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Der verhexte Wolf

von Jane Wallace-Knight (Autor:in)
270 Seiten
Reihe: Dark Hollow, Band 1

Zusammenfassung

Als ein Onkel, von dem er noch nie gehört hat, stirbt und ihn zum Alleinerben macht, begibt sich Caleb Todd in die Kleinstadt Dark Hollow. Während er mehr über die Vergangenheit seiner Familie und die Legende, die sie umgibt, erfährt, wird er rasch in ein Geheimnis hineingezogen, das sich als zunehmend merkwürdig entpuppt. Henry Allan, der Sheriff von Dark Hollow, hat ein eigenes Geheimnis: Er ist ein Werwolf. In einer Stadt, die von Okkultem und ihrer eigenen düsteren Vergangenheit besessen ist, hat er die Ruhe und den Frieden gefunden, nach denen er gesucht hat – jedenfalls bis Caleb Todd in die Stadt fährt und geradewegs in Henrys Auto hinein. Henry fühlt sich sofort zu ihm hingezogen, und Mann und Wolf sind sich einig, dass Caleb ihm gehören soll. Sie müssen sich nur noch mit einem möglichen Mord, einem rachsüchtigen Geist und der Tatsache, dass Caleb sich für hetero hält, auseinandersetzen. Ein homoerotischer Liebesroman für Erwachsene mit explizitem Inhalt. Länge: rund 63.000 Wörter

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Wäre „Mitten im Nirgendwo“ auf einer Landkarte verzeichnet, dann wäre das exakt der Punkt, an dem Dark Hollow sich befindet. Die Straße, die in die kleine Stadt hinein führte, wurde nur von vereinzelten Straßenlampen und der dünnen Sichel des abnehmenden Mondes beleuchtet. Die Wälder zu beiden Seiten der Straße wimmelten von nächtlichem Leben, still und für das menschliche Auge nicht zu entdecken.

Es wäre eine friedvolle Szenerie gewesen, wenn auch ein wenig gruselig, würde nicht Caleb Todd mit seinem Wagen hier entlang fahren.

And I would walk five hundred miles and I would walk five hundred more …“ Caleb sang aus voller Kehle zur Musik aus dem Autoradio, während er die einsame Straße entlang raste. Es wurde spät, und aufgrund der Jahreszeit war es bereits seit Stunden dunkel. „Just to be the man who walked a thousand miles to fall down at your door.“

Sein sieben Jahre alter Labrador Frost winselte auf dem Rücksitz zu Calebs Gesang.

„Ach, sei still, du. Das Einzige, was im Radio läuft, sind irgendwelche alten Knacker, die über Sport oder Religion reden, und das hier“, erklärte Caleb seinem Hund, der lediglich seufzte und den Kopf auf seinen Pfoten ablegte. Caleb hatte oft das Gefühl, der Hund würde sein Verhalten missbilligen.

Er hatte seit Meilen kein anderes Auto gesehen, und selbst das GPS seines Smartphones hatte Mühe, eine Route zu der entlegenen Kleinstadt zu finden. Caleb und Frost waren fast den ganzen Tag über gefahren und hatten nur einige Male am Straßenrand Halt gemacht, um die Glieder zu strecken und zu pinkeln. Vom langen Sitzen bekam Caleb langsam Rückenschmerzen.

„Du kannst dich da hinten wenigstens ausstrecken“, sagte Caleb zu Frost. Der Hund sah wieder auf und neigte den Kopf in dem Versuch, sein Herrchen zu verstehen.

Caleb schaute in den Rückspiegel und sah seinem Hund in die dunkelbraunen Augen. Schließlich seufzte er und schaltete das Radio aus. „Bitte sehr. Jetzt zufrieden?“

Frost schaute ihn nur weiterhin mit missbilligendem Blick an.

Eigentlich hatte Caleb nie einen Hund gewollt. Er war nicht so ein Typ. Nicht einmal als Kind hatte er seine Mutter jemals um einen Hundewelpen angebettelt, wie es eigentlich alle Kinder irgendwann taten.

Eines Abends, als er von seiner Schicht im Künstlerbedarfladen seiner Tante nach Hause fuhr, hatte er den damals fünfjährigen Frost angefahren. Außer sich vor Schock und überwältigt von Schuldgefühlen hatte er den Hund sofort in die nächste Tierklinik gebracht und war die ganze Nacht dort geblieben. Nachdem er eine gepfefferte Rechnung bezahlt und erfahren hatte, dass Frost nicht gechippt war, hatte er sich einverstanden erklärt, ihn bei sich aufzunehmen, bis ein passendes Zuhause für ihn gefunden werden konnte. Zwei Jahre später, und er wartete noch immer. Nur würde er Frost jetzt nie wieder abgeben. Es war traurig, wenn man darüber nachdachte, aber Caleb war sich ziemlich sicher, dass der Hund sein bester Freund war.

Nachdem seine Mutter starb, als er gerade acht Jahre alt war, zog er zu seiner Tante Ruth. Seinen Vater hatte er nie gekannt, und so hatte er geglaubt, Tante Ruth wäre seine einzige noch lebende Verwandte. Bis vor zwei Tagen, als ihn eine Frau anrief und erklärte, dass er als einziger Erbe im letzten Willen eines Mannes namens Clyde Todd aufgeführt war.

So hatte Caleb erfahren, dass er einen Onkel hatte.

Und das war auch der Grund, warum er nun unterwegs in die kleine Stadt Dark Hollow war, wo seine Mutter und seine Tante aufgewachsen waren. Als Caleb seiner Tante vom Tod ihres Bruders erzählt hatte, war sie für fünf Minuten in Schweigen verfallen, bevor er ihr gesagt hatte, er würde nach Dark Hollow fahren. Dann hatte sie in ihrer typisch dramatischen Art reagiert. Sie hatte sich strikt geweigert, ihm irgendetwas über seinen Onkel zu erzählen, und ihm verboten, dorthin zu fahren, als wäre er immer noch zehn Jahre alt. Weder seine Tante Ruth noch seine Mutter hatten je über ihre Kindheit gesprochen, aber er wusste, dass sie bereits im Teenageralter von zuhause fortgegangen waren. Ruth war ein paar Jahre älter als Calebs Mutter, und als seine Mutter noch vor ihrem Highschool-Abschluss mit ihm schwanger geworden war, hatten die zwei ihre Sachen gepackt und waren durchgebrannt. Seine Mutter und Tante Ruth sprachen kaum je über die Familie. Caleb wusste nur, dass ihre Mutter sie früh im Stich gelassen hatte, worauf ihr Vater dem Alkohol verfallen war.

Immer, wenn er an seine Tante Ruth dachte, schien sie im selben Moment auch an ihn zu denken. Sie nannte es ihre besondere Verbindung. Und obwohl er sich gerade über sie ärgerte, musste er lächeln, als wie auf Kommando sein Telefon klingelte – er wusste bereits, dass sie es war. Ein Teil von ihm hätte sie in einem kurzen Anflug von Trotz am liebsten hängen lassen und ihr nicht geantwortet. Aber schließlich war sie alles, was ihm von seiner Familie noch geblieben war. Außerdem wollte er wirklich gern mehr über Dark Hollow erfahren.

Er nahm sein Telefon vom Beifahrersitz, wappnete sich für das Gespräch und nahm den Anruf an.

„Hi, Tante Ruth“, begrüßte er sie. Die Erinnerung an ihren Gesichtsausdruck, als er ihr gesagt hatte, dass er fahren würde, ob es ihr nun gefiel oder nicht, bevor er aus der Wohnung stürmte, war noch frisch in seinem Kopf.

„Caleb, bist du schon da?“, fragte Ruth. „Es gefällt mir gar nicht, wenn du im Dunkeln fährst.“

Ihre Sorge um ihn trotz des letzten Streits brachte ihn zum Lächeln. „Ich habe unterwegs ein paar Pausen eingelegt. Aber ich glaube, ich bin fast da.“

„Ich habe ein schlechtes Gefühl im Bauch“, sagte Ruth. „Du solltest lieber umkehren und heimkommen. Du hast doch letzte Nacht keinen Traum gehabt, oder?“

Caleb machte sich nicht einmal mehr die Mühe, die Augen zu verdrehen. Seine Tante war schrecklich abergläubisch und hörte auf Bauchgefühle und Träume. Seit jener Nacht, in der seine Mutter gestorben war, hatte Caleb regelmäßig schlechte Träume, und manchmal hingen sie ihm noch eine Weile nach und machten ihn nervös. Seine Tante war diesbezüglich ziemlich exzentrisch und fragte ihn oft, ob seine Träume sich um bestimmte Dinge drehten. Einmal hatte sie sogar ein Rendezvous mit einem Mann abgesagt, weil Caleb etwas Schlechtes von ihm geträumt hatte.

„Nein“, antwortete er mit einem Seufzen. „Und ich werde nicht umkehren und wieder heimfahren, nachdem ich schon so weit gekommen bin.“

„Schön“, sagte sie schnippisch. „Aber ich habe heute Morgen drei neue graue Haare gezählt, und daran bist nur du schuld.“

Dieses Mal verdrehte er die Augen.

„Ach, komm mir jetzt nicht mit deinen Haaren. Hast du dich inzwischen beruhigt? Bist du bereit, mir von Dark Hollow zu erzählen?“

Ruth war so eingeschnappt gewesen, als er losgefahren war, dass er nichts aus ihr herausbekommen hatte, außer dass es ein schrecklicher Ort war und sie nie wieder dorthin zurück wollte. Und wäre er nicht im Testament seines Onkels erwähnt worden, hätte Caleb vielleicht nachgegeben und wäre geblieben, nur um sie zu beruhigen. Aber meistens siegte einfach seine Neugier.

„Da gibt’s nichts zu erzählen. Es ist eine langweilige, alte Stadt mit langweiligen, alten Leuten“, sagte sie. „Abgesehen von denen, die unsere Familie wegen etwas hassen, das vor Hunderten von Jahren passiert ist.“

„Moment mal. Was?“, unterbrach Caleb sie. „Im Ernst?“

Ruth stieß ein Seufzen aus. „Die Leute waren damals dumm und schoben alles auf Götter und Dämonen. Sie versuchten, deine Urgroßmutter und ihre Schwester aus der Stadt zu vertreiben, weil sie dachten, die beiden hätten einen Kult gegründet.“

„Oh Mann“, jammerte Caleb. „Bin ich etwa auf dem Weg in eine dieser gruseligen, zurückgebliebenen Kleinstädte, wo sie keine Fremden mögen und jeden Neuankömmling Satan opfern oder sowas?“

„Gütiger Gott, Junge, du und deine Fantasie“, sagte Ruth. Caleb schüttelte den Kopf über diese Ironie. „Du liest zu viele Bücher.“

„Na gut. Schön. Aber falls ich doch geopfert werde, dann hast du dir das ganz allein zuzuschreiben. Und du musst dich um Frost kümmern.“

Als er seinen Namen hörte, grummelte der Hund und drehte den Kopf weg. Frost und Ruth hatten eine interessante Beziehung zueinander. Sie benahmen sich, als könnten sie einander nicht ausstehen, aber Caleb hatte oft gesehen, wie Ruth Frost unter dem Tisch Leckerchen zusteckte. Und er hatte auch bemerkt, dass Frost Tante Ruth beschützte. Dennoch – jedes Mal, wenn er Frost bei ihr ließ, schauten beide darüber sehr missmutig drein, weshalb Caleb beschlossen hatte, den Hund auf seine Reise mitzunehmen.

„Oh, ich bin sicher, dir wird nichts passieren. Clyde hat sein ganzes Leben in Dark Hollow gewohnt, oder nicht? Und ihm ist nichts Schlimmes zugestoßen … außer, na ja … die Anwältin, die dich anrief, hat nichts über die Todesursache gesagt, oder?“, fragte Ruth, die offenbar noch immer versuchte, ihm seinen Ausflug madig zu machen.

„Na klar. Und du fragst dich, woher ich meine blühende Fantasie habe“, erwiderte Caleb mit einem übertriebenen Augenrollen, das sowieso niemand sah. „Und? Wirst du mir jetzt endlich sagen, wieso du noch nie vorher erwähnt hast, dass ich einen Onkel hatte?“

Ruth antwortete nicht gleich, und Caleb hatte das Gefühl, es wäre ihr unangenehm, über den Mann zu reden. „Das ist alles schon so lange her, und wir standen uns nicht nahe.“

„Das ist es? Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?“, fragte Caleb.

„Nicht alles geht dich etwas an, junger Mann“, maßregelte Ruth ihn in einem Ton, der bedeutete, dass diese Unterhaltung beendet war.

Caleb hätte das Schild nach Dark Hollow fast übersehen. Er nahm die Kurve viel zu scharf und entschuldigte sich im Geiste bei Frost. „Wir sind fast da, glaube ich. Ich rufe dich morgen wieder an.“

„Okay“, antwortete sie, obwohl es ihr zu widerstreben schien, aufzulegen. „Pass auf dich auf, Liebes.“

„Mach ich“, sagte er. „Hab’ dich lieb.“

Er beendete den Anruf und warf erleichtert sein Telefon auf den Beifahrersitz. Nach wenigen Minuten tauchte ein großes Schild auf, worauf stand: „Willkommen in Dark Hollow – wir werden dich verzaubern!

Caleb runzelte die Stirn und fragte sich, was zur Hölle das bedeuten sollte. Wahrscheinlich hätte er den Ort vor seiner Abreise erst einmal googeln sollen, aber er war ziemlich eilig aufgebrochen. Das ominöse Schild lenkte ihn so sehr ab, dass er das andere Auto gar nicht sah, das plötzlich auf der Straße auftauchte, bis er auf das Heck auffuhr.


Kapitel 2

Caleb blieb, wo er war – die Stirn auf dem Lenkrad, während der Sicherheitsgurt ihm in den Hals schnitt – und wartete darauf, dass sein Gehirn erfasste, in welchem Zustand sein Körper sich befand und was gerade passiert war. Bevor er dazu kam, eventuelle Verletzungen zu registrieren, erfasste sein Bewusstsein das Blinken von rotem und blauem Licht. Als er aufblickte und in das grelle Licht blinzelte, stellte er fest, dass der Wagen, in den er gekracht war, ein Polizeifahrzeug war.

„Oh, Scheiße“, fluchte er. „Verfluchte Kacke.“

Eine vertraute, feuchte Nase berührte seinen Arm, und er zuckte erschrocken zusammen. Erst da fiel ihm wieder ein, dass Frost bei ihm im Auto war.

„Frost!“, rief er, richtete sich auf und riss den Kopf herum, um seinen Hund anzusehen. Die Bewegung verursachte einen scharfen Schmerz in seinem Nacken, aber er ignorierte das – er musste nach seinem Tier sehen. „Hey, Kumpel, alles in Ordnung? Es tut mir so leid.“

Frost schien nicht verletzt zu sein, aber Caleb fand dennoch, dass es das Beste wäre, den Hund untersuchen zu lassen. Er hoffte nur, dass es in dieser kleinen Stadt eine Tierklinik gab, denn er war wirklich nicht in der Verfassung, jetzt noch irgendwo anders hinzufahren.

Er zuckte ein zweites Mal zusammen – und schrie auf, weil das wirklich wehtat – als jemand die Autotür aufriss.

„Gottverdammt, für einen Tag habe ich mich jetzt wirklich oft genug erschreckt“, sagte Caleb und fasste sich ans Herz. Dann schaute er den Fremden an und erstarrte auf der Stelle.

Er fragte sich, ob er sich vielleicht den Kopf angeschlagen hatte, denn der Mann, der vor ihm stand, sah mehr nach einem Unterwäsche-Model aus als nach einem Hüter des Gesetzes. Er war groß mit breiten Schultern, hatte dunkles Haar und einen perfekt geformten, markanten Kiefer. Und er trug eine eng sitzende Uniform mit einem Sheriffstern auf der Brusttasche. Er sah nicht einfach nur gut aus, er war absolut umwerfend, wie ein Disney-Prinz, der drauf und dran war, Calebs Herz im Sturm zu erobern. Was für einen heterosexuellen Mann wie Caleb ein äußerst seltsamer Gedankengang war, aber da er möglicherweise einen Hirnschaden erlitten hatte, beschloss er, nicht weiter darüber nachzudenken.

„Heiß“, sagte Caleb, aber eigentlich hatte er „Hi“ sagen wollen.

„Wie bitte?“, sagte der Fremde mit finsterer Miene.

Da stimmte etwas nicht. Disney-Prinzen hatten keine finsteren Mienen.

„Ähm … es ist heiß heute“, stammelte Caleb hastig. Es stimmte nicht. Eigentlich war es heute sogar ziemlich kalt. „Wow, Mann, ist das heiß.“

„Was zur Hölle ist mit Ihnen los?“, fragte der Sheriff. „Sind Sie nicht bei Trost? Sie sind mir gerade direkt hinten in den Wagen gefahren.“

Okay, das war nicht ganz, wie sich Caleb die Herzeroberungs-Szene vorgestellt hatte.

„Schreien Sie mich nicht an, ich bin verletzt“, erklärte Caleb. Seine Stimme klang weinerlicher, als ihm lieb war. Er machte Anstalten auszusteigen, aber der Mann hob die Hand und hielt Caleb behutsam an Ort und Stelle.

„Sie sollten sich nicht bewegen“, sagte Sheriff Heißer Typ. „Es wird aber eine Weile dauern, bis der Krankenwagen hier ist. Wie schlimm sind Sie verletzt?“

„Ich weiß nicht. Ich mache mir mehr Sorgen um meinen Hund“, sagte Caleb.

Der Sheriff wandte sich kurz von ihm ab, um die Tür zum Rücksitz zu öffnen. In Sekunden war Frost aus dem Wagen und kam zu Caleb. Er humpelte leicht dabei, und als er hochsprang und seine Vorderpfoten auf Calebs Bein legte, sah Caleb ein wenig Blut.

„Oh Gott, Kumpel, es tut mir so leid“, sagte Caleb zu seinem Hund, obwohl der Labrador ihm das Gesicht leckte.

„Hören Sie“, sagte der Sheriff. „Ich kann Sie beide zum örtlichen Tierarzt fahren, und ich kann meine Freundin bitten, uns dort zu treffen. Sie ist Ärztin. Falls sie sagt, dass Sie in ein Krankenhaus gehören, werde ich Sie selbst hinfahren. Das nächste Hospital ist in Clearspring und liegt zwanzig Meilen zurück in der Richtung, aus der Sie gekommen sind.“

Wenn man bedachte, dass die Unterhaltung damit angefangen hatte, dass Caleb ihm in den Wagen gefahren war und Sheriff Heißer Typ ihn einen Idioten genannt hatte, war der Mann wirklich nett. Und das war schließlich auch sein Job, nahm Caleb an, aber trotzdem … Caleb wusste das zu schätzen.

„Danke“, sagte er. „Wie ist Ihr Name?“

Ihn im Kopf Sheriff Heißer Typ zu nennen, war gefährlich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es ihm tatsächlich herausrutschte.

„Ich bin Sheriff Allen“, antwortete der Mann. „Henry.“

Caleb nickte. „Henry, das ist ein guter, starker Name … abgesehen von dem Arschloch-Henry, Henry der Achte, stimmt’s?“

Henry runzelte die Stirn und zog sanft den Hund weg, sodass der nicht länger halb über Caleb lag. Dann hielt er vor Calebs Gesicht zwei Finger hoch.

„Wie viele Finger?“, fragte er.

„Zwei. Oh … Sie denken, ich hätte eine Gehirnerschütterung, ja? Nein, ich bin tatsächlich nur ein Idiot“, sagte Caleb. „Kein Filter zwischen Gehirn und Mund.“

Henry hob eine Augenbraue auf die Art, wie Caleb es bisher nur bei The Rock gesehen hatte. Es sah aus, als würden seine Mundwinkel amüsiert zucken, aber vielleicht verzog er auch nur das Gesicht.

„Okay, sagen Sie mir, wo es wehtut“, forderte Henry ihn auf.

Caleb neigte prüfend den Kopf und spürte ein Ziehen, das zuvor nicht da gewesen war, aber es war nicht schlimmer als der steife Hals, den er manchmal bekam, wenn er komisch geschlafen hatte. Bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr war alles lustig und locker gewesen, aber dann ging es los: Erst entwickelte er eine Laktoseintoleranz, dann Heuschnupfen, und verschiedene Teile seines Körpers fingen ohne offensichtlichen Grund einfach an wehzutun.

Jede Wette, dass Sheriff Heißer Typ ein perfektes Exemplar der Spezies Mensch war. Wahrscheinlich joggte er jeden Tag und aß Kohl.

„Mein Nacken schmerzt etwas“, antwortete Caleb ihm. „Aber ansonsten ist alles in Ordnung, glaube ich. Zum Glück bin ich nicht sehr schnell gefahren.“

Den letzten Satz fügte er in der Hoffnung hinzu, der Sheriff möge nicht denken, er hätte das Gesetz gebrochen.

„Gut“, sagte Henry mit einem Nicken. „Ich möchte, dass Sie jetzt aus Ihrem Fahrzeug aussteigen. Versuchen Sie, Ihren Kopf so ruhig wie möglich zu halten. Sehen Sie einfach geradeaus. Haben Sie mich verstanden?“

Caleb antwortete mit einem Nicken. Was genau das Gegenteil von dem war, was Henry ihm gesagt hatte – wie ihm dank des stechenden Schmerzes, den das verursachte, umgehend klar wurde.

„Großer Gott“, murmelte Henry, der bereits begann, an Caleb zu verzweifeln. In der Regel kannten Leute Caleb schon ein wenig länger, um an diesen Punkt zu geraten. „Vielleicht sollten wir doch auf den Krankenwagen warten.“

„Nein, nein“, beharrte Caleb, der nicht länger hier ausharren wollte, da sein Hund verletzt war. „Sehen Sie? Ich tue, was Sie sagen. Ich bewege nicht meinen Kopf.“

Langsam stieg er aus dem Auto und widerstand dem Drang, sich umzudrehen, um sein Telefon vom Beifahrersitz zu nehmen. Stattdessen fummelte er blindlings danach und steckte es sich in die Gesäßtasche. Als er schließlich vor seinem Wagen stand, musste er sich zusammenreißen, um nicht aufzublicken. Henry war größer als er selbst, und breiter gebaut. Er war wie Prinz Eric aus Die kleine Meerjungfrau, aber so, als wäre Prinz Eric im Krieg gewesen und hätte Dinge gesehen, die kein Mann je sehen sollte.

„Waren Sie in der Armee?“, platzte Caleb heraus und bewies einmal mehr, dass zwischen seinem Gehirn und seinem Mundwerk wahrhaftig kein Filter existierte.

„Nein“, sagte Henry. „Wieso?“

„Ach, nur so. Hey, mein Gepäck ist im Kofferraum.“

Caleb ignorierte den seltsamen Blick, den der Sheriff ihm zuwarf, und ließ sich von ihm zum Polizeiauto eskortieren. Abgesehen von einem kaputten Rücklicht und ein paar Kratzern sah es gar nicht so übel aus.

„Ich hole Ihre Sachen.“

„Oh mein Gott, mir fällt erst jetzt auf, dass ich Sie gar nicht gefragt habe, ob Sie verletzt sind“, sagte Caleb, der sich wie ein Arschloch vorkam, weil er nur an sich selbst gedacht hatte – und das, obwohl er der Unfallverursacher war.

Henry half ihm auf den Beifahrersitz des Polizeiwagens, bevor er antwortete: „Es geht mir gut. Ich war nicht einmal im Wagen.“

Er brachte Calebs Taschen aus seinem Wagen zum Polizeiauto, dann ging er noch einmal zurück, um Frost zu holen. Der Hund war gegenüber Fremden oft misstrauisch, ließ sich aber anstandslos von Henry auf dessen starke Arme heben. Abwesend sinnierte Caleb darüber nach, wie schön sich das anfühlen musste.

Nachdem er Frost auf dem Rücksitz abgelegt hatte, stieg Henry auf der Fahrerseite ein.

„Was meinen Sie damit, Sie waren nicht im Wagen?“, fragte Caleb. „Was haben Sie denn gemacht? Haben Sie einfach mitten auf der Straße angehalten und Ihr Auto stehen gelassen?“

„Nein“, widersprach Henry entrüstet. „Ich stand am Straßenrand, und meine Warnblinker waren an. Dass Sie sie nicht gesehen haben, deutet eher darauf hin, dass Sie nicht auf die Straße geachtet haben.“

Er hatte seine Polizistenstimme eingeschaltet, bei der man sich auch ohne direkte Anschuldigung sofort getadelt fühlte. Es erinnerte Caleb an seine Tante Ruth.

„Warum mussten Sie denn hier mitten im Nirgendwo rechts ranfahren?“, fragte Caleb, der es für das Beste hielt, nicht auf die Bemerkung des Sheriffs einzugehen. Es war besser, das Gespräch konzentrierte sich auf Henry.

Henry seufzte und nahm sein Funkgerät. „Ich muss den Vorfall melden, damit jemand anderes hier rausfährt. Es wurde etwas Verdächtiges im Wald gesehen.“

„Etwas Verdächtiges?“, wiederholte Caleb, der plötzlich neugierig wurde. „Was, sowas wie eine Leiche oder so?“

Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht schaute Henry ihn an, als wäre er ein Idiot. Vielleicht würde der Sheriff später einmal, wenn er an ihre Begegnung zurückdachte, Mitleid mit ihm haben und einfach annehmen, dass Caleb irgendeine Art Hirntrauma erlitten hatte.

„Nein, ein alter Mann hatte nichts Besseres zu tun, als den Fund von ein paar Zweigen zu melden, die jemand so arrangiert hat, dass sie einem Symbol aus einer alten Stadtlegende ähneln, das ist alles“, antwortete Henry. „Die Einheimischen hier glauben an jede Menge abergläubischen Unsinn, wegen der Geschichte der Stadt.“

Das machte Caleb sogar noch neugieriger als ein möglicher Mord. „Was meinen Sie damit? Was für eine Geschichte?“

Henry hielt den Finger hoch, damit Caleb die Klappe hielt, während er das Sheriffbüro kontaktierte.

„Hey Boss“, ertönte eine Frauenstimme. „Charlie wettet um einen Zwanziger gegen mich, dass die verdächtigen Aktivitäten im Wald nur ein paar dumme Kids waren, die sich ein bisschen zu sehr auf das Festival in zwei Wochen freuen. Ich wette dagegen, dass es das örtliche Altenzentrum war, die da draußen eine Orgie gefeiert haben. Also, wer von uns hat recht?“

Henry stieß einen Seufzer aus, der aus tiefster Seele zu kommen schien. „Clara, ich bin sicher, dass es gar nichts ist. Nur ein paar Zweige auf dem Boden, die aussehen sollen wie das Pentagramm aus der Legende.“

Calebs Neugier war nun auf dem Höhepunkt. Oh, er hätte Dark Hollow vor Fahrtantritt wirklich googeln sollen!

„Verdammt, das klingt eher nach den Kids als nach der Orgie“, sagte Clara. „Sieht so aus, als wäre ich um einen Zwanziger ärmer.“

„Hör zu, ich brauche einen Abschleppwagen an meinem jetzigen Standort.“

„Hast du ’ne Autopanne, Boss?“

„Nein … jemand hat meinen Wagen gerammt“, erklärte Henry mit einem Blick aus dem Augenwinkel zu Caleb. „Ich nehme den Mann mit, damit er ärztlich untersucht werden kann. Es könnten auch ein paar Glasscherben herumliegen, die zusammengefegt werden müssen. Ich hatte keine Gelegenheit, mir die verdächtigen Zweige anzusehen, aber damit Mr. Millston uns nicht weiter nervt, solltest du Charlie herschicken, damit er die Sache untersucht. Sag ihm, er soll ein paar Fotos machen.“

Es folgte eine Sekunde Schweigen, dann fing Clara an zu lachen. „Jemand hat deinen Wagen gerammt, während du draußen im Wald nach ein paar Zweigen gesucht hast?“

„Freut mich, dass ich dir den Verlust von zwanzig Dollar versüßen konnte“, sagte Henry sarkastisch.

Anstatt auf weitere Antwort zu warten, schaltete Henry mitten in Claras gackerndem Lachen ab und steckte das Funkgerät zurück in die Halterung. Sofort öffnete Caleb den Mund, um Fragen nach der sogenannten Legende zu stellen, aber erneut hob Henry den Finger.

Der Sheriff nahm sein Handy und rief jemanden namens Beth an. Nach dem, was Caleb von diesem Gespräch mitbekam, musste es sich um die Ärztin handeln, die Henry erwähnt hatte. Während Henry telefonierte, drehte sich Caleb um, so gut er konnte, um nach Frost zu sehen. Er streckte seine Hand nach hinten, und der weiße Labrador leckte kurz an seinen Fingern.

„Okay, sie wird sich mit uns dort treffen“, sagte Henry und zog damit Calebs Aufmerksamkeit wieder auf sich.

Caleb wartete, bis der Wagen rollte und sie unterwegs in die Stadt waren, bevor er einen neuen Versuch unternahm, mit dem Sheriff zu sprechen. „Also …“

Henry warf ihm einen Blick zu. „Was?“

„Sie sagten etwas über eine Legende“, erinnerte Caleb ihn.

„Oh, nur so eine alberne Geschichte unter den Einheimischen“, sagte Henry abwehrend.

„Oh mein Gott, Ihnen muss man ja jedes Wort aus der Nase ziehen“, beschwerte sich Caleb frustriert. „Nun erzählen Sie schon!“

Henry seufzte erneut. „Vor langer Zeit gab es einen großen Hexenprozess … im Jahre 1783, glaube ich. Die Stadt wurde von einigen unglücklichen Ereignissen heimgesucht; es gab Missernten, totes Vieh, und einige Kinder verschwanden spurlos. Damals war die offensichtliche Erklärung dafür natürlich Hexenwerk.“

„Oh ja, macht Sinn“, sagte Caleb sarkastisch.

So etwas wie der Anflug eines Lächelns zuckte um Henrys Mundwinkel. „Jedenfalls nahmen sie einen Haufen Frauen gefangen, die sie für Hexen hielten, und verbrannten alle bis auf eine: Sarah Todd. Der Legende nach versuchte man, sie ebenfalls zu verbrennen, aber sie fing kein Feuer. Schließlich erhängten sie die Frau an einem Weidenbaum, der in der Nacht zuvor vom Blitz getroffen worden war, und sie starb.“

Caleb sog die Geschichte auf wie ein nasser Schwamm. Er liebte gute Schauergeschichten. Erst als Henry aufhörte zu reden, fiel ihm der Name der Frau auf.

„Sarah Todd?“, fragte er. „Das ist ja schräg. Wir haben denselben Nachnamen.“

Ihm entging nicht, wie Henrys Hände sich um das Lenkrad verkrampften. „Sie sind nicht verwandt mit Clyde Todd, oder?“

„Doch. Anscheinend ist – war – er mein Onkel,“ antwortete Caleb. „Aber ich habe ihn nie getroffen.“

„Seine Beerdigung haben Sie verpasst“, informierte Henry ihn.

„Wann war die Beerdigung?“, fragte Caleb. „Ich habe buchstäblich vor zwei Tagen zum ersten Mal von ihm gehört, als mich eine Anwältin anrief.“

„Die Beerdigung war vor zwei Tagen“, sagte Henry. „Üblicherweise wird danach das Testament verlesen.“

„Und wer hat die Beerdigung ausgerichtet?“, fragte Caleb. „Ich nahm an, da ich im Testament erwähnt bin, obwohl er mir nie begegnet ist, dass er niemanden sonst hatte.“

„Soweit ich weiß, hat Clyde seine Beerdigung selbst arrangiert“, antwortete Henry. „Stand alles genau in seinem letzten Willen. Wie ich gehört habe, waren lediglich drei Leute anwesend.“

Das kam Caleb seltsam vor. Wer plante denn schon seine eigene Beerdigung? Außer, er hatte gewusst, dass er bald sterben würde.

„Ich weiß nicht einmal, wie er gestorben ist“, sagte Caleb. „Ich glaube, ich war so schockiert, dass ich vergaß, danach zu fragen.“

Henry holte tief Luft, wie um sich zu wappnen. „Tut mir sehr leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Ihr Onkel hat sich das Leben genommen.“

Caleb war dem Mann nie begegnet, und bis vor zwei Tagen hatte er nicht einmal von dessen Existenz gewusst, trotzdem wurde ihm bei dem Gedanken ganz kalt und ein wenig übel. Er wusste nichts über Clyde Todds Leben, aber dass er einen Neffen, den er nie kennengelernt hatte, als Erben eingesetzt hatte, bedeutete wahrscheinlich, dass er niemanden sonst hatte. Caleb fragte sich unwillkürlich, ob sein Onkel, hätte er von dem Mann gewusst und hätte er ihn aufgesucht und eine Beziehung zu ihm aufgebaut, vielleicht nicht so verzweifelt gewesen wäre, dass er Selbstmord beging.

„Alles in Ordnung?“ Henrys Frage riss Caleb aus seinen finsteren Gedanken. Die Stimme des Sheriffs war tief und beruhigend.

„Ja“, sagte Caleb rasch. „Nur ein bisschen traurig.“

„Sie hatten einen ziemlich miesen Abend, hm?“, fragte Henry, der offenbar Mitgefühl empfand.

Caleb konnte sich nicht davon abhalten, den Kopf zu drehen, um den Sheriff anzusehen. „Ich hatte schon schlimmere.“

Henry wandte sich ihm zu und hob wieder diese eine Augenbraue. Caleb fragte sich, ob es eine angeborene Fähigkeit war, oder ob er diesen speziellen Gesichtsmuskel zusammen mit all den anderen in seinem wohlgeformten Körper trainierte.

Der Gedanke an Henry als Baby brachte ihn zum Lächeln … wie er in seiner Wiege lag und jedes Mal, wenn seine Mama ihm nicht schnell genug das Fläschchen gab, missbilligend eine Augenbraue hochzog.

„Sie sind ein seltsamer Mann, Caleb“, sagte Henry schließlich.

„Oh Scheiße, habe ich das gerade etwa laut gesagt?“, fragte Caleb. Das passierte ihm öfter. Kein Filter. Mal wieder.

„Was laut gesagt?“, fragte Henry, immer noch mit hochgezogener Braue.

Caleb entspannte sich sichtlich. „Ach, nichts.“

Er beschloss, lieber nicht ins Wespennest zu stechen, indem er fragte, wieso Henry ihn für seltsam hielt. Es erschien ihm sicherer, nicht zu wissen, was der Mann wirklich von ihm dachte.


Kapitel 3

Die Fahrt in die Stadt verlief die meiste Zeit über schweigend. Die Nachwirkungen des Schocks von dem Unfall in Kombination mit der langen Fahrt führten bei Caleb schließlich zu Erschöpfung. Er wünschte, er könnte jetzt einfach zu der Pension fahren, wo er ein Zimmer gebucht hatte, zwei Aspirin schlucken und schlafen. Wäre Frost nicht gewesen, hätte er das wahrscheinlich auch getan.

In der Stadt kamen sie an einem Buchladen namens Es war einmal… vorbei, und Caleb musste darüber lächeln. Er war ein eifriger Leser und nahm sich vor, das Geschäft zu besuchen, während er in der Stadt war. Gleich daneben befand sich ein Café namens Gebräu, und auf dem Schild waren ein Hexenkessel und ein Besen zu sehen.

„Drollig“, sagte Caleb.

Henry folgte seinem Blick zu dem Gebäude. „Ja, Dark Hollow ist ganz verrückt nach allem, was mit Hexerei zu tun hat, besonders um diese Jahreszeit.“

„Was meinen Sie damit?“

„Die Stadt feiert jedes Jahr ein Fest, das Hexenfestival. Eigentlich ist es hauptsächlich ein Jahrmarkt, aber mit einem gewissen Motto. Die Schule des Ortes führt jedes Jahr ein Theaterstück über das Schicksal von Sarah Todd auf“, erzählte Henry. „Letztes Jahr wurde beschlossen, dass es zu gewalttätig ist, wenn ein junges Mädchen so tut, als stürbe es, während es an einem Baum aufgehängt ist, deshalb haben sie das Stück geändert, und nun bereut die Hexe und schwört Satan ab.“

Henry wirkte nicht besonders beeindruckt davon.

„Ach du Schande. Klingt lustig.“

„Oh ja, es ist der Höhepunkt des Jahres für mich“, sagte Henry voller Sarkasmus, worüber Caleb grinsen musste. „Die Geschichtspuristen waren nicht froh über die Änderung. Ich musste sogar eine Prügelei verhindern.“

„Also, diese Sarah Todd, war sie eine Verwandte von mir?“

„Ich fürchte, ja“, sagte Henry. „Ich hörte einige Leute davon reden, dass es nun, da Clyde tot ist, zum allerersten Mal keinen Todd in der Stadt gibt. Und da sind Sie nun.“

„Da bin ich nun“, stimmte Caleb zu. Als Henry den Wagen vor der Tierklinik parkte, kam Caleb ein Gedanke. „Moment mal. Die Pension, in der ich ein Zimmer reserviert habe, heißt Der Weidenbaum. Bitte sagen Sie mir, dass das nichts mit dem Baum zu tun hat, an dem Sarah Todd erhängt wurde!“

Henry verzog das Gesicht, und mehr brauchte Caleb nicht als Antwort. „Wie ich schon sagte, die Stadt ist besessen von ihrer Geschichte.“

„Bei Ihnen hört sich das so an, als wären Sie nicht von hier.“

Henry schaltete den Motor ab und löste seinen Sicherheitsgurt. „Bin ich nicht. Ich bin vor drei Jahren aus Texas nach Dark Hollow gekommen, um für den Sheriff einzuspringen, der kurz zuvor gestorben war. Es sollte nur vorübergehend sein, aber am Ende bin ich geblieben.“

Der Gedanke, sich an dem Ort aufzuhalten, wo seine Vorfahrin ermordet worden war, war irgendwie ziemlich schräg, aber Caleb hatte nicht vor, lange zu bleiben. Er fing an zu verstehen, warum seine Tante Ruth diesen Ort so hasste.

Die Tierklinik war eindeutig geschlossen. Ein einziges Auto stand auf dem Parkplatz, die Lichter waren fast alle aus und die Jalousien heruntergezogen.

„Joy wohnt über der Klinik. Sie ist die Tierärztin hier“, erklärte Henry, nachdem er ums Auto herumgegangen und Caleb herausgeholfen hatte. Caleb war ziemlich sicher, dass er keine Hilfe brauchte, aber als Henry erst seine Hände auf ihm hatte, konnte Caleb sich nicht überwinden, irgendetwas zu tun, um ihn zu stoppen. „Gehen Sie schonmal zur Tür. Ich hole den Hund.“

Henry hatte irgendetwas an sich … er war so sicher und stark, dass Caleb entspannter war, als er eigentlich sein sollte, wenn man bedachte, was ihm passiert war und was er gerade erst über seine Familie erfahren hatte.

Als Caleb nach der Türklinke griff, schwang die Tür auf und enthüllte eine attraktive Frau Ende Vierzig, gekleidet in eine pinkfarbene Arztmontur mit aufgedruckten Cartoon-Zeichnungen von Hunden und Katzen. Caleb mochte sie auf der Stelle.

„Sie müssen Joy sein“, sagte er. „Danke, dass Sie das hier machen.“

„Ist mein Job“, antwortete sie mit einem beruhigenden Lächeln.

Sie hielt ihnen die Tür auf, dann ging sie voran in den Behandlungsraum. Frost lag so bequem in Henrys Armen, wie es nur ging.

„Wollen ihr mir erzählen, was passiert ist?“, fragte Joy, während Henry Frost behutsam auf den Untersuchungstisch legte.

„Wir hatten einen kleinen Autounfall“, erklärte Henry. „Doc ist auf dem Weg hierher.“

Joy nickte, während sie beruhigend ihre Hände über Frosts Körper gleiten ließ, vom Kopf bis zum Schwanz. „Du bist ein prachtvoller Junge, nicht wahr?“

Frost war ein ziemlich entspannter Hund; man konnte praktisch alles mit ihm machen. Er saß ganz brav da und ließ die Zunge aus dem Maul hängen, während die Tierärztin ihn untersuchte.

„Weiße Labradore sind selten, aber eigentlich sind es gelbe Labradore. Die Züchter suchen die blassesten aus und züchten aus ästhetischen Gründen das Gelbe weg“, sagte Joy. „Er muss Sie ein hübsches Sümmchen gekostet haben.“

„Eigentlich ist er mir vor zwei Jahren vors Auto gelaufen“, erzählte Caleb ihr. „Und dann habe ich ihn irgendwie adoptiert. Das klingt jetzt, als wäre ich ein furchtbarer Hundehalter, aber es ist wirklich erst das zweite Mal, dass er wegen meines Fahrstils verletzt wurde.“

Joy lächelte ihn freundlich an. „Nein, ganz und gar nicht. Unfälle passieren, und er sieht nicht aus, als würde es ihm an etwas mangeln. Also, er hat einen kleinen Schnitt oben auf seiner Pfote, aber das muss nicht einmal genäht werden. Er hat auch keine Schmerzen, wenn ich sein Bein abtaste. Kein Anzeichen für einen Bruch oder auch nur eine Zerrung.“

Erleichtert kratzte Caleb seinen Hund hinter dem Ohr, wo Frost es besonders gern hatte. Bevor Caleb dazu kam, seiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, klopfte es leise an der Tür. Joy rief eine Aufforderung, einfach hereinzukommen, und eine Frau in schwarzer Motorradlederjacke betrat den Raum. Sie hatte einen wilden Schopf roter Locken.

„Hey Doc, danke fürs Kommen“, begrüßte Henry sie.

„Du schuldest mir was“, sagte die Ärztin. „Ich war gerade auf dem Weg, mein Date für heute Abend abzuholen.“

Mit diesen Worten gab sie Joy einen raschen Kuss auf die Wange. Caleb machte sein kürzlich erlittenes Trauma dafür verantwortlich, dass er mehrere Sekunden brauchte, um zu begreifen, dass die Ärztin von Joy gesprochen hatte.

„Oh, Sie sind ein Paar?“, platzte er heraus. „Dann habe ich den Abend für Sie beide ruiniert.“

Joy lächelte ihn an. „Hören Sie nicht auf Beth. Unser Date hätte aus einem Essen zum Mitnehmen und der letzten Staffel von American Horror Story bestanden.“

„Ich weiß eben, wie man einer Frau einen schönen Abend bereitet“, sagte Beth mit einem Lächeln in Calebs Richtung. „Aber während meine bessere Hälfte sich um Ihren Hund kümmert, lassen Sie mich Ihren Hals untersuchen, ja?“

„Okay, sicher“, sagte Caleb. „Vielen Dank, dass Sie das tun. Aber ich glaube wirklich, da ist nichts, was eine Nacht guter Schlaf nicht wieder in Ordnung bringen würde.“

„Ist das Ihre professionelle Meinung?“, fragte sie sarkastisch.

Caleb ließ sich von ihr aus dem Raum zurück in die Rezeption führen. Sie tastete seine Schultern und seinen Nacken ab, forderte ihn auf, langsam den Kopf zu drehen und hierhin und dorthin zu bewegen, und fragte, wo es wehtat. Außerdem drückte sie auf seinen Magen und hob und drehte seine Arme, um zu sehen, wie weit er sie bewegen konnte.

„Nun, ich glaube, es ist alles in Ordnung“, sagte Beth. „Lassen Sie es einfach ruhig angehen, und falls es morgen früh nicht besser ist, vereinbaren Sie einen Termin in meiner Praxis. Sie liegt gleich die Straße hinunter.“

„Okay. Danke.“

Wie aufs Stichwort kamen Henry und Joy aus dem Untersuchungszimmer, gefolgt von Frost. Caleb war erleichtert zu sehen, dass sein Hund nicht mehr humpelte. Er trug einen Verband an der Pfote, um die Wunde sauber zu halten, aber ansonsten schien sie ihn nicht mehr zu beeinträchtigen.

„Wenn Sie so weit sind, dann fahre ich Sie zum Weidenbaum“, sagte Henry.

Caleb nickte, was schon jetzt nicht mehr ganz so schmerzhaft war. Dann wandte er sich an die beiden Frauen, denen er den gemeinsamen Abend vermasselt hatte.

„Nochmals vielen Dank für alles. Wie viel schulde ich Ihnen?“

Beth sah fast beleidigt aus, während Joy einfach weiterhin lächelte.

„Machen Sie Witze?“, fragte Beth. „Bei Henry Allen einen Gefallen gut zu haben, ist viel besser als Geld.“

Henry verzog das Gesicht, schien sich aber in sein Schicksal zu fügen. „Ich helfe euch beim Umzug, ich mähe euch den Rasen, ich lasse euch sogar was zum Anziehen für mich aussuchen. Aber auf keinen Fall lasse ich mich von euch auf noch ein Date schicken!“

Beth warf den Kopf zurück und gackerte vergnügt.

„Henry, an Peter war nichts auszusetzen!“, beharrte Joy. „Er sah gut aus, hatte einen guten Job–“

„Er hat mir direkt in die Augen gesehen, während er mit seinem Suppenlöffel Fellatio praktiziert hat“, sagte Henry.

Caleb wand sich bei der Vorstellung, wie unangenehm sich das im Hals anfühlen mochte. Er widmete diesem Gedanken genau zwei Sekunden seiner Zeit, bevor seine gesamte Hirnkapazität plötzlich vollauf mit der Tatsache beschäftigt war, dass Sheriff Heißer Typ auf Männer stand.

Er wusste zwar nicht im Geringsten, warum das für ihn von Bedeutung war, aber irgendwie schien es in diesem Moment das Einzige zu sein, was für ihn von Bedeutung war.

„Okay, schön, keine Blind Dates mehr“, versprach Joy und riss Caleb damit aus seinen Gedanken, bevor er völlig den Faden verlor. „Aber angesichts dessen, wie klein die Auswahl an verfügbaren Singles in Dark Hollow ist, kannst du nicht einfach herumsitzen und darauf warten, dass dir ein Mann in den Schoß fällt.“

„Oder ins Auto kracht“, fügte Caleb ohne nachzudenken hinzu. Erst als die drei Leute im Raum ihn anstarrten, wurde ihm klar, dass er es laut gesagt hatte.

Die beiden Frauen schienen sich definitiv über Calebs verbalen Ausrutscher zu freuen, während Henry verlegen den Hund ansah und sich räusperte.

„Nun, wenn wir hier fertig sind, dann fahre ich Caleb jetzt zur Pension“, sagte Henry und ging bereits zur Tür.

„Äh, okay, ja“, sagte Joy, dann wandte sie sich an Caleb. „Rufen Sie mich an, wenn irgendetwas ist. Henry hat meine Nummer. Oder Sie kommen einfach mit Frost vorbei.“

Caleb war zu erledigt, um sich zu schämen. Außerdem war seine Toleranzschwelle bezüglich Peinlichkeit ziemlich hoch – schließlich war er eigentlich ständig eine wandelnde Katastrophe, was das anging.

„Danke nochmals, für alles“, sagte er, dann folgte er Henry und Frost hinaus in die Nacht.

Sie gingen schweigend zum Wagen, und sobald Frost auf dem Rücksitz untergebracht war, stiegen Henry und Caleb vorn ein.

„Also, was hat Doc gesagt?“, fragte Henry und schaute Caleb endlich an.

„Was?“

„Über Ihren Nacken.“

„Oh, richtig. Alles gut“, antwortete Caleb. „Nur ein leichtes Schleudertrauma.“

Henry nickte und ließ den Motor an. „Wenn Sie mir Ihre Nummer geben, dann leite ich sie an die Jungs von der Autowerkstatt weiter. Der Schaden sah nicht allzu schlimm aus; es wird also hoffentlich nicht lange dauern, das zu reparieren.“

Caleb lächelte und schaute aus dem Fenster. „Wissen Sie … dafür, dass dieser Abend damit anfing, dass ich Ihnen in den Wagen gefahren bin, waren Sie wirklich nett zu mir.“

Henry zuckte die Achseln, als wäre das gar nichts. „Das gehört zu meinem Job.

„Na ja, ich weiß es dennoch zu schätzen.“

Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Zum Glück brauchten sie nur etwa fünf Minuten zur Pension. Während Caleb Frost aus dem Auto ließ, holte Henry seine Taschen aus dem Kofferraum.

„Soll ich die noch für Sie hineintragen?“, fragte Henry.

„Nein, das geht schon.“

„Also, kann ich Ihre Nummer haben?“, fragte Henry, als sie vor dem Tor standen.

Caleb starrte ihn einen Moment lang mit klopfendem Herzen an, bevor ihm wieder der Grund einfiel, warum Henry seine Telefonnummer brauchte.

„Richtig … für die Werkstatt“, murmelte Caleb und verfluchte sich dafür, so ein Trottel zu sein. „Natürlich.“

Caleb erwartete, dass Henry ging, nachdem sie ihre Nummern ausgetauscht hatten, aber der Sheriff blieb einfach stehen. Er schaute zur Pension hinüber, dann senkte er den Blick und sah auf den Boden zwischen ihnen. „Also, dann treffen Sie sich morgen mit Ellen, nehme ich an.“

„Ellen? Oh, Ellen Talbot, Clydes Anwältin, ja“, sagte Caleb. „Woher wussten Sie, dass sie seine Anwältin war?“

Henry schmunzelte und rieb sich den Nacken, was Calebs Aufmerksamkeit auf seine Unterarme zog.

„Sie ist buchstäblich die einzige Anwältin in der Stadt“, erklärte Henry. „Jeder hier nutzt ihre Dienste.“

„Richtig, das macht Sinn“, sagte Caleb. Er musterte Henry und wartete, ob er noch mehr zu sagen hatte.

„Okay. Nun, gute Nacht“, sagte Henry schließlich mit einem kleinen Lächeln. „Ich hoffe, Ihr Nacken wird schnell besser.“

Damit drehte der Sheriff sich um und ging zurück zu seinem Wagen, während Caleb ihm hinterher starrte. Frost stupste mit seiner feuchten Nase Calebs Hand an.

„Okay, Junge, gehen wir“, sagte Caleb und tätschelte ihm den Kopf.

Das Haus war groß und ringsum von einer Veranda umgeben. Tür und Fenster waren gelb umrandet, und an der Vorderseite stand ein Schaukelstuhl. Der Rasen war ordentlich gemäht, und zwischen den Pflanzen standen Vogelhäuschen auf Pfählen.

Für jemanden wie Caleb, der in der Großstadt aufgewachsen war, sah es aus wie etwas aus einem Märchen – bis zu dem Moment, als sein Blick auf den Baum in der Ecke fiel.

In krassem Kontrast zum Rest des Gartens war der Baum kahl und schwarz, als wäre er komplett verbrannt, stand aber irgendwie immer noch aufrecht. Caleb konnte nur vermuten, dass es sich um den berüchtigten Weidenbaum handelte.

Er ging den steingepflasterten Weg hinauf und sah, dass neben der Eingangstür ein Schild befestigt war, auf dem stand: Willkommen im Weidenbaum, wo Sarah Todd den Tod fand.

„Kacke, Mann“, sagte Caleb. „Die Leute hier machen keine Witze.“

Da Der Weidenbaum die einzige Pension war, die Caleb in der Stadt hatte finden können, konnte er ohnehin nirgends sonst übernachten. Aber jetzt wünschte er sich, er könnte. Da zu schlafen, wo seine Vorfahrin ermordet worden war, würde ihm wahrscheinlich seltsame Träume bescheren.

Er öffnete die Tür und betrat einen gemütlichen Empfangsraum, der vor langer Zeit wahrscheinlich ein Wohnzimmer gewesen war. Es sah irgendwie einfach aus wie das Haus einer alten Dame, nur mit einem zusätzlichen Rezeptionstisch.

Niemand stand dahinter, aber Calebs Blick fiel auf einen Stapel Prospekte. Er stellte seine Taschen ab und nahm eines davon. Auf der Vorderseite war ein Foto des Weidenbaums draußen, an dem ein zerfleddertes Seil hing.

„Jesus“, flüsterte er vor sich hin und fragte sich, ob ihm all das vielleicht vollkommen normal vorkommen würde, wäre er in Dark Hollow aufgewachsen. Rasch legte er die Broschüre wieder hin.

„Guten Abend“, sagte eine Stimme hinter ihm und ließ ihn zusammenzucken. „Ich bin Patrick Brite. Kann ich Ihnen helfen?“

Caleb drehte sich um und sah einen Mann etwa Anfang sechzig auf sich zukommen. Er war hager, und sein Gesicht wirkte eingefallen. Er trug einen Tweedanzug und hatte einen schmalen Schnurrbart, dessen Enden nach oben gezwirbelt waren. Caleb war schon aufgefallen, dass diese Bartmode dank der Hipsters ein Comeback feierte, aber er war ziemlich sicher, dass dieser Mann seine Gesichtsbehaarung schon so getragen hatte, lang bevor sie wieder in Mode gekommen war.

„Hi. Ich bin Caleb Todd. Ich habe eine Reservierung.“

Der Mann lächelte ihn an und ging hinter den Empfangstisch. Er holte eine kleine Brille aus seiner Brusttasche und setzte sie auf seine Nase, um ins Buchungsverzeichnis zu schauen. „Ja, Mr. Todd. Hier stehen Sie. Willkommen im Weidenbaum.“

„Danke“, sagte Caleb. „Wie ich hörte, ist dies ein interessantes Haus.“

Der Mann lächelte erneut. „Oh ja. Sarah Todd starb hier, damals in den 1780ern. Als ich Ihren Namen im Register gesehen habe, habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht deswegen hergekommen sind.“

„Nein, ich habe erst heute zum ersten Mal von ihr gehört“, antwortete Caleb.

„Sie war eine Hexe. Zu ihren Lebzeiten hat sie viele schreckliche Dinge getan“, sagte der Mann. „So erzählt man es sich jedenfalls.“

Es war Caleb ziemlich unangenehm, wie viel Interesse der Mann an ihrem Tod zu haben schien. „Und deshalb haben die Einwohner sie an dem Weidenbaum draußen aufgehängt?“

„Ja. Er steht gleich draußen im Garten, falls sie ihn sich irgendwann ansehen möchten“, antwortete der Mann fröhlich.

„Toll“, sagte Caleb ohne Begeisterung. Die arme Frau war höchstwahrscheinlich unschuldig gewesen und nur aus irgendeinem blödsinnigen Grund der Hexerei beschuldigt worden. Die Hexenprozesse waren ein schändlicher Abschnitt der Geschichte und hatten Caleb schon immer Schauer über den Rücken gejagt.

„Wissen Sie, es heißt, dass ein Baum wie dieser, in den der Blitz eingeschlagen hat, eigentlich nicht mehr am Leben sein sollte“, informierte Patrick ihn. „Und doch steht er dort.“

Caleb war nicht sicher, wie viel Leben noch in diesem Baum war, so wie er aussah. Aber er beschloss, Patrick zu sagen, was der offensichtlich hören wollte. „Faszinierend.“

„Also, darf ich fragen“, begann Patrick, „was Sie nach Dark Hollow führt?“

„Äh, es ist so … mein Onkel ist kürzlich gestorben“, antwortete Caleb. „Clyde Todd. Ich weiß nicht, ob Sie ihn kannten.

Patricks Dauerlächeln fiel ihm aus dem Gesicht. „Natürlich kannte ich ihn. Es ist eine kleine Stadt. Dann sind Sie also doch ein Dark Hollow Todd. Mir war nicht bewusst, dass Clyde noch lebende Verwandte hatte.“

„Nun ja, ich habe ihn nie kennengelernt“, sagte Caleb. „Um genau zu sein, habe ich erst von ihm erfahren, nachdem er gestorben war.“

„Tut mir leid, das zu hören“, sagte Patrick, dann steckte er seine Brille zurück in seine Brusttasche und tätschelte sie kurz. „Wissen Sie, wegen der Familiengeschichte war Clyde ein großer Sammler von Sarah Todd-Memorabilien. Er und ich haben oft darüber gesprochen. Wissen Sie, ich würde wirklich gern einmal einen Blick auf einige der Stücke in seinem Haus werfen. Ich wette, es gibt dort jede Menge tolle Sachen. Ich wäre gewillt, sie Ihnen abzukaufen.“

Caleb wollte sich damit nun wirklich nicht befassen, und er fand es auch ziemlich geschmacklos von diesem Mann, den er gerade erst kennengelernt hatte, ihn jetzt danach zu fragen.

„Äh, vielleicht. Ich weiß ja noch gar nicht, was er mir überhaupt hinterlassen hat“, sagte Caleb. „Kann ich jetzt bitte auf mein Zimmer gehen? Ich hatte einen langen Tag.“

„Oh, natürlich. Ihr Zimmer ist oben am Ende des Flurs“, sagte Patrick und gab ihm einen Schlüssel. „Brauchen Sie Hilfe mit Ihrem Gepäck?“

„Nein, das geht schon, danke.“

Caleb wollte nicht riskieren, in weitere Gespräche mit seinem seltsamen Gastgeber verwickelt zu werden.

Als er endlich in seinem Zimmer war, ließ er die Taschen fallen und hockte sich vor Frost hin.

„Was für ein verrückter Tag, hmm, mein Junge?“

Frost schmiegte sich so begeistert in Calebs Hand, die ihn hinter dem Ohr kraulte, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor.

Caleb war schrecklich müde. So müde, dass er nicht einmal daran gedacht hatte, Patrick nach etwas zu essen oder einer Schmerztablette zu fragen. Er fütterte Frost, dann krabbelte er ins Bett, ignorierte den Umstand, dass er sich in einem Raum befand, der sich offenbar seit den Achtzigern nicht mehr verändert hatte, und glitt in den Schlaf.

Er war schon fast eingeschlafen, als er fühlte, wie die Matratze sich senkte und Frost sich von hinten an ihn kuschelte.


Kapitel 4

Henry Allen fühlte sich ein wenig wie benebelt, als er das Sheriffbüro betrat. Er hätte schon vor einer Stunde hier sein, etwas Papierkram erledigen und dann nach Hause fahren sollen. Stattdessen war er in einen Wirbelsturm namens Caleb Todd geraten.

Das Gebäude war recht alt, und im Winter zog es an allen Ecken und Kanten. Außerdem roch es ein wenig streng, irgendwie nach Schimmel und Putzmittel zugleich.

Den Menschen, mit denen er zusammenarbeitete, schien das nichts auszumachen, aber Henry war kein Mensch – er war ein Werwolf und hatte den empfindsamen Geruchsinn eines Wolfes. Das Reinigungsteam, Doris und Pearl, war während seiner Abwesenheit da gewesen und hatte den Boden mit etwas gewischt, das bei Henry einen Niesreiz auslöste, kaum dass er den Raum betreten hatte.

„Hey Boss“, begrüßte Clara ihn von ihrem Schreibtisch aus. „Schön, dich unversehrt zu sehen. Wie geht’s dem anderen Kerl?“

Zu Claras Aufgaben gehörte es, Anrufe entgegenzunehmen, und sie war gut darin zu entscheiden, ob etwas die Aufmerksamkeit des Sheriffs erforderte oder nicht. Damals in Houston war praktisch alles, was bei der Polizei einging, ein Verbrechen, das ernst genommen werden musste. Aber in einer kleinen Stadt wie Dark Hollow waren gut sechzig Prozent der sogenannten Verbrechen, die gemeldet wurden, Nachbarschaftsstreitigkeiten, alte Damen, die ihren Pflegerinnen entwischt waren, oder umgefallene Bäume, die die Straße blockierten.

„Ihm geht’s gut“, antwortete Henry, der eigentlich nur an seinen Schreibtisch wollte, um den Bericht zu schreiben, und dann ins Bett.

„Wer war es?“

„Niemand, den du kennst“, rief er ihr zu, die Hand bereits an der Türklinke zu seinem persönlichen Büro.

„Jemand Neues in der Stadt, wie aufregend. Oh, und Charlie wartet in deinem Büro auf dich“, rief sie ihm nach.

Henry erstarrte mit der Hand am Türgriff und seufzte. Charlie war jung und eifrig drauf bedacht, sich zu beweisen. Das war eine gute Eigenschaft an einem Hilfssheriff, aber abends um halb zehn wäre es Henry lieber gewesen, er wäre etwas weniger eifrig.

Er konnte sich nicht erinnern, mit vierundzwanzig so gewesen zu sein, aber wahrscheinlich dachte sein alter Captain darüber anders. Vielleicht wurde er langsam alt mit fünfunddreißig.

„Charlie, du hättest wirklich nicht bleiben müssen, um mir noch heute Abend deinen Bericht zu geben“, sagte Henry dem jungen Mann, als er sein Büro betrat. „Es waren nur ein paar Zweige im Wald. Das hätte auch bis morgen warten können.“

„Um ehrlich zu sein, Sir, nein, hätte es nicht“, sagte Charlie. „Äh, mit allem nötigen Respekt.“

„Wovon redest du?“, fragte Henry und setzte sich seufzend an seinen Schreibtisch.

„Ich habe die Zweige gefunden“, sagte Charlie und gab Henry sein Smartphone. Das Display zeigte ein Foto, das Charlie von dem Zweig-Arrangement gemacht hatte. Tatsächlich waren sie zu einem Pentagramm gelegt worden, so wie die Symbole aus den Büchern über Sarah Todd und die Hexenprozesse.

„Okay, bestens. Gute Arbeit“, sagte Henry beschwichtigend.

„Nein, sieh hier“, sagte Charlie und tippte auf den Bildschirm, um das Bild zu vergrößern. „Da! Siehst du?“

Henry schaute sich das Foto genauer an und entdeckte in dem Pentagramm so etwas wie eine dunkle Flüssigkeit in einem kleinen Loch, das jemand in der Mitte des Symbols gegraben hatte.

„Ist das Blut?“

„Sah ganz so aus“, antwortete Charlie. „Ich habe eine Probe genommen, aber du weißt ja, wie lange es dauert, bis die Ergebnisse kommen.“

Henry nickte. In einer Kleinstadt zu leben, bedeutete, dass sie nur selten mit wirklichen Verbrechen zu tun hatten, aber auch, dass ihnen nicht die Mittel zur Verfügung standen, solche Tests selbst durchzuführen. Die meisten Proben mussten an ein Labor in Clearspring geschickt werden, und es konnte manchmal recht lange dauern, bis sie ausgewertet wurden. Aber Henry hatte immer noch genug Einfluss dort, um das Labor zu bitten, diese Probe etwas vorzuziehen. Es kam nicht oft vor, dass man eine Pfütze Blut an einem Ort wie Dark Hollow fand.

„Hast du die Probe gekühlt?“

„Habe ich.“

„Okay, gut“, sagte Henry. „Hoffen wir, dass es nur Tierblut ist. Kannst du es heute Abend noch nach Clearspring bringen?“

„Selbstverständlich“, sagte Charlie eifrig wie immer.

„Ich rufe da an und lasse das Labor wissen, dass du kommst.“

„Ja, Sir“, sagte Charlie.

„Und ich schicke jemanden raus, um den Tatort zu sichern, nur für den Fall, dass es kein Tierblut ist.“

Nun wünschte er wirklich, er selbst wäre derjenige gewesen, der die Stelle untersucht hatte. Auf diese Weise hätte er sich besser umschauen können, und er hätte bereits am Geruch feststellen können, ob es das Blut eines Tieres war oder nicht. Jetzt die Probe zu öffnen und daran zu schnuppern, würde sie als Beweismittel in einem möglichen Prozess unbrauchbar machen.

Er war eigentlich immer noch sicher, dass es nur ein dummer Teenagerstreich war, irgendwelche Kids, die vor dem Hexenfestival den Teufel beschwören wollten oder so ein verrücktes Zeugs, aber er musste die Sache ernst nehmen.

„Gute Arbeit, Deputy“, sagte Henry. „Komm morgen etwas später.“

„Das ist nicht nötig, Sir“, protestierte Charlie. „Ich brauche nicht viel Schlaf.“

Henry wollte ihm widersprechen, aber er bekam das Gefühl, dass Charlie ein Mann war, der nicht gern allein war, ein Mann, der dank seiner Zeit in der Armee ständig von Dämonen verfolgt wurde.

„Dann bleibt das ganz dir überlassen“, sagte Henry. Die Erleichterung war Charlies Miene deutlich anzusehen.

Als er endlich allein war, dachte Henry über die Ereignisse dieses Abends nach. Hätte Caleb Todd nicht seinen Wagen gerammt, dann wäre Henry derjenige gewesen, der die Zweige und das Blut gefunden hatte. Jemand, der mit seinem Hund spazieren gegangen war, hatte die Sache am Nachmittag gemeldet. Es war unwahrscheinlich, dass der Tatort in der Zwischenzeit verunreinigt worden war.

„Wahrscheinlich ist es nur Tierblut“, sagte er zu sich selbst. Er hoffte sehr, dass er damit recht hatte.

Calebs Duft hing noch an seiner Kleidung, und er hob unwillkürlich den Arm, um an seinem Ärmel zu schnuppern. Es roch süßlich wie eine Bäckerei, mit einer leicht moschusartigen Note. Als Henry ein zweites Mal tief schnupperte, sagte er sich, dass er das nur tat, weil es besser war als der Gestank der Bleiche, welche die Reinigungskräfte benutzt hatten, um sein Büro zu putzen.


Kapitel 5

Caleb erwachte früh am nächsten Morgen. Nicht unbedingt aus freiem Willen, aber es war schwierig zu schlafen, wenn einem ein fünfunddreißig Kilo schwerer Hund mit erwartungsvollem Blick auf der Brust lag.

Nachdem er Frost gefüttert und eine schnelle Dusche genommen hatte, gingen sie hinunter und zur Tür hinaus, bevor der Eigentümer Caleb sehen und ein erneutes Gespräch anfangen konnte. Es war nicht so, als hätte Caleb generell etwas gegen Gesellschaft; er hatte nur keine Lust, noch mehr über Sarah Todd zu hören, und darüber, wie die Stadt ihren tragischen Mord zelebrierte.

Die Morgenluft war frostig, und der Wind hatte buntes Herbstlaub auf den Gehweg geweht, das nun unter Calebs Füßen knisterte.

Daheim nahm Caleb Frost normalerweise mit in den Hundepark, wo sein vierbeiniger Freund sich austoben und mit anderen Hunden spielen konnte, während Caleb auf einer Bank saß und so viel Kaffee wie möglich in sich hineinschüttete, bevor er zur Arbeit ging.

So verschroben Dark Hollow auch war, bei Tageslicht sah die Stadt wunderschön aus. Sie besaß diese Art von Kleinstadtcharme, von der Caleb bisher geglaubt hatte, sie existiere nur in Fernsehserien wie Gilmore Girls. Er beschloss, mit Frost später einen Spaziergang im Wald zu machen, um den armen Hund für den gestrigen Tag zu entschädigen.

Während er durch die Stadt schlenderte, betrachtete er die Ladengeschäfte. Vor dem Fenster des Buchladens, der ihm am Abend zuvor aufgefallen war, blieb er stehen. Der absolute Mangel an Schaufensterdekoration war beklagenswert. Bei einem Namen wie Es war einmal… hätte Caleb so etwas erwartet wie Drachen und Burgen, in denen die besten Fantasy-Romane präsentiert wurden.

Aber das, was er eigentlich suchte, befand sich nebenan. Das Gebräu, ein niedliches, kleines Café, zog ihn mit dem Versprechen auf dringend benötigtes Koffein an wie ein Leuchtfeuer. Die Fassade war in fröhlichem Gelb angestrichen und die Fenster mit zahlreichen, farbenfrohen Blumen geschmückt.

„Okay, mein Junge, du wartest hier“, sagte Caleb zu Frost und band die Hundeleine an eine Bank, die draußen vor dem Café stand. „Ich bin gleich wieder da.“

Frost blieb in der Regel brav sitzen, wenn man es ihm befahl, und durch das große Fenster würde Caleb seinen Hund die ganze Zeit sehen können.

Er ging hinein und lächelte, als der Duft von Kaffee und süßem Gebäck seine Sinne flutete. Da er gerade in so guter Stimmung war, beschloss er, sein Telefon zu checken, das, wie er bereits wusste, eine Reihe Nachrichten von seiner Tante enthalten würde. Zwischen ihm und seinem Morgenkaffee stand eine lange Warteschlange, also hatte er genug Zeit, um seine Nachrichten zu lesen. Wie es schien, war das Gebräu der Ort, wo die meisten Einwohner von Dark Hollow ihren Tag begannen.

Er versuchte, nicht die Augen zu verdrehen, als jede Nachricht verzweifelter zu sein schien als die davor. Manchmal konnte seine Tante ganz schön anhänglich sein, und auch recht dramatisch. Es fing damit an, dass sie fragte, wie die Stadt aussah. Dann wollte sie wissen, ob er schon mit irgendwelchen Einheimischen gesprochen hatte, und ob irgendwer etwas über sie gesagt hatte. Und schließlich, nachdem sie keine Antwort erhalten hatte, forderte sie Caleb auf, ihr doch gütlichst mitzuteilen, ob er noch am Leben war.

Er hatte gerade eine Antwort getippt, in der er sie wissen ließ, dass es ihm gut ging, als er endlich das vordere Ende der Schlange erreichte.

Er trat an den Tresen und schaute in das Gesicht einer freundlichen, älteren Dame.

„Willkommen im Gebräu. Was darf es für Sie sein?“, fragte sie.

„Ein normaler Kaffee mit Milch, bitte. Einen großen“, sagte er, dann schaute er wieder auf sein Telefon.

„Und leg noch einen Frühstücksmuffin drauf“, ertönte eine vertraute Stimme hinter ihm.

Caleb drehte sich hastig um und fand sich von Angesicht zu Angesicht mit Sheriff Henry Allen. Beinahe ließ er sein Telefon fallen.

„Sheriff“, begrüßte er den älteren Mann. Henry nickte ihm zu.

„Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages, habe ich mir sagen lassen“, sagte Henry. „Es war schon reichlich spät, als ich Sie gestern am Weidenbaum abgesetzt habe, und da dort erst nach neun Uhr morgens Mahlzeiten serviert werden, nehme ich an, Sie haben noch nichts gegessen.“

Caleb verspürte einen Anflug von Ärger darüber, dass dieser Mann zu wissen glaubte, was Caleb brauchte, nachdem sie sich gerade erst zwölf Stunden kannten. Aber es machte ihn auch ein klein wenig glücklich, dass Henry an ihn zu denken schien. Es war eine seltsame Gefühlsmischung.

„Tja, ich nehme an, darum sind Sie wohl der Sheriff hier“, sagte Caleb sarkastisch. „Wegen Ihrer außerordentlichen Fähigkeit zu logischen Schlussfolgerungen.“

Henrys Mundwinkel zuckten, dann wandte er sich mit einem charmanten Lächeln an die alte Dame hinter dem Tresen.

„Guten Morgen, Tilda“, begrüßte er sie. Die alte Dame errötete ein wenig.

Caleb war sich ziemlich sicher, dass er noch in seinem Leben jemanden dazu gebracht hatte, rot zu werden. Manche Leute schienen allein durch ihre bloße Anwesenheit diese Wirkung auf andere Leute zu haben.

„Guten Morgen, Sheriff. Ich habe dir einen Bananen-Walnuss-Muffin beiseitegelegt“, sagte sie im Flüsterton, als wären sie beide Teil einer Verschwörung.

„Ah, das ist mein Mädchen“, sagte er mit einem Augenzwinkern und lehnte sich lässig gegen den Tresen.

Caleb konnte sich gerade noch zurückhalten, um nicht die Augen zu verdrehen, aber es fiel ihm wirklich nicht leicht. Auch unterdrückte er seinen leichten Unmut darüber, dass mit ihm nie jemand so redete.

„Wie geht es Ihrem Nacken?“, fragte ihn Henry.

„Ganz gut“, versicherte Caleb ihm und berührte unbewusst die Stelle. „Tut gar nicht mehr weh.“

Henry nickte, und Caleb wandte den Blick ab, als er sich daran erinnerte, wohin seine Gedanken gewandert waren, als er am Abend zuvor den Sheriff angesehen hatte.

Es entstand ein Moment des Schweigens, während sie auf ihre Bestellungen warteten. Caleb widerstand dem Drang, ihn mit Worten zu füllen.

„Ich nehme an, Sie sind auf dem Weg zu Ellen Talbot?“, fragte Henry.

„Ja“, antwortete Caleb. Er hatte geplant, sich ins Café zu setzen, ein paar Tassen Kaffee zu trinken und die Adresse der Anwältin auf seinem Smartphone herauszusuchen. „Haben Sie Ihren Automechaniker-Freund für mich angerufen?“

„Habe ich“, sagte Henry. „Mike Channel hat Ihren Wagen gestern Abend noch abgeholt. Er sagte, er ruft Sie an.“

„Danke nochmals, dass Sie sich darum gekümmert haben.“

Henry antwortete mit einem Achselzucken. Anscheinend war es für ihn keine große Sache. Caleb nahm an, dass es für ihn als Sheriff normal war, Leuten zu helfen. Das einzige, wobei Caleb in seinem Job Leuten half, war die Auswahl von Malpinseln. Manchmal war es schwer, sich nicht mit anderen zu vergleichen.

Tilda stellte ihre Bestellungen gleichzeitig auf den Tresen, und Caleb schnappte sich eilig seine Tasse und nahm einen großen Schluck. Es kümmerte ihn nicht einmal, dass er sich dabei ein bisschen den Mund verbrühte. Normalerweise musste er morgens vor seinem ersten Kaffee noch mit niemandem reden, abgesehen von Frost. Sogar seine Tante Ruth wusste, dass man dann lieber einen großen Bogen um ihn machen sollte.

„Dann werden Sie wohl jemanden brauchen, der Sie fährt“, sagte Henry, während er genug Geld für beide Bestellungen über den Tresen reichte und dann sofort die Hand hob, um Calebs Protest im Keim zu ersticken.

„Was?“

„Zu Ellen Talbots Haus“, erklärte Henry. „Außer, Sie wollen laufen. Das dauert vielleicht eine halbe Stunde.“

„Ihr Haus?“, fragte Caleb. „Sie meinen, ihr Wohnhaus?“

„Japp. Ellen hat hier in der Stadt keine Kanzlei“, erklärte Henry auf dem Weg zur Tür. „Sie arbeitet von zuhause. Sie wohnt etwas außerhalb der Stadt.“

Caleb erwog seine Optionen. Er konnte entweder mehr oder weniger blindlings durch eine ihm unbekannte Stadt zu einem ihm unbekannten Ort wandern, oder aber erneut mit Henry Allen zusammen im Auto fahren.

„War das ein Angebot, mich hinzufahren?“, fragte Caleb, um sicherzugehen.

Henry grinste ihn nur an und ging hinaus. Ganz eindeutig erwartete er von Caleb, dass er ihm folgte. Caleb gab nicht gern zu, dass in der Sekunde, als ihm der Duft des Muffins in die Nase stieg, sein Magen ein interessiertes Knurren von sich gab.

Als Caleb nach draußen kam, hockte Henry bereits vor Frost und hielt dessen verletzte Pfote in der Hand, um sie zu untersuchen. Der Verband hatte sich irgendwann im Laufe der Nacht gelöst; höchstwahrscheinlich hatte Frost ihn sich selbst abgeknabbert. Caleb hatte daraufhin beschlossen, ihn wegzulassen. Man sah nur noch ein bisschen Schorf, ansonsten war Frost vollkommen in Ordnung.

„Hey, mein Junge“, sagte Henry mit sanfter, warmer Stimme. „Wie fühlst du dich heute?“

Frost antwortete darauf, indem er sich an Henry schmiegte und dessen Hand leckte. Auch heute trug der Sheriff wieder Uniform. Als er sich wieder erhob, wanderte Calebs Blick unwillkürlich zum Hintern des Mannes. Er fand, es sollte für einen Gesetzeshüter nicht legal sein, in einer derartig engen Hose herumzulaufen. Sie war ziemlich aufsehenerregend und verursachte wahrscheinlich Autounfälle rechts und links.


Kapitel 6

Henry konnte sehen, dass Caleb sich in seiner Gegenwart unbehaglich fühlte. Manche Leute machte die Anwesenheit eines Polizisten einfach nervös. Obwohl die meisten Einwohner der Stadt ihn eigentlich gut genug kannten, bemühte er sich immer sehr darum, zugänglich zu wirken, auch wenn seine Freunde ihm oft sagten, dass er das nicht besonders gut hinbekam. Henry war einen Meter neunzig groß und über hundert Kilo schwer, sodass er auch ohne seine Uniform in Dark Hollow herausstach.

Henry öffnete die hintere Autotür für Frost, der sofort hineinsprang. Als er Caleb die Beifahrertür aufhielt, bemerkte er die vielen Blicke, die er erntete. Es war die Zeit am Morgen, da die meisten Leute auf dem Weg zur Arbeit oder in die Schule waren.

Bei nur fünfhundert Einwohnern gab die Ankunft eines Fremden jede Menge Anlass zu Klatsch und Tratsch. Dazu kam noch die Tatsache, dass Caleb ein Todd war. Henry war sicher, bis zum Mittag würde jeder in der Stadt über ihn reden. Und dass der Sheriff höchstpersönlich den Neuen herumführte, würde die Sache nicht gerade besser machen.

„Wie ist der Muffin?“, fragte Henry, obwohl er wusste, dass Caleb noch keinen einzigen Bissen davon genommen hatte.

Caleb sah hinab auf das Essen in seiner Tüte. Er riss ein Stückchen ab und steckte es sich in den Mund. „M’s gut.“

Henry lächelte ihn an. Der Kerl war nur Haut und Knochen, wie seine Großmutter zu sagen pflegte, aber gottverdammt, er war süß. Er hatte dunkles Haar und helle Haut, mit ein paar Sommersprossen auf seiner leichten Stupsnase. Unter seinen hellblauen Augen waren violette Schatten, wahrscheinlich hervorgerufen durch den Mangel an Schlaf und Essen. Aber eigentlich machten sie den Eindruck, als wären sie immer da. Sein Duft hatte noch von gestern Abend in den Autopolstern gehangen, aber jetzt, da er wieder selbst drinsaß, war der Geruch natürlich stärker.

Der Junge – der Mann, korrigierte Henry sich sofort – war gut fünfzehn Zentimeter kleiner als er selbst. Er warf einen Blick aus dem Augenwinkel, als er den Wagen startete, und bemerkte, wie unbehaglich der arme Kerl wirkte, während er kleine Happen von seinem Muffin aß.

„Wie war mein Onkel so?“, fragte Caleb, sobald sie unterwegs waren.

Das war keine leichte Frage, wenn man bedachte, was die meisten Leute in der Stadt von Clyde gehalten hatten.

„Er wurde ,der alte Todd‘ genannt“, sagte Henry mit einem Achselzucken, das beinahe schuldbewusst wirkte. „Er war ein ziemlicher Einzelgänger. Hat sein ganzes Leben in demselben Haus gelebt. Er war Antiquitätenhändler. Früher hatte er ein Ladengeschäft in der Stadt, aber er verkaufte es vor zehn Jahren. Danach wickelte er alles von zuhause online ab. Ich glaube nicht, dass er oft das Haus verließ. Ich weiß, dass er sich seine Lebensmittel immer liefern ließ.“

„Gott, das klingt echt einsam“, klagte Caleb.

Henry nahm an, das stimmte wohl. Er wusste, dass es sein Job war, die Einwohner von Dark Hollow zu beschützen, und nicht, sie glücklich zu machen. Aber er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, Clyde im Stich gelassen zu haben.

„Es ist schwer, jemandem zu helfen, der keine Hilfe will“, sagte Henry. „Ich glaube, er hatte die Leute so lange abgewiesen, dass sie irgendwann alle aufgaben.“

Caleb lehnte sich in seinem Sitz zurück und sah noch trauriger aus. Henry suchte verzweifelt nach etwas, das er sagen konnte, um Caleb wieder aufzumuntern, aber er war noch nie gut mit Worten gewesen.

„Ich frage mich, was zwischen ihm und meiner Tante vorgefallen ist“, überlegte Caleb laut. „Und auch mit meiner Mutter, denke ich. Sie hat ebenfalls nie über ihn gesprochen.“

Über seine toten Verwandten zu reden, würde Caleb nur noch trauriger machen, weshalb Henry, anstatt Mitgefühl zu zeigen und Caleb zum Weitersprechen zu ermuntern, gar nicht erst auf das Thema einging.

„Essen Sie Ihren Muffin“, sagte er stattdessen. Dann fiel ihm auf, dass es wie ein Befehl geklungen hatte. Als hätte er zu einem seiner Hilfssheriffs gesprochen.

Caleb drehte den Kopf und sah ihn mit erhobenen Brauen fragend an.

„Sie sehen aus, als würden Sie nicht genug essen“, erklärte Henry. Er hoffte, Caleb würde verstehen, dass Henry sich etwas aus ihm machte.

„Soll das heißen, ich bin zu mager?“

„Was? Nein … nur … ein bisschen unterernährt“, sagte Henry in der Hoffnung, dass diese Wortwahl besser war.

„Tja, nun … wir können nicht alle aussehen wie Stripper“, sagte Caleb und warf Henry damit vollkommen aus dem Konzept.

„Was soll das denn heißen?“, fragte er verwirrt. „Ich sehe aus wie ein Stripper?“

„Ich meine … ein bisschen, ja“, sagte Caleb. „Mit den Muskeln und der Uniform.“

Henry wusste nicht, was er davon halten sollte. Er war noch nie zuvor mit einem Stripper verglichen worden – jedenfalls hatte ihm das noch nie jemand ins Gesicht gesagt. „Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich wollte nur, dass Sie etwas essen.“

Caleb starrte ihn stirnrunzelnd an. „Das ist entweder wirklich lieb oder wirklich schräg. Ich bin nicht sicher, was von beidem.“

Henry wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Und er fragte sich auch, wieso ihm das überhaupt wichtig war. Caleb war schnuckelig, das ließ sich nicht leugnen, aber er war nur für kurze Zeit in Dark Hollow. Es machte keinen Sinn, sich mit ihm einzulassen. Dennoch, etwas unverbindliches Vergnügen mit ihm würde vielleicht zumindest ein wenig das Loch in Henrys Innerem füllen.

Unauffällig prüfte er Calebs Duft und bemerkte subtile Untertöne, die ihm zuvor nicht aufgefallen waren. Er spürte, wie sein innerer Wolf unter seiner Haut erschauerte. Unter den Lagen von Kaffee, süßem Gebäck und dem Hundegeruch, der in seiner Kleidung hing, roch der Kerl nach frischem Moschus und süßem Geißblatt während eines Frühlingsregens.

„Einigen wir uns auf lieb“, sagte Henry. „Niemand möchte schräg sein.“

Caleb schnaubte ein Lachen. „Sie kennen meine Tante Ruth nicht. Die geht darin regelrecht auf.“

Es entstand ein kurzer Moment des Schweigens, bevor Henry beschloss, ein wenig tiefer zu graben.

„Stehen Sie sich nahe, Ihre Tante und Sie?“, fragte er und ignorierte dabei den Stich, den er jedes Mal empfand, wenn Leute über ihre liebenden Familien redeten.

„Ja. Ich meine, sie hat mich aufgezogen, und jetzt arbeite ich für sie“, antwortete Caleb. „Sie besitzt einen Laden für Künstlerbedarf.“

„Interessieren Sie sich für Kunst?“, fragte Henry. Unwillkürlich wanderte sein Blick zu Calebs Händen. Er hatte weiche Hände, blass und schlank, so wie der Rest von ihm. Henry konnte sich vorstellen, wie diese Hände eine Skulptur formten oder Piano spielten. Und sein Gehirn zeigte ihm auch wenig hilfreich, wie die schlanken Finger aussehen würden, wenn sie sich um seinen Schwanz legten.

Er schluckte schwer, dann hüstelte er und richtete den Blick wieder auf die Straße.

„Nein, eigentlich nicht. Ich habe Anthropologie studiert“, sagte Caleb. „Aber mein Spezialgebiet waren Mythen, Rituale und Symbolismus, deshalb gibt es in meiner Wohnung ein paar Kunstgegenstände, die damit zu tun haben.“

„Und jetzt arbeiten Sie in einem Laden für Künstlerbedarf?“, fragte Henry. Er nahm an, dass das nicht die Laufbahn war, die Caleb geplant hatte, nach seinem Abschluss einzuschlagen.

„Nun ja, ich wusste nie so wirklich, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, aber ich liebte es zu lesen und etwas über die Mythologie verschiedener Kulturen zu lernen. Außerdem bekamen meine Tante und ich etwas Schmerzensgeld für den Tod meiner Mutter von der Firma, welcher der Lastwagen gehörte, der sie überfahren hat. Meine Tante legte es extra zur Seite, damit ich aufs College gehen konnte. Sie sagte, meine Mutter hätte es so gewollt, und da hatte ich irgendwie das Gefühl, studieren zu müssen. Ich weiß nicht, aber die Jobs, die ich nach dem Abschluss hätte haben können, reizten mich alle nicht, also arbeite ich jetzt vorübergehend für meine Tante, bis ich herausgefunden habe, was ich machen will“, sagte Caleb. „Nur mache ich diesen vorübergehenden Job inzwischen schon vier Jahre.“

„Wie alt sind Sie?“

„Siebenundzwanzig“, antwortete Caleb. „Und Sie?“

Henry hatte Caleb jünger geschätzt, vielleicht zweiundzwanzig. Aber das würde er Caleb nicht sagen. Aus Erfahrung wusste er, dass Leute manchmal komisch reagierten, wenn man ihr Alter falsch schätzte, besonders Menschen.

„Fünfunddreißig“, sagte Henry.

Da sie in ihrer Unterhaltung nun einen Punkt erreicht hatten, an dem sie sich nicht mehr versehentlich gegenseitig beleidigten, fand Henry es am besten, jetzt aufzuhören, solange er sozusagen vorn lag. Daher fuhren sie eine Weile schweigend weiter, während Caleb hin und wieder ein Stück von seinem Muffin abbrach und in seinen Mund steckte.

Dann kam Henry ein Gedanke. Er war immer viel zu vorsichtig, oder meistens jedenfalls. Es gab keinen Grund, warum er Caleb nicht auf ein Date einladen und ein bisschen Spaß mit ihm haben konnte. Immerhin hatte Caleb sich Henry als Stripper vorgestellt, und dann diese Bemerkung gestern Abend darüber, wie man Männer kennenlernt … es lag durchaus im Bereich des Möglichen, dass Caleb Ja sagen würde.

„Hey, Sie sagten, dass sie Symbole studiert haben?“, fragte Henry, einer plötzlichen Inspiration folgend. Sie erreichten gerade das Talbot-Grundstück, und er wusste, jetzt war der perfekte Moment für einen Vorstoß.

„Ja. Warum fragen Sie?“

„Ich habe nur überlegt, ob Sie mir vielleicht etwas über Pentagramme erzählen könnten“, sagte Henry. „Aber dafür haben wir jetzt wohl keine Zeit mehr. Wir sind da.“

„Geht es um diese Zweige im Wald von gestern Abend“, fragte Caleb.

„Ja, sie waren in der Form eines Pentagramms arrangiert. Und dann waren noch ein paar andere Symbole in ein Stück Holz geschnitzt, das darüber lag“, antwortete Henry. „Der Legende nach fand man sie in Sarah Todds Haus, in die Wände geschnitzt.“

„Andere Symbole?“, fragte Caleb eindeutig interessiert. „Zum Beispiel?“

„Schwer zu beschreiben“, sagte Henry. „Es sind verschiedene, aber sie sind alle ineinander verschlungen. Sie sehen wie Hörner aus, oder Äste.“

„Hmm, das müsste ich mir ansehen, um dazu etwas Genaues sagen zu können, aber es klingt wie etwas nordischen Ursprungs“, überlegte Caleb. Eigentlich hatte Henry gar nicht erwartet, von Caleb tatsächlich etwas über die Symbole zu erfahren, aber es konnte sich als nützlich erweisen.

Sie fuhren die lange Privatstraße entlang, die zum Grundstück der Talbots führte. Das Land um das Wohnhaus herum war einst Farmland gewesen, aber über die Zeit waren große Teile davon verkauft worden. Ellen Talbot, geborene Reyes, hatte Conrad Talbot während des Jurastudiums kennengelernt. Die beiden hatten geheiratet und waren in Conrads Heimatstadt zurückgekehrt, wo er nur zwei Jahre später gestorben war. Ellen war die einzige Erbin des Vermögens der Talbots.

Da sie beide Außenseiter waren, verstanden Ellen und Henry sich gut, was dazu führte, dass viele Leute in der Stadt, die Henrys sexuelle Orientierung nicht kannten, über die Natur ihrer Beziehung spekulierten. In einer Kleinstadt zu leben, konnte manchmal recht anstrengend sein.

„Nun, da man Ihnen offenbar nicht trauen kann, dass Sie sich ausreichend ernähren“, begann Henry, der beschloss, jetzt zuzuschlagen, „könnten wir vielleicht heute Abend zusammen essen, und ich zeige Ihnen ein Foto der Symbole.“

Caleb wusste scheinbar nicht, wie er darauf reagieren sollte, denn er saß einen unangenehm langen Moment einfach nur da und starrte Henry an. „Ähm … okay. Sicher.“

„Großartig“, sagte Henry rasch, um Caleb keine Zeit zu lassen, es sich anders zu überlegen. „Dann hole ich Sie um sieben vom Weidenbaum ab.“

Caleb nickte, dann schaute er seinen Hund an.

„Ist es okay, wenn Ihr Hund so lange allein bleibt?“, fragte Henry. Bis jetzt hatte Caleb jedes Mal, wenn er ihn gesehen hatte, seinen Hund im Schlepptau gehabt.

„Frost? Ja. Ehrlich gesagt, glaube ich, er ist manchmal ganz froh darüber“, sagte Caleb. „Wenn ich frei habe und zu viel zuhause bin, nervt ihn das nur.“

Henry schmunzelte und warf einen Blick über die Schulter auf den Hund. „Ich wünschte, ich hätte Zeit für einen Hund, aber bei meinen Arbeitszeiten geht das leider nicht.“

„Es sei denn, Sie finden einen, der gern seine Ruhe hat, so wie Frost“, schlug Caleb vor. „Aber ich schätze, so etwas weiß man erst über einen Hund, wenn man ihn schon eine Weile hat.“

Caleb holte hörbar Luft und schaute zu dem großen Haus vor ihnen hinauf. Er schien sich nur ungern dem stellen zu wollen, was darin auf ihn wartete.

„Alles in Ordnung?“, fragte Henry.

„Ja“, beeilte sich Caleb zu versichern. „Es erinnert mich nur an damals, als meine Mutter starb. Ich kann mich nicht des Gefühls erwehren, dass ich hier ein paar Familiengeheimnisse erfahren werde.“

Henry wusste nicht, wie er Caleb trösten sollte. Das war nicht wirklich sein Fachgebiet. „Ich persönlich würde immer lieber die Wahrheit erfahren, als im Dunklen zu tappen.“

Das war ironisch, wenn man bedachte, dass er schon sein ganzes Leben ein Riesengeheimnis hütete. Als ihm als Teenager klar geworden war, dass er schwul war, hatte er versucht, das geheim zu halten aus Angst davor, wie sein Rudel reagieren würde. Dieses Geheimnis war er längst los, aber dafür hing nun ein anderes jeden Tag über ihm – vor allem, weil die einzigen Werwölfe, die er kannte, in Houston lebten, wohin er gegangen war, nachdem er sein Familienrudel verlassen hatte.

Caleb straffte die Schultern. „Okay, ich gehe rein. Wünschen Sie mir Glück.“

„Viel Glück.“

Henry schaltete den Motor ab und stieg aus dem Auto. Das schien Caleb zu überraschen.

„Whoa, Moment! Sie kommen mit?“, fragte Caleb, der ebenfalls ausstieg.

„Na ja, wie wollen Sie denn sonst zurück in die Stadt kommen?“, entgegnete Henry.

„Müssen Sie nicht, ich weiß nicht, Verbrechen aufklären oder sowas?“, fragte Caleb.

„Eigentlich ja. Mrs. Ellisons Zeitung verschwindet ständig“, sagte Henry mit mehr finsterer Ernsthaftigkeit, als der Situation angemessen war. „Meine Hauptverdächtigen sind im Augenblick eine Bande von Eichhörnchen.“

Erneut starrte Caleb ihn nur an – offenbar unsicher, ob Henry das ernst meinte oder nicht.

„War das ein Witz?“, fragte er schließlich.

„Ich bin Sheriff in einer Kleinstadt. Mein ganzer Job ist ein Witz“, antwortete Henry, dann öffnete er die hintere Autotür für Frost.

„Ach, kommen Sie, in Ihrem Job muss es doch mehr geben als alte Damen, die ihre Zeitungen nicht finden können“, sagte Caleb, während die drei zum Haus gingen.

„Meine Arbeit besteht zu vierzig Prozent aus dem Verteilen von Knöllchen für Falschparker, vierzig Prozent Papierkram, und die restlichen zwanzig Prozent befasse ich mich mit verrückten alten Damen.“

„Also warum machen Sie es dann?“, fragte Caleb. „Ich meine, warum ziehen Sie nicht irgendwohin, wo es eine höhere Verbrechensrate gibt, wenn Ihnen das fehlt?“

„Ganz ehrlich? Mir gefällt es hier“, antwortete Henry. „Ich kam hierher, um mal eine Pause von all dem zu haben, glaube ich. Als Dark Hollow vorübergehend einen Ersatzsheriff brauchte, sagte mein Chef mir, ich sollte die Stelle annehmen, um mal ein bisschen Ruhe und Frieden zu genießen. Es war geplant, dass ich nach ein paar Monaten zurückgehe, aber Dark Hollow wuchs mir ans Herz, und umgekehrt.“

Caleb lächelte. Mit dem Licht der frühen Morgensonne, das seine Wangenknochen betonte und seine Augen leuchten ließ, sah er aus wie jemand aus einem Traum.

Er war nicht einfach nur schnuckelig. Er war wunderschön.

„Das ist schön“, sagte Caleb und drückte auf den Klingelknopf. „Ich glaube nicht, dass ich je das Gefühl hatte, irgendwo hinzugehören.“

Henry sprach es nicht aus, weil das zu verrückt gewesen wäre, aber er hoffte unwillkürlich, dass Dark Hollow vielleicht dieser Ort für Caleb werden könnte, so wie für ihn selbst.

Gemeinsam warteten sie darauf, dass die Bewohnerin des Hauses ihnen die Tür öffnete. Damals, als Ellen Talbots Schwiegervater noch hier gelebt hatte, hatte es Personal gegeben, aber jetzt wohnte Ellen allein in dem Haus mit seinen sechs Schlafzimmern. Nur einmal in der Woche kam eine Putzfrau.

Als die Tür aufging, stand Ellen da, wie immer tadellos gekleidet in einen maßgeschneiderten, schwarzen Hosenanzug und eine rosafarbene Seidenbluse.

„Henry“, begrüßte sie den Sheriff angenehm überrascht. „Was führt dich so früh am Morgen zu mir?“

„Ellen“, sagte er mit einem Nicken. „Ich habe Caleb hergefahren.“

„Oh, Mr. Todd, natürlich“, sagte Ellen rasch und streckte Caleb die Hand entgegen. „Danke, dass Sie gekommen sind. Bitte kommen Sie herein.“

„Nennen Sie mich Caleb“, sagte er und schüttelte ihr die Hand. „Freut mich, Sie kennenzulernen. Ist es in Ordnung, wenn mein Hund mit ins Haus kommt, oder soll ich ihn lieber draußen lassen?“

Ellen schaute Frost an, der hinter Caleb stand. Der weiße Labrador erwiderte ihren Blick ruhig und unbeweglich.

„Nein, es macht mir nichts aus, wenn Sie Ihren Hund mit hinein bringen“, versicherte Ellen ihm. „Als Kind hatte ich einen Bichon Frisé namens Matilda. Ich liebte sie, aber sie hasste mich und Kinder im Allgemeinen. Mein Vater fand schließlich bei einem älteren Ehepaar ein neues Zuhause für sie. Auch wenn sie mich nicht mochte, ich vermisste sie schrecklich.“

Es war nicht das erste Mal, dass Henry das Talbot-Haus betrat, aber er war jedes Mal wieder von seinem Grandeur beeindruckt. Wenn man bedachte, dass Ellen ganz allein in einem so großen und entlegenen Haus lebte und arbeitete, musste sie sich manchmal recht einsam fühlen.

„Frost ist freundlich; er kommt mit allen gut zurecht“, versicherte Caleb ihr. „Außer mit Clowns, aber das halte ich, ehrlich gesagt, für eine gute Einschätzung seinerseits.“

Ellen schenkte ihm ein amüsiertes Lächeln über die Schulter hinweg. Sie fing Henrys Blick auf und hob die Augenbrauen. Henry war sich bewusst, dass es einen seltsamen Eindruck machen musste, wenn der Sheriff einen Besucher höchstpersönlich zu ihrer Tür eskortierte. Und er war ziemlich sicher, dass er später einen Anruf deswegen erhalten würde.

Ellen führte die beiden ins Wohnzimmer, ein weitläufiger Raum mit großen Fenstern, die einen herrlichen Ausblick auf den See hinter dem Haus boten.

„Bitte, setzen Sie sich“, sagte Ellen. „Ich bin gleich wieder da, mit dem letzten Willen Ihres Onkels. Wollen Sie vielleicht irgendetwas trinken?“

„Nein, danke“, sagte Caleb und nahm auf dem Sofa Platz, während Henry einfach nur den Kopf schüttelte. Als Ellen das Zimmer verließ, ging Henry zu einem der Fenster und schaute hinaus auf den See, während Frost durchs Zimmer lief und alles beschnupperte. Als der Hund schließlich zufrieden war, legte er sich neben sein Herrchen auf den Boden.

Henry hielt sich eigentlich für einen Mann mit guter Beobachtungsgabe. Schließlich gehörte das zu seinem Job. Eine nervöse Aura umgab Caleb, während sie darauf warteten, dass Ellen zurückkam. Er versuchte festzustellen, ob Calebs Duft sich irgendwie verändert hatte – starke Emotionen hatten eine gewisse Wirkung auf den Körper, was wiederum den Eigengeruch veränderte. Und ja, unter Calebs normalem Geruch lag etwas Ungewöhnliches, das Henry zuvor nicht bemerkt hatte. Die einzige Beschreibung, die ihm dazu einfiel, war die Art und Weise, wie die Luft während eines Gewitters roch.

Caleb bemerkte, wie prüfend Henry ihn musterte. Henry riss sich rasch zusammen und wollte gerade die Aussicht kommentieren, als Ellen zurück ins Zimmer kam.

„Da haben wir alles“, sagte sie und setzte sich in den Sessel gegenüber von Caleb.

Henry wollte nicht einfach hinter ihnen stehen bleiben, aber als er sich gerade setzen wollte, klingelte sein Telefon.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752106886
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
gestaltwandler hexer magie fantasy werwolf gay romance gay fantasy Roman Abenteuer Fantasy Romance Liebesroman Liebe

Autor

  • Jane Wallace-Knight (Autor:in)

Jane Wallace-Knight lebt im Osten von England, in einer kleinen Küstenstadt, in einem Haus am Meer. Sie findet, dass die morgendlichen Spaziergänge am Strand mit ihrem Hund die beste Gelegenheit bieten, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen und die nötige Inspiration zum Schreiben zu finden.
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Titel: Der verhexte Wolf