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Dem Feind vergeben

von Shea Balik (Autor:in)
130 Seiten
Reihe: Miracle, Oregon, Band 2

Zusammenfassung

Lucca fand in Jari seinen wahren Gefährten. Unglücklicherweise wurde Jari bei dem Versuch erwischt, Nole zu töten, den Gefährten seines besten Freundes. Aber nicht immer ist alles so, wie es scheint, und Jari wurde unfreiwillig Komplize bei dem Mordversuch. Trotzdem vertraut Lucca niemandem, und er kann keinem Gefährten vertrauen, der sich an solchen Taten beteiligen würde wie die, die man Jari vorwirft. Als Jari davonläuft, wird er von der letzten Person auf der Welt, die er sehen will, gefangen genommen. Während er unter Folter und Qualen für einen raschen Tod betet, tut Lucca alles, um seinen Gefährten zu retten. Wird Lucca Jari noch rechtzeitig finden? Und falls ja, wird er lernen, dem Mann zu vertrauen, dem sein Herz gehört? Ein homoerotischer Liebesroman für Erwachsene mit explizitem Inhalt. Jeder Band dieser Reihe geht auf die romantische Beziehung eines anderen Paares ein. Länge: rund 32.000 Wörter

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Tränen liefen Jari Kerr über das Gesicht; das scharfe Aroma der Zwiebeln, die er gerade hackte, brannte in seinen Augen. Aus diesem Grund hatte er sich entschieden, Omeletts zu machen – um zu verbergen, dass er geweint hatte. Sonst würde Lucca ihn nur bedrängen, noch weitere seiner Geheimnisse preiszugeben. Das wollte Jari unbedingt vermeiden, bevor er am Ende noch zugab, wie sehr er sich wünschte, Lucca würde ihn endlich offiziell zum Gefährten nehmen.

Eigentlich wäre er sogar schon zufrieden, wenn Lucca irgendetwas sagen oder tun würde, um wenigstens anzudeuten, dass er Jari als Gefährten wollte, anstelle der konstanten Gleichgültigkeit, die der Mann ihm bis jetzt entgegengebracht hatte.

Das schwache Licht der Morgendämmerung begann, das Küchenfenster zu erhellen, und Jari konnte im Camp auf der anderen Seite der Straße Bewegungen erkennen. Geräusche von oben verrieten ihm, dass die anderen endlich wach wurden und in Kürze zum Frühstücken herunterkommen würden.

Jari schaltete den Herd ein und gab etwas Butter in die größte verfügbare Pfanne, dann schnappte er sich das Handtuch vom Tresen und wischte sich damit das Gesicht ab. Die Zwiebeln mochten eine gute Ausrede für seine Tränen sein, aber sein Gefährte war zu aufmerksam, um nicht zu bemerken, dass er viel zu heftig weinte, um es nur den Zwiebeln anzulasten.

Doch obwohl ihm sonst nicht die kleinste Kleinigkeit entging, schien Lucca blind für Jaris Kummer zu sein. Nicht, dass Jari ihm das übel nehmen konnte. Jari war als Gefährte eine heikle Wahl. Himmel, noch vor wenigen Tagen war er wegen seiner Verbrechen gegen Nole, den Gefährten des Alphas, im Keller an eine Wand gekettet gewesen. Er konnte von Glück sagen, dass man ihn nicht dafür hingerichtet hatte, beinahe die Ermordung sowohl des Alphas als auch seines Gefährten verschuldet zu haben.

Ein weiterer Grund zum Weinen. Nole wollte vielleicht nicht Jaris Tod, aber es war auch offensichtlich, dass er ihm keineswegs vergeben hatte. Da Jari ein Killerkommando direkt zu seinem ehemals besten Freund geführt hatte, konnte er ihm kaum verübeln, dass er einen Groll gegen ihn hegte.

Er wusste nur nicht, was er hätte anders machen können. Alpha Abdiel hatte damit gedroht, Jaris Brüder und Schwestern zu töten, und als wäre das noch nicht genug gewesen, hatte der Mann gesagt, dass er danach auch Jaris Nichten und Neffen umbringen würde. Um zu zeigen, dass er es ernst meinte, hatte Abdiel Jaris Eltern getötet.

So sehr er sich auch wünschte, nicht den Befehl bekommen zu haben, Nole anzugreifen – Jari hatte getan, was ihm gesagt worden war, um seine Familie zu beschützen. Jetzt wurde er von allen behandelt wie ein unwillkommener Gast, der nicht wusste, wann es Zeit zum Gehen war – sogar von seinem Gefährten.

Als die Pfanne heiß genug war, gab Jari die Zutaten für das Omelett hinein. Dann steckte er sechs Scheiben Brot in den großen Toaster. Nachdem das erledigt war, ging er zum Kühlschrank und holte Orangen-, Apfel und Cranberrysaft sowie zwei Schalen Butter heraus.

Gerade, als das Knirschen der alten, hölzernen Treppenstufen zu hören war, tischte Jari das erste Omelett auf und gab die Zutaten für das nächste in die Pfanne. Jedes Omelett war groß genug, um vier gewöhnliche Männer satt zu kriegen. Allerdings war an den Männern, die hier lebten, nichts gewöhnlich. Sie alle waren Gestaltwandler und hatten daher einen Riesenappetit, der den von Menschen weit übertraf.

„Ich rieche Speck“, sagte Chadwick, als er in die Küche spazierte und sich an den Tisch setzte. „Warte.“ Jari musste über den verdatterten Ausdruck auf Chadwicks Gesicht lachen, als der sich umschaute und nicht sein Lieblingsfrühstück entdeckte. „Es gibt doch Speck, oder?“

Jari schüttelte den Kopf über Chadwicks jammervollen Ton angesichts des scheinbaren Mangels an gebratenem Speck. „Ja“, versicherte er ihm. „Aber da du ihn immer verschlingst, bevor die anderen eine Chance haben, zum Tisch zu kommen, rücke ich ihn nicht raus, bevor alle da sind.“

Chadwick sah aus, als wäre er kurz vorm Heulen. „Aber … ich brauche Speck.“

„Du wirst auch welchen bekommen, wenn die anderen eintreffen“, versicherte Jari ihm erneut.

Hätte er es nicht besser gewusst, dann hätte er denken können, dass soeben Chadwicks bester Freund verstorben war. „Das ist nicht fair“, beharrte Chadwick. „Ich bin extra früh aufgestanden, nur damit ich Speck bekomme. Der frühe Vogel fängt den Wurm, so heißt es schließlich.“

„Ja, aber es ist die zweite Maus, die den Käse bekommt“, sagte Hudson, der in diesem Moment in die Küche kam.

Jari runzelte die Stirn über das makabre Sprichwort. „Du weißt, dass ich ein Mauswandler bin, ja?“

Hudson erstarrte, als er sich gerade auf einen Stuhl fallen lassen wollte, und grinste Jari an, bevor er sich schließlich setzte. Aber es war Chadwick, der an Hudsons Stelle antwortete: „Da du dir noch nicht das Genick in einer Mausefalle gebrochen hast, nehme ich an, dass dir diese Weisheit bereits bekannt war.“

Ein tiefes Knurren ertönte, als Lucca die Küche betrat. Er warf seinen Freunden finstere Blicke zu. „Der nächste, der dumme Sprüche über Jaris Tod macht, kann mir im Ring gegenübertreten“, warnte er.

„Was denn?“ Chadwick versuchte, unschuldig auszusehen, aber er bekam es nicht ganz hin. „Ich habe ihm Anerkennung dafür gezollt, dass er nicht auf den Trick mit dem Käse in der Mausefalle hereingefallen ist.“

„Weißt du, eines schönen Tages wird dir dein loses Mundwerk richtig Ärger einbringen“, sagte Edrick, als er und sein Gefährte Nole sich zur Runde gesellten.

Jari versuchte, nicht eifersüchtig darauf zu sein, wie Edrick und Nole einander ansahen – selig grinsend und voller Liebe. Er warf einen flüchtigen Blick zu Lucca und wünschte sich, sein Gefährte würde ihn ebenso anschauen. Als wäre er der Mittelpunkt der Welt.

Tatsächlich wäre Jari schon glücklich, wenn Luccas Augen nicht jedes Mal voller Misstrauen wären, wenn er ihn ansah. Es war niederschmetternd zu wissen, dass der eigene Gefährte ihm zutraute, jeden Moment einen Verrat zu begehen.

Jari drehte sich hastig zum Herd um, als erneut Tränen in seinen Augen brannten, bevor irgendwer – ganz besonders Lucca – es bemerkte. Er brachte das zweite Omelett zum Tisch, dann ging er zurück, um den Speck zu holen, den er zum Warmhalten im Ofen aufbewahrt hatte.

„Ich weiß gar nicht, warum ihr euch alle so aufführt“, grummelte Chadwick. „Jari war derjenige, der sich geweigert hat, mich Speck essen zu lassen.“

Als sich alle Augen auf ihn richteten, bekam Jari ganz heiße Wangen. „Ich sagte, du musst auf die anderen warten, weil du dazu neigst, mehr als deinen Anteil zu essen“, erinnerte Jari Chadwick. „Aber für das, was du gerade gesagt hast, kriegst du nun gar keinen Speck. Vielleicht bist du dann beim nächsten Mal geduldiger.“ Jari reichte Hudson die Schüssel, woraufhin dieser seinen Teller mit Speckstreifen füllte, bis er einen richtigen Haufen vor sich hatte.

„Hey!“, rief Chadwick. „Das ist nicht fair!“

„Wer immer dir erzählt hat, das Leben wäre fair, Kätzchen, hat dich angelogen.“

Alle Köpfe drehten sich zur Tür, wo Kirill stand, ein breites Grinsen im Gesicht.

„Verdammt. Du musst mir wirklich beibringen, wie du es hinkriegst, mit diesem Riesenkörper hier reinzuschleichen, ohne dass dich jemand hört“, platzte Chadwick heraus. Offenbar war es ihm ganz egal, das Kirill ein Eisbärwandler war, der mindestens zwei Meter fünfzehn groß war, hundertsechzig Kilo Muskelmasse auf die Waage brachte und ihn zerquetschen konnte wie einen Käfer.

Kirill lächelte Chadwick an und zeigte seine weißen Zähne. „Was ist los, Kätzchen? Neidisch?“

Chadwick zeigte Kirill den Stinkefinger, und alle lachten.

„Hast du schon etwas gegessen?“, fragte Jari, als er den letzten Teller auf den Tisch stellte und sich auf den einzigen freien Stuhl setzte, direkt neben Lucca. Er wünschte nur, er wüsste, ob sein Gefährte überhaupt wollte, dass er dort saß.

Es gab Zeiten, da schien Lucca Jari zu wollen. Sie hatten sich sogar ein paarmal geküsst, aber Lucca ließ nie zu, dass sie weiter gingen als das. Jari fragte sich verzweifelt, ob sie jemals weitergehen würden.

„Ja, habe ich“, antwortete Kirill. „Danke. Ich bin nur gekommen, um Edrick wissen zu lassen, dass meine Männer die Kolonie erreicht haben.“

Auf der Stelle verwandelte sich das Essen in Jaris Mund in Sägemehl. So sehr er versuchte, nicht daran zu denken – Jari konnte nicht vergessen, dass Kirill und seine Männer hier waren, um bei einem Angriff auf Jaris Kolonie zu helfen und Alpha Abdiel davon abzuhalten, ihn selbst oder Nole zu jagen. Wie sollte er auch? Er dachte praktisch an nichts anderes. Nun, abgesehen davon, offiziell Luccas Gefährte zu werden.

Sie wollten morgen angreifen, aber zunächst hatte Kirill einige Männer vorausgeschickt, um die Kolonie auszuspionieren. Ein Kampf mit Abdiel war riskant für Edrick und seine Männer, selbst mit der Hilfe von Kirill und den seinen. Abdiel mochte ein Mauswandler sein und nicht so erfahren in der Schlacht wie Edricks Rudel, aber es gab Tausende von Mauswandlern, die aus Angst vor Bestrafung durch ihren Alpha gezwungenermaßen in den Kampf ziehen würden.

Abdiel verdiente den Tod. Jari hatte sich seinen Tod jahrelang gewünscht. Der Mann war ein narzisstisches Arschloch, der sich für niemanden in der Kolonie interessierte außer für sich selbst. Jari sollte das wissen. Der Alpha hatte Jari vor über zwanzig Jahren durch Lügen und Manipulation zu seinem heimlichen Geliebten gemacht.

Er war so dumm gewesen, als Abdiel damals anfing, sich für ihn zu interessieren – besonders da es als unmoralisch galt und schlichtweg illegal war, gleichgeschlechtliche Sexualpartner zu haben. Jari hatte keine Ahnung gehabt, dass Alpha Abdiel sich durch die halbe Kolonie fickte. Selbst nachdem er Abdiel beim Fremdgehen erwischt hatte, hatte Jari dem Mann immer noch blind geglaubt, als der ihm versicherte, er und Jari wären Gefährten. Mit neunzehn war Jari zu naiv gewesen, um es besser zu wissen.

Jetzt, da er seinen wahren Gefährten getroffen hatte, konnte Jari kaum glauben, wie dumm er gewesen war. In der ersten Sekunde, als Jari Lucca erblickt hatte, hatte er es gewusst. Er hatte sofort einen Harten gehabt und wäre fast auf der Stelle gekommen, obwohl sich nur wenige Meter entfernt ein Killerkommando aus Wolfswandlern zusammengerottet hatte, um Nole zu töten.

Seine Hand wurde warm, und das riss Jari aus seinen deprimierenden Gedanken. Lucca hatte seine Hand genommen und hielt sie nun. Jari war so perplex über Luccas Bekundung von Zuneigung, dass er von dem Gespräch um sie herum fast nichts mitbekam, während er in die sturmgrauen Augen seines Gefährten sah. So viel Gefühl lag in diesen Augen. Jari wünschte nur, dass Zweifel nicht dazu gehören würden.

„Gut. Sag ihnen, sie sollen den Alpha im Auge behalten. Wir wollen nicht, dass er uns noch durch die Finger schlüpft, wenn wir so kurz davor sind, den Hurensohn auszuschalten“, grollte Edrick und zog seinen Gefährten noch näher an sich. Soweit es Edrick betraf, hatte der Alpha in dem Moment, als er den Auftragsmord an Nole befohlen hatte, sein eigenes Todesurteil unterschrieben.

Das war ein weiterer Grund, warum Jari wusste, dass Lucca ihn nicht als Gefährten wollte. Abdiel hatte Jari jahrelang gequält, dennoch hatte Lucca nicht ein einziges Mal zu erkennen gegeben, dass er Abdiel für seine Verbrechen büßen lassen wollte. Jari konnte sich genauso gut einfach den Tatsachen stellen – für ihn würde es nie einen wahren Gefährten geben. Vielleicht war das die Strafe dafür, dass er Abdiel vor all den Jahren so leicht geglaubt hatte.

„Genau deswegen bin ich hier.“ Der unheilvolle Unterton in Kirills Bemerkung ließ Jari in Erwartung des Schlimmsten den Atem anhalten. „Wie es scheint, weiß die Kolonie, wo wir sind, und plant einen eigenen Angriff.“

Alle Blicke richteten sich sofort auf Jari. Der Vorwurf stand klar im Raum. Was noch schlimmer war, die Wärme von Luccas Hand war verschwunden. Nicht nur, dass Lucca ihn nicht länger berührte, er rückte sogar von ihm ab, als könnte er Jaris Nähe nicht ertragen.

Jari wurde das Herz schwer. Es spielte keine Rolle, dass er nichts damit zu tun hatte, wie Abdiel von ihrem Standort erfahren hatte. Niemand würde ihm glauben. Nach dem, was er Nole angetan hatte, konnte er ihnen das nicht einmal verübeln.

Er hielt es nicht länger aus zu bleiben, wo ihn jeder für einen Verräter hielt, und sprang hastig auf die Füße. Sein Stuhl kippte um und krachte auf den Boden, aber Jari kümmerte sich nicht darum. Er wollte einfach nur raus. „Ich weiß, dass ihr mir nicht glaubt, aber ich hatte keinerlei Kontakt zu meiner Kolonie. Wie sollte ich? Ich durfte kein Telefon benutzen.“

Nicht, dass er es nicht versucht hätte. Die Angst, Abdiel würde seine Familie töten, machte ihn wahnsinnig, und er wollte sie anrufen und warnen, sie zur Flucht drängen. Aber egal, wie sehr er Edrick angefleht hatte, Edrick hatte es ihm verweigert, weil Abdiel auf diese Weise von ihren Plänen erfahren konnte.

Anscheinend hatte es jedoch nicht einmal einen Unterschied gemacht, denn so wie stets wusste Abdiel längst Bescheid. Jari hatte schon immer geschworen, dass der Mann überall seine Augen und Ohren hatte. Sein Alpha hatte stets alles erfahren, was in der Kolonie passierte, selbst die unwichtigsten Dinge. Er hatte zwar keine Ahnung, wie Abdiel erfahren hatte, wo Jari war, aber wieder einmal bewies Alpha Abdiel, wie mächtig er war.

„Wie soll Abdiel uns dann gefunden haben?“, fragte Edrick vorwurfsvoll.

Es hätte ihn eigentlich nicht verletzen dürfen, dass diese Leute ihn für den Schuldigen hielten. Warum also tat es so weh? Er kannte sie kaum, und doch hatte Jari bereits angefangen, sie als Familie zu betrachten. Aber am tiefsten verletzte ihn der Unglaube in Luccas Augen.

Erneut traten ihm Tränen in die Augen und drohten ihm übers Gesicht zu laufen. Jari weigerte sich, seinen Gefährten Zeuge seiner Schwäche werden zu lassen und stürmte aus dem Zimmer. Er rannte zu dem Ort, an den er eindeutig gehörte. In den dunklen, dunklen Keller. Allein.

Kapitel 2

Als er Jari hinausstürmen sah, spürte Lucca Breck einen Schmerz in seiner Brust, der sich ausbreitete, bis er nicht mehr atmen konnte. Nichts war wichtiger, als für die Sicherheit und das Glück seines Gefährten zu sorgen, aber Lucca wusste, dass er versagte.

Er wusste einfach nicht, wie er seinem Gefährten vertrauen sollte.

Nein.

Es ging noch darüber hinaus.

Lucca wusste nicht, wie er überhaupt irgendwem vertrauen sollte, und das schloss auch die vier Männer ein, die seine Freunde waren, seit er noch Windeln getragen hatte. Es hatte im Alter von fünf Jahren begonnen, als Chadwick davon geredet hatte, eines Tages seinen männlichen Gefährten zu finden. Seine Mutter hatte ihnen allen das Versprechen abgerungen, nie auch nur ein einziges Wort darüber fallen zu lassen, dass er Männer bevorzugte. Damals hatte sich etwas in Lucca verändert.

Er hatte angefangen zu begreifen, wie gefährlich es war, jemanden zu nah an sich heranzulassen. Darum war er auch der Letzte gewesen, der zugegeben hatte, schwul zu sein, obwohl er es seit Jahren gewusst hatte. Lucca war einfach nicht fähig gewesen, sich so verwundbar zu machen, nicht einmal vor seinen Freunden.

Jetzt bezahlte er dafür, indem er nicht einmal in der Lage war, an jene eine Person zu glauben, die das Schicksal ganz allein für ihn bestimmt hatte – seinen Gefährten.

„Glaubst du, er hat es geschafft, Abdiel eine Nachricht zukommen zu lassen?“, fragte Edrick.

„Nein.“ Die Antwort kam direkt aus seiner Seele, noch bevor Lucca darüber nachdenken konnte. Erst, als das Wort gesprochen war, begriff Lucca die Bedeutung – dass er Jari doch vertraute. Zumindest dachte er das.

Nur …

Tat er das wirklich?

Ein Teil von ihm wusste, dass Jari keine Nachricht an Abdiel geschickt haben konnte. Er selbst hatte seinen Gefährten von Kopf bis Fuß durchsucht und weder ein Telefon noch irgendeinen Sender gefunden. Bis heute Morgen, als Jari hinuntergegangen war, um Frühstück zu machen, hatte Lucca seinen Gefährten keinen Moment lang aus den Augen gelassen, seit sie ihn aus dem Keller und den Ketten befreit hatte.

Jari hatte Abdiel also gar nicht ihren Standort verraten können. Nur deshalb wusste Lucca, dass Jari nicht getan hatte, was alle dachten. Richtig? Nicht, weil er Jari tatsächlich vertraute.

Nach all den Jahren, in denen er niemandem vertraut hatte, würde es absolut keinen Sinn ergeben, einem Mann zu vertrauen, der gerade erst seinen besten Freund verraten hatte, indem er ein Killerkommando auf dessen Spur geführt hatte. Nein, am besten dachte er überhaupt nicht daran, nicht einmal für eine Sekunde, dass Jari ihn täuschen würde.

„Er hatte überhaupt keine Möglichkeit dazu. Der einzige Zeitpunkt, an dem er allein war, war heute Morgen. Selbst wenn er es geschafft hätte, Abdiel anzurufen, hätte das der Kolonie nicht genug Zeit gegeben, um bereits einen Angriff zu planen.“ Zumindest hoffte er, dass das stimmte. Denn falls Jari sie hinterging, wusste er nicht, was er mit seinem Gefährten tun sollte.

„So wie es aussieht, ist die Kolonie gut bewaffnet und angriffsbereit. Auf keinen Fall hätte Alpha Abdiel das alles erst heute Morgen in die Wege leiten können“, bestätigte Kirill. „Wie auch immer, sie sind unterwegs und werden nach der Einschätzung meiner Männer am Mittag hier sein.“

Erleichterung überwältigte Lucca. Die Angst, dass Jari etwas damit zu tun hatte, löste sich etwas, auch wenn Lucca sich immer noch nicht sicher war, völlig darauf vertrauen zu können, dass Jari nicht irgendwie eine Nachricht an Abdiel geschickt hatte.

Du bist ein Idiot. Du weißt, dass Jari dich nicht hintergangen hat.

Lucca ignorierte die Stimme in seinem Kopf. Er war nicht sicher, warum da etwas in ihm war, das Jari vertraute, aber er würde nicht darauf hören. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass es so etwas wie wahre Loyalität nicht gab. Er war Zeuge geworden, wie Familien sich gegeneinander gewandt hatten – nur wegen der Liebe zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts.

Zur Hölle, sie waren vor ihrem eigenen Rudel geflohen, weil er und Edrick gesehen hatten, wie Kellach von seinem Vater wegen genau dieses „Verbrechens“ verprügelt worden war. Wenn sie Milton nicht gestoppt hätten, hätte er Kellach umgebracht. Der Rest des Rudels hätte Beifall gespendet, denn schwul zu sein, galt in der Welt der Gestaltwandler als ein Verbrechen, das mit dem Tode bestraft wurde.

„Wie viele?“, fragte Edrick Kirill.

„Schätzungsweise zweihundert Mann, bis an die Zähne bewaffnet, inklusive Raketenwerfer.“ Kirill gab Edrick sein Telefon.

Lucca stellte sich neben Edrick. Beim Anblick der Fotos drehte sich ihm der Magen um. Dutzende von abfahrbereiten Fahrzeugen, darin eingeschlossen Armeelastwagen, bis zum Rand gefüllt mit Männern. Aber es waren die Fotos der Männer, die längliche Kisten auf mehrere Lastwagen luden, die Lucca am meisten Angst machten. Das mussten mindestens sechs Raketenwerfer sein.

„Wo zur Hölle hat Abdiel so viele Waffen her?“, fragte Chadwick. „Das sieht aus, als wollte er einen Weltkrieg vom Zaun brechen.“

Lucca wusste, dass es nicht so schwierig war, Waffen zu besorgen, wie viele glaubten. Der Schwarzmarkt war groß. Mit den richtigen Verbindungen und genug Geld war alles möglich. „Wir müssen ihnen außerhalb von Miracle entgegentreten, oder wir haben keine Stadt mehr, nachdem sie hier durchgekommen sind“, sagte er.

Die Gebäude standen ohnehin kaum noch aufrecht. Es würde nicht einmal ein direkter Treffer vonnöten sein, um sie in einen Haufen Trümmer zu verwandeln.

„Was denkt sich Abdiel nur?“, fragte Hudson. „Die Menschen werden es doch merken, wenn er Raketen abschießt und eine Stadt zerstört.“

Lucca zuckte die Achseln. „Diese Stadt ist seit Jahren verlassen. Er könnte einfach sagen, er würde sie abreißen, weil sie eine Gefahr darstellt.“

Das würde leider sogar funktionieren. Nach Luccas Erfahrung wollten die Menschen gar nicht wissen, dass noch andere Wesen existierten. Sie waren narzisstisch genug, um ehrlich zu glauben, sie wären die Einzigen auf dieser Welt.

So wichtig es war, einen Plan zu entwickeln, Lucca war nicht sicher, ob er dabei eine große Hilfe sein konnte, solange er an nichts anderes denken konnte als an Jaris Gesichtsausdruck, als der aus der Küche gestürmt war. Der Drang, nach Jari zu sehen und sicherzugehen, dass es ihm gut ging, trieb ihn aus seinem Stuhl und zur Tür hinaus, selbst als seine Freunde ihm nachriefen und fragten, was er vorhatte.

Lucca machte sich nichts vor. Er wusste, dass er der Grund dafür war, dass Jari so niedergeschlagen wirkte. Auch wenn er nichts gegen die Zweifel tun konnte, die ihn plagten, so musste er doch versuchen, es wieder gut zu machen. Er hatte nur keine Ahnung, wie er das anstellen sollte.

Wenn er doch nur sicher sein könnte, dass Jari ihn nicht hinterging.

Jaris Geruch führte Lucca zur Kellertür. Er hob die Hand, zögerte dann aber, bevor er den Türknauf drehte.

Was zur Hölle sollte er sagen? Tut mir leid, dass ich dir nicht vertraue, aber sicher verstehst du den Grund?

„Gott, ich bin ein solcher Idiot“, flüsterte er.

„Das nicht, aber vielleicht denkst du noch einmal darüber nach, ob du mit Jari reden willst, bevor du ihm noch mehr wehtust.“

Lucca wirbelte herum und sah Nole direkt hinter sich stehen.

„Ich kann es dir nicht verdenken, dass du ihm nicht traust – immerhin bin ich praktisch der Vorsitzende dieses Clubs. Aber ich bin auch nicht sein Gefährte.“ Nole warf ihm einen eindringlichen Blick zu. „Jetzt, da ich meinen wahren Gefährten gefunden habe, muss ich sagen, es überrascht mich sehr, dass es dir so schwer fällt, Jari zu vertrauen.“

Lucca gefiel es gar nicht, daran erinnert zu werden, dass er seinen Gefährten nicht richtig behandelte, und er wehrte sich instinktiv. „Wenn ich mich recht erinnere, bist du vor deinem Gefährten davongerannt, soweit es ging. Eine Minute, nachdem du ihn getroffen hattest.“

Nole nickte. „Das stimmt.“ Dann schmunzelte er. „Aber ich bereute meine Entscheidung schon nach den ersten paar Schritten. Du hingegen kennst Jari nun seit über einer Woche und vertraust ihm noch immer nicht. Ich bin nicht sicher, ob du ihn überhaupt zum Gefährten willst.“

Sämtliche Luft wich aus Luccas Lungen, als Noles Worte ihn trafen. Ein Teil von ihm wollte Jari tatsächlich nicht als Gefährten. Verdammt, wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, dann wollte Lucca überhaupt keinen Gefährten. Es war schon schlimm genug, dass er ewig verfolgt werden würde, weil er schwul war. Er wollte nicht auch noch einen Gefährten in dieses Leben hineinziehen, nur um irgendwann von jenen, die alle Schwulen vom Angesicht der Erde tilgen wollten, eingeholt zu werden und mitansehen zu müssen, wie sie in ihrer Mission Erfolg hatten.

Außerdem war da noch der Umstand, dass Vertrauen grundsätzlich gegen seine Natur sprach. Wie sollte er tagein, tagaus mit jemandem leben, wenn er überzeugt war, dass der Mann ihn eines Tages betrügen würde?

Es war hoffnungslos. Vielleicht sollte er Jari gehen lassen, bevor er seinen Gefährten am Ende noch mehr verletzte.

Aber sobald ihm dieser Gedanke kam, verwarf er ihn auch schon wieder. Er mochte sich keinen Gefährten gewünscht haben, aber jetzt, da er diesen hinreißenden Mann getroffen hatte, wollte Lucca nicht einmal daran denken, ihn nicht jeden Tag sehen zu können. Er wünschte nur, er wüsste, wie er ihm vertrauen sollte, wenn er nicht einmal den Männern vollkommen vertraute, mit denen er sein ganzes Leben lang befreundet war.

„Jari ist eine sanfte Seele. So sehr ich ihn auch hassen möchte für das, was er getan hat …“ Nole seufzte. Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht, dann fuhr er fort: „Ich kann es nicht. Zum Teufel, vielleicht hätte ich unter den Umständen an seiner Stelle das Gleiche getan. Er verdiente nicht, was Alpha Abdiel ihm angetan hat.“

Lucca wusste das. Wirklich. Himmel, wenn Edricks Vater Luccas Familie bedroht hätte, hätte er alles getan, was der Mann von ihm verlangte. Also wie sollte er Jari vorwerfen, was er getan hatte, um seine Familie zu beschützen?

„Genauso wenig verdient er einen Gefährten, der nicht für ihn da ist. Der ihm nicht vertraut. Der ihn nicht bedingungslos liebt.“ Noles Worte trafen Lucca tief. Aber Lucca wusste einfach nicht, ob er zu irgendetwas davon fähig war. „Also überlegst du dir lieber ganz genau, ob du überhaupt einen Gefährten willst oder nicht. Weil ich nämlich nicht zulassen werde, dass du Jari weiter einfach nur hinhältst.“

Lucca konnte ein tiefes Knurren nicht unterdrücken, als er sich vor dieses Ultimatum gestellt sah. Es war auch so schon alles schwer genug, und er konnte nicht gebrauchen, dass Nole alles noch schlimmer machte. „Sag mir nicht, was ich zu tun habe. Jari ist mein Gefährte, und ich behandele ihn so, wie ich es für richtig halte.“

Nole stellte sich direkt vor Lucca hin und antwortete mit einem eigenen Knurren. „Nicht, wenn das bedeutet, dass du ihn noch mehr verletzt, als du bereits getan hast.“

Teilweise war Lucca froh darüber, dass sein Gefährte jemanden hatte, der zu ihm hielt. Vielleicht hatte Nole recht, und Lucca sollte Jari einfach vergessen. Aber nachdem er Jari nun ein wenig kannte, glaubte er nicht, dass ihm das noch möglich war. „Halte dich aus meiner Verpaarung heraus“, warnte er Nole.

„Dann benimm dich so, dass meine Einmischung nicht notwendig ist“, fauchte Nole zurück, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und zurück in die Küche ging.

Lucca starrte wie versteinert die Kellertür an und betete um ein Zeichen, das ihm sagte, was er tun sollte.

„Mach dich fertig, wir brechen in zwanzig Minuten auf“, sagte Edrick von der Küchentür her. Dann warf er einen Blick auf die Tür, die sein Freund immer noch anstarrte. „Angesichts der Tatsache, dass sie Raketenwerfer haben, würde ich nicht empfehlen, Jari hierzulassen. Wir müssen einen sicheren Ort finden, wo wir ihn unterbringen können, bis das hier vorbei ist.“

Luccas Erleichterung, als er diese Anordnung hörte, war enorm. Nun war er gezwungen, an Jaris Tür zu klopfen. Es überraschte ihn selbst, als ihm klar wurde, wie sehr er seinen Gefährten sehen wollte. Ganz zu schweigen von seinem Entsetzen beim bloßen Gedanken daran, dass Jari etwas zustoßen könnte. Langsam wurde es etwas leichter, all diese Gefühle, gegen die er angekämpft hatte, zu akzeptieren.

Sich von seinem Gefährten zu trennen, war keine Option mehr. Es war einfach nicht mehr möglich. Aber wenn er sich nicht von ihm trennte, bedeutete das, er musste einen Weg finden, seinem Gefährten zu vertrauen. Das würde nicht einfach werden. Aber allein die Tatsache, dass er nun wusste, was er zu tun hatte, gab seiner Seele etwas Frieden.

Er nickte Edrick zu, dann öffnete er die Kellertür. Als er sie durchschritt, überkam ihn ein so starkes Gefühl, einen Schritt in seine Zukunft zu tun, dass ihm beinahe die Knie weich wurden. Er war sich vielleicht nicht sicher, wie er dorthin kommen sollte, aber Lucca wusste nun, dass er ein Leben mit Jari wollte.

Kapitel 3

Jari konnte die Tränen nicht länger zurückhalten, nachdem er den Wortwechsel zwischen Lucca und Nole gehört hatte. Nicht einmal das Wissen, dass der Freund, den er verraten hatte, sich für ihn einsetzte, half, den Schmerz in seiner Brust zu lindern – sein eigener Gefährte war nicht sicher, ob er ihn wollte! Sicher, er verdiente das, aber es zu hören tat unfassbar weh.

Er versuchte, die Tränen wegzuwischen, als Lucca die Treppe herunterkam, aber Jari wusste, dass es sinnlos war. Wann immer er weinte, wurde sein Gesicht rot und fleckig. Zudem schwollen seine Augen an und seine Nase lief, was es noch unmöglicher machte, seinen Kummer zu verbergen.

Jari ließ seinen Arm sinken und wartete. Er wusste, dass in Luccas sturmgrauen Augen Enttäuschung zu lesen sein würde, wenn er seinen Gefährten wieder einmal in Tränen aufgelöst vorfand. Jari wünschte sich von ganzem Herzen, nicht so schwach zu sein, aber er war noch nie besonders tapfer gewesen. Nicht wie Nole, der scheinbar in der Lage war, sich jeder Herausforderung zu stellen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Nole hatte sogar an seinem eigenen Gefährten eine medizinische Operation durchgeführt. Jari wäre zusammengebrochen, wäre er in derselben Situation gewesen. Wieso konnte er nicht wenigstens etwas von Noles Courage besitzen? Es war einfach nicht fair.

Kräftige Beine, in enge Jeans gekleidet, kamen auf der Treppe in Sicht. So sehr Jari davor graute, Luccas Enttäuschung zu sehen – er konnte den Blick nicht abwenden. Nicht, wenn es bedeutete, den Anblick dieses herrlichen Körpers zu verpassen, als Lucca auf ihn zukam.

Sein Gefährte war wie ein wandelnder Gott. Mit seiner Größe von über einem Meter neunzig überragte Lucca Jaris mit seinen eins achtundsechzig deutlich. Aber es waren die Muskeln, die Jaris Körper im Vergleich zu Luccas geradezu winzig erscheinen ließen – etwas, das er nie für möglich gehalten hätte, da er wenigstens zehn Kilo Übergewicht hatte.

Jari liebte Essen zu sehr, um nicht alles, was er kochte, selbst ausgiebig zu kosten. Deswegen war er überhaupt erst Koch geworden. Die Küche war der einzige Ort, wo er glücklich war. Essen war sein einziger wahrer Freund. Es war immer für ihn da und ließ ihn nie im Stich.

Jari betrachtete das Sixpack, das deutlich durch Luccas T-Shirt zu sehen war. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, als Luccas breite Brust und muskulöse Arme in Sicht kamen. Was würde er darum geben, seinen Gefährten nur einmal von Kopf bis Fuß abschlecken zu dürfen.

Als sein Blick zu Luccas vollen Lippen wanderte, stockte ihm der Atem. Aber es waren Luccas graue Augen, die Jaris Herz zum Stillstand brachten. Verlangen brannte in ihren Tiefen. Nicht für lange, aber es war definitiv da und gab Jari Hoffnung – etwas, das er nicht oft in seinem Leben empfunden hatte.

„Geht es dir gut?“ Die offenkundige Besorgnis in Luccas Stimme hätte Jari fast dazu gebracht, mit der Wahrheit herauszuplatzen.

Aber im letzten Moment gelang es ihm zu sagen: „Ja.“

Es war offensichtlich, dass Lucca ihm nicht glaubte, aber das war Jari egal. Er würde nicht zugeben, dass er Luccas und Noles Unterhaltung gehört hatte und wusste, dass sein Gefährte ihn nicht wollte. Das war zu demütigend.

Zum Glück nahm Lucca seine Lüge hin. „Wir brechen in zwanzig Minuten auf, und ich muss dich irgendwohin bringen, wo du sicher bist.“

„Ich habe es nicht getan.“ Er bezweifelte, dass Lucca ihm glauben würde, aber er musste es dennoch versuchen. Es war zu wichtig, dass sein Gefährte die Wahrheit kannte. „Ich habe in keinster Weise mit irgendwem außerhalb dieses Hauses kommuniziert.“

Hätte Lucca eines der Messer, die er immer bei sich trug, in Jaris Herz gestoßen, es hätte ihm keinen größeren Schmerz bereiten können, als den Ausdruck der Unsicherheit in diesen grauen Augen zu sehen, von denen Jari gehofft hatte, sie würden ihn eines Tages mit Liebe anschauen. Es war ein törichter Wunsch. Einer, der sich nie erfüllen würde, wie Jari nun wusste.

„Ich weiß.“ Lucca sagte die Worte, aber es war offensichtlich, dass er sie nicht meinte. Nicht wirklich.

Jari wusste, was er zu tun hatte. Er erhob sich von der Pritsche, auf der er saß. Lucca verdiente es, jemanden zu finden, den er lieben konnte. Nicht einen Verlierer, der bewusst seinen besten Freund verraten hatte.

„Ich bin bereit.“ Das war er nicht. Nicht wirklich. Seinen Gefährten zu verlassen, würde ihn wahrscheinlich umbringen, aber das war ein Risiko, das Jari bereit war einzugehen, damit Lucca glücklich werden konnte.

* * * *

Lucca hätte Jari gern mit der Lüge konfrontiert, die nach dessen Antwort eindeutig war, aber es war offensichtlich, dass es seinem Gefährten alles andere als gut ging. Also hielt er den Mund. Lucca hasste, dass sein Gefährte ihn anlog, aber er war andererseits auch nicht bereit zu hören, wie viel Kummer er Jari bereitete.

Sie würden darüber reden müssen, aber jetzt war keine Zeit dazu. Es gab zu viel zu tun, bevor sie aufbrachen. Aber Lucca hatte vor, dieses Gespräch zu führen, wenn er zurückkehrte. Er hoffte nur, dass er dann den Mut fand, sich seinem Gefährten zu öffnen und seine Fehler einzugestehen.

Allein der Gedanke daran trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Lucca hatte sich selbst nie als Feigling betrachtet, bis heute. Aber wenn er ehrlich zu sich war, dann entstammte seine Unfähigkeit, anderen zu vertrauen, seiner tiefen Angst davor, verletzt zu werden. Sein Gefährte hatte die Macht, ihn zu vernichten, und das machte ihm eine Heidenangst.

Lucca schob die trübsinnigen Gedanken zur Seite und ging vor Jari die Treppe hinauf. „Einige von Kirills Männern beziehen Stellung im Umkreis von Miracle für den Fall, dass Abdiels Männer es schaffen, an uns vorbeizukommen. Sie werden sich außerhalb der Stadt verstecken, und ich möchte, dass du bei ihnen bleibst.“

Das war nicht ideal, aber da es keinen Ort gab, wo Jari sicherer war, hatte sich Lucca mit diesem Plan abgefunden. Er betete nur, er würde es nicht bereuen, seinen Gefährten dort zu lassen.

„Überprüf sämtliche Munition, die wir haben“, rief Edrick. Wahrscheinlich war das an Hudson gerichtet, da Lucca im Keller gewesen war. Waffen und Munition waren normalerweise sein Job, und so gern er auch selbst überprüft hätte, dass sie alles hatten, was sie brauchten, musste er zuerst Jari zu Kirills Männern bringen.

Er war nicht sicher, warum, aber das überwältigende Bedürfnis, Jari zu sehen, ließ ihn die Hand seines Gefährten nehmen, während sie das Haus verließen und den Schotterweg zum Camp von Kirills Männern überquerten.

Dort wurden mit alarmierender Eile Zelte abgebrochen und zusammengepackt. Die Geschwindigkeit, mit der das vor sich ging, verriet, wie oft sie schon von Stadt zu Stadt gezogen waren. Es war nicht leicht, in der Welt der Gestaltwandler schwul zu sein. Ganz gleich, wohin sie gingen, überall war jemand, der sie tot sehen wollte.

Als Lucca Kirill entdeckte, der den Männern half, einen der Trucks mit Waffen zu beladen, ging er zu ihm. Je näher der Moment rückte, dass er Jari zurücklassen musste, desto aufgebrachter wurden er und seine innere Katze. Beide hassten es, von ihrem Gefährten getrennt zu sein.

Hätte Lucca geglaubt, irgendeine Chance zu haben, Jari selbst zu beschützen, hätte er seinen Gefährten niemals bei jemand anderem gelassen. Aber er wusste, dass er mit Jari an seiner Seite kein nützlicher Kämpfer wäre. Abdiel hatte Hunderte von Männern, und Lucca konnte sich nicht leisten, abgelenkt zu sein. Selbst zusammen mit Kirills Männern waren sie zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Lucca musste in absoluter Topform sein und sein Bestes geben, wenn sie eine Chance haben wollten, Abdiel zu besiegen.

„Kirill“, rief er, entschlossen, das Richtige zu tun und seinen Gefährten in relativer Sicherheit zu wissen. Nur, warum krampfte sich sein Magen immer mehr zusammen?

„Lucca“, antwortete Kirill, ohne beim Beladen der drei Trucks, die sie mitnehmen wollten, innezuhalten. „Was kann ich für dich tun?“

In der Sekunde, als die Frage gestellt wurde, überkam Lucca Panik. Er wusste, was er zu tun hatte, aber etwas in ihm schrie ihn an, Jari nicht aus den Augen zu lassen. Er kämpfte gegen den Instinkt an und zwang sich, das zu sagen, das er nicht sagen wollte: „Ich würde Jari gern bei den Männern lassen, die du angewiesen hast, hier zu bleiben und Miracle zu bewachen.“

Kirill stellte die große Waffenkiste auf die Ladefläche des Trucks, dann schaute er Lucca und Jari an. Mit einem Nicken sagte der Eisbärwandler: „Ist wahrscheinlich das Beste.“

Lucca hielt sich die Ohren zu, als Kirill einen ohrenzerfetzenden Pfiff ausstieß. „Tevin, Arjun!“, brüllte Kirill.

Die beiden Männer, die auf der anderen Seite des Camps arbeiteten, konnten Kirill offenbar ohne Probleme hören und kamen zu ihnen herüber. „Tevin und Arjun werden die kleine Gruppe Männer anführen, die hier zurückbleibt. Beide sind Sprengfallen-Experten.“

Lucca war weder ganz sicher, was das bedeuten sollte, noch ob er es überhaupt wissen wollte. Als sich die schlanken, stark tätowierten Männer näherten, empfand er einen Anflug von Furcht – ein Gefühl, das er nicht gewohnt war. Es war nicht ihre Körpergröße. Lucca war sich sicher, dass er es mühelos mit beiden aufnehmen könnte. Nein, was ihm Angst einjagte, war der Ausdruck in ihren Augen.

Er war noch nie dem Teufel begegnet, aber falls doch, so hätte der mit Sicherheit denselben irren Blick gehabt wie diese beiden Männer. Als würden sie sich darauf freuen, in eine Schlacht ziehen zu können.

„Was gibt’s?“ Der Mann hatte ein vollständiges Sleeve-Tattoo an einem Arm, das verschiedene Tiere zeigte, wie einen Eisbär, einen Schwarzbär, Fuchs, Wolf, Mungo und eine Katze. Aber die Tätowierungen an seinem anderen Arm waren es, die in Lucca den Drang erweckten, Jari möglichst weit von diesem Mann wegzubringen. Sie zeigten mindestens zehn verschiedene Tiere in einem so heftigen Kampf miteinander, dass abgerissene Körperteile als Waffen benutzt wurden.

Auch Jari musste das aufgefallen sein, denn er trat näher und stellte sich ein wenig hinter Lucca, sodass er halb verdeckt war. Natürlich wollte Lucca nicht, dass sein Gefährte sich fürchtete, aber es gefiel ihm mehr, als er erwartet hätte, dass Jari bei ihm Schutz suchte.

Er griff hinter sich, um Jari berühren zu können, und versuchte, das Gefühl von Frieden zu ignorieren, das ihn dabei überkam. Sie standen kurz davor, in eine Schlacht zu ziehen. Frieden war etwas, das er jetzt nicht empfinden sollte. Doch mit Jari in seinem Arm schien er keine Kontrolle darüber zu haben. Auch war er nicht sicher, ob er es überhaupt anders haben wollte.

„Tevin, Arjun, das sind Lucca und sein Gefährte Jari. Lucca ist Edricks Stellvertreter.“ Kirill deutete auf den Mann mit den Armtattoos, der Lucca an seinem eigenen Verstand zweifeln ließ, weil er erwog, Jari in dessen Obhut zurücklassen. „Lucca, das ist Tevin.“ Dann zeigte Kirill auf den Mann daneben, der sogar noch verrückter aussah als Tevin, falls das überhaupt möglich war. „Und Arjun. Sie werden mit ein paar anderen hierbleiben, um Miracle zu beschützen.“

Ein eindringlicher Blick, der eine Warnung enthielt, wurde auf die beiden Männer gerichtet. „Ich will, dass ihr Jari mit eurem Leben beschützt, während Lucca gegen Abdiel in den Kampf zieht.“

Arjun öffnete den Mund, und der Widerspruch war seiner Miene nur zu deutlich abzulesen, aber bevor er auch nur ein Wort herausbrachte, stieß Tevin ihn in die Rippen und sagte: „Natürlich.“ Er deutete auf das Gebiet, wo sie sich aufgehalten hatten, als Kirill sie gerufen hatte. „Wir richten uns dort drüben ein. Komm einfach zu uns, wenn du so weit bist.“

Selbst als Tevin Arjun bereits wegzog, konnten sie Arjuns Beschwerden hören. „Was zum Henker? Ich bin doch kein Scheiß-Babysitter! Zum Teufel, ich schaffe nicht mal, mich um eine Topfpflanze zu kümmern, ohne dass sie stirbt. Wieso glaubt irgendwer, ich könnte eine Person am Leben halten?“

„Ja, aber die Pflanzen sterben bei dir nur, weil du vergisst, dass sie da sind und dann mit deinen Riesenlatschen drauftrittst. Jari ist keine Pflanze; du wirst ihn schon nicht übersehen“, argumentierte Tevin.

Den Rest des Wortwechsels hörte Lucca nicht mehr, weil die zwei schließlich zu weit weg waren. Jari drängte sich enger an Lucca und flüsterte: „Bitte sag mir, dass du mich nicht bei ihnen zurücklässt.“

Kirill lachte leise. „Keine Bange wegen der beiden. Sie mögen ein bisschen irre im Kopf sein, aber sie wissen, was sie tun.“ Kirill legte seine große, kräftige Hand auf Luccas Schulter. „Jari wird bei ihnen sicher sein, das verspreche ich.“

Lucca hatte keine große Wahl. Er hoffte nur, er würde es nicht bereuen.

Kapitel 4

Von dem Moment an, als sie aufbrachen und Lucca Jari zurückließ, spürte er ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Brust, das nicht wieder nachlassen wollte. Er hatte seinem Gefährten zum Abschied nicht einmal einen Kuss gegeben. Er war ein Arschloch. Das war die einzige Erklärung dafür, dass er einfach so gegangen war.

Was alles noch schlimmer machte, war ein Gefühl dunkler Vorahnung, das ihn seit seiner Entscheidung, Jari zurückzulassen, befallen hatte und stärker wurde, je weiter er sich von ihm entfernte. Er wünschte nur, er wüsste, was die Ursache dafür war.

Es bestand kein Zweifel, dass Jari in Miracle sicherer war, als wenn Lucca ihn mitgenommen hätte. So unstet Tevin und Arjun auch wirkten, war Lucca sicher, dass sie nicht zulassen würden, dass Jari irgendetwas zustieß. Wieso also wurde er das Gefühl nicht los, gerade den größten Fehler seines Lebens gemacht zu haben?

„Alles in Ordnung?“ Edricks Stimme in Luccas Helmfunk riss ihn zurück in die Gegenwart und zu ihrer Mission.

Verdammt, Lucca konnte sich nicht erlauben, abgelenkt zu sein oder in seiner Konzentration nachzulassen. Genau deshalb hatte er schließlich Jari zurückgelassen. „Ja.“

„Ihm wird nichts passieren“, sagte Edrick, als könnte er Luccas Gedanken lesen. Nicht, dass das gerade besonders schwer war. Jeder, der halbwegs bei Verstand war, konnte sehen, dass Lucca mit seinen Gedanken bei seinem Gefährten war.

Wenn er doch nur darauf vertrauen könnte, dass Edrick recht hatte. Aber das flaue Gefühl in seinem Magen sagte ihm etwas anderes. Lucca betete, dass es einfach nur die Nerven waren, die verrücktspielten, weil er nun von seinem Gefährten getrennt war. Leider glaubte er das nicht wirklich.

Zum Glück erreichten sie schon bald den Standort, wo sie planten, Abdiels Männern eine Falle zu stellen, und Lucca musste sich auf etwas anderes konzentrieren als auf den Gefährten, den er zurückgelassen hatte. Sobald sie die Waffen von den Fahrzeugen geladen hatten, machte sich eine Gruppe von ihnen bereit, mit den drei Trucks wieder aufzubrechen. Angeführt von Hudson und Nole, würde ein kleines Kontingent von Männern zur Kolonie fahren und versuchen, Jaris Familie zu befreien.

„Du wirst lebend wieder zurückkehren, hast du mich verstanden?“, sagte Edrick zu Nole, ein tiefes Knurren in seiner Stimme.

Sein Gefährte grinste zu ihm auf. „Als könntest du mich so einfach loswerden.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752133196
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
gestaltwandler romance wandler fantasy gay Roman Abenteuer Fantasy Romance Liebesroman Liebe

Autor

  • Shea Balik (Autor:in)

Shea Balik hatte schon immer eine lebhafte Fantasie und Geschichten in ihrem Kopf. Oft entwickelt sie ihre Geschichten aus der Beobachtung von anderen Menschen und verleiht ihnen ihre eigene Note. Reisen ist einer ihrer bevorzugten Wege, ihrer Leidenschaft für das Leute-Beobachten zu frönen, und wer weiß, wer die zündende Idee für ihr nächstes Buch liefern wird.
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Titel: Dem Feind vergeben