übers Ohr hauen lässt. Sein Haus tauscht er gegen eine Kuh, seine Kuh gegen ein Schwein, sein Schwein gegen einen Hahn und seinen Hahn schließlich gegen einen Laib Brot, doch trotzdem ist er stets glücklich und vergnügt. Noch vergnügter erscheinen Nea jedoch ihre drei Gastgeber. Harold wippt mit seinen Füßen im Takt, Luica singt aus voller Kehle und Zippi hüpft vergnügt um das Feuer herum. Es folgen weitere lustige Lieder, und auch wenn Nea keines kennt und mitsingen könnte, amüsiert sie sich so gut wie seit zwei Jahren nicht mehr. Schließlich steht Luica auf und kommt mit einer braunen Flasche und drei Gläsern zurück. Sie reicht jedem, außer Zippi, eins und schüttet das dunkelrote Getränke hinein. Wenn sich Nea nicht täuscht, ist es Wein. Ihre Eltern saßen manchmal abends, wenn sie dachten, dass sie schon schlafen würde, aneinander geschmiegt auf dem weichen Sofa, hatten Kerzen angezündet und blickten durch die Fenster in die Nacht hinaus. In ihren Händen hielten sie ein Glas Wein. Wenn Nea zu ihnen kam, nahmen sie ihre Tochter immer in die Mitte und gaben ihr anstatt Wein Traubensaft zu trinken. Einmal durfte sie jedoch den Wein probieren, doch er schmeckte so sauer, dass sie nie mehr danach fragte und stattdessen voll und ganz zufrieden mit ihrem süßen Traubensaft war.

 

In Neas Kopf drehte es sich, als wäre sie gerade von einer Achterbahn gestiegen. Das Glas Wein konnte sie kaum noch gerade halten. Dafür war ihr jetzt herrlich warm. So warm, dass ihre Jacke in der Ecke neben Miros Pullover lag. Er selbst saß nur noch in seinem weißen Unterhemd da, das nun gesprenkelt von dunkelroten Flecken war. Auf seinem rechten Oberarm war das kleine schwarze ‚N’ zu erkennen, das er sich vor wenigen Monaten selbst gestochen hatte. Nea hatte sich geweigert, sich von ihm ein ‚M’ tätowieren zu lassen. Daraufhin war er so beleidigt gewesen, dass er sich drei Tage lang nicht mehr bei ihr hatte blicken lassen.

 

Nea hatte ihre Entscheidung nie bereut. Sie weiß, dass Miro immer an ihrer Seite sein wird, also braucht sie auch keine Tätowierung mit seinem Anfangsbuchstaben.

 

Die beiden Weinflaschen fanden sie in einer Kiste, die sie einem Händler gestohlen hatten. Anfangs tranken sie noch bedächtig, doch mittlerweile leerte sich ein Glas nach dem anderen, sodass die erste Flasche schon ausgetrunken über den Boden rollte und ihnen als Drehscheibe für ‚Wahrheit oder Pflicht’ diente.

Zu Neas Bedauern spielten sie das Spiel nicht alleine, sondern mit drei weiteren Jugendlichen. Zwei Jungen und ein Mädchen. Sie hasste es, Miro mit anderen teilen zu müssen. Aber jetzt auch noch zu sehen, wie sich das andere Mädchen an seinen Hals schmiegte, brachte sie zum Kochen. Wie eine Klette klebte sie an ihm und ließ ihre langen, blonden Haare über seine nackten Schultern fallen. Ständig blickte sie zu ihr und flüsterte Miro dann etwas kichernd ins Ohr. Nea hasste Miro dafür, dass er jedes Mal zu lachen begann.

Jetzt war die Blonde an der Reihe. Sie war bereits so betrunken, dass sie die leere Flasche kaum noch gerade halten konnte.

„Der, auf den die Flasche zeigt, muss Nea küssen“, lallte sie und sandte einen gehässigen Blick in Neas Richtung, die sofort protestierend die Arme vor der Brust verschränkte.

Die Flasche drehte sich im Kreis, während Nea drohend Miro fixierte, der nur desinteressiert mit den Schultern zuckte. Die Flasche blieb stehen und zeigte auf einen der fremden Jungen, was die Blonde in schallendes Gelächter ausbrechen ließ. Neas einziger Gedanke galt ihrer Flucht. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf. „Auf keinen Fall!“

„Spielverderberin!“, zischte die Blonde.

„Küss du ihn doch, wenn du so scharf drauf bist.“

„Du musst ihn aber küssen, so sind die Spielregeln. Stell dich doch nicht so an.“

Nea hatte noch nie einen Jungen geküsst, nicht mal Miro. Er hingegen hatte schon so viele Mädchen geküsst, dass Nea aufgehört hatte mitzuzählen. Sie wollte es auch gar nicht mehr wissen. Trotzdem würde sie sich ihren ersten Kuss sicher nicht von irgendeinem dahergelaufenen Vollidioten verderben lassen.

Hilfesuchend blickte sie zu Miro, doch der zog nur die Augenbrauen hoch. „Du kennst die Regeln.“

War es ihm egal? Oder benahm sie sich wirklich wie ein kleines Mädchen? Vielleicht war es Zeit für sie, erwachsen zu werden. Was war schon dabei? Sie sollte ja nicht mit dem Jungen schlafen, sondern ihn nur küssen.

Zögernd strich sie sich die braunen Locken hinters Ohr. Obwohl sie spürte, wie die Röte in ihre Wangen schoss, ließ sie sich vor dem fremden Jungen nieder. Er hatte weder Miros blaue Augen noch seine leicht schiefe Nase. Stattdessen waren seine Augen in einem trüben Mausgrau und seine Nase so breit, als hätte sie ihm jemand platt gedrückt. So hatte sich Nea ihren ersten Kuss wirklich nicht vorgestellt. Sie hatte immer gedacht, es wäre mit jemandem Besonderen. Mit jemandem, der sie liebt. Egal, Augen zu und durch.

Sie beugte sich leicht zu dem Jungen vor.

„Nea, das war doch nur Spaß“, hörte sie nun Miro lachen. Fragend drehte sie sich zu ihm um. Die Blonde wirkte genauso irritiert wie sie selbst. Auch die anderen Jungen schauten verdutzt drein. Der Einzige, der es für einen Scherz zu halten schien, war Miro. „Dachtest du wirklich, du müsstest ihn küssen?!“

Nun begann auch die Blonde wieder zu kichern, sodass sich Nea augenblicklich sehr dumm vorkam. Miro führte sie, wie so oft, vor und machte sich in der Gegenwart anderer über sie lustig. Vor lauter Ärger vergaß sie, erleichtert darüber zu sein, um den Kuss herumgekommen zu sein.

„Nein, ich habe nur so getan als ob“, verteidigte sich Nea hilflos.

„Und wenn ich nichts gesagt hätte, hättest du ihn dann etwa geküsst?“, fragte Miro mit einem Grinsen im Gesicht. Doch seine Stimme hörte sich ernster an, als seine Mimik vermuten lassen würde.

 

Genau wie Nea als Kind protestiert Zippi nun, weil er nichts von dem Wein bekommt. Doch für ihn gibt es keinen Traubensaft, sondern er muss sich mit Milch zufriedengeben. Eigentlich würde Nea auch lieber Milch trinken als Wein, doch sie will nicht unhöflich sein. Es ist sicher schwer, an Wein heranzukommen und Luica hat ihr bereits eingegossen. Sie und Harold prosten sich vertraut zu, dann stoßen beide mit Nea auf eine erfolgreiche Reise an.

Nea nimmt einen Schluck und weiß direkt wieder, warum sie das Zeug schon als Kind nicht mochte. Es ist sauer und erinnert nicht im Geringsten an die Trauben, aus denen es hergestellt wurde. Nea reißt sich zusammen, um nicht den Mund zu verziehen. Harold hingegen schließt bei seinem ersten Schluck genießerisch die Augen und Luica seufzt. „Köstlich! Je länger wir ihn mit uns herumtragen, desto süßer wird er!“, sagt sie und nimmt direkt einen zweiten Schluck. Wenn es stimmt, was sie sagt, möchte Nea nicht wissen, wie der Wein noch vor einem Jahr geschmeckt hätte.

„Schmeckt er dir nicht?“, fragt Luica, als sie ihr zweifelndes Gesicht bemerkt.

„Es ist neu für mich, ich habe noch nicht oft Wein getrunken “, versucht sie sich herauszureden und überwindet sich zu einem weiteren Schluck.

„Na, hoffentlich gewöhnst du dich nicht zu sehr daran, es ist schwer in dieser Welt, an welchen heranzukommen. Kaum einer baut noch Wein an und die alten Vorräte gehen zur Neige. Das ist einer der Gründe, warum wir mit den Carris handeln. Dieser Wein ist aus ihrem eigenen Anbau.“

„Sie brauchen ihn für ihre Zeremonien“, fügt Harold hinzu.

„Eigentlich lebt man bei den Carris gar nicht so schlecht. Man hat ein Dach über dem Kopf und muss sich keine Gedanken über einen knurrenden Magen machen. Solange man sich an ihre Regeln hält und Ereb anbetet“, ergänzt Luica.

Nea schüttelt den Kopf. „Ereb ist für mich ein Mensch wie jeder andere, deshalb wüsste ich nicht, warum ich ihn als Gott verehren sollte. Außerdem bin ich nicht gerne irgendwo eingesperrt, selbst wenn ich dafür einen vollen Bauch habe.“

Die beiden nicken. „Wir verstehen dich. Unsere Freiheit ist uns auch wichtiger als alles andere, deshalb betreiben wir ja den Handel. Das ist unsere einzige Möglichkeit, sie uns zu sichern.“

„Aber eins verstehe ich nicht. Du willst frei sein, doch trotzdem nimmst du die weite Reise nach Promise auf dich. Eine Stadt, von der du nicht einmal weißt, ob sie wirklich so ist, wie du es dir vorstellst. Dort bist du doch genauso gefangen wie bei den Carris, nur dass sie über technischen Schnickschnack verfügen“, hakt Luica nach und blickt Nea fragend an.

„Promise ist doch nicht mit Dementia zu vergleichen. Die Menschen dort sind intelligent und entwickeln sich weiter. Sie suchen für alles nach einer logischen Erklärung und schieben nicht einfach jedes Unglück auf einen von ihnen ernannten Gott. Dort entwickelt sich das Leben weiter, so wie es vor Polyora war und man wird nicht zurückkatapultiert ins Mittelalter wie bei den Carris“, verteidigt Nea ihren Traum. Für sie gibt es außer Promise nichts, worauf sie hoffen könnte.

Doch Harold und Luica gehen nicht weiter darauf ein, sie sind scheinbar anderer Meinung.

„Trink deinen Wein, sonst wird er noch schal“, meint Luica nur und zwinkert Nea verschwörerisch zu. Sie selbst und Harold haben ihre Gläser bereits geleert. Zippi liegt müde an Luica gelehnt da. Nea holt einmal tief Luft, dann stürzt sie den gesamten Inhalt des Glases in ihren Rachen herunter. Es brennt in ihrer Speiseröhre, aber das ist bald vorbei, zurück bleibt nur der bittere Geschmack des Weines.

Als Luica und Harold das Geschirr zusammenpacken, will Nea ihnen helfen, doch sobald sie aufstehen will, merkt sie, wie sich alles um sie herum zu drehen beginnt und ihre Beine ganz schwer werden. Sie scheint auch leicht zu schwanken, denn Luica tritt an ihre Seite und hakt ihren Arm bei sich unter. „Na, na! Da ist wohl jemand leicht angetrunken. Komm, ich bring dich zu deinem Bett“, sagt sie lachend und führt Nea von dem Feuer weg in das Zelt. Schützend geleitet sie das Mädchen zu ihrem Schlafplatz. Nea merkt nur noch, wie Luica fürsorglich eine Decke über sie ausbreitet, bevor sie in tiefen Schlaf versinkt.

4 - Die Bärentöterin

chapter7Image1.jpeg

Langsam kommt Nea wieder zu sich. Ihr Kopf brummt als wäre ein Zug hindurch gefahren und ihre Hände sowie ihr Rücken schmerzen fürchterlich. Sie will sich strecken, doch da bemerkt sie, dass das nicht geht. Sie kann sich kaum bewegen. Sofort überkommt sie Panik, die den Nebel in ihrem Kopf verjagt. Sie reißt ihre Augen auf und erkennt, dass sie sich immer noch in dem Zelt von Luica, Zippi und Harold befindet. Alles ist gut, glaubt sie zumindest.

Doch dann fällt ihr auf, dass sie nicht mehr in der Matte liegt und ihr wird auch klar, warum ihr Rücken und ihre Hände so schmerzen. Ihre Hände sind hinter ihrem Rücken an einem Pfahl festgebunden, während sie auf dem Boden sitzt. Als sie versucht an ihren Fesseln zu ziehen, schmerzen ihre Schultern so sehr, dass sie am liebsten laut aufschreien würde. Die ganze Situation ist ihr fremd und sie weiß nicht was seit gestern passiert ist. Sind sie überfallen worden? Wo sind Luica und die Anderen?

Neas Kopf arbeitet auf Hochtouren und gleichzeitig dreht sich alles. Soll sie auf sich aufmerksam machen oder ist es besser zu schweigen? Wieder versucht sie eine Schwachstelle an den Fesseln zu finden, doch es ist aussichtslos. Sie lauscht und versucht irgendwelche Stimmen zu hören, die ihr verraten, was hier los ist. Doch da sind keine Stimmen, nur das stetige Getrappel von Füßen. Es ist schwer einzuschätzen wie viele es sind und ob sie zu Freunden oder Fremden gehören. Vielleicht sollte Nea doch auf sich aufmerksam machen, denn früher oder später werden sie ja doch nach ihr sehen. In dem Moment betritt Luica das Zelt und schaut auf Nea herab. Sie wirkt nun, so wie Nea vor ihr auf dem Boden kauert, noch größer und ihrem Gesicht fehlt die warme Freundlichkeit, die Nea in den letzten Tagen ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt hat. Luica ist ungewohnt ernst.

„Was ist los, Luica?“, fragt Nea und hasst ihre Stimme für das Zittern, welches sie nicht unterdrücken kann. Sie weiß im Grunde, dass es eine dumme Frage ist. Immerhin ist sie gefesselt, während Luica frei herumläuft, doch ein letzter Funke Hoffnung bleibt ihr.

„Wonach sieht es denn aus?“, entgegnet Luica kalt. Es fällt Nea schwer zu glauben, dass sie die ältere Frau je als herzlich empfunden hat.

„Ich verstehe nicht was hier los ist. Habe ich irgendetwas falsch gemacht?“

Ein gemeines Grinsen zieht sich über Luicas Gesicht.

„Schätzchen, ich hätte nicht gedacht, dass du so dumm bist. Du solltest doch wissen, dass man in dieser Welt nichts umsonst bekommt.“

„Und was wollt ihr von mir? Ihr könnt alles haben, was ich besitze…“

Luica unterbricht sie ungeduldig. „Du besitzt ab heute gar nichts mehr. Es ist nichts gegen dich, das ist einfach unser Job. Jeder muss sehen wie er über die Runden kommt.“

Nea versteht nicht, was sie meint, und das scheint auch Luica zu merken, denn sie lacht herablassend auf, sodass sich Nea wahnsinnig dumm und naiv vorkommt.

„Du verstehst es immer noch nicht, oder? Wir handeln nicht mit Milch oder Eiern, sondern mit Menschen. Wir besorgen den Carris Sklaven und dafür lassen sie uns in Ruhe und versorgen uns mit Nahrung.“

Neas Hals schnürt sich zu. Sie hätte mit vielem gerechnet, doch nicht damit. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass sie selbst die Ware sein könnte. Alle Freundlichkeit der Familie war nur gespielt. Nie war Nea mehr als ein Produkt für sie, das es abzuliefern gilt. Entsetzt starrt Nea Luica an. Ihr fehlen die Worte, denn es gibt nichts, was sie sagen könnte, um ihre Entführerin umzustimmen. Nea wird schließlich nicht das erste Geschäft mit den Carris sein. Ganz im Gegenteil, so gut wie die drei den Weg kannten und sich untereinander abgesprochen hatten, müssen sie mit Menschenhandel schon fast so etwas wie Routine haben.

„Ach, jetzt schau doch nicht so. Wenn du Glück hast, lassen sie dich auf den Feldern arbeiten. Dann hast du immer genug zu essen. Du weißt doch selbst wie das ist, das eigene Wohl steht an erster Stelle“, sagt Luica fast entschuldigend und zuckt unbeteiligt mit den Schultern. Dann dreht sie ihr den Rücken zu und geht davon.

Nea ist zum Heulen zu Mute. Seit langer Zeit hat sie jemandem wieder vertraut, nur um erneut hintergangen zu werden. Die große Luica erschien ihr wie der herzlichste Mensch der Welt, und nun ist ausgerechnet ihr Neas Schicksal vollkommen gleich. Nea denkt an ihre gemeinsamen Gespräche und ihr wird klar, dass Luica sie eigentlich nicht einmal belogen hat. Sie sagte, dass man gemeinsam stärker wäre und dass sie einander beschützen würden und genauso ist es auch. Sie und Harold sind stärker als Nea alleine und sie werden sie verkaufen, um mit ihrer kleinen Familie überleben zu können. Sie erinnert sich daran, dass sie sich noch gewundert hatte warum die Carris von ihnen Milch und Eier kaufen sollten. Wie leichtgläubig sie doch war, dabei hielt sie sich selbst auch noch für misstrauisch und vorsichtig. Aber was für eine Wahl hatte sie auch schon als sie dort halberfroren im Schnee stand?

Wenn sie sich nicht von ihnen hätte helfen lassen, hätte sie die Nacht wahrscheinlich nicht überlebt. Doch trotzdem ist Nea nicht bereit sich vollkommen kampflos in den Besitz der Carris übergeben zu lassen. Deshalb hält sie nach ihrem Rucksack Ausschau und entdeckt ihn gar nicht weit von sich. Er lehnt an ihrem ehemaligen Schlafplatz. Ihr Messer müsste noch in ihrem Hosenbund stecken. Vorausgesetzt, dass sie es ihr nicht abgenommen haben.

Nea lehnt sich etwas zur Seite und spürt direkt den festen Widerstand des Messers. Luica muss sich sehr sicher fühlen, wenn sie ihr nicht einmal ihre Waffe abnimmt. Wahrscheinlich hält sie sie für schwach und glaubt deshalb nicht an einen Widerstand ihrerseits, doch Nea wird ihr noch das Gegenteil beweisen. Dieses Mal werden sie mit leeren Händen zu den Carris kommen. Auch wenn Nea noch nicht weiß, wie sie das anstellen soll.

Adrenalin zieht sich durch ihre Venen und gibt ihr erneut Kraft an den Fesseln zu ziehen. Als sie feststellt, dass sie diese nicht mit purer Körperkraft losbekommen wird, tastet sie den Boden mit ihren gefesselten Händen ab. Es ist weicher Sandboden und der Pfosten an dem sie gefesselt ist, scheint aus Holz zu sein. Sie hofft, ihn herausheben zu können, wenn sie den Pfosten weit genug aus dem Boden heraus gräbt. In dem Moment geht Harold voll beladen an dem Zelt vorbei. Er beachtet Nea nicht einmal.

Wahrscheinlich packen sie gerade das Lager zusammen, das bedeutet ihr bleibt nicht mehr viel Zeit, also fängt sie an den Sand am Pfosten wegzuschieben. Erst leise, damit sie niemand hört, dann immer schneller.

Plötzlich durchzuckt sie ein stechender Schmerz in der Hand. Automatisch dreht sie sich herum und glaubt ihren Augen kaum. Denn dort steht der halbverhungerte Hund und gräbt mit seinen kleinen Pfoten wie wild den Pfosten aus, der Nea gefangen hält. Dabei ist er viel schneller als sie mit ihren ungeschickten Händen. Wahrscheinlich hat er sie dabei aus Versehen gekratzt.

Nea ist nicht klar, womit sie seine Hilfe verdient, und es erscheint ihr auch vollkommen untypisch für einen Hund, zumal sie ihn in den letzten Tagen nicht mehr gesehen hatte. Aber das ist ihr jetzt egal, solange sie es nur schafft zu fliehen. Ihr Blick wandert von dem Hund zur Zeltöffnung und fast hätte sie laut aufgeschrien, als sie dort Zippi erblickt, der sie und den Hund beobachtet. Auch der Hund bemerkt den Jungen und hält kurz inne. Ein Knurren dringt aus seiner Kehle.

„Ist das dein Hund?“, fragt Zippi jedoch nur, so als wäre nie irgendetwas geschehen und Nea nicht ihre Gefangene. Fast schüchtern steht er da, so wie sie ihn damals auch kennengelernt hatte. Da ist nichts Herablassendes an ihm. Er wirkt nicht verändert. Wie ein kleiner, neugieriger Junge, mehr nicht.

„Bitte hilf mir, Zippi. Ich will nicht zu den Carris!“, bittet Nea ihn und schaut hoffend zu ihm hoch, doch er zuckt nur mit den Schultern.

„Darf ich nicht, sonst schimpft Mama mit mir!“

Als der Hund merkt, dass der Junge keine Bedrohung zu sein scheint, buddelt er unablässig weiter.

„Aber du würdest doch auch nicht gefangen sein wollen, oder?“, drängt Nea flehend.

„Nein, aber deshalb kann ich dir ja nicht helfen. Wenn wir keine Ware für die Carris haben, müssen wir bei ihnen bleiben und das will ich nicht.“

„Geht doch einfach nicht zu ihnen, sondern sucht euch erst neue Ware und bringt sie ihnen dann.“

„Das geht nicht, sie warten schon und wenn wir zu spät kommen, werden wir bestraft.“

Verzweifelt blickt Nea zu Zippi. Sie merkt wie der Pfahl leicht zu wanken beginnt. Panisch blickt sie zum Zelteingang und hofft, dass weder Luica noch Harold von dem Gespräch angelockt werden. Zippi scheint ihren Blick zu bemerken.

„Sie haben es eilig und sind mit dem Packen beschäftigt. Wir liegen bereits einen Tag zurück.“ Zippi schaut zu Neas Rucksack und zögert.

„Wenn ich dir deinen Rucksack gebe, gibst du mir dann deinen Kompass?“

Irritiert blickt sie ihn an. Nea ist ihre Gefangene, er könnte sich doch nehmen was er will, doch dann versteht sie endlich. Zippi wird ihr zwar nicht helfen zu fliehen, doch er wird sie auch nicht daran hindern. Wenn sie sich erst einmal von den Fesseln befreit hat und dann auch noch ihren Rucksack holen muss, könnte sie das die entscheidenden Sekunden zur Flucht kosten. Also stimmt sie zu und Zippi stellt den Rucksack, an dem ihr Schlafsack festgemacht ist, neben sie. Dafür nimmt er sich aus Neas Manteltasche den Kompass und verlässt das Zelt, ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen. Kein „Viel Glück“ oder etwas Ähnliches kommt ihm über die Lippen. Nea ist nicht mal sicher, ob er sie deckt, weil er sie mag oder weil er einfach nur den Kompass wollte.

Der Pfahl wackelt mittlerweile stark genug, dass sie ihre Hände darunter hindurch ziehen kann. Ihre Schultern schmerzen, als sie aufsteht. Der Hund steht vor ihr und schaut sie wartend mit gestellten Ohren und wedelndem Schwanz an. Wenn sie es nun schafft zu entkommen, wird sie sich wohl bei ihm revanchieren müssen.

Nea versucht mit den gefesselten Händen ihr Messer am Hosenbund zu erreichen als von draußen Stimmengewirr an das Zelt dringt. Schnell hängt sie sich den Rucksack um den Kopf und will gerade aus dem Zelt davonrennen, als sich auch schon Luica bedrohlich vor ihr aufbaut. Da Nea nichts anderes übrig bleibt, rennt sie zurück in das Zelt. In dem Moment geht der Hund auf Luica los und beißt sich in ihrem Bein fest. Luica schreit erschrocken auf und versucht sich von dem Hund zu befreien. Diese Zeit nutzt Nea und stößt die Zeltstange um, sodass das ganze Zelt in sich zusammenfällt. Sie krabbelt schnell unter der Plane durch und rennt so schnell sie kann. Auf den Hund nimmt sie keine Rücksicht, denn wenn er sich bis hier hin alleine durchgeschlagen hat, wird es ihm sicher auch gelingen, sich zu befreien.

Nea läuft gerade Wegs in eine hohe Wiese. Sie hört wie Luica und Harold ihr hinterherschreien. Nea rennt, ohne Ziel und ohne Rast. Sie rennt immer weiter, gönnt sich keine Atempause, treibt ihre Beine immer weiter an, während der Rucksack ihr gegen den Bauch schlägt. Das hohe Gras zieht nur so an ihr vorbei, bis es sich schließlich lichtet und sie erneut Waldboden erreicht. Sie will weiter rennen, doch mittlerweile ist sie so erschöpft, dass sie eine Wurzel am Boden gar nicht bemerkt und stürzt. Kaum dass sie am Boden liegt, will sie sich wieder aufrappeln, um weiter zu rennen, obwohl ihr das Herz wild bis in den Hals schlägt. Aber als sie sieht, dass nur noch der kleine Hund hinter ihr steht und sie hechelnd ansieht, lässt sie sich zurück zu Boden sinken und holt tief Luft, um ihre Atmung zu beruhigen.

Ihr Blick wandert zum Himmel empor. Die Laubbäume verdecken ihr zwar die Sicht, doch die sich sachte wiegenden Baumkronen hindurch kann sie erkennen, dass der Himmel strahlend blau ist und die Sonne prächtig scheint. Nun hört sie auch neben ihrem eigenen Atem, das Gezwitscher der Vögel und den sanften Wind, der durch die Blätter weht. Eine leichte Brise streicht ihr über das Gesicht und trocknet den feuchten Schweiß auf ihrer Stirn. Nea schließt die Augen und atmet tief ein und aus. Hier an diesem friedlichen Ort, weiß sie, dass ihr die Flucht gelungen ist. Kurz überlegt sie, was nun wohl aus Luica, Harold und Zippi wird, wenn sie ohne Ware zu den Carris kommen. Doch schnell verwirft sie den Gedanken wieder. Denn es ist so, wie Luica gesagt hat: jeder ist sich selbst der Nächste. Während sie so daliegt, bemerkt sie, wie erschöpft sie eigentlich ist und schließt für einen Moment die Augen.

 

Das Gras kitzelte an ihren nackten Fußsohlen und verfing sich in ihren Locken. Vorsichtig späte sie zu Miro hinüber, der direkt neben ihr lag. So nah, dass sich ihre Arme berührten. Er hatte die Augen geschlossen. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln.

Nea schirmte ihre Augen mit der Hand ab und blickte in den hellblauen Sommerhimmel. Kleine weiße Wolken durchzogen das herrliche Blau. Früher hatten sie sich oft Geschichten zu den Wolken ausgedacht. Von Prinzessinnen, Drachen, Schlössern und Helden. Heute waren sie bereits Helden, wenn sie es nur schafften einen weiteren Tag zu überleben.

Im Stillen und nur für sich bezeichnete Nea Miro manchmal als ihren „Helden“. Denn ohne ihn wäre sie sicher schon längst gestorben. Sie konnte weder ein Feuer anzünden, noch wusste sie sich zu verteidigen. Egal worum es ging, immer musste er ihr zur Hilfe eilen.

Doch Nea würde ihm nie sagen, wie dankbar sie war und wie sehr sie ihn brauchte, denn sein Ego war auch so schon groß genug. Am meisten störte sie seine Arroganz. Ständig behandelte er sie von oben herab, so als wäre sie noch ein kleines dummes Mädchen. Dabei war er nur ein paar Monate älter als sie. Kaum der Rede wert.

Sie versuchte sich zu entspannen und schloss die Augen. Der Wind strich sanft über ihre Wangen, während sie die Sonne durch die geschlossenen Augenlider spüren könnte. Sie atmete den Duft von Gras und Blumen ein.

Plötzlich spürte sie wie Miro sich bewegte und ein Schatten auf ihr Gesicht fiel. Sie dachte er würde etwas sagen oder aufstehen, aber es blieb still. Nea hatte das Gefühl als würde er sie ansehen, aber sie ließ die Augen geschlossen und versuchte dabei besonders hübsch auszusehen, für den Fall, dass er sie wirklich ansah. Gerne wäre sie sich durchs Haar gefahren und hätte es wie einen Fächer um ihren Kopf ausgebreitet. Würde sie das jetzt machen, würde Miro sie nur auslachen. Also tat sie am besten so als würde sie seinen Blick gar nicht bemerken.

Sie spürte wie ihr Herz wild zu klopfen begann und merkte wie ihre Augenlider zuckten. Sie wollte ihn sehen. Sie wollte wissen, ob er sie wirklich betrachtete. Und wenn er es tat, was für einen Gesichtsausdruck er dabei wohl hatte? Dachte er sich vielleicht die nächste Gemeinheit aus? Oder sah er sie an, weil er sie schön fand?

Nea spürte Miros Atem auf ihrem Gesicht. Ehe sie darüber nachdenken konnte, was das bedeutete, drückte er leicht seine Lippen auf ihre. Sie waren weich und warm, schmeckten nach Orangen. Es war als würde etwas in Nea explodieren. Wie ein Vulkanausbruch. Die Lava durchströmte ihr Inneres und jagte ihr einen heißen Schauer über den Rücken. Ihre ganze Kopfhaut begann zu kribbeln. Das war er also: Ihr erster Kuss.

Nie hätte sie gedacht, dass es Miro sein würde. Eigentlich war es offensichtlich, aber sie waren doch beste Freunde. Beste Freunde küssten einander nicht, eigentlich.

Auch wenn Nea sich zu ihm hingezogen fühlte, wusste sie nicht, ob sie wollte, dass er sie küsste. In diesem Moment wusste sie gar nichts mehr. Vielleicht war es auch nur wieder ein doofer Scherz von ihm… Bestimmt war es das. Sie konnte sein gehässiges Lachen schon förmlich hören.

Instinktiv schupste sie ihn unsanft von sich und schlug verärgert die Augen auf. „Was soll das?“, fuhr sie ihn an.

Das Erstaunen in seinem Blick ließ sie innehalten. Warum lachte er nicht?

Ohne sie anzusehen, rieb er sich über seine Brust, an der Stelle, wo sie ihn geschlagen hatte. „Ich dachte es wäre Zeit für deinen ersten Kuss.“

„Und was, wenn ich den Zeitpunkt gerne selbst bestimmt hätte?“, fauchte Nea zurück. Ihr fiel nicht einmal auf, dass sie ihn gar nicht darauf ansprach, dass sie auch gerne die Person, von dem sie den Kuss bekommt, bestimmt hätte.

„Wenn es nach dir gegangen wäre, hättest du mich nie geküsst. Du bist nämlich ein Feigling!“

„Bin ich nicht!“

„Ach nein, dann küss mich doch noch einmal!“, forderte Miro sie heraus.

„Nein, ich will dich nicht küssen.“

„Warum nicht? Hat es dir nicht gefallen? Du wärst die Erste, die sich beschwert.“

Da war es wieder! Warum musste er sich immer so überheblich aufführen? Nea verpasste ihm einen weiteren Schlag. Dieses Mal auf den Oberarm.

„Genau deshalb. Du hast vor mir schon zu viele andere geküsst. Ich will nicht eine von vielen sein, sondern etwas Besonderes!“

 

Nea spürt wie die feuchte Zunge von dem Hund ihr über das Gesicht streift. Schnell öffnet sie die Augen und dreht ihr Gesicht von ihm weg. Er steht neben ihr und blickt mit seinen bernsteinfarbenen Augen auf sie herab. Sein Atem stinkt.

Nea setzt sich auf und schafft es mit einigen Verrenkungen an ihr Messer heran zu kommen. Damit schneidet sie sich nun endlich die Fesseln durch und blickt zweifelnd zu dem Hund, der sich nun vor sie gesetzt hat und sie aufmerksam mustert. Jetzt wo die Sonne sein Fell bescheint, sieht Nea, dass seine Schnauze bereits mit einigen grauen Haaren überzogen ist. Er scheint also nicht mehr der Jüngste zu sein und hat bestimmt schon so einiges mitmachen müssen. Es grenzt an ein Wunder, dass er so zutraulich ist. Nea verdankt ihm ihre Freiheit, denn ohne ihn wäre sie wahrscheinlich niemals rechtzeitig freigekommen, und Luica hatte er ihr auch noch vom Hals gehalten.

Ihre Handgelenke sind wund gescheuert, und es brennt, als sie eines davon nach dem Kopf des Hundes ausstreckt und ihn vorsichtig streichelt. Er schmiegt seinen sonnengewärmten Kopf in ihre Handfläche und lässt sich von ihr hinter seinem Ohr kraulen. Genüsslich schließt er dabei die Augen. Er scheint keinerlei Gefahr in ihr zu sehen und vertraut ihr blind. Wie bereits im ersten Moment, als sie einander kennenlernten. Damals dachte Nea, dass er sich jedem gegenüber so treu doof benehmen würde. Doch gegenüber Zippi und Luica hatte er ihr heute das Gegenteil bewiesen. Er kann sehr wohl knurren und seine Zähne zeigen, doch sie scheint er zu mögen. Vielleicht hat er einfach eine bessere Menschenkenntnis als sie. Auch wenn sie selbst etwas anderes behauptet hatte, wissen sie doch beide, dass Nea es nie übers Herz gebracht hätte, den Hund zu töten.

Sie sollte wirklich lieber alleine reisen, nach ihrer enttäuschenden Begegnung mit den Dreien. Doch sie hat auch nicht vergessen wie einsam sie sich gefühlt hat, als sie gesehen hatte, wie vertraut Luica und ihre Familie miteinander umgingen. Der Hund wird sicher kein Sklavenhändler sein. Das Einzige was ihr bei ihm passieren kann, ist das er ihr Essen klaut. Und selbst wenn, wäre es für ihre Freiheit ein geringer Preis. Sie kann nicht verstehen, warum er ihr den ganzen Weg gefolgt ist, wo sie ihn doch fortgeschickt hat. Aber ein weiteres Mal wird sie ihn nun nicht mehr davonjagen. Wenn er sie unbedingt begleiten will, dann wird sie ihn nicht mehr daran hindern. Sein Hecheln erinnert sie an ihren eigenen brennenden und trockenen Hals.

„Du hast wohl auch Durst, hm?!“

Vorsichtig steht Nea auf und versucht den Schmerz in ihren Schultern und dem Nacken zu ignorieren. Den Rucksack zieht sie nun über die Schultern. Der Hund wedelt erfreut mit seinem Schwanz und läuft voraus in den Wald hinein. Da sie bisher nicht wusste, wohin sie sich sonst wenden sollten, folgt sie ihm. Hauptsache so weit weg wie möglich von Luica.

 

Bald hat sie das Gefühl, dass der Hund nicht ganz so ziellos wie sie selbst in der Gegend herumirrt, denn er läuft immer weiter und zögert keinen Moment. Nea hat Probleme ihm zu folgen, doch immer, wenn sie zu weit zurückbleibt, bleibt auch der Hund stehen und dreht sich nach ihr um, bis sie wieder auf seiner Höhe ist. Er führt sie nicht mitten in den Wald hinein, sondern hält sich eher am Rand. Einmal kann Nea sogar in einiger Entfernung die Umrisse eines Dorfes oder einer kleinen Stadt ausmachen. Sie befürchtet, dass die Carris sie sehen werden. Doch gleichzeitig hat sie die Hoffnung, dass sie sie zuerst sehen wird und sich dann rechtzeitig verstecken kann.

Bald erkennt sie das Ziel des Hundes, als er munter in einen kleinen Bachlauf hüpft und gierig das Wasser säuft. Auch Nea lässt sich schnell nieder und schöpfe sich das frische, kühle Wasser mit den Händen in den Mund. Erst als ihr Durst vollkommen gestillt ist, holt sie die beiden leeren Flaschen aus ihrem Rucksack und füllt sie mit Wasser auf.

Mittlerweile muss es Nachmittag sein, denn das helle gelb der Sonne, verwandelt sich langsam in ein warmes orange. Von dem Bach aus hat man einen guten Blick über die Felder und Wiesen, auf denen weit und breit keine Menschen zu sehen sind. Außerdem steht ein relativ breiter Baum direkt bei ihnen: Ein idealer Schlafplatz.

Nea legt ihren Rucksack mit dem Schlafsack am Baum ab und fängt an, Holz für ein kleines Feuer zu sammeln. Der Hund geht derweilen auf seine eigene Streiftour. Sorgen braucht Nea sich jedoch nicht zu machen, denn sie ist sich sicher, dass er spätestens bei dem Geruch von gegrilltem Fisch wieder zurückkommen wird. Als sie das Feuer entfacht, zieht sie neben ihren Stiefeln, auch den Mantel, ihre Hose und ihr beigefarbenes Top aus, sodass sie nur in ihrem Slip und einem BH in den kühlen Bach steigt. Das Wasser reicht ihr bis knapp über den Bauch. Es ist kalt, doch nach der schweißtreibenden Flucht vom Morgen, fühlt sich ihre Haut schmutzig und klebrig an und so ist das frische Wasser eine Wohltat. Sie taucht ihren ganzen Körper unter und schrubbt sich mit den Händen sauber. Als der Fisch im Feuer schmort, kommt der Hund wie erwartet zurück, jedoch nicht mit leeren Pfoten. In seinem Maul trägt er ein dickes Kaninchen, welches er ihr nun vor die Füße wirft. Erstaunt schaut Nea ihn an, dann lächelt sie und streicht dem Hund liebevoll über den Kopf. „Ist das dein Beitrag zum Abendessen, Partner?“, fragt sie ihn, worauf er mit einem Schwanzwedeln antwortet.

Sie zieht dem Kaninchen mit ihrem Messer das Fell ab und steckt es ebenfalls zu dem Fisch ins Feuer. Als der Fisch fertig ist, teilt sie ihn sorgsam in zwei Hälften und gibt dem Hund seinen Anteil, den er gierig verschlingt. Jedoch wagt er es trotzdem nicht, sich noch etwas von Nea zu stibitzen. Mit dem Kaninchen machen sie es genauso, wobei Nea hier dem Hund sogar das größere Stück überlässt. Denn ihren Rippen sieht man bei weitem noch nicht so stark wie seine, außerdem hat er sich eine Belohnung verdient. Danach löscht sie wie üblich das Feuer und steigt wieder auf den Baum. Als sie jedoch den Hund ganz verlassen von unten zu ihr hochblicken sieht, steigt sie wieder hinab und trägt auch den Hund hinauf auf den Baum. Miro wäre von ihrer Kletterkunst beeindruckt.

Der Hund ist nicht groß und wird ihr deshalb nicht viel Platz in ihrem Schlafsack wegnehmen, zudem wird er sie auch etwas wärmen. Also steigen sie zusammen in den Schlafsack und kuscheln sich aneinander. Der Hund lässt alles ohne Gegenwehr über sich ergehen. Sein Fell kitzelt etwas auf Neas nackter Haut, gleichzeitig verströmt sein Körper eine angenehme Wärme.

„Gute Nacht“, flüstert Nea ihm in seine spitzen Ohren, woraufhin er ihr mit seiner kratzigen Zunge über den Arm leckt, als wolle er ihr einen Gute-Nacht-Kuss geben. Das Krächzen eines Uhus ist das Letzte, was Nea wahrnimmt, bevor sie ins Reich der Träume sinkt.

5 - Die Bärentöterin

chapter8Image1.jpeg

Nach einer unruhigen Nacht sitzt Nea nun am Bachufer und spritzt sich das eisige Wasser ins Gesicht. Sie ist es nicht mehr gewohnt, dass jemand so dicht bei ihr schläft, sodass sie bei jeder noch so kleinen Bewegung, die der Hund gemacht hat, wach geworden ist. Der Hund hingegen scheint sich bei ihr pudelwohl zu fühlen, denn er hüpft munter in dem kalten Wasser umher, als wäre es Sommer und die Sonne würde nur so vom Himmel brennen. Auch wenn es schon deutlich wärmer ist, als noch vor zwei Tagen. Sie müssen sich schon nah an Dementia befinden, welches in südlicher Richtung liegt.

Nea streckt ihren Körper, wobei es unangenehm in ihrem Nacken knackt. Ihre Muskeln und Gelenke scheinen ihr noch nicht die Strapazen von den letzten Tagen verziehen zu haben.

Zum Glück sind ihre Kleider über Nacht halbwegs getrocknet, sodass sie sie nun wieder anziehen kann. Der Himmel erstrahlt in einem kühlen rosa, als Nea und ihr neuer Partner weiterziehen. Früher hat ihre Mutter ihr immer erzählt, dass das Christkind Plätzchen backt, wenn der Himmel rosa ist. Bei dem Gedanken muss Nea lächeln. Denn die Weihnachtszeit, die es jetzt offiziell schon lange nicht mehr gibt, liegt bereits 2 Monate zurück. Sie weiß nicht, ob irgendwo auf der Welt vielleicht nicht doch noch jemand Weihnachten feiert. Vielleicht hat Luica mit Harold und Zippi Weihnachten gefeiert, sie sind immerhin eine Familie. Aber Einzelgänger wie Nea, der Hund und viele andere erleben diesen Tag wie jeden anderen, an dem es heißt ums Überleben zu kämpfen. Die Carris feiern bestimmt auch kein Weihnachten, denn die Geburt Jesus Christi passt nicht dazu, dass sie Ereb als ihren Gott verehren. Aber vielleicht haben sie dafür andere Feste. Jedoch beneidet Nea sie nicht darum. Denn jedes ihrer ausgedachten Feste wäre für sie ohne Bedeutung. Sie kann sich aber vorstellen, dass Kinder, die erst in dieser Welt bei den Carris geboren wurden, diese Feste genauso sehr lieben wie sie einst Weihnachten.

Nachdem sie nicht weit gelaufen sind, erreichen sie ein Feld auf dem ein paar Holzhütten stehen. Es ist deutlich zu erkennen, dass es noch nicht lange her sein kann, dass auf dem Feld gearbeitet wurde. Denn die Erde ist frisch umgegraben und kleine grüne Pflanzen sprießen aus dem Boden. Jedoch ist niemand zu sehen, was aber nichts bedeuten muss, denn es ist noch sehr früh am Morgen. Bestimmt werden die Arbeiter bald kommen.

Deshalb beschließt Nea sich ein Stück in den Wald zurückzuziehen und auf ihre Ankunft zu warten. Sie braucht eine der roten Kutten der Carris, um besser durch Dementia reisen zu können. So war und ist ihr Plan, auch der Zwischenfall mit Luica und den anderen hat daran nichts geändert. Zwar weiß sie noch nicht was sie mit dem Hund machen soll, aber das lässt sie jetzt auf sich zu kommen. Nea lehnt sich an einen Baumstamm, der von einem Busch verdeckt wird und lässt sich zu Boden sinken. Die unruhige Nacht hat sie um einen Teil ihrer Kräfte beraubt. Doch sie nimmt es dem Hund nicht übel, der nun seinen kleinen Kopf auf ihren Schoß bettet. Auch wenn sie sich vorher so gegen ihn gesträubt hat, ist sie nun froh, dass er da ist. Gedankenverloren streichelt sie ihm über seinen Kopf und blickt auf das immer noch verlassene Feld. Es fällt ihr immer schwerer ihre Augen offen zu halten, sodass sie ihr irgendwann zuklappen und sie einnickt.

 

Als Nea aufwacht, bemerkt sie eine Veränderung. Sie hat die Ankunft verschlafen. Ohne sich zu bewegen öffnet sie die Augen und späht durch den Busch auf das Feld. Dort sind mittlerweile zirka zwanzig Menschen mit dunkelroten Westen zu sehen, die emsig das Feld mit der bloßen Kraft ihrer Hände umgraben. Zwischen ihnen stehen für Nea gut sichtbar sechs weitere Menschen, jedoch mit feuerroten Kutten bekleidet. Das müssen die Aufseher sein, während die anderen nur Arbeiter oder gar Sklaven sind. Die Aufseher haben sich rund um das ganze Feld verteilt und sind mit Kampfstäben bewaffnet. Gewehre oder Pistolen haben hier die wenigsten zu ihrem Schutz, da die Munition für solche Waffen bereits innerhalb des ersten Jahres nach Ausbruch der Krankheit fast restlos verbraucht war.

Nea hat zu ihrem Schutz nur das Messer. Es könnte ihr damit gelingen einen der Wachen in einem Hinterhalt die Kehle durchzuschneiden. Nea ist jedoch nicht bereit für ihren Traum zu töten. Es reicht, dass sie bereits ein Menschenleben auf dem Gewissen hat, mit dessen Tod sie nicht fertig wird. Zudem glaubt sie, dass ein Mensch, der einen anderen Menschen tötet, ein Teil von sich selbst dabei mit umbringt. Denn ein Mensch wird nach einem Mord nie wieder derselbe sein.

Deshalb schaut Nea sich lieber auf dem Waldboden nach einem festen Stock um, den sie zur Waffe umfunktionieren könnte. Nicht weit von sich sieht sie einen geeigneten Ast am Boden liegen. Jedoch ist die Stelle, an der er sich befindet, vollkommen schutzlos und die Carris könnten sie ganz leicht sehen. Sie wendet sich an ihren Begleiter, der mittlerweile auch aufmerksam seine Ohren aufgestellt hat und zeigt ihm den Stock.

„Hol das Stöckchen!“, flüstert sie ihm in sein Ohr und hofft, dass er sie versteht. Das lässt sich der Hund nicht zweimal sagen und läuft ohne zu zögern zu dem Stock. Mit pochendem Herzen beobachtet sie die Carris und atmete erleichtert aus, als der Hund ihr den Stock vor die Füße schmeißt und aufgeregt auf der Stelle hüpft. Er glaubt sie wolle mit ihm spielen. Schnell legt Nea sich den Zeigefinger auf die Lippen und betet, dass er die Geste versteht. Enttäuscht legt er seinen Kopf schief und schaut sie mit großen Kulleraugen an. Sie nimmt sich fest vor das Spiel mit ihm nachzuholen, doch jetzt ist weder der richtige Ort noch die richtige Zeit dafür. Irgendwie muss es ihr nun gelingen einen der Carris einzeln zu sich zu locken. Wenige Meter von ihr entfernt, steht einer der Aufseher mit dem Rücken zu ihr. Vorsichtig und so leise wie möglich steht Nea auf und tritt hinter den Baum, sodass sie die Carris nicht mehr sehen kann.

Ihr Plan ist spontan und wenig bis gar nicht durchdacht. Sie wird den Aufseher durch ein Geräusch zu sich locken, um ihm dann mit dem Stock von hinten eins überzuziehen. Wenn sie Glück hat, wird er einzeln und ohne seinen Kollegen Bescheid zu geben zu ihr kommen. Wenn sie Pech hat gibt er jemanden vorher ein Zeichen, der ihn dann genauestens beobachtet oder er kommt direkt in Begleitung. Es ist leichtsinnig und waghalsig, aber das Beste was ihr auf die Schnelle einfällt.

Also scharrt sie nun wild mit den Füßen im Schutz des Baumes. Sie kann die Reaktion des Aufsehers nicht sehen und lauscht angestrengt. Den Stock hält sie mit beiden Händen fest umklammert, zum Ausschlagen bereit. Erst hört sie gar nichts und glaubt schon, dass der Aufseher sie einfach für einen Vogel gehalten hat, der nicht seiner Beachtung würdig ist. Doch dann sind vorsichtige Schritte auf dem Laubboden zu hören. Neas Herz klopft wild gegen ihre Brust und ihre Hände schwitzen, während sie sie fest um den Stock krallt. Die Schritte nähren sich langsam von der rechten Seite. Weit entfernt kann er nicht mehr sein. Immer näher hört sie ihn kommen, gerade als sie glaubt, dass er nun direkt neben ihr stehen müsste, schießt der Hund links von ihr mit lautem Gebell auf das Feld zu. Erschrocken und unbedacht blickt Nea ihm nach. Wie von der Tollwut befallen rennt er mitten in das Feld voller arbeitender Menschen. Erschrocken kreischen alle auf und weichem dem wilden Hund aus. Die Aufseher verlassen nach dem ersten Schreck alle ihre Posten, um den Hund einzufangen und rennen zwischen den Arbeitern über den Acker.

Erst da erkennt Nea den Plan ihres schlauen Partners und blickt nach rechts. Dort steht nur einen arm breit entfernt von ihr der Aufseher und betrachtet mit offenem Mund das Geschehen auf dem Feld. Nea wagt es kaum zu atmen, als sie sich lautlos wieder hinter den Baum dreht, den Stock noch mal fester umfasst und ihn dann mit Schwung von links auf den Kopf des Aufsehers fahren lässt. Nur ein kurzes Geräusch des Erstaunens dringt durch seine Kehle, bevor er zu Boden geht. Nea wirft einen panischen Blick auf das Feld, doch immer noch sind alle damit beschäftigt dem Hund nachzujagen, sodass niemand ihren Überfall bemerkt hat. Schnell zieht sie den bewegungslosen Körper des Aufsehers hinter den Baum und streift ihm seine Kutte vom Körper. Es ist ein schmächtiger Junge, der noch ein paar Jahre jünger als sie zu sein scheint. Nea ist sich sicher, dass er keine wichtige Rolle bei den Carris spielen kann. Die Kutte zieht sie sich jedoch nicht direkt über, sondern stopft sie schnell in ihren Rucksack. Bevor sie den Jungen mit einem Seil am Baum fesselt, überprüft sie noch seinen Pulsschlag und ist erleichtert, als sie ein regelmäßiges Pochen an seinem Hals wahrnimmt.

Nachdem sie ihn gefesselt hat, blickt sie wieder zu dem Feld. Die Aufseher haben nun die Arbeiter in der Mitte zusammengetrieben, da einige von ihnen anscheinend zu fliehen versucht haben. Neas Begleiter rennt laut bellend um den Kreis der Aufseher und Arbeiter herum. Die ganze Szene erinnert sie daran wie Schäferhunde, die Schafe zusammentreiben und Nea muss schmunzeln. Doch sie sieht auch, wie erschöpft der Hund langsam ist, denn sein Tempo verlangsamt sich stetig und seine Zunge hängt ihm schon hechelnd zum Hals heraus. Er ist eben doch nicht mehr der Jüngste und so rennt Nea schnell von der Stelle mit dem gefesselten Jungen ein Stück weiter in den Wald hinein. Dann bleibt sie stehen und lässt einen lauten Pfiff los, der die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht. Ihr Hundefreund rennt direkt zu ihr, während die Carris nicht wissen, ob sie ihr nun folgen oder bei ihren Arbeitern bleiben sollen.

Die Zeit, die sie brauchen, um sich zu einigen, gibt Nea genug Vorsprung. Sie rennt so schnell sie kann am Waldrand entlang. Dieses Mal blickt sie sich jedoch beim Rennen um und als sie sieht, dass keiner der Carris ihnen folgt, dafür der Hund aber Probleme hat hinter ihr herzukommen, bleibt sie stehen.

Völlig verausgabt legt sich der Kleine, nach Luft ringend, zu Boden. Schnell holt Nea die Wasserflasche aus ihrer Tasche und gießt sich Wasser in ihre Handfläche, welches der Hund direkt abschleckt. Erst nachdem die halbe Flasche geleert ist, beruhigt er sich langsam.

Nea lacht und krault ihn hinter den Ohren „Du bist ein Held, weißt du das eigentlich?“, lobt sie ihn, woraufhin er hechelnd zu nicken scheint.

Den Hund zu treffen, war wohl doch das Beste was ihr seit langem passiert ist. Schon zum zweiten Mal hat er ihr mehr oder weniger das Leben gerettet. Gerne würde sie ihm jetzt ein Wiesel fangen und es für ihn ganz alleine zubereiten, doch dafür haben sie leider keine Zeit. Nun da sie die Kutte hat, muss sie sich so schnell wie möglich in einer der von Carris besetzten Städte mischen, bevor überall bekannt wird, dass eine Kutte von jemandem gestohlen wurde. Nea holt die feuerrote Kutte aus ihrem Rucksack und wirft sie sich über, denn sie hat vor, den Waldrand nun zu verlassen und durch das offene Feld zu gehen. Den Rucksack zieht sie sich dennoch an, denn sein Inhalt ist zu wertvoll, um ihn zurückzulassen. Wenn einer der Carris sie sehen sollte, wird sie behaupten, sie sei von einem Auftrag zurückgekehrt und die einzige Überlebende.

Jedoch weiß sie immer noch nicht, was sie wegen ihres kleinen Freundes sagen soll. So clever wie er ist, wird ihm sicher eher etwas einfallen, als ihr selbst. Es ist ein eigenartiges bedrückendes Gefühl, den Schutz des Waldes zu verlassen und sich auf das offene Feld zu begeben. Sie kennt sich hier nicht aus und kann deshalb nur hoffen, dass sie sich in der Nähe einer Stadt befindet und sie somit die Nacht nicht ungeschützt verbringen muss.

 

Auf dem Feld steht das Gras so hoch, dass der kleine Hund gar nicht darüber gucken kann und ihm so nichts anderes übrig bleibt, als in Neas Spur zu laufen. Ein leichter Wind weht über das Feld. Es duftet herrlich nach Frühling. Zwar liebt Nea diesen Geruch bei weitem nicht so sehr wie den salzigen Geruch von Strand und Meerwasser, aber trotzdem nimmt er ihr einen Teil ihrer Sorgen. Wenigstens für einen kurzen Moment. Die Welt ist nicht verloren, ganz im Gegenteil, die Natur ist stärker denn je und solange es die Natur gibt, wird es auch Leben geben.

Ein leises Klingeln reißt sie aus ihren Gedanken und sie schaut vorsichtig um sich herum. Zu ihrer linken Seite erkennt sie eine Art Trampelpfad, der durch die Felder führt. Wieder ertönt ein leises Klingeln, wie von Glocken. Langsam und aufmerksam begibt sie sich zu dem Pfad. Als sie näherkommen, sieht Nea, dass das Gras auf der anderen Seite des Pfades viel kürzer ist, so als wäre es vor einiger Zeit gemäht worden. Sie scheinen sich also langsam einer Stadt oder zu mindestens bewohntem Gebiet zu nähren.

Wieder hört sie das Klingeln. Gemeinsam folgen sie dem Pfad ein Stück weiter, wobei das Klingeln immer lauter wird. Irgendwann ist es deutlich und unablässig zu hören und dann sieht Nea auch schon die signalroten Kutten im Feld aufleuchten. Es sind vier Stück.

Jedoch stehen sie mit dem Rücken zu ihr, sodass ihr noch ein Moment zum Nachdenken bleibt. Langsam bewegt sie sich auf den Trupp zu. Rund um die Carris grasen zirka dreißig Ziegen, die alle ein Glöckchen an ihrem Halsband tragen. Zwischen den Ziegen laufen und liegen vereinzelt auch Hunde, die um einiges aufmerksamer als ihre Herrchen sind. Denn nun haben sie Nea und den Hund bemerkt und stehen bedrohlich auf, begleitet von einem lauten Knurren. Jetzt drehen sich auch die vier Carris zu ihnen herum. Neas Begleiter geht ebenfalls in Hab-Acht-Stellung und knurrt warnend zurück. Misstrauisch mustern die Carris Nea. Ihr Hals fühlt sich trocken an und sie schluckt schwer. Jetzt ist schauspielerisches Talent gefragt.

„Aus!“, befiehlt sie ihrem Hund, der sie fragend anblickt. Doch Nea lächelt die Carris entschuldigend an und geht auf sie zu. Es fiel ihr schon immer schwer auf andere Menschen zuzugehen, aber ihnen auch noch etwas vorspielen zu müssen, lässt ihre Handflächen vor Schweiß ganz feucht werden.

„Hallo!“, sagt sie so freundlich wie möglich, als sie nur noch eine Schrittlänge voneinander trennt. Freundlichkeit ist bisher nicht in ihren Gesichtern zu erkennen. Unverhohlen mustern sie Nea von oben bis unten.

„Was machst du hier?“, will einer von ihnen weiterhin misstrauisch wissen, während sie die anderen neugierig beäugen.

„Ich war bei einer Patrouille im Süden dabei. Wir wurden von Wilden überfallen und bei der Flucht habe ich sowohl die anderen als auch die Orientierung verloren. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung wo ich hier überhaupt bin.“

Prüfend starren sie die vier weiterhin an, wägen ab ob sie ihrer Geschichte Glauben schenken können. Der Blick, einer der beiden Frauen, die sich bis aufs kleinste Detail ähneln, wandert zu dem Hund an ihrer Seite. „Wo hast du den denn her?“

„Das ist ein Spürhund, ohne ihn wäre ich jetzt tot. Er hat die Wilden lange gerochen, bevor wir sie auch nur sehen konnten.“

„Und wo sind die anderen deiner Einheit?“

„Das weiß ich leider nicht. Die Wilden waren uns zahlenmäßig weit überlegen, da ist jeder so schnell gerannt, wie er nur konnte. Ich habe die anderen aus den Augen verloren und bin nun schon seit Tagen alleine unterwegs.“

Ein kurzer prüfender Blick, dann folgt ein leichtes Nicken.

„Du kannst mit uns heute Abend in die Stadt kommen, dort soll der Hauptmann entscheiden, was mit dir passiert.“

Nea nickt ihnen mit dankbarem Gesicht zu. Den Rest des Tages beachten die anderen sie kaum noch, sondern schweigen oder unterhalten sich nur gedämpft miteinander, sodass sie nichts von ihren Gesprächen mitbekommt, während Nea vorgibt sich auszuruhen. Die Carris trauen ihr offenbar immer noch nicht, was sie ihnen auch nicht verübeln kann, ihr würde es genauso gehen.

Als sie bei Sonnenuntergang aufbrechen, überkommt Nea langsam Nervosität, denn nun kommt die eigentliche Schwierigkeit. Sie muss den Hauptmann von der Richtigkeit ihrer Geschichte überzeugen, denn nur dann wird sie sich frei unter den Carris bewegen können. Wenn er ihr nicht glaubt, landet sie wahrscheinlich in irgendeinem Käfig und kann auf die Entscheidung eines weiteren Höhergestellten warten.

 

Der Weg in die Stadt ist gar nicht so weit entfernt wie sie dachte. Von den Feldern aus, war weit und breit nichts zu sehen, doch nun erreichen sie bereits nach wenigen Gehminuten eine geteerte Straße, die sie geradewegs in ein kleines Dorf führt. Das gesamte Dorf besteht aus kleinen, verwitterten Fachwerkhäusern. Viele Dächer sind bereits durch Sturmschäden zusammengebrochen. Kopfsteinpflaster bedeckt den Boden. Nach dem Durchgang durch eine schmale Gasse betreten sie eine Art Innenhof. Gegenüber der Gasse befindet sich eine kleine Kapelle. Sie sticht direkt ins Auge, da sie vor nicht allzu langer Zeit frisch in einem dunklen rot angestrichen wurde. Zudem scheint sie komplett intakt zu sein, denn weder das Dach noch die Fassade weisen irgendwelche Schäden auf. Neben der Kapelle steht eine große Scheune. Auch diese ist gut in Schuss und es dringen Geräusche geschäftigen Treibens zu den Ankommenden. Die restlichen Fachwerkhäuser wirken blass und wie aus einer anderen Zeit neben der blutroten Kapelle.

„Willkommen in Shepherd’s Field“, sagt eine der beiden Frauen. „Wir bringen die Tiere in ihre Gatter, warte hier!“ Daraufhin lassen sie Nea alleine auf dem Platz zurück.

Keiner der anderen Carris beachtet sie, ihre Tarnung scheint zu funktionieren. Manche schenken ihr sogar ein kurzes Lächeln, welches sie höflich erwidert. Sie läuft, gefolgt von dem Hund, ein Stück näher an die Kapelle heran. Sie sieht, dass an der Kapellenseite auf der roten Farbe ein riesiges Portrait in Weiß gezeichnet wurde. Es zeigt ein junges Männergesicht. Die Augen des Mannes sind stechend und voller Hass, sein Mund geweitet, als würde er schreien. Sein Haar ist Kinn lang und steht zu allen Seiten von seinem Kopf ab. Er wirkt beängstigend.

 

Miros Faust donnerte in die Wand direkt neben Neas Kopf. Erschrocken fuhr sie zusammen und duckte sich vor einem weiteren Schlag.

„Wie kannst du es wagen einfach meine Jacke zu verkaufen? Kennst du den Unterschied zwischen Mein und Dein nicht?“, schrie er ihr voller Wut entgegen.

„Du hast doch noch deinen Mantel“, verteidigte sich Nea kleinlaut.

Grob packte Miro sie an beiden Schultern und begann sie unsanft zu schütteln. „Warum hast du das gemacht? Habe ich dir irgendetwas getan?“

Nea hatte die Lederjacke aus purer Eifersucht verkauft. Die Blondine hatte sie Miro geschenkt und Nea hatte es gehasst sie täglich an ihm zu sehen. Aber das würde sie ihm nicht sagen.

„Sie hat nicht zu dir gepasst. Du warst dafür nicht cool genug“, behauptete sie trotzig und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.

Miro stieß einen lauten frustrierten Schrei aus und donnerte seine Faust erneut gegen die Wand. Als er sie zurückzog, sah Nea Blut von seinen Fingerknöcheln tropfen.

„Hör auf damit. Du tust dir doch nur selbst weh“, flehte sie ihn an. Miro blickte zögernd zu ihr hinab und verengte seine Augen zu Schlitzen. „Nein, denn ich weiß, dass dir mein Schmerz noch mehr weh tut als mir selbst.“

Ein letztes Mal krachte die Faust in die raue Wand, bevor Miro wütend davon stampfte.

„Idiot!“, schrie Nea ihm nach. Sie wusste, dass sie ihn Stunden, wenn nicht sogar tagelang nicht mehr zu Gesicht bekommen würde. Aber er würde wiederkommen, dessen war sie sich sicher.

 

Anhand der Bildunterschrift, erkennt Nea, dass die Zeichnung an der Wand ein Abbild Erebs sein soll. Unter dem Bild steht geschrieben „Ereb ist Chaos. Chaos ist Ereb

In diesem Moment beginnt ihr treuer Begleiter zu knurren. Erschrocken fährt sie herum und wird fast etwas geblendet von der sonnengelben Robe des Mannes, der vor ihr steht. Nea weiß, dass gelb die Farbe der Priester Erebs ist. Es ist die höchste Rangstufe, die man bei den Carris erreichen kann. Der Mann trägt kurze hellblonde, fast weiße Haare. Genauso bleich wirken seine Haut und seine fast durchscheinenden, wässrigen Augen. Er hat eindeutig etwas Unheimliches an sich. Obwohl er Nea ein strahlendes Lächeln schenkt, lässt sie sein Anblick frösteln. Trotzdem erwidert sie das Lächeln des Priesters und verneigt sich demutsvoll vor ihm.

Nea erwartet, dass er ihr sagen wird, dass sie sich wieder erheben soll, doch es bleibt still und so verharrt sie gebeugt vor ihm und spürt seinen durchdringenden Blick auf ihrem Rücken.

Schließlich streckt er ihr seine Hand vor den Mund, an der ein Ring steckt, der mit einem Siegel geschmückt ist. Auf dem Siegel ist Ereb zu erkennen. Es ist Nea eigentlich zuwider und am liebsten würde sie dem komischen Kerl vor sich mal heftig die Meinung sagen, aber sie hat keine andere Wahl, also haucht sie einen Kuss auf den Ereb am Ring.

„Du darfst dich erheben!“, ertönt es daraufhin gebieterisch von dem Mann. Nea wusste bereits, dass die Carris verrückt sein müssen, aber dass sie so größenwahnsinnig sind, hätte sie nicht gedacht. Sie stellt sich aufrecht hin und blickt dem Fremden ohne Scheu in die Augen. Der Hund hat sich mittlerweile hinter ihr versteckt. Er scheint Angst vor dem komischen Mann zu haben.

„Ich bin Urelitas. Man hat mir bereits von deiner Geschichte berichtet, trotzdem möchte ich sie noch einmal von dir hören.“

Bei seinen Worten hält er die Nase so hoch, als wolle er damit den Himmel berühren.

Nea erzählt ihm dasselbe, was sie bereits den vier Tierhütern erzählt hatte und hofft dabei, dass die Carris wirklich Patrouillen ausschicken und Spürhunde haben. Wenn nicht, wird es dieser Priester sicher wissen und sie wird als Lügnerin enttarnt.

Als Nea mit ihrer Erzählung endet, betrachtet der Mann sie nachdenklich.

„Aus welcher Stadt kommst du denn?“, fragt er schließlich und Nea ist froh, dass sie sich genau darauf bereits eine Antwort ausgedacht hat.

„Aus unserer geliebten Stadt Fortania. Es war mir immer eine Ehre, so nah bei Ereb leben zu dürfen.“

Fortania ist die größte neugebildete Stadt in Dementia und zudem der angebliche Sitz von Ereb, wenn es ihn überhaupt wirklich gibt. Zudem ist Fortania der südlichste Sitz der Carris und somit am nächsten ihrem eigentlichen Ziel: Promise.

Nea war natürlich noch nie in Fortania gewesen, aber es ist die einzige Stadt in ganz Dementia dessen Namen sie kennt.

„Wie wahr, auch ich sehne mich jeden Tag danach wieder Fortania und Ereb besuchen zu dürfen. Du sollst morgen dorthin zurückkehren. Ich werde dir zwei Boten mitschicken. Ereb selbst soll entscheiden, wo du nun eingesetzt wirst.“

Nea muss sich beherrschen sich ihre Erleichterung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Urelitas scheint ihr zu glauben.

„Ich danke euch vielmals! Ihr macht mich zum glücklichsten Menschen der Welt!“ Ihre Worte strotzen nur so vor Ironie, doch der Priester bemerkt davon nichts, er rümpft nur die Nase und geht davon.

Nea kniet sich zu ihrem Begleiter und hält ihm glücklich ihre Hand entgegen, so als könne er kameradschaftlich einschlagen. Vergnügt springt der Hund auf und wedelt mit seinem Schwanz, froh wieder mit ihr allein zu sein. Lachend nimmt Nea seine Pfote und schüttelt sie sanft mit ihrer Hand. „Wir haben’s geschafft!“

6 - Die Bärentöterin

chapter9Image1.jpeg

Nachdem die erste Freude darüber, dass sie Urelitas täuschen konnte, verflogen ist, überlegt sie was sie nun tun soll. Es ist bereits dunkel und die Carris ziehen sich in ihre Häuser zurück. Die Geräusche aus der Scheune werden immer leiser und sie weiß nicht wo hin sie soll. Bevor wirklich alle verschwunden sind, beschließt sie lieber schnell in der Scheune nachschauen zu gehen, um sich dort jemandem anzuschließen.

Als sie das große rote Scheunentor aufzieht, knarrt es laut. In der Scheune stapeln sich Heuballen, neben Leinensäcken und Tiergattern, in denen bestimmt 200 Schafe und Ziegen eng aneinander gepfercht stehen. Aber das Eigenartigste ist, dass von der Decke der Scheune eine Glühbirne baumelt, die elektrisches Licht spendet. Seit sechs Jahren hat sie kein elektrisches Licht mehr gesehen. Es ist wie ein kleines Wunder.

Nea war fest davon überzeugt, dass sie so etwas nur in Promise finden würde und nun ausgerechnet in einer Scheune bei den verrückten Carris baumelt eine Glühbirne von der Decke. Wie gebannt starrt sie auf die Lampe und bemerkt erst, dass sie ebenfalls beobachtet wird, als sie ein Räuspern wahrnimmt. Ertappt blickt sie in die beiden lächelnden Gesichter der Frauen, die heute mit bei den Hirten auf dem Feld waren.

Vor wenigen Stunden wirkten sie noch abweisend und verschlossen, doch jetzt schenken sie ihr ein liebevolles, wenn auch leicht skeptisches Lächeln.

„Gibt es bei euch im Süden keine Notstromversorgung?“

Nea schüttelt den Kopf „Nicht in den Ställen“, fügt sie dann aber noch schnell hinzu, um die Frauen nicht misstrauisch zu machen.

„Bei uns gibt es den Strom nur in den Ställen, weil sie für uns das Wichtigste sind. Es wäre wahnsinnig die Ställe mit Kerzen zu beleuchten bei all dem ganzen Heu und Stroh.“

Das bei den Carris absolut alles wahnsinnig für sie ist, verkneift sich Nea lieber auszusprechen.

„Du brauchst bestimmt ein Lager für die Nacht und etwas zu Essen, oder?“, fragt nun die andere der beiden gleich aussehenden Schwestern.

Ihre Frage bestätigt Nea mit einem Nicken.

„Manche von uns, vergessen gerne einmal ihre Höflichkeit. Du kannst gerne bei uns in der Scheune bleiben, wenn du willst. Dann brauchst du deinen Hund nicht alleine zu lassen.“

„Ihr schlaft in der Scheune?“

„Nicht jede Nacht, aber heute sind wir mit der Wache dran. Uns ist es aber ganz recht, da wir dich morgen nach Fortania begleiten sollen und da werden wir unsere Tiere schon vermissen.“

Nea schenkt ihnen ein mitfühlendes Lächeln. „Mir würde es mit meinem Hund nicht anders gehen“, behauptet sie. Im ersten Moment sagt sie es nur um Verständnis zu heucheln, aber sobald es ausgesprochen ist, fühlt sie, dass es stimmt. Ihr würde der Hund fehlen, obwohl er erst seit zwei Tagen offiziell zu ihr gehört.

„Aber es ist natürlich auch schön mal wieder nach Fortania zu kommen. Wir sind vor der Seuche oft mit unseren Eltern dorthin zum Einkaufen gefahren. Damals hieß die Stadt natürlich noch anders. Es war immer etwas ganz besonders für uns durch so eine große Stadt mit den ganzen tollen Läden zu laufen, die es bei uns in den Dörfern nicht gab. Manche Geschäfte gab es dort sogar fünfmal.“

Nea fällt direkt das Leuchten in den Augen der Beiden auf, als sie ihr von ihrer Vergangenheit berichten. Nea erkennt, dass die Zwillinge einmal ganz normale Mädchen waren, mit ganz normalen Freizeitbeschäftigungen und einer Vorliebe für Mode. Wenn sie nicht ihre roten Kutten anhätten, würde Nea sie niemals für Carris halten.

 

Als alle Tiere versorgt sind breiten sie ihre Schlafsäcke aus. Neas Begleiter bekommt etwas von dem Trockenfutter ab, das die Carris ihren Hunden zu fressen geben. Begeistert sieht er nicht aus, doch trotzdem frisst er seinen Napf leer. Selbst Dosenfutter ist besser, als gar keine Essen.

Für die Menschen gibt es kalte Konserven. Nea hat die Wahl zwischen einem Gemüseeintopf und Hackbraten mit Reis. Der Gemüseeintopf macht das Rennen. Die Zwillinge erinnern sie wieder daran, dass sie Carris sind, als sie Ereb für ihre Nahrung und ihre Gesundheit danken, bevor sie den ersten Bissen nehmen. Nur gut, dass sie nicht als erstes angefangen hat, denn sie wäre nie auf die Idee gekommen Ereb zu danken, warum auch?!

Das Essen schmeckt Nea genauso wenig wie dem Hund sein Futter, aber wenigstens lässt das unangenehme Knurren in ihrem Bauch nach.

 

Der eisige Wind ließ Neas Locken wild durch die Luft fliegen, während der Regen ihr unbarmherzig ins Gesicht schlug. Warum hatte Miro sie auch ausgerechnet jetzt Wasser holen schicken müssen? Hätte er sich nicht bis zum nächsten Morgen gedulden können oder das Wasser besser einteilen? Er hatte doch gesehen wie schlecht das Wetter war.

Bestimmt war es nur wieder eine Rache für einen gemeinen Spruch ihrerseits. Ständig kränkten und beleidigten sie sich gegenseitig. Jeder Fremde, der ihnen dabei zuschauen würde, würde niemals auf die Idee kommen, dass sie beste Freunde waren.

In den Momenten, in denen sie sich stritten, hasste Nea Miro aus tiefstem Herzen. Sie wollte ihn grün und blau schlagen. Doch sobald er nicht in ihrer Nähe war, sehnte sie sich auch schon wieder nach ihm. Egal wie gemein er manchmal war, sie wollte niemals ohne ihn sein.

Mit einem heftigen Stoß öffnete sie die knarrende Holztür des alten Lagerhauses, indem sie seit einigen Tagen Unterschlupf gefunden hatten. Nea hielt staunend inne. Sie spürte weder den kalten Wind noch den Regen, sondern konnte nur fasziniert auf den schmutzigen Boden starren. Dort standen mehrere brennende Teelichter im Kreis, während in deren Mitte aus einer alten Holzkiste eine Art Tisch aufgebaut war. Miro hatte ein Stück Stoff wie eine Tischdecke darüber ausgebreitet. Darauf standen eine breite Stumpfkerze sowie eine Flasche Wein und zwei Teller.

„Es ist kalt, mach die Tür zu. Oder bist du festgefroren?“, rief Miro aus einer anderen Ecke des Raum, wo ein Feuer in einer Tonne brannte.

Irritiert trat Nea in das Zimmer, wobei die Tür von einem Windstoß mit einem lauten Knall zugestoßen wurde. Erschrocken zuckte sie zusammen.

Damit hatte sie nicht gerechnet. Miro war selten auf offene Weise nett zu ihr. Es waren immer mehr die kleinen versteckten Gesten und Blicke, die ihr zeigten, wie sehr er sie mochte. Das hier war neu. Oder war es vielleicht gar nicht für sie? Hatte er das alles für irgendeines seiner dahergelaufenen Mädchen gemacht?

„Seit wann bist du unter die Romantiker gegangen?“, neckte ihn Nea, ohne dabei zu zeigen wie sehr sie das Bild berührte.

„Gefällt es dir?“

Nea biss sich auf die Unterlippe. Von draußen bließ der Wind gegen das Haus und der Regen war auf dem Blechdach zu hören. Trotzdem spürte sie wie ihre Wangen zu glühen begannen.

„Für wen hast du das gemacht?“

„Was denkst du denn?“

„Habe ich irgendetwas vergessen?“

Miro begann zu lachen. Nea liebte sein Lachen, denn es kam aus dem Bauch heraus und zwang sie jedes Mal zu einem Lächeln. „Hören wir auf damit, setz dich einfach hin.“

Er hatte es für sie gemacht. Unglaublich! Neas Herz begann wie wild zu klopfen als sie den nassen Mantel von ihren Schultern streifte und sich vor die gedeckte Holzkiste kniete. Jetzt nahm sie auch den schwachen Duft nach warmer Hühnersuppe war und ihr Magen knurrte gierig.

„Guten Abend, die Dame. Haben sie gut den Weg in unser bescheidenes Sternerestaurant gefunden?“, scherzte Miro und verbeugte sich vor ihr wie ein Kellner.

Nea prustete laut los, aber spielte begeistert mit. Schon als Kinder hatten sie es geliebt Restaurant zu spielen. „Verzeihung, der Herr, aber es liegt Dreck auf dem Boden.“

„Aber Madame, das ist doch kein Dreck, das ist Sternenstaub. Es betrübt mich, dass Sie das nicht erkennen konnten. Darf ich Sie mit dem ersten Gang erheitern?“

„Versuchen Sie es, werter Herr.“

„Zu Beginn darf ich Ihnen eine köstliche Hühnersuppe aus der Dose servieren, die Spezialität unseres Hauses.“

Miro reichte ihr einen Teller dampfender Suppe. Er hatte sie über dem Feuer erwärmt.

Da sie kein Besteck besaßen, setze Nea den Teller an die Lippen und nahm schlürfend einen ersten Schluck.

„Was sagen sie, meine Liebe? Konnte ich Ihren hohen Ansprüchen genügen?“

„Sie sagten, das sei eine Dosensuppe…“

„So ist es, Madame. Ist etwas nicht in Ordnung?“

„Sie schmeckt irgendwie anders als sonst.“

Miro lächelte ihr entgegen. Ein Lächeln, das ihr Herz erwärmte. „Das liegt daran, dass sie mit Liebe verfeinert wurde.“

 

Plötzlich schlägt sich eine der Zwillinge mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Oh man, du musst uns für sehr unhöflich halten, dass wir uns nicht mal bei dir vorstellen. Ich bin Hope und meine Schwester nennt sich Faith. Wie du sicher schon gesehen hast, sind wir Zwillinge, aber wenn du genau hinschaust, kannst du uns trotzdem auseinanderhalten“, fügte sie grinsend hinzu, während mir Faith zuzwinkert. Die Beiden hatten etwas ungewöhnliche Namen. Aber es war in dieser Welt nichts Besonderes, wenn sich Menschen neue Namen gaben. Es hilft ihnen dabei mit ihrem alten Leben abzuschließen, doch für Nea kam das nie in Frage

„Ich bin Nea.“ So hatte sie schon immer geheißen. Ihre Eltern hatten eine Vorliebe für Finnland gehabt und ihrem einzigen Kind deshalb auch einen finnischen Vornamen gegeben.

Nun betrachtet Nea etwas neugieriger die beiden Gesichter, denn etwas anderes ist durch die Kutten von ihren Körpern nicht zu sehen. Sie grinsen beide über das ganze Gesicht. Das Spiel scheint ihnen Freude zu bereiten. In ihren Wangen bilden sich kleine Grübchen und Nea kann sie fast vor sich sehen, wie sie vor der Krankheit so manchen Jungen oder Lehrer veralbert haben, indem sie sich grundsätzlich als die andere ausgegeben haben.

Beide haben auffallend grasgrüne Augen, leicht rötliche Augenbrauen, schneeweiße Haut, kleine Stupsnasen und schmale rosafarbene Lippen. In ihren Ohren baumeln kleine Anhänger mit demselben Abbild von Ereb, wie Urelitas am Finger getragen hat. Die Carris scheinen eine ganze Schmuckkollektion entworfen zu haben, nur um ihren Wahnsinn um Ereb noch weiter zu treiben. Doch einen Unterschied erkennt Nea in den beiden Gesichtern nicht. Da kichern die Beiden auf und Hope zieht an ihrem rechten Ohrläppchen. „Guck hier, da habe ich ein kleines Muttermal, Faith hat keins.“

Tatsächlich, dabei hatte sie gerade noch ihre Ohrringe bewundert. „Hast du auch Geschwister?“

Sie verneint die Frage.

„Oh wie schade…aber eigentlich ist es nicht so schlimm, im Grunde sind die Carris ja so etwas Ähnliches wie eine Familie.“ Faith lächelt dabei selig und scheint wirklich zu glauben, was sie sagt.

Nea kann sich viele Beweggründe erklären, warum jemand bei den Carris sein wollen könnte. Doch diese Sekte als Familie zu betiteln, hält sie für maßlos übertrieben.

„Naja als Familie würde ich sie nicht unbedingt beschreiben…“, rutscht Nea es heraus. Auch wenn sie so tut als wäre sie eine von ihnen, muss sie nicht allem zustimmen. Zudem mag sie die beiden Mädchen irgendwie und da will sie ihnen wenigstens etwas Ehrlichkeit entgegenbringen. Faith und Hope starren sie mit großen, ungläubigen Augen an.

„Bist du denn nicht glücklich bei uns?“

„Doch, aber es ist kein Ersatz für eine Familie. In einer Familie spielt… ich meine ist niemand allmächtig und es gibt auch keine Priester, die mehr zu sagen haben als alle anderen.“

„Doch natürlich. War dein Papa nicht das Oberhaupt deiner Familie? Und stell dir mal vor du hättest ältere Geschwister gehabt, die glauben grundsätzlich schlauer und besser als man selbst zu sein. Das Wichtigste an einer Familie ist doch das man für einander da ist und an dasselbe glaubt.“

„Und was ist mit den Sklaven? Ist es nicht irgendwie unfair, dass sie bei uns bleiben müssen und nicht frei entscheiden können?“

Die beiden sehen sich ratlos an und zögern mit ihrer Antwort. „Ja, du hast schon Recht. Aber wir sind eben auf ihre Hilfe angewiesen. Außerdem behandeln wir sie auch gut. Sie haben immer etwas zu essen und müssen nie frieren. Wir schlagen sie nicht“, übereinstimmend nicken Beide mit dem Kopf.

Nea glaubt ihnen nicht so ganz. Ihrer Ansicht nach wissen auch sie, dass es falsch ist, aber versuchen sich die Sache schön zu reden. Sie wollen nicht darüber nachdenken und erst recht nicht darüber reden.

Deshalb löscht Faith das Licht und die Mädchen kuscheln sich in die warmen Schlafsäcke. Neas Hund rollt sich an ihren Füßen zusammen und legt seinen Kopf auf den Schlafsack. Das Stroh knistert bei jeder noch so kleinen Bewegung, dafür ist es aber herrlich weich, sogar weicher als der Schlafplatz, den Nea im Zelt von Luica hatte. Nur das leise Schnauben und Trappeln der Tiere ist zu hören. Bei den vielen ungewohnten Geräuschen fällt es ihr schwer einzuschlafen, obwohl sie eigentlich sehr müde ist.

Hope und Faith sind beide nett zu ihr und im Gegensatz zu Luica, Harold und Zippi scheinen sie wirklich ehrlich zu sein. Sie haben keinen Grund ihr etwas vorzuspielen oder sie zu belügen. Ganz im Gegenteil, jetzt ist Nea es, die ein falsches Spiel treibt. Sie hat zwar nicht vor den beiden in irgendeiner Weise zu schaden, aber sie ist sich sicher, dass die Mädchen sich trotzdem verraten fühlen werden, wenn sie irgendwann erfahren, dass Nea nie zu ihnen gehört hat. Sie weiß nur zu gut, wie sich das anfühlt und es tut ihr jetzt schon leid, dass sie das nun selbst jemandem antun muss. Das schlechte Gewissen plagt sie bereits jetzt, obwohl noch einige Tage vor ihnen liegen, doch ihr bleibt nichts anderes übrig, wenn sie nach Promise kommen will. Wie soll das dann erst werden? Sie hält sich immer für wahnsinnig clever und stark, aber tief in ihren Inneren ist sie eben doch ein Sensibelchen, wie Miro immer gesagt hat.

 

Am nächsten Morgen wird Nea erst wach, als Faith sie sanft an der Schulter rüttelt. Es hatte lange gedauert, bis sie überhaupt einschlafen konnte.

Die Tiere stehen immer noch in ihren Gattern, was bedeutet, dass es noch früh am Morgen sein muss. Hope drückt ihr eine Schüssel mit kühlem Wasser in die Hand, damit sie sich das Gesicht waschen kann. Gerade als sie sich die erste Ladung ins Gesicht spritzt, öffnet sich knarrend das Scheunentor, gefolgt von lautem Hundebellen. Urelitas tritt in seiner strahlend gelben Robe herein. Faith und Hope fallend direkt vor ihm auf die Knie und auch Nea hält ihren Kopf gesenkt, da sie ohnehin schon sitzt „Seid gegrüßt, hoher Priester!“

Urelitas lässt wieder einige Zeit vergehen, bevor er sagt: „Guten Morgen, Anhänger des einzigen wahren Glaubens!“

Er scheint es zu lieben seine Macht zu demonstrieren. Nea ist nur froh, dass sie nicht wieder den dämlichen Ring küssen muss. Faith und Hope richten sich auf, doch ihre Blicke wandern stumm in der Scheune herum, aber nie wagen sie es Urelitas direkt anzusehen. Sie haben große Angst vor ihm und Urelitas weiß das, denn er genießt es um sie herum zu marschieren und sie damit noch mehr einzuschüchtern.

„Es ist eine große Ehre für euch von mir ausgewählt zu werden, um nach Fortania zu reisen. Seid euch im Klaren darüber, dass sie euch nur zu Teil wird, weil ihr nun schon so lange zu den Carris gehört. Wenn irgendetwas schief läuft, wird es das erste und letzte Mal gewesen sein. Habt ihr mich verstanden?“

Die Beiden nicken eilig, während Nea schwer ums Herz wird. Sie wollte niemandem schaden und nun schadet sie ausgerechnet den Zwillingen, die sie so herzlich in ihrer Mitte aufgenommen haben. Insgeheim wünscht sie sich, sie wären abweisend und verschlossen ihr gegenüber geblieben. Dann müsste sie jetzt auch kein schlechtes Gewissen haben.

Urelitas wendet sich nun ihr zu. „Verbreitet auf eurem Weg die Botschaft von Chaos und straft die Ungläubigen. Wer weiß vielleicht schickt Ereb euch ja zurück zu mir.“

Neas Magen krampft sich zusammen, als sie sein selbstgefälliges Grinsen sieht.

„Es war mir eine Ehre euch kennen zu lernen“, entgegnet sie höflich und senkt in gespielter Demut ihren Kopf. Sie fühlt sich in ihrer Haltung, auf dem Boden, ihm unterlegen, was ihr definitiv nicht passt.

Wieder verharrt er kurz vor ihr. Doch dann verlässt er endlich mit den Worten „Ereb ist Chaos, Chaos ist Ereb“ die Scheune. Kaum, dass sich die Tür hinter ihm schließt, atmen Hope und Faith erleichtert auf.

„Ich dachte ich mach mir gleich in die Kutte, als er so um uns herumgelaufen ist. Wir kennen ihn nun schon Jahre, aber trotzdem wird er nicht weniger furchteinflößend“, plaudert Hope direkt aufgeregt los.

„War dein Oberbefehlshaber auch so?“, will ihre Schwester von Nea wissen.

„Nein, er war ein Teil von unserer Einheit und hat sich nie als etwas Besseres gesehen. Der einzige Unterschied war seine gelbe Robe“, behauptet Nea.

„Du Glückliche, da kann man dir nur wünschen, dass du nicht mit uns zurückkehren musst, obwohl wir uns freuen würden.“ Die Beiden grinsen Nea verschwörerisch an und sie möchte am liebsten davonrennen, um sie nicht weiter belügen zu müssen.

 

Wenige Minuten später verlassen sie mit Ruck- und Schlafsäcken bepackt das Dorf. Kaum das es hinter ihnen liegt, drückt Hope Nea einen noch warmen kleinen Brotlaib und eine Flasche Milch in die Hand. „Wenn man eine lange Reise vor sich hat, sollte man wenigstens etwas gefrühstückt haben. Urelitas sagt, wer genug zu Ereb betet, braucht keine Nahrung und wir sollen uns frei von irdischen Bedürfnissen machen, doch unsere Bäuche wollen das nicht so ganz verstehen.“ Ganz so gläubig sind sie also zum Glück doch nicht, das macht sie gleich viel sympathischer.

Das Brot ist köstlich. Erst scheut sich Nea noch davor ihrem Hund etwas abzugeben, wenn er sie auch mit noch so treuen Augen anstarrt. Sie möchte nicht respektlos und undankbar wirken, doch dann ist Hope die Erste die ihm ein Stück zuwirft. „Wer könnte diesen Augen schon widerstehen?!“, kichert sie und es folgt das nächste Stück von Faith. Sie machen sich einen Spaß daraus die Krümel hoch in die Luft zu werfen, um dann zu beobachten wie der Hund sie noch in der Luft fängt. Nicht ein einziges Stück lässt er den Boden berühren. Am Ende hat er bestimmt genauso viel Brot gegessen wie sie selbst.

 

Gegen Mittag kommen sie an einem der Felder vorbei, auf denen Sklaven arbeiten. Als die Zwillinge sehen, dass sie Erdbeeren anpflanzen, sehen sie das als perfekte Zeit für eine kleine Pause an und laufen zu den Aufsehern auf das Feld. Es ist Nea unangenehm, als sie die verachtenden Blicke der Sklaven auf sich spürt. Ein kleiner Junge fällt ihr dabei besonders auf, da er sie an Zippi erinnert. Schweiß steht auf seiner Kinderstirn und seine Arme sind bis zu den Ellbogen voller Schlamm. Ein Kind, was diese Arbeit zum Spaß machen würde, würden die dreckigen Hände nicht stören, doch der Kleine sieht ganz unglücklich aus. Verstohlen blickt er umher und stopft sich dann eine der Erdbeeren in den Mund. Nea lächelt und denkt, dass der Junge sich eigentlich den ganzen Eimer, der vor ihm steht, verdient hätte. Doch andere scheinen das nicht so zu sehen. Denn in diesem Moment kommt einer der Aufseher laut schreiend auf ihn zu gerannt.

„Du wagst es Ereb zu bestehlen?!“, donnert er mit seiner kräftigen Stimme. Schnell schüttelt der Junge den Kopf, woraufhin der Aufseher mit seiner großen Hand ausholt und dem Jungen eine scheuert, sodass sein kleiner Kopf zur Seite fliegt. Der Anblick zerreißt Nea das Herz und ohne das sie darüber nachdenken kann, schreit sie bereits: „Lass das!“ Der Aufseher fährt irritiert zu ihr herum. Wieder kleben die Blicke aller unangenehm auf ihr.

„Er ist doch noch ein Kind!“, verteidigt sie sich nun etwas kleinlaut.

„Trotzdem darf er Ereb nicht bestehlen. So etwas müssen Kinder schon früh lernen, sonst lernen sie es nie.“

„Wenn du ihn verletzt, kann er aber auch nicht mehr für Ereb arbeiten!“, erwidert sie rebellisch und reckt ihm ihr Kinn provozierend entgegen. Der Aufseher wirft ihr einen letzten bösen Blick zu, bevor er sich wieder zu dem Jungen umdreht. „Mach das ja nicht noch mal!“, zischt er ihn an, bevor er zurück auf seinen Posten geht.

Langsam nimmt alles wieder seinen gewohnten Lauf, als Nea zu Hope und Faith blickt, sieht sie, dass sie ihr ein zaghaftes Lächeln schenken. Auch wenn Nea keine richtige Carris ist, scheinen sie auf ihrer Seite zu stehen und gut zu finden, dass sie sich für den Kleinen eingesetzt hat. Nea erinnert sich daran, dass sie sagten, dass die Sklaven nicht geschlagen werden würden. Vielleicht sind sie deshalb selbst erschrocken über die Brutalität des Aufsehers. Obwohl die Beiden nun schon so lange bei den Carris zu sein scheinen, gibt es wohl noch vieles wovon sie gar nichts wissen und es vielleicht auch nicht wissen wollen. Ein winziger Funke Hoffnung keimt in Nea auf, dass sie sich vielleicht dazu überreden kann die Carris mit ihr zu verlassen, denn sie sind weder verrückt, noch schlechte Menschen oder dumm.

Als sie zu ihrer Reise aufbrach, wollte sie niemanden um sich haben, sondern alles alleine regeln. Und jetzt, nach nicht einmal einer Woche und bereits dem ersten Verrat, sehnt sie sich schon nach dauerhafter Gesellschaft. Ob es Nea nun gefällt oder nicht, muss sie einsehen, dass sie bei weitem nicht so stark ist, wie sie gedacht hatte. Miro sagte immer, sie sei ein Widerspruch an sich. Natürlich hat sie es jedes Mal lauthals abgestritten, doch trotzdem hallen seine Worte nun immer wieder durch ihren Kopf. Sie würde alles dafür geben es ihn noch einmal sagen zu hören und dieses Mal würde sie ihm sogar zustimmen, worüber er vermutlich enttäuscht wäre.

7 - Die Bärentöterin

chapter10Image1.jpeg

Die Erdbeeren sind zuckersüß. Einen halben Eimer konnten die Zwillinge sich von den Aufsehern erbetteln. Damit haben sich die drei Mädchen nun, ein Stück von dem Feld entfernt, unter einen Baum in eine wunderschöne weiß blühende und duftende Wiese gesetzt.

Eigentlich sollte ihnen schlecht werden von den Erdbeeren, wo sie doch wissen, dass sie durch unfreiwillige Arbeit gesät und geerntet werden. Nicht mal vor Schlägen gegenüber Kindern machen die Carris halt. Sie haben nicht mehr darüber gesprochen, allgemein haben sie kaum geredet. Sondern nur immer wieder betont, dass die Erdbeeren köstlich seien und das war nicht einmal gelogen.

Nea weiß, dass es eines der vielen Themen ist über die Faith und Hope nicht sprechen wollen, nur um nicht ihr Leben bei den Carris überdenken zu müssen. Aber genau das würde sie sich von ihnen wünschen.

„Wusstet ihr, dass sie Vergehen mit Schlägen bestrafen?“, fragt Nea als Hope sich gerade die letzte blutrote Erdbeere in den Mund steckt.

„Na irgendeine Strafe muss es ja geben, wenn man sich nicht an die Regeln hält…“, antwortet sie mit kauendem Kiefer und ohne sie anzublicken.

„Aber er war doch noch ein Kind!“

„Das ist bestimmt nicht überall so. Der Kerl war einfach sehr brutal, das ist sicher die Ausnahme“, kommt ihr Faith zur Hilfe.

Wieder reden sich die Beiden alles schön und Nea ist machtlos dagegen. Doch Nea weiß auch, dass die Mädchen noch zu wenig vom realen Leben gesehen haben, um nicht so naiv zu reagieren.

Sie verlassen nach ihrer kleinen Pause den Platz unter dem Baum und treten aus dem Schatten in die Sonne. Sie legt sich angenehm warm über ihre Kutten. Es ist mittlerweile deutlich zu spüren, dass der Frühling ins Land rückt, aber richtig warm wird es in dieser Gegend selten.

Ihr Weg führt sie weiter durch die Blumenwiese, sodass die Zwillinge sich während dem Laufen eine Blume nach der anderen pflücken und sich daraus Blumenkränze basteln, die sie sich auf ihre kuttenbedeckten Köpfe legen. Manchmal benehmen sich die beiden echt albern und kindisch, obwohl sie ein paar Jahre älter als Nea sein müssen. Immerhin waren sie schon richtige Teenager als die Krankheit ausbrach. Nea war erst zwölf Jahre alt, gerade Mal in den Anfängen der Pubertät. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte die Seuche für ihren Ausbruch kaum wählen können. Nicht nur, dass der eigene Körper sich verändert und man nicht mehr weiß wo oben und unten ist, bei ihr hat sich wirklich die ganze Welt verändert. Manchmal dachte sie in dem einen Moment noch, dass alles gar nicht so schlimm sei und im nächsten Moment saß sie bereits mit angezogenen Knien in einer Ecke und hat geheult wie ein Schlosshund. Nach dem Tod ihrer Eltern, war Miro ihren ständigen Stimmungsschwankungen hilflos ausgesetzt gewesen. Trotzdem hatte er immer Geduld bewahrt und sich in Momenten, in denen es ihr schlecht ging, sich nie lustig über sie gemacht.

 

„Wisst ihr eigentlich genau wo lang wir laufen müssen?“, fragt Nea irgendwann, nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit immer nur stur dem Weg geradeaus gefolgt sind.

„Ja, Urelitas hat uns einen Plan gegeben, an den brauchen wir uns nur zu halten, dann kann nichts passieren.“

„Darf ich den Plan mal sehen?“

Faith greift in die Tasche ihrer Kutte und reicht ihr ein gefaltetes Papier. Als sie es aufschlägt, sieht Nea, dass ihre Reise in drei Tagesmärsche eingeteilt ist mit jeweils einer Rast in einem Dorf der Carris. Die Wege denen sie folgen müssen, sind genau beschrieben. Für heute ist eingetragen, dass sie dem Weg von Shepherd’s Field aus folgen sollen bis sie an einem See ankommen, den sie mit einem Boot überqueren können. Danach geht es noch zirka zwei Stunden durch den Wald. Dem Plan nach sollten sie das nächste Dorf bei Einbruch der Dämmerung erreichen.

Nea gibt Faith den Plan zurück.

„Es ist bestimmt nicht mehr weit“, versucht Hope sie aufzuheitern, als sie in ihr verzweifeltes Gesicht blickt. Aber sie ist nicht betrübt, weil sie müde oder erschöpft ist, sondern weil sie nur noch drei Tage Zeit hat, um die beiden davon zu überzeugen ihr zu folgen oder ohne sie abzuhauen. Denn es ist ausgeschlossen, dass sie nach Fortania geht und sich Ereb vorstellt. Er wüsste direkt, dass keine Patrouille im Süden überfallen wurde und ihre ganze Lügengeschichte würde wie ein Kartenhaus zusammenstürzen.

 

Hope behält Recht und sie befinden sich schon bald an dem steinigen Ufer eines jadegrünen Sees, an dessen Steg einsam und verlassen ein einzelnes Boot befestigt ist. Als sie jedoch näher herangehen, sehen sie, dass die Ruder ein ganzes Stück von dem Boot entfernt auf der Oberfläche treiben und in dem Boot selbst ein großes Loch prangt durch das stetig Wasser in das Innere dringt. Das Boot ist unbrauchbar, dass war ihnen auf den ersten Blick klar.

Fragend blicken sie einander an und suchen mit den Augen den See nach einer anderen Möglichkeit ab, um ihn zu überqueren. Weit und breit ist weder eine Brücke noch ein anderes Boot zu erkennen. Sie könnten auf die andere Seite schwimmen. Das Ufer ist nicht allzu weit entfernt und sie ist durch das Leben am Meer eine geübte Schwimmerin. In einer Stunde müsste es zu schaffen sein, nur ihre Sachen würden dabei nass werden. Doch als Nea in die ratlosen Gesichter der Zwillinge blickt, weiß sie, dass sie über diese Möglichkeit nicht einmal nachgedacht haben.

„Was haltet ihr von schwimmen?“, versucht sie es trotzdem.

„Wir können nicht schwimmen“, antworten ihr beide wie aus einem Mund. Das macht Neas Vorschlag natürlich zu Nichte.

„Wir könnten das Boot reparieren“, schlägt Hope stattdessen vor.

Rund um den See ist Wald, sodass sie genug Holz finden würden. Jedoch nicht passend, um ein Leck in einem Boot damit zu decken und sie besitzen auch nicht das richtige Werkzeug, um das Holz passgerecht zuzuschneiden.

Verzweifelt schauen sich die Mädchen an.

Der See ist so groß, dass sie weder in rechter noch in linker Richtung sein Ufer erkennen können. Nur das gegenüberliegende Ende ist in Sichtweite. Eigentlich wäre es der perfekte Zeitpunkt für sie, um die Beiden zu verlassen. Sie müsste nur vorschlagen, dass sie ihr die Wegbeschreibung geben sollen und sie alleine durch den See schwimmt. Aber Nea ist noch nicht bereit so früh von ihnen Abschied zu nehmen. Sie haben einander gerade erst kennengelernt und sie ist die Einsamkeit überdrüssig. Zwar haben es Luica, Harold und Zippi nie ernst mit ihr gemeint, aber trotzdem hat sie sich in ihrer Gesellschaft wohl gefühlt und so auch bei Faith und Hope.

Wenn man immer alleine lebt, weiß man nicht was einem in Begleitung entgeht und kann es auch nicht vermissen, wie auch. Erlebt man dann aber erst einmal die Geborgenheit einer Gemeinschaft, möchte man sie danach nicht mehr missen. Außerdem hofft Nea weiterhin, dass sie die Zwillinge dazu überreden kann mit ihr nach Promise zu suchen oder wenigstens die Carris zu verlassen, um ein Leben in Freiheit zu führen.

„Tja dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als um den See zu laufen“, spricht Nea es laut aus. Mit einem betrübten Nicken folgen ihr, Faith und Hope in den Wald.

„Eigentlich wollten wir schon früher schwimmen lernen, aber als wir kleiner waren, haben wir uns nie getraut und als wir dann älter waren, war es uns zu peinlich“, meint Faith entschuldigend.

„Ist doch nicht schlimm. Es gibt auch vieles, das ich nicht kann.“

„Aber du kannst es uns ja vielleicht irgendwann mal beibringen. Wäre sicher lustig. Solange niemand zuschaut, wie wir uns blamieren“, schlägt Hope grinsend vor, der Gedanke bringt auch Nea zum Schmunzeln.

 

Während auf den Wiesen noch strahlender Sonnenschein herrscht, ist es im Wald schon leicht düster durch die dicht beieinanderstehenden hohen Tannenbäume. Der Boden ist steinig und es liegt der würzige Duft von Tannennadeln in der Luft. Nur wenige Vögel sind hier und da zu hören. Sie halten sich so nah wie möglich am Seeufer, zum einen weil dort wenigstens noch etwas Licht ist, zum anderen, um sich nicht zu verirren.

Der Umweg kann sie Tage zurückwerfen, je nachdem wie groß der See wirklich ist. Hope und Faith sind still geworden und schauen sich ängstlich im Wald um. Während Nea ihnen auf dem Weg durch die Felder und Wiesen hinterher getrottet ist, laufen sie ihr nun eng aneinander gerückt hinterher. Bei jedem Rascheln und Knistern zucken sie mit vor Schreck geweiteten Augen zusammen. Fast kommt es Nea vor als wären sie zuvor noch nie in einem Wald gewesen.

„Nea, es ist bald dunkel“, meint Hope irgendwann mit zittriger Stimme, so als würde Nea das selbst nicht sehen. In der Tat ist es mittlerweile schwierig Wurzeln auf dem Waldboden zu erkennen. Sicher wäre es besser bald einen Platz für die Nacht zu suchen und ein Feuer anzuzünden. An einer Stelle, wo nicht ganz so viele Steine den Boden bedecken, bleibt Nea endlich stehen und zieht ihren Rucksack aus. Entgeistert blicken die Schwestern sie an.

„Was machst du denn? Sollen wir etwa hier die Nacht verbringen?“

„Wo denn sonst?“, entgegnet Nea irritiert.

Darauf wissen sie keine Antwort und schauen sie fast flehend an.

„Ich kann ein Feuer anmachen, dann ist es nicht so dunkel. Und kalt wird es dann in der Nacht auch nicht“, versucht sie die beiden zu beruhigen. Das ist der Vorteil eine der Carris zu sein, man braucht sich keine Sorgen darüber zu machen in ihrem Gebiet die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

„So etwas kannst du?“, fragt Faith sie mit großen Augen.

„Ja, geht doch schon mal etwas Holz suchen. Ich fange uns in der Zwischenzeit ein paar Fische. Wenn wir Glück haben, steuert uns der Hund ein Kaninchen oder Wiesel bei. Er ist ein hervorragender Jäger.“

Ihre Augen werden immer größer und sie blicken staunend von Nea zu dem Hund und wieder zurück.

„Ihr beiden seid echt unglaublich. Nicht nur, dass du schwimmen kannst, du kannst auch noch Feuer machen, Fische fangen und hast einen Hund, der sein Fressen mit dir teilt… Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass Ereb dich zu uns zurückschickt, um Ziegen und Schafe zu hüten. Das wäre verschwendetes Potenzial. Du solltest in seine Kampfgruppe und neue Gebiete erobern“, meint Hope voller Bewunderung, während Faith zustimmend nickt.

Ganz verlegen blickt Nea zu Boden. Für sie sind all diese Dinge mittlerweile selbstverständlich. Denn ohne all das, hätte sie nicht überlebt.

„Ihr übertreibt maßlos, jetzt geht und sucht Holz.“, sagt sie und dreht sich zum See um, damit sie nicht sehen können, dass sie rot geworden ist.

Die Zwillinge kichern und laufen davon. Kaum dass sie nur ein paar Meter entfernt sind, hört Nea sie ein altes Volkslied singen, wahrscheinlich um weniger Angst zu haben. Bei dem Krach wird es schwer für den Hund seine Beute zu finden. Doch sollen sie ruhig singen, wenn es ihnen hilft.

Nea ist froh, dass sie nun endlich einen Grund hat, um die schreckliche Kutte abzulegen. Selbst in der Nacht ziehen die Carris sie nicht aus, sodass sie nicht einmal weiß, welche Haarfarbe die Zwillinge haben. Kühl zieht der Wind über Neas nackten Arme und weht ihr den Geruch des Sees entgegen. Er riecht nach Algen und Fisch.

Es ist erholsam die vom Laufen wunden Füße in das kühle Wasser zu halten. Ganz in ihrem Element krempelt sie sich nun die Hose hoch bis an die Kniekehlen und watet durch das Wasser. Die Fische sind hier anscheinend keine Menschen gewöhnt und wissen nicht um die Gefahr, die von ihnen ausgeht. Neugierig schwimmen sie um Nea herum, sodass es ihr ein Leichtes ist einen nach dem anderen zu fangen und ans Ufer zu schleudern. Es fällt ihr nicht einmal auf, dass die Stimmen von den Schwestern verstummt sind. Gerade als sie den vierten Fisch ergreifen will, kommt Hope aufgeregt angerannt und verscheucht den Fisch.

„Du glaubst nie was wir gefunden haben!“, sagt sie außer sich vor Freude mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ihre Schwester und der Hund sind nirgends zu sehen. Nea verlässt das Wasser und bemerkt wie Hope sie anstarrt. Wahrscheinlich weil sie keine Kutte trägt. Menschen ohne Kutte müssen für sie ja fast ungewohnt sein.

„Ich wollte nicht, dass die Kutte beim Fischen nass wird, deshalb habe ich sie ausgezogen“, erklärt Nea sich sofort.

„Wir ziehen unsere nur zum Waschen aus und dann direkt wieder eine Neue an. Es ist Jahre her, dass ich nur in normaler Kleidung durch die Gegend gelaufen bin“, bemerkt sie neidvoll.

„Zieht eure doch auch gleich aus, es bekommt doch niemand mit“, schlägt Nea vor und ist froh darüber, einen weiteren Punkt gefunden zu haben, der sie dazu bringen könnte ihr zu folgen.

„Ich weiß nicht…“, meinte Hope jedoch nur zweifelnd. Nea kann verstehen, dass es ihr schwerfällt, etwas zu ändern, was sie bereits seit Jahren gewohnt ist.

„Als wir uns den Carris angeschlossen haben, war die Kutte der Hauptgrund warum wir gezögert haben“, gesteht sie Nea mit einem Lächeln und erinnert sich dann aber wieder daran, was sie ihr eigentlich erzählen wollte. „Wir müssen nicht hier draußen schlafen, Faith und ich haben eine Höhle, nicht weit von hier, gefunden. Ist das nicht cool?“

Schnell zieht Nea sich ihre Stiefel wieder an, um ihr zu folgen. Sie weiß jedoch nicht, ob sie das so ‚cool’ finden soll, denn Höhlen sind oft von Tieren bewohnt, die nicht gerne Gäste bekommen. Aber das behält sie vorerst lieber für sich, sie will die Mädchen nicht sofort enttäuschen.

Schon nach wenigen Metern kann sie das Knurren und Bellen von ihrem Hund hören. Mittlerweile kann sie ihn daran schon von anderen Hunden unterscheiden und weiß, dass er nie grundlos knurren würde. Hope und Nea beschleunigen ihre Schritte, da hören sie ein weiteres tiefes Knurren, das eindeutig nicht von ihrem Hund stammt.

Voller Sorge rennt Nea los. Hope hat wegen der Kutte Probleme ihr zu folgen. Die Höhle ragt bereits sichtbar aus einer Felswand hervor. Davor steht der Hund mit gesträubtem Fell und knurrt mit gefletschten Zähnen etwas an, das sich in der Höhle befinden muss und bestimmt nicht Faith ist. Ein tiefes Brummen und Brüllen dringt aus der Höhle. Achtsam tritt Nea neben ihren kleinen Partner in den Eingang der Höhle und erblickt die massige Gestalt eines ausgewachsenen Braunbären. Seine Augen funkeln sie bedrohlich aus der Höhle heraus an. Ein leises „Nea, hilf mir!“, lässt sie aufhorchen und da sieht sie, dass Faith vor Angst zitternd hinter dem Bären in der Höhle kauert.

Als Hope neben ihr ankommt, schlägt sie erschrocken die Hände vor den Mund. „Oh nein, Faith…“, schreit sie mit brechender Stimme. Sofort steigen ihr Tränen in die Augen. „Wir müssen irgendetwas tun!“, weint sie und rüttelt an Neas Arm, als ob sie irgendetwas daran ändern könnte. „Er wird sie fressen.“

Den Bären macht ihr Geschrei ganz aggressiv, sodass er sich von den Mädchen wegdreht und Faith mit gefletschten Zähnen laut anbrüllt. Sie schreit und heult vor Angst laut auf, genau wie ihre Schwester neben Nea. Hope hat Recht. Sie müssen irgendetwas unternehmen. Doch ihr Geschrei und Gejammer macht den Bären nur noch aggressiver, sodass er Faith erst recht anfallen wird. Wenn sie nicht schnellstens etwas unternehmen, wird der Bär seine riesigen Zähne in Faiths Körper schlagen. Der Hund ist zwar über alle Maße mutig, doch viel zu klein, um es mit einem Bären aufnehmen zu können. Ein Biss von dem Bären und er wäre genauso tot wie Faith. Nea schaut sich verzweifelt um, doch nichts als Bäume sind um sie herum.

„Hör auf mit dem Gekreische“, fährt sie Hope gestresst an, um einen ruhigen Kopf bewahren zu können.

Verletzt blickt diese ihr mit einem von Tränen überströmtem Gesicht entgegen, doch hält mit bebenden Lippen den Mund. Auch wenn der Hund weiterhin laut bellt und knurrt, wagt er es zum Glück nicht auf den Bären loszugehen. Er weiß, dass er keine Chance hätte.

Nea ist nicht so schlau wie der Hund und das wird ihr erst bewusst, als sie den Stein bereits aus ihrer Hand auf den Kopf des Bären zu fliegen sieht.

„Versteck dich“, kann sie Hope gerade noch zu schreien, bevor der Bär sich laut brüllend erneut zu ihnen umdreht und bedrohlich knurrt. Hope sucht schnell Zuflucht in einem Gebüsch neben dem Eingang der Höhle.

Mit langsamen bedrohlichen Schritten tritt der Bär aus der Höhle, direkt auf Nea und den Hund zu. Seine Augen fixieren sie. Der Hund beginnt ängstlich zu winseln und will sich hinter Neas Beinen verstecken. Je näher der Bär ihr kommt, umso weiter weicht sie vor ihm zurück. Ihr Herz hämmert wie verrückt und sie fragt sich was sie sich nur wieder dabei gedacht hat. Als der Bär plötzlich losrennt, dreht auch sie sich um und läuft so schnell sie kann auf einen Baum zu. Am ersten Ast zieht sie sich bereits nach oben und spürt die gewaltige Kraft des Bären direkt hinter sich. Mit seinem massigen Körper stemmt er sich gegen den Baum, um sie zu fassen. Verzweifelt greifen ihre Hände nach einem höheren Ast und gerade als sie sich daran höher in den Baum hinaufziehen will, spürt sie einen entsetzlichen Schmerz in ihrem Bein. Es ist ihr Glück, dass sie geistesgegenwärtig genug ist, um den Ast vor Schreck und Schmerz nicht loszulassen. Stattdessen zieht sie sich mit zusammengebissenen Zähnen daran empor. Das Hosenbein ihrer linken Wade ist bereits blutgetränkt.

Der Bär schlägt mit seinen riesigen Krallen erneut nach ihr. Nea wird schwindelig von der Verletzung und dem vielen Blut, sodass sie bereits das Rauschen einer kommenden Ohnmacht in ihren Ohren wahrnimmt.

Der Bär brüllt und fletscht seine Zähne, während er mit seinen gewaltigen Pranken weiter nach Nea schlägt. Sie ist mittlerweile weit genug oben in der Baumkrone, sodass der Bär sie nicht erreichen kann. Sie sitzt jedoch in der Falle, denn der Bär wird nicht aufgeben, bis er sie vom Baum geholt hat. Ganz im Gegenteil, er hat gerade erst Gefallen an dem Spiel gefunden.

Neas Blick wandert zu der Höhle zurück. Dort stehen Faith und Hope im Gebüsch und halten sich mit vor Angst geweiteten Augen und verweinten Gesichtern gegenseitig in den Armen. Sie starren zu ihr empor, sind jedoch unfähig ihr zu helfen. Den Hund entdeckt sie leider nicht bei ihnen, stattdessen muss sie mit Schrecken sehen wie er sich langsam knurrend ihr und dem Bären nährt. Wahrscheinlich will er ganz nach ihrem dummen Vorbild nun auch den Helden spielen. Aber hätte der Bär dem Hund so eine Pranke verpasst, wie ihr, wäre nun nicht nur seine Wade aufgeschlitzt, sondern sein ganzer Körper.

„Aus! Verschwinde!“, schreit Nea panisch dem Hund von oben entgegen, wodurch der Bär wütenden zu brüllen beginnt. Doch der Hund ignoriert sie und kommt dem Baum immer näher. Wieder fängt er zu bellen an und lenkt damit die Aufmerksamkeit des Bären auf sich, der sich vom Baum abstößt und zu dem Hund umdreht.

„Du dummes, dummes Tier“, schreit Nea panisch und mit Tränen in den Augen. Sie sieht den Kleinen bereits tot vor sich liegen.

Doch weder der Hund noch der Bär schenken ihr ihre Aufmerksamkeit. Knurrend treten sie aufeinander zu. Schnell zieht Nea das Messer aus ihrem Hosenbund. Ohne zu überlegen, lässt sie sich von dem Baum zu Boden fallen. Der Aufprall schmerzt fürchterlich in der verwundeten Wade und lässt sie nach Luft schnappen. Der Bär wird erneut auf sie aufmerksam und ihr bleibt keine Zeit noch über irgendetwas nachzudenken, als seine massige Gestalt auf sie zu stürmt. Sie rammt ihm die einzige Waffe, die sie besitzt in seinen Hals als er mit seinem großen Maul nach ihr schnappt.

Ein lautes Jaulen dringt aus seiner Kehle und er zuckt vor ihr zurück, so schnell, dass ihr Messer in seinem Hals stecken bleibt. Wehrlos steht sie vor dem riesigen Tier. Der Schmerz in seinem Hals und der Geruch von Neas Blut, machen ihn rasend und er schnappt erneut nach ihr. Dieses Mal trifft er sein Ziel und schlägt seine gigantischen Zähne tief in das Fleisch ihrer Schulter. Der Schmerz raubt ihr den Atem. Sie fühlt sich dem Tode nah, aber als sie mit letzter Kraft ihr Messer in seinem Hals zu fassen bekommt, zieht sie daran so fest sie kann und merkt nur noch wie der feste Biss des Bären in ihrer Schulter nachlässt, bevor sie ihr Bewusstsein verliert.

 

Nea lief durch die schmalen Gassen des alten Fischerdorfes. Der Schatten der Häuser verschluckte fast komplett das schwache Mondlicht. Aus der Ferne waren die Geräusche eines Trinkgelages zu hören. Normalerweise vermied sie es sich nachts durch die Straßen zu treiben, doch wie so oft hatte sie sich wieder mit Miro gestritten und war wutentbrannt aus ihrem Nachtlager in einer alten Scheune gestürmt. Der Streit war so lächerlich und kleinlich gewesen, dass es ihr schwerfiel sich daran zu erinnern, worum er überhaupt gegangen war. Trotzdem schämte sie sich jetzt zu ihm wie ein räudiger Hund zurückzukehren. Wenn sie ehrlich war, wäre sie am liebsten schon nach fünf Minuten wieder umgekehrt. Doch sie wollte es einmal machen wie er, der nach einem Streit stunden- und oft tagelang wegblieb. Sie wollte ihm zeigen, wie es sich anfühlte, wenn man sich Sorgen um den anderen machen musste und nicht sicher sein konnte, ob man ihn überhaupt wiedersehen würde. Miro sollte einmal fühlen, was sie schon tausende Male hatte spüren müssen. Er sollte sich um sie sorgen. Er sollte sie vermissen.

Das Geräusch von schnell auf den Boden schlagender Füße riss sie aus ihren Gedanken. Mehrere Leute kamen in ihre Richtung gerannt. Noch waren sie nicht in ihrer Nähe, doch Nea konnte förmlich spüren wie der Boden vibrierte, je näher sie ihr kamen. Hilfesuchend blickte sie sich um, doch es gab keine Ecke oder Nische in der sie sich in der dunklen Gasse hätte verstecken können. Also rannte sie ebenfalls in Richtung des Endes der Straße. Sie spürte wie ihr Herzschlag sich mit jedem Schritt beschleunigte und unterdrückte den Drang sich umzusehen. Sie wusste nicht, ob die fremden Schritte oder ihr eigener Herzschlag in ihrem Kopf so laut hämmerten. Gerade als sie beinahe das Ende der Straße erreicht hatte, zog sie ein fester Handgriff in das von ihr linksliegende Gebäude. Ehe sie hätte schreien könnten, legten sich ihr kalte Männerhände über den Mund. Sie hielt den Atem an und blickte in das funkelnde Blau von Miros Augen. Schweiß stand auf seiner Stirn und er wirkte außer Atem. Er war ihr so nah, dass sie spüren konnte, wie seine Brust sich vor Anstrengung hob und senkte. Er nahm die Hand von ihrem Mund und deutete ihr durch eine Geste den Mund zu halten. Von draußen drangen laute Männerstimmen zu ihnen durch. „Wo ist der Mistkerl?“

„Der kann sein blaues Wunder erleben.“

Miro zeigte auf die morsche Leiter, die in das Dachgeschoss des kleinen Hauses führte. Entsetzt schüttelte Nea den Kopf. Sie hatte Höhenangst und Leitern waren schon immer ihr Feind gewesen.

Miro beugte sich so dicht zu ihr, dass seine Lippen ihr Ohr streiften. „Ich bin direkt hinter dir.“

Anstatt ihm zu gehorchten, trat Nea wie ein sturer Esel einen Schritt zurück, weiter weg von der Leiter.

Miro zog sie an den Hüften zurück zu sich. „Vertraust du mir?“, flüsterte er in ihr Ohr.

Prüfend blickte Nea in seine Augen, die sie besser kannte als ihre eigenen. Wenn sie jemandem vertraute, dann Miro. Er hatte sie noch nie im Stich gelassen. Immer wenn es darauf ankam, war er an ihrer Seite. Sie nickte.

Miro schob sie in Richtung der Leiter und hielt sie von hinten fest als sie die erste Sprosse erklomm.

„Er muss hier irgendwo sein.“

„Vielleicht versteckt er sich in einem der Häuser.“

Nea nahm die Stufen schneller und versuchte nicht darüber nachzudenken, dass sie den Boden immer tiefer unter sich zurückließ. Sie stieß immer wieder gegen Miros Knie, der direkt hinter ihr kletterte. Doch er beschwerte sich nicht einmal.

Sobald sie den Dachstuhl erreicht hatten, eilte Miro an ihr vorbei zum nächsten Fenster. Die Scheiben waren bereits zerbrochen, doch nicht weit genug, um unverletzt hindurch steigen zu können. Schnell blickte er sich nach einem Gegenstand um, da hörten sie wie die Tür im unteren Stockwerk aufgestoßen wurde. Beide erstarrten sie in ihrer Bewegung und lauschten in die Stille. Sie konnten die Füße des Fremden auf dem knarrenden Holzboden hören, so wie er jede Bewegung ihrerseits wahrnehmen würde.

„Miro, wo bist du? Komm schon, ich will nur mit dir reden“, säuselte der Mann von unten.

„Es war echt nicht fair, Rickos Mädchen anzugraben. Das weißt du… Aber ich kann dich verstehen, sie ist echt ein heißes Gerät“, kicherte er. Nea spürte die Wut in sich aufsteigen. Es war eine Hitze, die in ihrem Magen begann und bis in ihre Stirn emporstieg. Sie sandte Blitze in Miros Richtung, dieser zuckte jedoch nur unschuldig mit den Schultern. Wieder war die missliche Lage, in der sie gerade steckten, allein seine Schuld. Sie hatte gewollt, dass er sie vermisste und sich um sie sorgte, aber stattdessen hatte er sich einfach mit einer anderen vergnügt. Am liebsten hätte sie ihn den Männern zum Fraß vorgeworfen.

Das Knarren der Leiter war zu hören. Wenn sie sich jetzt nicht versteckten, würde der Fremde sie direkt entdecken. Sie mussten seine Geräusche nutzen, um ihre eigenen damit zu vertuschen. Miro deutete mit seinem Kopf auf einen Haufen Decken, rechts neben dem Fenster. Sobald der Mann die nächste Stufe nahm, eilte Nea in Miros Richtung. Sie schafften es gerade noch die Decken über sich zu werfen als der Mann den Dachboden erreichte.

Die Decken stanken so sehr nach Urin, dass Nea davon fast schlecht wurde. Miro lag mit seinem vollen Gewicht auf ihr und drückte sie zu Boden, sodass sie kaum Luft bekam. Seine Haare kitzelten in ihrer Nase. Während sein Atem ihren Hals streifte.

„Miro!“

Sie hörten wie die Schritte sich ihnen nährten. Er musste jetzt direkt vor ihnen stehen.

Die Sekunden verstrichen, ohne dass etwas passierte. Doch plötzlich wurde die Decke nach oben gerissen und der Fremde schrie: „Jetzt hab ich dich!“

Geschockte starrte Nea in das verwitterte Gesicht des Mannes. Ihm wuchs ein wilder Bart wie Ungeziefer aus dem Gesicht, das von einer langen, zotteligen Mähne eingerahmt wurde. Seine Augen weiteten sich als er Nea erblickte und er ließ die Decke verdattert wieder fallen.

„Entschuldigt, wenn ich störe. Ich hatte jemand anderen erwartet“, stammelte er los und drehte sich dabei zur Leiter um. Nea verstand die Welt nicht mehr. Was war das denn jetzt? Hatte er Miro nicht gesehen?

„Ich geh dann mal wieder. Sorry nochmal und viel Spaß noch“, gluckste er anzüglich, während er die Leiter hinabstieg.

Miro verharrte bewegungslos auf ihr, bis der Mann verschwunden war, erst dann sprang er schwungvoll auf und brach in schallendes Gelächter aus. Als er Neas verwirrten Blick sah, lachte er nur noch lauter und bekam sich kaum noch ein. Tränen standen in seinen Augen, so sehr amüsierte ihn das Ganze. Nea spürte wie die Wut zurück in ihren Bauch kehrte und sie verpasste Miro einen heftigen Stoß in die Rippen.

„Warum lachst du?“, schrie sie ihn verärgert an. „Findest du das etwa lustig?“

Miro versuchte sich zu fangen und atmete tief ein und aus, während er sich die Tränen aus den Augen wischte. „Der dachte doch tatsächlich er hätte uns bei einem Schäferstünden erwischt“, prustete er los.

Empört und verletzt fasste sich Nea auf die Brust, so als wäre sie nackt und müsste sich bedenken. „Warum sollte er so etwas denken? Wir sind doch beide noch komplett angezogen…“

„Oh Nea, glaubst du wirklich man muss sich dafür jedes Mal ausziehen? Hast du noch nie etwas von einem Quickie gehört?“

Nea war froh über die Finsternis, denn ihre Wangen brannten vor Scham wie Feuer. Nein, sie wusste nicht, was ein Quickie war. Sie wusste auch sonst nicht viel über Sex. Polyora hatte ihr Leben zerstört bevor ihre Mutter oder die Schule sie hätte aufklären können. Alles was sie wusste, wusste sie von Miro. Denn im Gegensatz zu ihr, schien er da seine eigenen Erfahrungen zu machen. Jedes Mal ließ er sie wie ein kleines Dummchen dastehen. Er liebte es geradezu sie von oben herab zu behandeln und das ging ihr gewaltig gegen den Strich.

Das Knallen ihrer flachen Hand auf seiner Wange hallte durch das leere Haus. „Ich hasse dich, Miro“, zischte sie und meinte es in dem Moment auch so.

Miro ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken, stattdessen nahm er ihre zur Faust geballte Hand in seine Hände und hauchte ihr einen Kuss darauf, der sie irritiert innehalten ließ. „Und ich liebe dich dafür nur umso mehr, kleine Nea.“, was sie nur noch mehr verärgerte.

 

„Ich spüre doch ihren Pulsschlag. Sie lebt auf jeden Fall noch!“

„Und warum kommt sie dann nicht zu sich?“

„Vielleicht liegt sie ja im Koma, oder so?“

Etwas Feuchtes streift über Neas Gesicht, begleitet von einem leisen Winseln.

„Und was sollen wir mit ihr machen, wenn sie im Koma liegt? Wir können sie doch nicht hier liegen lassen.“

„Nein, auf keinen Fall. Sie hat mir das Leben gerettet!“

Eine warme Hand legt sich erneut an Neas Hals und der Hund jault herzzerreißend auf.

„Oh schau doch nur, wie er um sie trauert. Da könnten sich unsere Hunde mal eine Scheibe von abschneiden.“

Nea möchte die Augen öffnen, doch es fällt ihr wahnsinnig schwer. Ihr ganzer Körper schreit vor Schmerz.

Sie spürt den warmen Druck einer fremden Hand. „Nea, gib uns doch irgendein Zeichen, dass du uns hörst“, sagt jemand verzweifelt zu ihr und da schafft sie es die Hand leicht zu drücken. Es folgt ein erschrockenes, aber freudiges Aufkreischen.

„Siehst du, ich hab doch gesagt, dass sie lebt!“

„Nea Schatz, mach dir keine Sorgen, wir sind bei dir. Alles wird wieder gut.“

Der Hund hat aufgehört zu Jaulen und drückt Nea wieder seine feuchte Zunge ins Gesicht, woraufhin sie ihre Augen aufschlägt und den Kopf leicht wegdreht. Über sich sieht sie die verweinten, aber glücklichen Gesichter der Zwillinge, die ihr lachend den Hund aus dem Gesicht halten.

8 - Die Bärentöterin

chapter11Image1.jpeg

Nea ist gerührt davon wie die Zwillinge sich aufopferungsvoll um sie kümmern. Ganz behutsam und vorsichtig haben sie sie von der Höhle aus zurück zu ihrem alten Rastplatz getragen und ihre Kutte kaputt gerissen, um daraus Verbände für Neas verletzte Wade und Schulter zu machen. Mit Hilfe von Neas Anweisungen hat Faith es tatsächlich geschafft Feuer zu machen, indem jetzt die drei Fische köstlich vor sich hin braten. Aber über Essen brauchen sie sich für die nächste Zeit ohnehin keine Sorgen zu machen. Es war wahrscheinlich mehr Glück, als irgendetwas sonst, aber der Bär ist tot. Nea hatte es geschafft ihm die Luftröhre zu durchtrennen, danach ist er über ihr zusammengebrochen und hatte noch wenige Minuten gezuckt, bevor er sich dann nicht mehr gerührt hatte. Von all dem weiß Nea nichts mehr, da sie zu diesem Zeitpunkt bereits das Bewusstsein verloren hatte.

Faith und Hope meinten sie hätten schon Angst gehabt, dass Nea unter dem Gewicht des Bären erstickt wäre. Doch auch von den Beiden ist Nea mehr als beeindruckt, denn sie nehmen gerade ohne jede Scheu den Bären auseinander, damit sie das Fleisch nach und nach braten können. Nea dachte die Beiden würden sich vor Ekel anstellen, doch sie haben nur gelacht und gemeint, dass ein Bär ja auch nur eine etwas größere Ziege oder ein Schaf sei. Diese schlachten sie ständig und nehmen sie aus.

Seitdem Nea wieder ganz bei sich ist, hängt der Hund noch mehr an ihr wie zuvor. Er hat sich eng an sie gekuschelt und lässt sich seinen weißen Bauch kraulen, so als wäre er derjenige, der fast gestorben wäre. Dabei hat Nea festgestellt, dass der Hund eigentlich gar kein ER ist, sondern eine SIE.

Still vor sich hinlächelnd sitzt Nea nun in ihren Schlafsack gehüllt und wartet auf das Essen. Wie auf Kommando, kommt Hope mit blutverschmierten Armen wieder. Ihre Kutte hat sie für die Arbeit ausgezogen, sodass nun ihr kurzes rotblondes Haar zu sehen ist. Frech stehen sie ihr von ihrem schmalen Gesicht in alle Himmelsrichtungen ab. Allgemein ist sie sehr schlank und erinnert an eine zierliche und eher gebrechliche Ballerina. Unter ihrer Kutte trägt sie ein einfaches schwarzes Oberteil sowie eine gleichfarbige Hose.

„Du hast bestimmt Hunger, oder? Es tut mir leid, dass wir so lange gebraucht haben, aber wir sind jetzt fertig.“ Sie geht zum Seeufer und wäscht sich ihre Arme.

„Ist doch nicht schlimm, dafür haben wir jetzt für Tage zu essen.“

Als sie wieder hochkommt, kehrt auch Faith zurück. Ihre Haare sind so lang, dass sie erst knapp über ihrem Po enden. Sie trägt die gleiche schlichte Kleidung wie Hope. Nun ist es ein leichtes die Beiden auseinander zu halten. Verwundert mustert Nea sie. Als sie es bemerken, fahren sie sich beide gleichzeitig mit der rechten Hand durchs Haar.

„Mit den Kutten sind wir kaum auseinander zu halten, aber so ist es nicht mehr all zu schwer. Früher war es uns wichtig, dass uns jeder als eigenständige Persönlichkeiten wahrnimmt und nicht immer nur von den ‚Zwillingen’ spricht. Aber als dann die Seuche ausbrach, hatten wir nur noch uns und da wollten wir wieder eins sein.“

Nea nickt verständnisvoll und muss ihre Annahme, dass die beiden früher mit ihrem Zwillingsdasein den Leuten Streiche gespielt haben, revidieren.

Sie reichen ihr einen gebratenen Fisch und stecken dafür bestimmt ein Dutzend Bärenfleischspieße ins Feuer. Nea teilt ihren Fisch wieder mit dem Hund, da bemerkt sie wie die Beiden sie mit Tränen in den Augen anstarren.

Faith kullert bereits die erste Träne die Wange runter, als sie zu Nea sagt: „Ich weiß echt nicht, wie ich dir jemals danken können soll, für das was du für mich getan hast. Du hast mir mein Leben gerettet.“

„Niemand sonst hätte so etwas für uns getan. Ich stand ja auch nur blöd da und hab hysterisch herum gekreischt. Fast wärst du selbst dabei gestorben.“ Auch Hope laufen nun Tränen über ihre schmalen Wangen.

Es ist Nea unangenehm, denn sie fühlt sich nicht wie eine Heldin. Es war einfach nur Dummheit und Leichtsinn. Direkt als sie den Stein geworfen hatte, hatte sie es auch schon bereut und hätte es sofort rückgängig gemacht, wenn sie es gekonnt hätte. Jetzt wo sie ‚nur’ ein paar schmerzende Verletzungen hat, bereut sie ihr unüberlegtes Verhalten zwar nicht mehr, aber in dem Moment als der Bär auf sie zu rannte, lief es ihr definitiv heiß und kalt den Rücken hinunter.

„Und wie du dann auch noch den Hund gerettet hast, einfach unglaublich“, lobt Hope sie weiter.

„Wie früher im Fernsehen“, fügt Faith lächelnd und noch etwas traurig hinzu.

Nea sagt dazu nichts, sondern schaut die Beiden nur an, wie sie da voller Begeisterung für sie vor ihr sitzen und versucht den Kloß in ihrem Hals vergeblich zu ignorieren. Die Tränen steigen ihr in die Augen, denn sie fühlt sich immer schlechter mit ihrer Lüge und auch ihr damit verbundenes schlechtes Gewissen wird immer größer. Die Zwillinge bewundern sie und wie enttäuscht und entsetzt müssen sie dann erst sein, wenn sie die Wahrheit herausfinden werden. Sie werden glauben, dass Nea ihnen die ganze Zeit nur etwas vorgespielt hat und nichts davon echt war. Als ihr die erste Träne über die Wange rollt, ruft Faith „Oh Nea“ aus und sofort setzen sich beide Mädchen neben sie, eine links, eine rechts und schließen sie in ihre Arme mit dem Hund auf dem Schoss.

„Ab heute sind wir nicht mehr zwei Schwestern, sondern drei“, fügt Hope hinzu und streicht Nea liebevoll mit ihrer Hand die Tränen von der Wange. Das ist eindeutig zu viel für Nea und sie befreit sich umständlich aus ihrer Umarmung.

„Hört auf!“, stößt sie aufgebracht hervor, woraufhin die Mädchen sie entsetzt anstarren.

„Was ist denn los? Haben wir etwas falsch gemacht?“, fragt Faith besorgt.

Nea schüttelt den Kopf und versteckt ihr Gesicht hinter ihren Händen. „Ich kann das nicht mehr!“, schluchzt sie laut.

Die Zwillinge wagen es nicht sich ihr zu nähren, aber bleiben stumm und abwartend in ihrer Nähe sitzen.

Nea hebt ihren Kopf, weil sie Faith und Hope in die Augen blicken will, wenn sie das Lügengerüst einstürzen lässt. „Ich bin eine Lügnerin und keine Carris… Die ganze Zeit habe ich euch nur was vorgemacht, weil ich sicher durch Dementia bis nach Promise reisen will und das geht nur, wenn man eine von euch ist. Ich hatte vor, euch kurz vor Fortania abzuschütteln. Es tut mir leid, ich weiß, dass ihr mich jetzt an sie ausliefern müsst.“

Einen Moment lang starren die Beiden Nea fassungslos an. Sie erwartet, dass die Zwillinge sie entweder beschimpfen oder vor Enttäuschung weinen werden. Doch nichts dergleichen passiert, stattdessen schauen sie sich erst an und lächeln dann beide.

„Nea, wir wussten, dass du keine Carris bist“, meint Faith dann abwinkend. „Die ersten Zweifel hatten wir als du die Glühbirne in der Scheune so angestarrt hast, aber ganz sicher waren wir uns, als du den kleinen Jungen verteidigt hast. So was tun Carris nicht, dafür sind sie viel zu feige.“

„Und was werdet ihr jetzt mit mir machen?“

„Wir bringen dich so nah in Richtung Promise, wie es uns möglich ist. Dann gehen wir zurück und erzählen Urelitas, dass Ereb dich zurück im Süden behalten hätte. Er wird nie erfahren, dass wir nicht da waren. Zwar spielt er sich immer auf, als wäre er wirklich bedeutend, aber was meinst du warum er so weit weg von Ereb ist? Weil er so wahnsinnig wichtig und bedeutend ist?! Bestimmt nicht, er ist nur ein ganz kleines Licht in der großen Priesterliga.“

„Ihr seid mir nicht böse?“

„Wie könnten wir? Du hast mir das Leben gerettet. Außerdem haben wir das ernst gemeint. Du bist jetzt eine von uns und da ist es egal, dass du keine Carris bist.“

Herzlich schließen die Beiden Nea erneut in ihre Arme. Niemals hätte sie mit so einer Reaktion auf ihren Verrat gerechnet, aber sie ist wohl doch keine so gute Schauspielerin, wie sie dachte.

„Warum bleibt ihr noch bei den Carris? Ihr seid nicht wie sie und passt da nicht hin. Geht doch mit mir nach Promise.“

„Was willst du denn da?“

„Wie könnte man nicht nach Promise wollen?! Nur dort ist ein normales Leben möglich. Ich bin es so satt mich jede Nacht fürchten zu müssen oder mein Essen aus Mülleimern zu stehlen.“

Faith und Hope zeigen sich jedoch wenig begeistert. „In Promise ist es auch nicht anders als bei den Carris, da kannst du genauso gut hier bei uns bleiben.“

„Dort ist alles anders als hier. Dort gibt es Fernsehen, Strom, fließendes Wasser und vor allem beten sie nicht irgendeinen Spinner an. Ihr glaubt doch nicht etwa wirklich an Ereb, oder?“, fragt Nea ungehalten. Sie kann nicht verstehen, dass die Zwillinge ihre Hoffnung nicht teilen.

„Nein, tun wir nicht, wir sehen ihn einfach als unser Oberhaupt an. Natürlich ist das cool, wenn man mal wieder ein Schaumbad mit warmem Wasser nehmen kann. Aber du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie dafür nichts fordern? Alles hat seinen Preis, Nea, vor allem in unserer heutigen Zeit.“

„Ja und deshalb erhält ja auch nicht jeder Einlass in Promise. Sie nehmen nur Leute mit besonderen Talenten auf, aber wir könnten es schaffen. Ich meine wir haben einen Bären getötet!“, versucht Nea sie verzweifelt zu überzeugen.

„Nein, DU hast den Bären getötet, nicht wir. Wir standen nur heulend und schreiend daneben. Es ist aber auch ganz egal, wir handeln uns keinen Ärger mit den Carris ein, um direkt Menschen in die Arme zu laufen, die sich kaum von ihnen unterscheiden. Wenn das dein Ziel ist, werden wir dich so gut wie wir können dabei unterstützen es zu erreichen, aber den Weg musst du alleine gehen.“

Ob Nea nun will oder nicht, muss sie einsehen, dass die Beiden sie nicht begleiten werden. In dieser Nacht lassen sie das Lagerfeuer brennen. Faith und Hope lassen Nea in ihrer Mitte schlafen und kuscheln sich mit ihren Schlafsäcken dicht an sie.

 

Am nächsten Morgen frühstücken die Mädchen geröstetes Bärenfleisch mit frischem Seewasser, um sich für einen weiteren anstrengenden Tag zu stärken. Faith und Hope ziehen ihre Kutten wieder an. Wenn sie auf Carris treffen, wollen sie Neas verschwundene Kutte mit einem Teil der Wahrheit erklären. Als sie losgehen, merkt Nea, dass sie viel Kraft brauchen wird, um den Tag überstehen zu können. Sie kann mit dem verletzten Bein kaum laufen, weil sie immer, wenn sie versucht aufzutreten, ein heftiger Schmerz durchfährt.

Ihren Rucksack mit der verletzten Schulter zu tragen, ist ein Akt der Unmöglichkeit. Deshalb trägt Faith Neas Rucksack zusätzlich zu ihrem eigenen. Auf dem Weg halten sie nach einem Stock Ausschau der groß und fest genug ist, um Nea als Gehilfe zu dienen. Sie kommen dabei nur langsam voran, aber gegen Mittag stoßen sie auf eine Gruppe Carris, die damit beschäftigt sind Holz zu hacken. Sie dürfen sich zu ihnen ans Feuer setzen und bekommen etwas von ihrem Eintopf ab. Als Faith und Hope ihnen von der Geschichte mit dem Bären erzählen, schauen die Männer Nea bewundernd und ehrfurchtsvoll zugleich an.

„Die Narben werden dich nur schöner machen“, meint einer der Männer mit großen Segelohren und zwinkert Nea dabei schelmisch zu. Während die Zwillinge zu kichern anfangen, senkt Nea nur verlegen den Kopf.

Die Männer erzählen ihnen, dass nicht weit von hier ein ehemaliges Kloster liegt, indem die erste Frau Erebs ihre Residenz hat. Sie raten ihnen dort vorbeizuschauen, da es auch Heiler beherbergt, die sich Neas Wunden anschauen könnten. Als sie losziehen wollen, kommt der Segelohren-Mann angelaufen und schenkt Nea seinen Kampfstab. In den Griff hat er einen Bären geschnitzt.

„Pass auf dich auf, Bärentöterin!“, sagt er mit rotem Gesicht und winkt ihnen zum Abschied. Wieder muss Nea lernen, dass man nicht alle Carris einfach über einen Kamm scheren kann. Egal wo man hingeht, findet man sowohl nette als auch weniger nette Menschen. Jetzt wo Nea den Kampfstock hat, klappt das Laufen schon besser und Hope braucht sie nicht mehr zu stützen.

„Hat Ereb mehrere Frauen oder warum wohnt in dem Kloster nur seine erste Frau?“, will Nea neugierig wissen.

„Naja Ereb hat immer mal wieder was mit irgendwelchen Frauen, die richtig Gläubigen werfen sich ihm ja nur so an den Hals. Urelitas würde wahrscheinlich selbst nur zu gerne was mit ihm anfangen, aber soweit wir wissen steht Ereb einfach nicht auf Männer“, kichert Hope.

„Aber es gibt nur eine Frau, die er wirklich von ganzem Herzen liebt und das ist seine erste Frau. Sie haben erst vor ein paar Wochen wieder zueinander gefunden und jetzt sollen bald die Hochzeitsglocken zum zweiten Mal läuten“, erklärt Faith weiter. Je mehr Nea über Ereb erfährt, umso unsympathischer erscheint er ihr. Nicht nur, dass er sich als Gott verehren lässt, jetzt betreibt er auch noch ein Harem, aber wagt es dann von der großen Liebe zu einer Einzigen zu sprechen.

 

Ohne zu zögern stieß Nea die Tür zu der alten Scheune auf und hielt wie zur Salzsäule erstarrt inne. Sie konnte nicht glauben, was sie dort vor sich sah. Obwohl es eigentlich genau das war, womit sie hätte rechnen müssen. Mitten im Stroh lag Miro zusammen mit einer Schwarzhaarigen. Ihre Hände waren in sein Haar gekrallt wie Klauen und ihre Beine umschlungen seinen Körper wie eine Spinne ihre Beute. Die Lippen der beiden waren aufeinander gepresst, während aus Miros Kehle ein tiefes Stöhnen drang. Dass sie nicht nackt waren, war nur ein winziger Trost.

Nea hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, wobei ihr Magen wild gegen die zuletzt gegessene Dose Makkaroni rebellierte. Sie spürte wie Tränen ihre Wangen hinunter rannen und schnappte wie ein Fisch an Land nach Atem. Das Geräusch ließ Miro aufhorchen und er fuhr ertappt herum. Als er Nea dort in der Tür stehen sah, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Fast als hätte er sich verbrannt, stieß er das fremde Mädchen von sich. Sein Gürtel baumelte lose an seiner Hose.

Das war für Nea zu viel. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie sich auf dem Absatz um und stürmte los. Egal wohin, Hauptsache weit genug weg, um die Bilder aus dem Kopf zu bekommen. Sie hörte wie Miro ihr nachschrie, aber sie dachte gar nicht daran sich umzudrehen. Er war ein Lügner. Immer wieder erzählte er ihr wie wichtig sie ihm sei und jedes Mal wenn sie geneigt war ihm zu glauben, erwischte sie ihn mit einer anderen. Miro und sie sollten Freunde sein und nicht mehr. Es funktionierte einfach nicht. Er konnte nicht treu sein und sie konnte ihm nicht zeigen wie wichtig er ihr wirklich war. Es war leichter ihn vor den Kopf zu stoßen und zu beleidigen, als ihm das Herz zu öffnen und dann verletzt zu werden.

Mittlerweile hatte sie rennend den Strand erreicht und stolperte in dem von Regen feuchten Sand. Ihre Schritte verlangsamten sich und sie sank erschöpft zu Boden. Die Tränen hatte der Wind getrocknet, trotzdem fühlte sich ihr Inneres wund und leer an. So als hätte man ihr das Herz aus der Brust gerissen und nur eine klaffende Wunde übrig gelassen.

Miros braune Stiefel stellten sich vor sie und versperrten ihr die Sicht auf das Meer. Sein Körper warf einen dunklen Schatten auf ihr Gesicht. Sie könnte ausholen und ihm einen Faustschlag direkt in seinen Magen verpassen. Für einen Moment würde es ihr, Erleichterung verschaffen, aber nur wenig später würde sie das schlechte Gewissen nur noch mehr plagen. Zudem fühlte sie sich zu schlapp, um auch nur einen Finger zu rühren. Sie wollte ihn nicht sehen und sie wollte auch keine seiner Lügen mehr hören. Wäre er doch nur bei dem Mädchen geblieben, dann wüsste sie jetzt wenigstens woran sie bei ihm ist.

Miro ging vor ihr auf die Knie. Als sie ihn dann immer noch nicht ansah, hob er ihr Kinn mit zwei Fingern an. Wütend schlug sie seine Hand weg.

„Lass mich bloß in Ruhe und fass mich nie wieder an. Du bist ekelhaft!“, fauchte sie aufgebracht und mit zu Schlitzen geformten Augen. Ihre Stimme bebte vor Wut.

„Und du bist eine Kratzbürste!“, zog Miro sie auf, ohne sie ernst zu nehmen. Stattdessen ließ er sich vor ihr in den Strand fallen.

„Warum bist du dann nicht bei deiner neuesten Eroberung geblieben?!“

Miro seufzte. „Nea, es tut mir wirklich leid, dass du uns zusammen gesehen hast. Ich dachte du wärst länger weg.“

Empört schnappte Nea nach Luft. „Ach und das würde es besser machen? Wie oft hast du dich schon mit ihr hinter meinem Rücken getroffen?“

Miro grinste ihr schelmisch zu. „Mit ihr noch nie.“

Nea war absolut nicht nach Lachen zu Mute und es machte sie rasend, dass Miro das Ganze auch noch lustig zu finden schien. ‚Mit ihr noch nie‘, dafür aber schon mit zehn anderen oder wie? Sie verbiss sich den Kommentar. Sie hatte sich schon genug blamiert. Verärgert verschränkte sie die Arme vor der Brust und schaute starr an ihm vorbei auf die brausenden Wellen.

„Im Ernst, Nea, du bist meine Nummer eins. Du brauchst wirklich nicht eifersüchtig zu sein. Du wirst für mich immer an erster Stelle stehen.“

Nea riskierte nun doch einen Blick in sein Gesicht. Seine Augen wirkten traurig, während sein Mund zu einem ernsten Strich geformt war. Wie konnte er es nur wagen?

„Soll ich mich jetzt etwa auch noch darüber freuen? Was erwartest du von mir?“

Nun formten sich Miros Augen zu Schlitzen. „Nein, was erwartest DU von mir?“

„Ich will nicht eine von vielen sein. Ich will etwas Besonderes sein“, versuchte Nea sich verzweifelt zu erklären. Sie hatten das Gespräch schon so oft geführt.

„Du bist für mich besonders. Du bist der wichtigste Mensch auf der Welt für mich. Was willst du denn noch mehr?“

„Vielen Dank, aber darauf die Nummer eins deines Harems zu sein, kann ich gut und gerne verzichten“, antwortete Nea schnippisch.

Miro stand verärgert auf und strich sich den Sand von der Hose, sodass er Nea ins Gesicht fiel. „Ich weiß nicht, was du von mir willst und ich glaube du weißt es selbst nicht einmal. Du spielst dich auf wie die betrogene Ehefrau, dabei sind wir nicht einmal zusammen.“ Und genau darin lag ihr Problem, doch das traute sie sich nicht zu sagen.

 

Die Holzarbeiter hatten Recht, denn es dauert nicht lange, da treten die Mädchen aus dem Wald und sehen hinter einer Wiese die Mauern des Klosters aufragen. Sie beschließen über Nacht dort zu bleiben, damit die Heiler sich Neas Wunden ansehen können und sie sich etwas ausruhen kann.

Der Hund hüpft vergnügt durch die Wiese und Hope schmeißt ihm einen kleinen Stock, den er ihr dann immer wieder mit lautem aufforderndem Bellen vor den Füßen fallen lässt, damit sie ihn wieder wirft. Als sie das Tor des Klosters fast erreicht haben, passiert etwas Komisches, denn plötzlich öffnet sich das Tor einen schmalen Spaltbreit und eine junge Frau in roter Kutte eilt hinaus. Als sie die Mädchen erblickt, weiten sich ihren Augen vor Schrecken. Ihr Blick wandert von einer zur anderen und bleibt schließlich an Nea hängen. Sie rennt den Dreien entgegen.

„Schnell! Wir müssen von hier verschwinden!“

Ohne zu warten, läuft sie weiter in den Wald. Als sie ihr nicht direkt folgen, dreht sie sich erneut zu ihnen um und ruft mit gedämpfter Stimme: „Kommt schnell!“

Unsicher blicken die Mädchen einander an, sollen sie auf die komische Fremde hören? Ihre Neugier ist geweckt und so folgen sie ihr.

Sie läuft ziemlich schnell und so fällt es Nea nicht gerade leicht mit ihr Schritt zu halten. Als sie gerade den Waldrand erreicht haben, ertönt ein lauter Ton aus einer Art Horn. Erschrocken blicken sie sich um. Aus dem Kloster rennen viele kuttenbegleitete Menschen und scheinen offensichtlich etwas zu suchen, da sie sich um das ganze Kloster verteilen. Ein Teil von ihnen rennt auch in ihre Richtung.

„Okay, was ist hier los?“, will Faith nun von der Fremden wissen.

„Das sind schreckliche Menschen, die haben mich gefoltert. Bitte helft mir!“, fleht das Mädchen mit vor Panik geweiteten Augen.

„Und warum foltern sie dich? Du musst doch irgendetwas verbrochen haben!“, bohrt Hope weiter misstrauisch nach.

Entnervt verdreht sie die Augen und zieht die Kutte straff über ihren Bauch. Sie ist schwanger. „Wenn es ein Verbrechen ist ein Kind zu erwarten, dann schon. Sie wollen es mir wegnehmen, weil alle Kinder Ereb gehören und als ich mich geweigert habe, haben sie mich eingesperrt. Bitte lasst uns jetzt gehen!“, drängt sie noch einmal und rennt los, ohne auf die anderen zu warten. Erschüttert blicken die Mädchen sich an. Hope ist die Erste die ihr folgt.

Immer wieder ertönt das laute Horn und überall im Wald sind Schritte und Rufe zu hören. Sie laufen so schnell sie können, doch weder die Fremde noch Nea, kommen schnell voran. Irgendwann erreichen sie wieder das Flussufer und wie durch ein Wunder steht dort ein funktionsfähiges Boot, als ob es auf sie gewartet hätte. Als erstes steigt die schwangere Frau ein, danach lässt sich Nea von den Zwillingen hineinhelfen. Nun ist das Boot im Grunde voll, aber wenn sie eng genug zusammenrücken würden, könnte es alle tragen. Doch das scheint nicht der Plan der Zwillinge zu sein, denn Faith löst das Seil, ohne dass sie, Hope oder der Hund im Boot sitzen. Sie stellt noch schnell Neas Rucksack in das Boot, bevor die Zwillinge gemeinsam das Boot vom Ufer abstoßen, zu schnell um etwas dagegen zu unternehmen. Nea stürzt zum Ende des Bootes, während der Hund wild zu bellen beginnt und unruhig am Ufer auf und ab springt. Er könnte das Boot noch problemlos erreichen, doch irgendetwas scheint ihn zurückzuhalten.

„Kommt mit mir. Ihr habt es versprochen!“, ruft Nea den Zwillingen zu, während das Boot langsam vom Ufer treibt.

„Nea, mache dir keine Sorgen, wir sehen uns wieder“, ruft Hope ihr zu, als sie den Arm um die Taille ihrer Schwester legt. Der Hund setzt sich neben die Beiden und legt traurig die Ohren an, bevor er laut zu heulen beginnt.

„Du weißt doch, man sieht sich immer zweimal im Leben“, fügt Faith aufmunternd hinzu.

„Wir passen gut auf deinen Partner auf“, rufen sie dann gemeinsam. Ohne dass Nea es bemerkt, rollen ihr dicke Tränen über die Wangen. Sie wusste, dass sie die Beiden bald würde verlassen müssen, aber sie dachte nicht, dass es so bald wäre. Es versetzt ihr einen Stich, dass selbst der Hund sich gegen sie entschieden hat.

Nea blickt starr durch den Tränenschleier auf die roten Kutten am Ufer bis das Boot soweit auf den See hinausgetrieben ist, dass sie nur noch sehen kann wie die winzigen roten Punkte am Ufer in den Wald verschwinden. Es bleibt ihr nur übrig zu hoffen, dass niemand die Zwillinge mit der Flucht in Verbindung bringen würden. Erst da erinnert sie sich wieder daran, dass sie sich nicht alleine in dem Boot befindet.

Nea dreht sich um und sieht die junge schwangere Frau in ihrer roten Kutte ängstlich das Ufer mit den Augen absuchen. Sie macht Nea wütend, denn ihretwegen musste sie die Zwillinge früher zurücklassen, als sie es beabsichtig hatte. Als die Fremde Neas Blick auf sich spürt, dreht sie sich zu ihr um.

„Das mit deinen Freunden tut mir leid, aber wir sollten jetzt wirklich anfangen zu rudern, sonst treiben wir womöglich zurück.“

Die Ruder liegen auf dem Boden des Bootes. „Sehe ich aus als könnte ich rudern?!“, fragt Nea sie verärgert und deutet auf ihre bandagierte Schulter. „Fang doch schon mal mit Rudern an!“, fügt sie dann auch noch gehässig hinzu. Sie weiß, dass es nicht fair ist, ihren Kummer an dem Mädchen auszulassen, aber sie ist zu fertig mit den Nerven, um sich unter Kontrolle zu halten. Es ist leichter den eigenen Frust an jemand anderem auszulassen.

„Sehe ich etwa aus, als könnte ich rudern?!“, kontert jedoch die Fremde genauso schnippisch und deutet auf ihren großen runden Bauch.

In dem Moment kracht der erste Pfeil mit einem lauten Platschen kurz vor dem Boot ins Wasser. Die Blicke der Mädchen schnellen gleichzeitig zum Ufer. Dort stehen vier mit feuerroten Kutten bekleidete Männer und schießen Pfeile ab. Ihr Ziel ist das Boot. Der nächste Pfeil zischt nur knapp am Kopf der Schwangeren vorbei, woraufhin sie laut aufkreischt und sich zu Boden wirft, sodass das Boot gefährlich schwankt. Ein weiterer Pfeil trifft in den Bug des Bootes.

„Zieh die Kutte aus!“, ruft Nea ihr zu. Mit dem hellen leuchtenden Rot ist sie wie eine Signalfahne für die Bogenschützen. Einen Moment blickt sie Nea zwar irritiert an, befolgt dann aber ihre Anweisung. Unter der Kutte kommt leuchtend blondes Haar zum Vorschein, das fast genauso gut zu sehen ist wie ihre Kutte.

Immer mehr Pfeile fliegen nun auf das Boot zu und es ist pures Glück, dass sie noch von Keinem getroffen wurden. Am Ufer tauchen nun immer mehr Kutten auf und zu ihrem großen Schrecken sind sie mit einer Art Floss bewaffnet, das sie zu Wasser lassen, um damit zu ihnen zu gelangen.

Nun erkennen beide, dass egal in welchem Gesundheitszustand sie sich auch befinden, sie rudern müssen und so schnappen sie sich jede gleichzeitig ein Ruder und stoßen das Paddel ins Wasser. Das Wasser spritzt zu allen Seiten und das Boot dreht sich im Kreis, während sie panisch die Ruder vor und zurückreißen. Plötzlich legt das Mädchen ihre Hand auf Neas Arm und fixiert sie mit ihren dunkelbraunen Augen.

„Wir müssen zusammen rudern, nur dann kommen wir voran.“

Als Nea zustimmend nickt, nimmt sie die Hand wieder von ihrem Arm und rudert weiter. Nea passt sich ihrem Tempo an. In dem Moment trifft ein Pfeil sein Ziel und fährt begleitet von einem lauten Schmerzensschrei in den Oberarm der Schwangeren. Sie lässt ihr Paddel los und fährt sich mit der Hand an ihren Arm. Nea kann sich gerade noch ihr Ruder schnappen, bevor es ins Wasser fällt. Auch wenn es entsetzlich in ihrer Schulter schmerzt, bewegt sie die Ruder unablässig voran unter dem Weinen des Mädchens. Sie ist ganz bleich im Gesicht, während Schweißperlen auf ihrer Stirn stehen. Nea befürchte schon, dass gleich die Wehen vor lauter Panik bei ihr einsetzen würden. Doch als sie sehen, dass sie die roten Kutten immer weiter hinter sich zurückgelassen haben, beruhigt sich das Mädchen etwas und versucht ruhig zu atmen. Auch Nea lässt nun die Ruder sinken.

Der einst hellrote Verband an ihrer Schulter hat sich von dem Blut dunkelrot verfärbt. Bestimmt ist die Wunde von der Anstrengung wieder aufgeplatzt. Es wird still, nur das Rauschen des Wassers ist noch zu hören.

„Danke!“, sagt da das Mädchen mit einem zaghaften Lächeln auf ihren hellen, fast weißen, Lippen.

„Wir sollten bei dem Steg an Land gehen“, gibt Nea ihr zur Antwort. Sie weiß, dass es unfair ist, sie nicht leiden zu können, weil sie schwanger ist, Hilfe braucht und ihren Abschied von den Zwillingen etwas voraus gezogen hat, aber sie ist machtlos gegen ihre Gefühle.

„Hilfst du mir?“, fragt sie das Mädchen nun und Nea ist sich nicht sicher, was sie meint, bevor ihr Blick über den Pfeil gleitet, der immer noch in dem Arm des Mädchens steckt. Sie trägt nur ein kurzes weißes Kleid und muss entsetzlich frieren. Ihre Füße stecken in dünnen Schlappen. Damit wird sie nicht weit kommen. Nea ist sich nicht sicher, ob es besser wäre die Pfeilspitze im Arm zu lassen oder rauszuziehen, aber weil sie nicht weiß wie lange sie noch unterwegs sein werden, zieht sie ihr den Pfeil aus dem Arm, damit sie keine Blutvergiftung bekommt.

Schnell wickelt Nea einen Stoffstreifen von der Kutte um den Arm des Mädchens, um so die Blutung zu stoppen. Der Stoff saugt sich schnell voll, doch nach einiger Zeit lässt die Blutung dann doch nach.

Langsam kehrt wieder Farbe in das Gesicht der Fremden zurück. Nea reicht ihr die Wasserflasche, damit sich ihr Kreislauf wieder beruhigt. Danach herrscht Funkstille. Sie lassen das Boot auf dem See treiben. Nea hofft, dass sie bald an die Stelle mit dem Steg zurückkehren, da sie sich nur von dort aus ungefähr zu Recht finden kann.

9 - Die Bärentöterin

chapter12Image1.jpeg

Nachdem sie einige Zeit, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln, über das Wasser getrieben sind, zieht nun langsam die Dämmerung auf und es bilden sich erste leichte Nebelschwaden über dem See. Weit und breit ist nichts von einem Steg zu sehen. Entweder kamen sie schon daran vorbei, ohne ihn zu bemerken, oder sie treiben in eine ganz andere Richtung. Das schwangere Mädchen ist zwischendurch eingeschlafen, doch nun kommt sie wieder zu sich und fährt sich zitternd über ihre Arme.

„Ganz schön kalt...“, meint sie und Nea sieht, dass sich eine leichte Gänsehaut auf ihrer nackten Haut gebildet hat. Die Kutte konnte sie nicht wieder anziehen, da sie damit zu auffällig für die Carris wären. Zudem ist die Kutte ohnehin kaputt. Nea selbst merkt in ihrem warmen Mantel nur wenig von der Kälte. Auch wenn sie das Mädchen nicht leiden kann, will sie nicht, dass sie friert. Deshalb packt Nea ihren Schlafsack aus dem Rucksack und gibt ihn weiter an die Fremde. Sie wickelt sich sofort dankbar darin ein und betrachtet dann den Nebel, der sich immer dichter um ihr Boot herum ausbreitet. „Wie lange wollen wir denn hier auf dem See bleiben?“

„Wir müssen einen bestimmten Steg erreichen, nur von dort kenne ich den Weg.“

„Was für einen Weg?“

„Der Weg nach Fortania. Ich biege aber vorher in Richtung Promise ab.“

„Ich will aber weder nach Fortania noch nach Promise!“, protestiert sie vehement.

„Ich aber!“, entgegnet Nea prompt patzig. Es macht sie noch ärgerlicher, dass das Mädchen keinerlei Dankbarkeit zeigt, dafür dass Nea sie gerettet hat. Stattdessen benimmt sie sich zickig und stellt Forderungen.

„Bist du wahnsinnig? Was glaubst du wie du dahin kommst? Je näher du nach Fortania kommst, umso mehr Carris treiben sich herum. Ohne Kutte und so verletzt wie du bist, kommst du keinen Kilometer weit!“

Geknickt muss Nea einsehen, dass sie da wohl Recht haben könnte. Sie hatte stur an ihrem Plan festgehalten und dabei nicht weiter beachtet, dass sie weder eine Kutte hat noch jemanden, der sie decken könnte. Aber daran ist allein die Fremde schuld, denn wegen ihr musste Nea die Zwillinge verlassen. Böse blinzelt Nea dem Mädchen entgegen.

„Und was schlägst du stattdessen vor?“

„Wir sollten so schnell wie möglich den See verlassen und in die Berge gehen.“

„Warum sollten wir in die Berge gehen? Dort gibt es nichts.“

Die Berge sind friedlich, aber das liegt alleine daran, dass sich dort niemand hin verirrt. Natürlich treiben sich auch Streuner in den Wäldern herum, aber meistens bleiben sie nicht lange dort, weil dort niemand ist, den sie überfallen könnten.

„Ich habe in dem Grenzgebiet zu Dementia Freunde und ich will zu ihnen zurück.“

„Dann geh doch zu ihnen. Ich halte dich bestimmt nicht auf“, entgegnet Nea kalt, denn ihr gefällt der bestimmende Tonfall der Schwangeren ganz und gar nicht. Was glaubt sie eigentlich wer sie ist?

„Ich weiß nicht, ob du es gemerkt hast, aber ich bin schwanger! Du kannst mich doch nicht alleine durch den Wald irren lassen. Ich könnte Wehen bekommen oder überfallen werden.“ Ihre Wangen leuchten rot, doch nicht vor Verlegenheit, sondern vor Wut. Auch ihre Stimme hat sie nun erhoben, was Nea nicht gerade dazu bewegt ihr helfen zu wollen.

„Das alles hättest du dir vielleicht überlegen sollen, bevor du einfach aus dem Kloster abgehauen bist.“

„Das ist nicht dein Ernst, oder? Du hast ja keine Ahnung was die dort mit mir gemacht haben“, schreit sie Nea nun an und es treten Tränen vor Verzweiflung in ihre Augen. Sie sinkt ins Boot zurück und atmet tief ein und aus.

Eigentlich ist Nea nicht bereit nachzugeben und schon gar nicht, wenn das Mädchen ihre Hilfe einfordert, als wäre sie selbstverständlich. Hätte sie Nea freundlich darum gebeten, wäre sie vielleicht sogar bereit dazu gewesen ihr zu helfen. Aber wenn Nea in ihre wütenden blitzenden Augen blickt und den verkniffenen Mund sieht, weigert sich in ihr alles der Fremden auch nur im Geringsten entgegenzukommen. Doch trotzdem muss sie ihr Recht geben, dass sie nicht länger an ihrem ursprünglichen Plan festhalten kann. Es wäre Wahnsinn, nun weiter in Richtung Fortania zu gehen. So gesehen ist es auch sinnlos weiter nach dem Steg Ausschau zu halten.

Nea hat keine Ahnung wo genau sie sich in Dementia zurzeit befinden, aber es wäre trotzdem sicher das Beste den See zu verlassen, da die Carris hier als Erstes nach ihnen suchen werden, wenn sie sich überhaupt die Mühe machen weiter nach ihnen zu suchen. Immerhin ist das Mädchen nur irgendeine Gefangene. Sie ist bestimmt nur eine von vielen und ohne Bedeutung. Nea fasst nach einem der beiden Ruder und blickt das Mädchen erwartungsvoll an, als sie sich jedoch nicht dazu bewegt ihr zu helfen, platzt Nea erneut der Kragen: „Könntest du mir wohl bitte helfen?!“

„Du hast gerade erst einen Pfeil aus meiner Schulter gezogen! Wie soll ich da rudern?!“

„Mein ganzer Verband hat sich mit Blut vollgesogen und trotzdem stelle ich mich nicht so dämlich an wie du“, schreit Nea aufgebracht und schnappt sich vor Wut schnaubend auch noch das zweite Ruder. Verbissen beginnt sie die Ruder vor und zurück zu ziehen. Ihre Schulter beschwert sich augenblicklich, aber das ignoriert sie vor lauter Wut.

Ganz klein hat sich das Mädchen am anderen Ende des Bootes gemacht und schaut Nea furchtsam zu, aber bereit zu helfen scheint sie immer noch nicht zu sein.

Als das Boot an das steinige Ufer stößt, zieht Nea ihren Rucksack auf die gesunde Schulter und klettert aus dem Boot in das kniehohe Wasser. Sie läuft ohne zu zögern los. Soll das Mädchen doch sehen wie sie alleine zu Recht kommt. Als sie das Ufer erreicht, ist sie erstaunt, dass sie die junge Frau zusammen mit ihrem Schlafsack hinter sich her stampfen sieht. Also hat sie es offensichtlich doch alleine aus dem Boot geschafft. Sie soll sich bloß nicht so anstellen. Nea ist schließlich auch verletzt.

 

Mittlerweile ist es dunkel geworden, sodass man im Wald kaum noch die Hand vor Augen sieht. Nur der schmale Mond, der hoch oben am Himmel steht, spendet vereinzelt durch das Blätterdach Licht. Aber das hält Nea nicht davon ab, weiter in den Wald hineinzulaufen und das mit einem Tempo, welches weder für ihre verletzte Wade, noch für die Schwangere gesund sein kann.

Nea wartet nur förmlich darauf, dass das Mädchen sich beschwert und prompt hört sie sie auch schon laut aufstöhnen. „Jetzt warte doch mal. Es tut mir leid, dass ich dir nicht geholfen hab. Aber es hilft doch keinem jetzt wie blöd durch den Wald zu rennen.“

Nea ignoriert sie weiter und läuft stur geradeaus. Sie ist sich bewusst, dass sie das Mädchen nur zu provozieren versucht. Aber als sie sie laut aufschluchzen hört, ist es nicht die Reaktion, die sie erwartet hätte. Sie hatte eher mit einem Wutausbruch gerechnet. Genervt dreht Nea sich um und sieht die Fremde zusammengesunken an einem Baum kauern und weinen.

Neas Kopf sagt, dass das der Göre nur Recht geschieht, aber ihr Herz hat Mitleid und so treibt sie ihre Füße zu dem Mädchen. Doch sie beachtet Nea nicht mehr, sondern schluchzt und weint, wobei sie sich mit ihren dreckigen Händen über das Gesicht fährt. Das wollte Nea nun doch nicht. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie viel das Mädchen in den letzten Stunden mitmachen musste. Erst ist sie aus dem Kloster geflohen, dann floh sie in einem Boot und wurde dabei angeschossen und jetzt muss sie auch noch hinter ihr durch den Wald hetzen. Einer Fremden, von der sie weder den Namen weiß, noch ob sie ihr trauen kann.

Nea lässt sich neben sie gegen den Baum sinken, aber unternimmt nichts um sie zu trösten. Das Mädchen weint herzzerreißend und kann sich gar nicht mehr beruhigen. Wenn sie erwartet, dass Nea sie in den Arm nimmt, kann sie lange warten. Schon aus Prinzip nicht.

Nach einigen Minuten scheint das auch das Mädchen einzusehen, denn ihre Schluchzer werden leiser, bis sie irgendwann nur noch leise schnieft. Sie hebt den Kopf und blickt hilflos zu Nea. „Ich habe Angst.“

Sie sitzen in einem dunklen Wald, während die Carris nach ihnen suchen. Es ist nichts Ungewöhnliches in so einer Situation Angst zu haben. Seltsamerweise hat Nea bisher nicht einmal darüber nachgedacht. Ihre Wut war zu groß, um irgendein anderes Gefühl zuzulassen.

„Brauchst du nicht, wir sind ja zu zweit“, erwidert sie versöhnlich.

„Ich meinte wegen dem Kind“, antwortet die Schwangere und legt beide Hände auf den dicken Bauch. Lange kann es nicht mehr dauern, bis es zur Welt kommt. Nea weiß jedoch nicht, was sie dazu sagen soll. Ein Kind wäre in dieser Welt das Letzte, was sie wollte. Aber auch sonst wäre sie viel zu jung. Doch das Mädchen scheint kaum älter als sie zu sein.

„Ich kann kaum auf mich selbst aufpassen, wie soll ich dann nur ein kleines Baby beschützen?!“, jammert sie verzweifelt und fängt erneut an zu weinen.

Nea hört echte Verzweiflung. Jeder Versuch Normalität wiederherzustellen, ist bisher gescheitert. Es gibt keine Regierung, die sich um junge Mütter kümmern könnte. Nur in Promise ist es anders. Vielleicht ist das ein Anfang.

„Du hast doch aber etwas von Freunden erzählt. Die helfen dir doch bestimmt“, wirft Nea ein.

„Freunde, die ich ohne deine Hilfe niemals erreichen werde“, entgegnet das Mädchen leise, ohne Nea anzublicken.

Es ist wieder keine Bitte, sondern mehr ein Vorwurf. Alleine deshalb würde Nea sie am liebsten auf der Stelle allein im Wald zurücklassen. Aber im Grunde braucht Nea sie ja nur bei ihren Freunden abzuliefern und kann dann wieder gehen. Wenigstens wüsste sie dann wieder ungefähr wo sie überhaupt ist. Wer weiß, vielleicht kennt einer von ihren Freunden sogar den Weg nach Promise. Ohne das Mädchen wäre sie wesentlich schneller unterwegs.

„Weißt du denn überhaupt wie wir dorthin kommen?“

„Also ganz genau weiß ich es natürlich nicht, jetzt wo wir mitten im Wald sitzen. Aber ich bin hier aufgewachsen, sobald wir an eine Straße kommen, weiß ich wieder wo wir sind und dann finde ich auch zurück.“

„Gut, dann lass uns jetzt versuchen zu schlafen.“

„Es ist aber so kalt. So eine wie du kann doch bestimmt auch Feuer machen, oder?“

Neas Augen verengen sich zu Schlitzen. „So eine wie ich? Was soll das denn bitte heißen?“

„Das war nicht negativ gemeint, du siehst nur wie jemand aus, der gelernt hat sich durchzuschlagen...Wie eine Amazone oder so...“, fügt sie leicht lächelnd hinzu. Nea fühlt sich weder wie eine Bärenlady, noch wie eine Amazone. Ganz im Gegenteil, sie fühlt sich nur noch erschöpft. Das Pochen in ihrer Schulter ist unerträglich. Miro würde sich kaputtlachen, wenn er hören würde, dass jemand Nea als Amazone bezeichnet. Denn in seinen Augen war sie vieles, nur taff und wagemutig sicher nicht. Er sah sie immer mehr als Angsthase.

„Es ist zu gefährlich jetzt Feuer zu machen, da locken wir nur die Carris mit an“, antwortet ihr Nea und hofft, dass das Mädchen endlich schlafen wird, denn auch sie braucht dringend Schlaf. Die Fremde hat immerhin schon ihren Schlafsack und scheint auch nicht bereit zu sein ihn zurückzugeben.

Sie schweigen und gerade als Nea dabei ist einzuschlafen, sagt die Schwangere: „Danke übrigens für den Schlafsack. Ich heiße Kasia.“

„Nea“

Danach ist es still.

 

Nea fuhr mit ihrem roten Fahrrad durch den Hafen. Die Sonne spiegelte sich in dem glänzenden Metall. Um die Lenkerstange ringelte sich eine Blumenkette aus Plastik. Und in dem kleinen weißen Korb genoss Mr. Squirrel, ihr Lieblingskuscheltier, die Aussicht. Es war ihr fünfter Geburtstag und das Fahrrad ein Geschenk ihrer Großmutter. Obwohl ihre Eltern ihr verboten hatten alleine an den Hafen zu fahren, hatte sie es dennoch gemacht. Was sollte auch schon passieren? Wenn ihre Eltern dabei waren, war auch noch nie etwas passiert. Warum dann jetzt? Ganz im Gegenteil die Männer, die auf den Schiffen arbeiteten und ihre Netze flickten oder die Boote strichen, winkten ihr freundlich zu.

Gerade fuhr eines der großen Kreuzfahrtschiffe in den Hafen ein. Der Anblick war selten, da das Dorf mehr Fischerboote beherbergte als große Dampfer.

Nea hielt an und stieg von ihrem Rad, um das Schiff besser sehen zu können. Mit ihrer Hand schirmte sie ihre Augen vor den Strahlen der Sonne ab. An Deck des großen Schiffes standen bereits die Passagiere und blickten neugierig dem kleinen Dorf mit den roten Dächern entgegen. Nea winkte ihnen aufgeregt zu.

Das Schiff bog leicht nach rechts ab, um anzulegen. Schnell drehte Nea sich zu ihrem Fahrrad herum, um damit zu der Anlegestelle zu fahren. Doch neben ihrem Fahrrad standen nun drei ältere Jungen. Einer von ihnen saß bereits auf ihrem Geburtstagsgeschenk, während ein anderer gelangweilt mit dem Finger gegen die Blumengirlande schnippte.

„Was ist das denn?“, wollte er amüsiert wissen.

Nea spürte wie ihr die Angst in den Nacken kroch. Sie schluckte. „Das ist mein Fahrrad.“

Der Junge, der auf dem Sattel saß, zuckte mit den Schultern. „Wollen es uns doch nur ausleihen.“

Neas Mutter sagte immer, dass man mit anderen teilen solle. Nea wollte jedoch ihr Fahrrad nicht teilen. Schnell griff sie nach Mr. Squirrel, um wenigstens ihn in Sicherheit zu bringen. Doch sie war nicht schnell genug. Einer der Jungen, bekam das Kuscheltier an seinem bauschigen Eichhörnchenschwanz zu fassen.

„Lass los!“, kreischte Nea aufgebracht. Sie hatte Mr. Squirrel bereits seit ihrer Geburt.

Doch der Junge grinste ihr nur frech entgegen. „Zieh doch, wenn du es wiederhaben willst.“

Und Nea zog. Zog so feste, dass sie das Eichhörnchen ohne Schwanz in ihren Armen hielt. Der bauschige Schweif baumelte zwischen den Fingern des fremden Jungen.

Augenblicklich stiegen Nea Tränen in die Augen. Sie hatten ihr Eichhörnchen kaputt gemacht.

„Oh jetzt weint sie“, feixte einer der Jungen, während sie ihr die Reste ihres Kuscheltiers vor die Füße warfen.

„Bis später dann!“, johlte ein anderer und fuhr mit ihrem roten Fahrrad davon, während die anderen lachend hinter ihm herrannten.

Tränen rannen über Neas Wangen als sie sich zu dem Schwanz von Mr. Squirrel zu Boden kniete. Was sollte sie jetzt nur machen? Ihre Eltern würden mit ihr schimpfen, wenn sie erfuhren, dass sie alleine am Hafen gewesen war! Und ihre Oma wäre sicher enttäuscht, dass sie sich ihr neues Fahrrad hatte wegnehmen lassen. Warum hatte sie sich nicht gewehrt?

Plötzlich nährten sich ihr laut Schritte. Ein weiterer Junge kam aufgeregt auf sie zu gerannt. Schnell drückte sie schützend die Reste von Mr. Squirrel an ihre Brust.

„In welche Richtung sind sie gefahren?“, rief der Junge außer Atem.

Nea kniff die Lippen zusammen und funkelte ihn wütend an.

„Sag schon, ich hol dir dein Fahrrad zurück.“

Nea glaubte ihm nicht eine Sekunde und drehte sich ängstlich weg. Vielleicht ging er wieder, wenn sie nicht mit ihm sprach. Aber der Junge dachte gar nicht daran zu gehen. Stattdessen ging er vor ihr in die Knie.

„Ich gehöre nicht zu denen, vertrau mir.“

Nea blickte ihn mit großen verweinten Augen an, während sie schniefend ihre Nase hochzog. „Sie haben Mr. Squirrel kaputt gemacht“, schluchzte sie anklagend und zeigte dem Jungen die beiden Teile ihres Eichhörnchens.

„Ich kann Mr. Squirrel helfen. Ich bin Tierarzt“, behauptete er.

Nea kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Du bist viel zu jung, um Tierarzt zu sein.“

„Ich bin schon neun Jahre alt. Außerdem hast du keine Zeit zu überlegen, denn Mr. Squirrel ist schwer verletzt. Er braucht eine Notoperation.“

Zögernd blickte Nea auf ihr Kuscheltier. Sie glaubte einen traurigen Glanz in seinen Augen zu erkennen und so nickte sie und reichte das verletzte Eichhörnchen an den Jungen. Ganz behutsam nahm er die beiden Teile entgegen und setze sich im Schneidersitz vor Nea auf den Boden. Aus seiner Hosentasche zog er ein kleines Täschchen. Darin befanden sich neben Stiften, Steinen, Nägeln und einem Taschenmesser, auch Nadel und Faden. Erprobt ließ er den schwarzen Faden durch das Nadelöhr gleiten und begann damit Mr. Squirrel sein Schwänzchen wieder anzunähen.

Besorgt sah Nea zu. „Tut es ihm sehr weh?“

„Nein, gar nicht. Er schläft jetzt.“

„Und wann wacht er wieder auf?“

„Sobald ich den Schwanz fertig angenäht habe.“

Staunend sah Nea dabei zu wie der Junge den Faden festzog und schließlich mit seinem Taschenmesser abschnitt. Vorsichtig reichte er Nea Mr. Squirrel.

„Achtung, er ist noch sehr schwach“, flüsterte er.

Nea wiegte das Kuscheltier in ihren Armen wie ein Baby. „Mr. Squirrel, alles wird wieder gut. Du brauchst keine Angst zu haben.“

Sie sah zu dem Jungen empor und fand nun, dass er mit den drei Dieben, die ihr Fahrrad gestohlen hatten, nichts gemein hatte. Immerhin war er Tierarzt und hatte Mr. Squirrel das Leben gerettet.

„Danke!“, sagte sie schüchtern und blickte verlegen zu Boden.

„Verrätst du mir jetzt in welche Richtung die Jungen gegangen sind?“

Nea deutete in die Gasse, in der die Fahrraddiebe verschwunden waren. „Aber pass auf, dass sie dir nicht wehtun.“

„Keine Sorge, ich habe den schwarzen Gürtel in Karate“, behauptete er zwinkernd.

„Ich bin übrigens Nea.“

Der Junge verneigte sich vor ihr. „Und ich bin Miro. Versprichst du mir, dass du hier auf mich warten wirst, bis ich mit deinem Fahrrad zurückkomme?“

Nea nickte. Daraufhin rannte Miro los.

Sie hielt ihr Versprechen und wartete den ganzen Tag, selbst als es zu dämmern begann, blieb sie genau an derselben Stelle sitzen. Ihre Eltern würden mit ihr schimpfen, aber das war ihr egal, solange Miro mit ihrem Fahrrad zurückkam. Er hatte ihr versprochen es zurückzuholen und sie glaubte ihm. Er hatte Mr. Squirrel gerettet.

Gerade als die Straßenlaternen bereits ansprangen, kam Miro mit ihrem rot glänzend Fahrrad um die Ecke gebogen und auf sie zugesteuert. In seinem Gesicht klaffte ein großer Kratzer und seine Kleidung war mit Schlamm verschmiert, so als hätte er sich im Dreck gewälzt.

„Bitte sehr, die Dame. Stets zu ihren Diensten“, grinste er spitzbübisch als er von dem Fahrrad stieg und es ihr entgegenhielt. Nea fiel ihm vor Freude um den Hals und tief in ihrem Inneren wusste sie schon damals, dass sie sich mehr darüber freute Miro wiederzusehen, als dass ihr Fahrrad wieder da war.

 

Es ist nicht gerade angenehm die Nacht an einen Baum gelehnt zu verbringen und kalt ist Nea dazu, ohne ihren Schlafsack. Aber es gelingt ihr sich immer wieder für einige Minuten in einen Schlafzustand zu versetzen. Trotzdem ist sie erleichtert, als sie wieder aufwacht und sieht, dass die Sonne langsam aufgeht. Ausgeruht fühlt sie sich zwar bei weitem nicht, aber sie können endlich weitergehen und Kasia wird sich hoffentlich bald an den Weg erinnern, wenn sie Nea nicht angelogen hat, nur um nicht alleine zu sein. Kasias Kopf ist in der Nacht an Neas gesunde Schulter gesunken. Sanft stößt sie sie an.

Sofort schreckt Kasia auf und schaut sich erschrocken um. Als sie Nea sieht beruhigt sie sich wieder. Wie die Meisten scheint sie schon zu viele schlechte Erfahrungen gemacht zu haben, sodass sie sie jetzt in ihren Träumen heimsuchen. Es fällt beiden Mädchen nicht leicht aufzustehen. Als Nea es schafft sich mit Hilfe des Kampfstocks hochzustemmen, reicht sie Kasia die Hand und zieht sie daran hoch.

„Danke“, keucht Kasia „Wenn ich erst mal stehe, geht es wieder.“

Kaum, dass sie ein paar Schritt gegangen sind, fragt sie dann: „Hast du etwas zu essen? Ich habe zuletzt gestern Morgen etwas gegessen.“

Erst will Nea automatisch ‚ja’ sagen, doch dann fällt ihr ein, dass Faith und Hope in ihren Rucksäcken das ganze Bärenfleisch gepackt haben, damit Neas leichter zu tragen war, also schüttelt sie nur betrübt den Kopf. Sie muss den Rucksack mit nur einer Schulter tragen. Zwar ist er ohne den Schlafsack, den Kasia weiter um sich gewickelt trägt, um einiges leichter, aber angenehm ist es durch die schwere Wasserflasche trotzdem nicht.

„Du kannst aber etwas trinken, wenn du dafür den Rucksack trägst“, schlägt Nea Kasia vor.

„Würdest du mich sonst verdursten lassen?“, bekommt sie prompt zur Antwort, anstatt einem Danke.

„Nein, aber da du etwas trinken willst, kannst du ihn ruhig auch mal tragen. Meine Schulter ist verletzt, ich kann ihn nicht ewig nur auf einer Seite tragen“, versucht Nea ihr in bemüht geduldigem Tonfall zu erklären.

„Ich habe doch schon genug zu tragen“, meint Kasia jedoch und streicht sich über ihren runden Bauch.

„Kasia, wenn du willst, dass ich dir helfe, musst du mir auch etwas entgegen kommen“, stößt Nea entnervt aus.

„Na gut, dann gib den Rucksack eben her. Aber lange kann ich ihn bestimmt auch nicht tragen“, gibt sie sich mit vorwurfsvollen Gesicht geschlagen und zieht den Rucksack an, nachdem sie sich die Flasche Wasser daraus hervorgeholt hat. „Woher hast du eigentlich die beiden Verletzungen?“

Nea erzählt ihr die Geschichte mit dem Bären, woraufhin sie Nea mit großen Augen anstarrt.

„Da habe ich ja Glück dich als Reisebegleitung gefunden zu haben und noch mal sorry wegen deinen Freundinnen.“

Sie sagt es so beiläufig und unbeeindruckt, dass Nea sofort weiß, dass sie ihre Entschuldigung nicht einmal für eine Sekunde ernst meint. „Entschuldige dich nicht, wenn du es nicht so meinst, dann machst du es nur schlimmer“, entgegnet sie ihr deshalb wütend, woraufhin wieder einige Zeit eisiges Schweigens zwischen den Beiden herrscht.

 

Der Wald scheint sich endlos hinzuziehen, aber am Stand der Sonne erkennt Nea, dass sie erst vor wenigen Stunden losgegangen sind. Als die Sonne an ihrem höchsten Punkt steht, erreichen sie endlich eine Straße, die sich mitten durch den Wald zieht. Erwartungsvoll blickt Nea zu Kasia, doch diese schaut die Straße nur ratlos rauf und runter.

„Und erkennst du etwas wieder?“

„Hm, ich weiß nicht so genau...“, meint sie unsicher und treibt Nea damit in den Wahnsinn.

„Ich dachte du kennst dich hier bestens aus.“

„Tue ich ja auch, aber innerhalb von ein paar Monaten verändert sich so einiges, aber ich glaube wir müssen rechts lang.“

„Du ‚glaubst’?“

„Sicher bin ich mir eben nicht. Wollte es nur gesagt haben, damit du mir später nicht wieder Vorwürfe machst. Aber du kennst dich ja wohl noch weniger aus, also spiel dich mal nicht so auf.“

Die Antwort sitzt und macht Nea sprachlos. So etwas Dreistes und Unverschämtes. Natürlich kennt sie sich hier nicht aus, aber sie hat auch nie etwas anderes behauptet. Ganz im Gegensatz zu Kasia. Sie hört ihre großspurige Stimme noch laut und deutlich vor sich. Am liebsten würde sie die dumme Gans einfach stehen lassen. Doch es würde Nea nicht weiterhelfen, also folgt sie ihr widerwillig.

Neben dem Pfeifen des Windes ist das Knurren ihrer Mägen das einzige Geräusch. Immer langsamer werden ihre Schritte, bis Kasia schließlich ganz stehen bleibt. Kalter Schweiß steht auf ihrer Stirn und sie muss sich an einem Baum abstützen, um nicht umzukippen. Ihr Kreislauf ist im Keller.

„Ich kann nicht mehr“, beklagt sie sich. Dieses Mal glaubt Nea ihr sofort, denn sie ist selbst am Ende ihrer Kräfte angelangt. Ihre gesunde Schulter schmerzt mittlerweile genauso sehr wie die Verletzte und ihre Wade mit dem Bärenbiss brennt wie Feuer. Sie müsste dringend die vom Waldboden verschmutzten Verbände wechseln, doch sie haben nichts womit sie die Wunden stattdessen umwickeln könnten. Auch Kasia bräuchte einen neuen Verband. Aber am dringendsten brauchen sie etwas zu Essen, jedoch wird es Nea kaum gelingen irgendein Tier zu fangen, da sie mit den ganzen Verletzungen viel zu langsam zum Jagen ist.

„Erkennst du mittlerweile den Weg?“

„Ich bin mir nicht sicher, wir müssten eigentlich an einem Bauernhof von den Carris vorbeikommen.“

„Also ich habe keinen gesehen, du etwa?“

Sie schüttelt nur niedergeschlagen den Kopf. Jetzt sitzen die Mädchen mitten im Wald, haben keine Ahnung wo sie sich befinden, haben nichts zu essen, sind beide verletzt und selbst das Wasser neigt sich dem Ende zu. Schlimmer könnte es kaum kommen.

Nach einiger Zeit steht Kasia überraschenderweise auf. „Ich gehe uns etwas zu essen besorgen.“

Nea starrt sie ungläubig an. „Du kannst jagen?“

Kasia beginnt zu lachen. „Jagen?! Nein, ich dachte eher an ein paar Beerensträucher. Ich bin Vegetarierin.“ Sie verstummt als sie Neas fassungsloses Gesicht sieht, fährt dann aber dennoch fort: „Ich weiß, du hältst mich jetzt für noch bescheuerter, als du es ohnehin schon tust, aber das ist mir egal.“

Eine Antwort wartet sie gar nicht ab, sondern läuft geradewegs in den Wald hinein. Nea folgt ihr nicht. In der Tat hält sie Kasia für wahnsinnig, aber gleichzeitig bewundert sie, dass das Mädchen noch am Leben ist, wenn sie sich wirklich komplett ohne Fleisch ernährt. Allein die letzten Tage wäre Nea ohne Fleisch schon verhungert. Vielleicht verdankt Kasia aber ihr Leben weniger ihren eigenen Überlebenskünsten, als mehr denen anderer.

 

Nach einiger Zeit kommt Kasia zurück.

„Und bist du fündig geworden?“, fragt Nea sie höhnisch grinsend, nicht in der Erwartung eine positive Antwort zu bekommen.

Als sie die Frage bejaht, hebt Nea nur zweifelnd die Augenbrauen. Kasia hält ihr Kleid an den Enden empor, sodass sich eine Art Beutel gebildet hat. Als sie wieder sitzt, sieht Nea, dass sich auf Kasias Schoss eine große Mengel verschiedener Beeren ausbreitet.

„Du weißt aber schon, dass man nicht alle Beeren, die man im Wald findet, essen kann?“, fragt Nea sie ungläubig, woraufhin sie einen bösen Blick von Kasia erntet.

„Natürlich, weiß ich das. Hältst du mich für doof? Wenn ich das nicht wissen würde, wäre ich wohl schon längst tot.“

„Naja, manche Leute haben einfach mehr Glück als Verstand.“

Wieder blickt sie Nea verärgert an, dann seufzt sie aber resigniert auf.

„Wir müssen echt damit aufhören uns ständig gegenseitig so anzuschnauzen. Das hilft doch keiner von uns und ich habe ja nicht mal etwas gegen dich. Ganz im Gegenteil, ich bin total froh, dass du da bist. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen.“

Sie überrascht Nea mit ihrem Geständnis, trotzdem ist sie nicht bereit so leicht klein bei zu geben. „Schön, dass du das weißt, du hast aber eine komische Art, dass zu zeigen.“

„Es hört sich jetzt wie eine blöde Ausrede an, aber das sind zum Teil wirklich die Hormone. Ich nehme an, du warst noch nie schwanger, aber manchmal ist es echt schrecklich, da lacht man sich noch in der einen Minute über irgendetwas kaputt und in der nächsten will man am liebsten sterben. Am schlimmsten ist es allein zu sein.“

Nun hat Nea doch etwas Mitleid mit ihr. „Was ist denn mit dem Vater von deinem Kind?“

Kasias Gesicht scheint zu erstarren. Offenbar verbindet sie keine guten Erinnerungen mit dem Vater des Kindes. Vielleicht ist er gestorben. „Darüber will ich nicht reden.“

Nea kann sie nur zu gut verstehen. Sie würde auch mit niemandem über Miro reden wollen, dabei waren sie nie zusammen. Kasia bleibt ihr Kind als Erinnerung, doch auch darum beneidet Nea sie nicht.

Kasia streckt ihr die Hand entgegen, auf der einige Beeren liegen.

„Hier probiere mal, vielleicht wirst du dann auch Vegetarierin.“

Es ist nun deutlich zu merken, dass sie sich wirklich Mühe gibt nett zu sein. Aber Nea weiß auch, dass Beeren nicht besonders satt machen können und Kasia muss für zwei essen. Deshalb nimmt Nea nur ein paar von den Beeren, die Kasia ihr entgegenstreckt. Sie weiß nicht was es für Beeren sind, aber sie schmecken herrlich süß. Kasia ist also doch nicht ganz so nutzlos wie Nea dachte. Obwohl sie sich immer noch darüber ärgert, dass Kasia sie offensichtlich angelogen hat, was ihre Kenntnisse über den Weg angehen.

 

Sie haben nur wenige Kilometer zurückgelegt und trotzdem bleiben sie an der Stelle in der Nähe der Straße. Es ist wichtiger, dass sie sich ausruhen anstatt weiter dem Weg zu folgen, von dem Kasia nicht einmal sicher weiß, ob er sie überhaupt an ihr Ziel führen wird. Sie lässt ihren Kopf erschöpft gegen Neas gesunde Schulter sinken.

„Danke, dass es dich gibt“, flüstert sie leise, bevor sie einschläft. Nea ist sich sicher, dass sie trotz Kasias lieber Worte keine Freundinnen werden, dafür sind sie viel zu verschieden. Kasia erinnert sie in gewisser Weise sogar an die schrecklichen Mädchen, die sich immer an Miro hängten. Sie waren allesamt unselbstständig und ohne eigene Meinung. Sie machten Miro immer nur schöne Augen, in der Hoffnung, dass er sie dann beschützen würde. Aber für Miro waren sie immer nur ein netter Zeitvertreib. Trotzdem entwickelt Nea so etwas wie Sympathie für Kasia. Vielleicht ist es nur ihr Pflichtgefühl, aber das Mädchen hat außer ihr niemanden. Sie ist alleine auf der Welt. Genau wie Nea.

10 - Die Bärentöterin

chapter13Image1.jpeg

Nea schreckt aus einem finsteren Traum empor, als ein Blitz mit lautem Donnern die Umrisse der Bäume im Wald erhellt. Heftig reißt Nea den Kopf herum, als sich links von ihnen etwas hinter den Bäumen bewegt. Der Fremde steht genau zwischen zwei Bäumen, keine fünf Meter von ihnen entfernt. Seitlich zu ihnen, hält der Mann einen großen Säbel in der Hand und beobachtet sie. Durch den Säbel erinnert er Nea irgendwie an einen Piraten, auch sein ungepflegter Vollbart und das wirr abstehende ungekämmte Haar passt dazu. Doch seine Kleidung hat nichts von dem Charme eines Piraten aus den alten Filmen, die Nea kennt. Er trägt mehrere dreckige, graue und braune Lumpen übereinander. Er muss ihre Augen beim Blitz aufleuchten gesehen haben, denn nun umschließt er seinen Säbel fester und grinst sie hämisch an. Seine Zähne schimmern dabei in der Dunkelheit.

„Keine Angst“, sagt er leise. „Ich werde nett zu euch sein, wenn ihr es zu mir seid.“

Mucksmäuschenstill bleiben die Mädchen am Baum sitzen, während Nea ihre Hand fest um den Kampfstab presst. Der Fremde löst sich aus den Bäumen und schleicht mit gezücktem Säbel über die Lichtung. Als erneut ein Blitz aufflackert, erkennt Nea, dass er in der anderen Hand einen großen Stock hält. Kurz ist sie so geblendet, dass sie den Mann erst wiedersehen kann, als er nur noch zwei Schritte entfernt von ihnen steht und auf sie hinabblickt. Sein Grinsen ist verschwunden und durch eine argwöhnische Maske ersetzt. Er mustert Kasia und erst als er ihren großen runden Bauch erblickt, wandert sein Blick zu Nea.

„Ich tue euch nicht weh“, sagt er und geht vor den Mädchen auf die Knie, den Säbel erhoben. Keine Sekunde lässt er Nea aus den Augen. Sein Blick wandert ihren Körper hinab und verweilt auf ihren Brüsten. Die Augen sinken tiefer zwischen ihre Beine und kehren dann zurück zu ihrem Oberkörper. Seine Augenlider werden schwer und seine Lippen teilen sich, mit der Zunge fährt er sich darüber, sodass sie im Halbdunkeln feucht glänzen. Hoch erhoben hält er den Säbel, als er sich zu Nea beugt. Kasia keucht ängstlich auf und rutscht ein Stück von ihr weg, lässt sie alleine mit dem schrecklichen Mann. Nea wartet bis er sein Bein hebt, um sich auf sie zu setzen, dann boxt sie ihn mit aller Kraft in den Unterleib. Pfeifend schießt Luft aus seiner Lunge als er sich vor Schmerzen zusammenkrümmt. Nea wartet keine Sekunde und verpasst ihm mit ihrem Kopf eine heftige Kopfnuss direkt zwischen seine Augen. Sie hört ein leises Knacken und sofort schießt auch schon das erste Blut aus seiner zertrümmerten Nase. Von Adrenalin gepuscht, zieht sie ihre Beine an und tritt dem Mann vor die Brust, sodass er nach hinten kippt. Sofort hechtet sie ihm nach und zückt hastig ihren Dolch aus dem Stiefel, um ihn zu töten, solange er noch benommen ist. Doch er scheint schon schlimmeres erlebt zu haben, denn kaum, dass sie bei ihm ankommt, kommt er wieder auf die Füße mit erhobenem Säbel. Seinen Stock hat er verloren und presst sich nun die freie Hand in den Schritt.

Blitze ziehen über den Himmel. Der Donner erschüttert den Wald. Nea tritt ihm gegenüber, weil sie keine andere Wahl hat. Als sein Blick auf ihren kleinen Dolch fällt, kehrt ein höhnisches Grinsen auf seine blutenden Lippen zurück. „Jetzt lass das Besteck fallen, du hast mich schon genug geärgert.“

Als Antwort hält sie den Dolch nur noch fester umklammert. „Such dir ein anderes Opfer“, zischt sie ihm zu, doch der Mann lacht sie nur aus. Er weiß, dass er größer, schwerer und stärker als Nea ist und sie kaum eine Chance gegen ihn hat.

„Na komm schon, lass es uns hinter uns bringen. Je früher wir anfangen, umso schneller ist es auch wieder vorbei.“

Erneut durchzuckt ein Blitz den Himmel, diesen Moment nutzt der Mann um einen Satz nach vorne zu machen. Instinktiv wirft sich Nea ihm entgegen, den Dolch auf Hüfthöhe, doch der Fremde packt sich ihren Arm, noch ehe sie begreift was vor sich geht, und dreht ihn ihr schmerzhaft nach hinten, sodass sie den Dolch fallen lässt. Aber trotzdem gibt sie sich nicht geschlagen, sondern wehrt sich mit Leibeskräften gegen ihn, tritt um sich und beißt ihn, wann immer er ihr die Gelegenheit dazu bietet. Es fällt ihm nicht leicht sie zu bändigen, doch dann packt er sich Neas lockigen Haarschopf und reißt ihren Kopf zurück, zwingt sie in die Knie. Seine Faust, die ihr ins Gesicht donnert, raubt ihr für einen winzigen Augenblick das Bewusstsein. Doch als sie wieder bei klaren Sinnen ist, liegt der Mann bereits mit seinem ganzen Gewicht auf ihr. Ihre Hände hält er mit der einen Hand fest über ihrem Kopf, während er mit seiner freien Hand dabei ist ihr die Hose vom Leib zu zerren. Nea versucht sich hin und her zu werfen, aber sein Körper drückt sie zu Boden. Gerade als sie glaubt, verloren zu sein, löst sich eine Gestalt aus der Dunkelheit und lässt einen großen Stock auf den Kopf des Mannes niedersausen. Sofort erschlafft der Körper des Mannes über Nea. Ein Blitz erhellt erneut den Wald und sie erkennt Kasia, die mit Neas Kampfstock bewaffnet, über ihr aufragt. Gemeinsam schieben sie den Angreifer schnell von Nea herunter. Kasia reicht ihr die Hand und zieht sie auf die Beine.

Neas ganzer Körper zittert und Tränen rollen ihr über die Wangen, als sie sich schluchzend in Kasias Arme wirft. Beruhigend streicht sie ihr für einen Moment über den Rücken, dann nimmt sie mit festem Griff Neas Hand und sagt: „Los, lass uns verschwinden.“

Sie eilen Hand in Hand zurück auf die Straße und folgen ihr bis endlich die Sonne den hinter dicken grauen Regenwolken am Horizont aufgeht und Nea jegliche Kraft verlässt.

Sie sinkt auf eine stark verwitterte und von Efeu bewachsene Bank am Straßenrand. Ihre Wade fühlt sich an, als würde sie bei jedem Schritt reißen. Ihre verletzte Schulter brennt und sie spürt wie immer wieder neues Blut auf den schmutzigen Stofffetzen sickert. Und als ob das nicht genug wäre, hat sie seitdem Fausthieb von dem fremden Mann auch noch hämmernde Kopfschmerzen. Ihr ist schlecht und ihr linkes Auge schwillt langsam zu. Aber am schlimmsten ist das Gefühl der Wehrlosigkeit. Wenn Kasia nicht gewesen wäre, hätte er mit ihr machen können, wonach immer ihm gerade gewesen wäre. Nichts hätte sie gegen ihn ausrichten können, weil sie dafür zu schwach gewesen wäre. Natürlich könnte sie das auf ihre ganzen Verletzungen schieben, aber sie weiß, dass sie auch in gesundem Zustand keine Chance gegen ihn gehabt hätte und das macht ihr wirklich Angst. Nie wieder möchte sie in so eine Situation geraten. Aber so angeschlagen wie sie gerade ist, wäre sie für jeden ein leichtes Opfer, nicht mal gegen ein Kind könnte sie sich wehren.

Kasia steht vor ihr und blickt besorgt auf sie hinab. „Du siehst wirklich schlecht aus“, sagt sie und zupft Blätter und kleine Äste aus Neas zerzaustem Haar.

„Du bist ganz blass im Gesicht und dein ganzer Körper zittert.“ Ihre weiche Hand legt sich behutsam auf Neas Stirn. „Außerdem hast du Fieber“

Sie schaut zu Kasia empor und zieht sich an ihrem Kampfstock wieder auf die Beine. „Es hilft alles nichts, wir können hier nicht bleiben, weder du noch ich. Uns läuft die Zeit davon.“

Kasia trägt bereits freiwillig den Rucksack, doch nun legt sie ihre Hand auf Neas, die den Stock umklammert. „Komm stütz dich auf mich, das entlastet deine Schulter vielleicht ein bisschen.“ Nea blickt sie zweifelnd an, immerhin ist sie schwanger und hat schon genug zu tragen.

„Komm schon, ich melde mich, wenn ich es nicht mehr schaffe. Das solltest du doch eigentlich schon gemerkt haben“, fügt sie grinsend hinzu und legt Neas gesunden Arm über ihre Schulter, den Kampfstock nimmt sie in ihre freie Hand. „Wenn es sein muss, kann ich stärker sein als man denkt.“

 

Neas Lungen fühlten sich an als würden sie jeden Moment zerreißen, aber Miro zerrte sie unablässig hinter sich her. Seine Hand erinnerte sie an einen Schraubstock, während ihre Füße auf den Asphalt schlugen. Hinter sich hörten sie ihre Verfolger.

Dieses Mal war es nicht Miros Schuld, jedenfalls nicht alleine. Sie hatten sich gemeinsam in ein Lagerhaus geschlichen, von dem sie wussten, dass eine Gruppe junger Männer es bewohnte. Miro hatte sie am Tag davor beobachtet wie sie mehrere Kisten Lebensmittel hineingetragen und sich danach hemmungslos betrunken hatten. Er war der Überzeugung, dass sie am Morgen noch so benebelt von ihrem Rausch sein müssten, dass sie ihren Einbruch nicht mitbekämen. Doch da hatte er sich geirrt. Sie hatten nicht einmal die Zeit gehabt etwas mitgehen zu lassen, bevor sie schon wieder aus der Tür stürzten.

Sie jagten sie nun schon durch das halbe Dorf. Ohne Nea wäre Miro schneller und hätte sie sicher schon längst abgehängt. Doch so hing sie an seiner Hand wie ein nasser Sack.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739385402
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Schlagworte
Schuldgefühle Dystopie Freundschaft Überlebenskampf Liebe Romantasy Romance Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
Zurück

Titel: Promise