Lade Inhalt...

Der Stilllebenmörder: Psychokrimi

von Lukas Hochholzer (Autor:in) Chris Gilcher (Illustrationen)
256 Seiten

Zusammenfassung

Der stellungslose Lebensmitteltechniker Igor Kowalski fühlt sich schon des Längeren von „denen“ verfolgt und fragt sich zunehmend, wer eigentlich die Macht über seine Gedanken ausübt. Eine innere Stimme treibt ihn zu Taten von grausamer Brutalität.

Ein Ermittler-Duo bestehend aus dem erfahrenen Kommissar Steinhofer und seinem geistig labilen Gefährten Mayer werden zur Klärung der grausamen Mordfälle einberufen, wobei letzterer aber bald auf eigene Faust das Geheimnis der Stillleben, die an jedem Tatort aufgefunden werden, lüften muss – und hierbei selbst die Grenzen seines Verstands erreicht.

Ein beunruhigender Psychokrimi erzählt aus zwei Perspektiven, jener Kowalskis und jener des unbeholfenen Praktikanten Mayer, der sich allmählich im Labyrinth des facettenreichen Falls verirrt. Was ist wahr und was ist falsch, wem kann vertraut werden und wem nicht?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


I. Licht

13. November 1984

 

Kowalski blickte hinauf zum Himmel. In dieser sternenlosen Nacht enttäuschte das pechschwarze Nichts seine erwartungsvollen Augen wie ein leerer Raum, den er nur zu gerne gefüllt hätte. Doch das konnte er nicht. Er war machtlos gegenüber der gewaltigen Größe des Weltalls, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Kowalski blickte auf seine Armbanduhr. Wenigstens der schwache Schein des Mondes war mutig genug, den Himmel zu durchqueren, und das wenige Licht, das er ausstrahlte, reichte aus, Ziffern und Zeiger zu erkennen. Exakt halb elf, auf die Sekunde genau. Seiner Frau Eva hatte er gesagt, dass er noch eine Runde durch den Park spazieren und dann zurückkehren werde. Das war vor etwa vier Stunden. Ob sie sich denn um ihn sorgen würde? Vielleicht. Er beschloss, bald aufzubrechen, auch wenn er die Atmosphäre hier auf der Bank neben dem kleinen Ententeich bei angenehmer Kühle an diesem überraschend warmen Herbsttag mehr als nur beruhigend empfand – nein – er war für den Moment ganz und gar vollkommen, frei von den Ängsten und Problemen, die ihn tagtäglich plagten.

Kowalski war ein stellungsloser Lebensmitteltechniker aus Zattbrunnen, einem Ortsteil von Stegolsberg in Nordrhein-Westfalen. Etwas abseits vom Zentrum in der Nähe der weiten Nadelwälder, für welche die Region bekannt war, befand sich seine Lieblingskneipe, die er in solchen nachdenklichen Phasen nur zu gerne aufsuchte. Doch im Moment genügte ihm der Anblick der Natur, ohne nur einen Finger zu rühren. Manchmal wollte er einfach nur zusehen, die Dinge geschehen lassen und nicht selbst eingreifen. Kowalski fühlte sich in dieser Hinsicht oft frei – frei von »denen«.

Seit etwa einem Jahr begegneten ihm seine Mitmenschen auf eine andere Weise. Sie meinten, er hätte sich verändert, wäre nicht mehr in der Lage, sinnvoll Urteile zu fällen. Kowalski stempelte diese Kommentare als Irrsinn ab, er wusste, dass »sie« hinter ihm her waren. Auch wenn ihm niemand Glauben schenken wollte, er, und nur er, kannte die Wahrheit. Diese musste er verborgen halten, zu hoch das Risiko, dass die Falschen sie erführen.

Kowalski warf einen letzten Blick auf den Teich, bevor er über einen nur schlecht beleuchteten Weg nach Hause gehen wollte. Obwohl er sich selbst Vorwürfe machte, nicht bei Tageslicht spazieren zu gehen, erinnerte er sich daran, dass diese Nacht einzigartig werden würde und alle weltlichen Sorgen für immer nichtig erscheinen ließe. Und auch heute gäbe es nur einen finsteren Weg, den er zu begehen hätte.

Die von den Zweigen der Bäume herabgefallenen Blätter raschelten im schwachen Wind. Ein Schritt nach dem anderen brachte Kowalski näher zu seinem Ziel, doch der Pfad dorthin war nicht ungefährlich. Seine Verfolger waren seine ständigen Begleiter. Auch wenn er sie nicht sehen konnte, spürte er ihre beunruhigende Anwesenheit. Ein Gefühl, das durch seinen ganzen Körper strahlte und seine gesamte Lebenskraft stahl. Doch noch wäre der Kampf unentschieden, versicherte sich Kowalski, als er bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. 

Igor und Eva Kowalski lebten in einer bescheidenden Wohnung im dritten Stock. Sie gehörten zu den wenigen noch verbliebenen Mietern. Die meisten waren weggezogen, da die Stadt das gesamte Viertel niederreißen wollte, damit die örtlichen Immobilienfirmen teure Villen für die Noblesse errichten konnten. Zugegebenermaßen war der Straßenzug, in dem die Kowalskis wohnten, mehr als heruntergekommen, aber das gab den Regierenden lange noch nicht das Recht, über das Schicksal der Bewohner zu entscheiden. Das Ehepaar Kowalski würde bis zum letzten Tag standhaft bleiben und ihr bereits dreißig Jahre altes Heim verteidigen. So dachte zumindest Herr Kowalski. Eva hingegen begegnete ihrem Mann mit gemischten Gefühlen. Die Stadt hatte ihnen und anderen Bewohnern der Wohnhäuser nebenan eine vier- bis fünfstellige Abfindung angeboten, damit sie endlich ihre Wohnungen räumten. Geld, das die beiden dringend brauchen könnten: Igor Kowalski war erst vor kurzem gekündigt worden und lebte von Sozialhilfe, während Eva Kowalski für wenige hundert Mark als Kassiererin in einem sehr beschaulichen Lebensmittelgeschäft angestellt war. Zugleich wollte sie aber wegen ihres guten Herzens nicht die realitätsfernen Hoffnungen ihres Mannes zerschmettern und nickte jedes Mal zustimmend, wenn er von seinen großen Geldträumen schwärmte, die alle Probleme im Nichts auflösen würden.

Das Paar hatte einen Sohn, der in Bonn Philosophie studierte und nur selten seine Eltern besuchen konnte. Er hatte sich mit seinem Vater schwer zerstritten und versuchte daher, den Kontakt mit ihm so weit wie möglich zu vermeiden, auch wenn es bei diesen Besuchen fast nie möglich war. Beim letzten Treffen sagte er seiner Mutter gar unter vier Augen, dass sein Vater nun endgültig den Verstand verloren hätte und so schnell wie möglich eingewiesen werden müsste. Er empfahl ihr, Abstand von ihm zu halten, da er unberechenbar sei und eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Zunächst empfand Eva diesen Rat nur als bösartig und glaubte, dass diese Meinung lediglich auf der Abneigung der beiden zueinander beruhte, doch mit der Zeit stellte sie selbst die seltsamsten Verhaltensweisen bei ihrem Mann fest, die sie noch einmal über diese Aussage nachdenken ließ. Besonders besorgniserregend fand sie seinen Verfolgungswahn, den sie erst einmal nur als Scherz oder kleine Spinnerei abtat. Doch als Igor häufiger todernst mit Kollegen in seiner Lieblingskneipe über dieses Thema sprach und zu Hause oftmals teilnahmslos ins Leere starrte, entwickelte sie selbst etwas Angst vor ihm. Obwohl der Drang, ihm zu helfen, größer als die Furcht vor ihm war, wurde es zunehmend belastender für sie, ihn auf seine Gefühlslage anzusprechen. Oftmals blockierte er ihre Anfragen und lenkte auf ein anderes Gesprächsthema ab. Er wusste wohl selbst, dass mit ihm etwas nicht stimmte, doch er konnte es nicht kontrollieren. Wenn er wieder einen dieser Anfälle hatte und stundenlag durch das Fenster den Straßenverkehr beobachtete, ohne auch nur ein einziges Wort zu sprechen oder eine Miene zu verziehen, wirkte sein Geist auch noch eine Zeit lang danach wie ausgetauscht. Er würde über wilde Verschwörungstheorien reden und nicht mehr Herr seines eigenen Verstandes sein. In diesen Momenten kommunizierte er auch mit »ihnen«, in einer seltsamen, fremden Sprache, die niemand auf der Welt kannte. Erst einmal hatte Eva sich getraut, ihren Mann auf »sie« anzusprechen, doch er konnte sich an nichts mehr erinnern. Er sagte nur, dass er in der Früh plötzlich eingeschlafen und erst am Abend wieder aufgewacht sei.

Als Kowalski an diesem Abend zurückkehrte, blickte ihn seine Frau mit einem Gesichtsausdruck an, der schlicht als eine Mischung aus Verzweiflung und Unverständnis beschrieben werden konnte. Er bemerkte zweifellos ihre innere Unruhe, doch statt das Gespräch zu suchen, ignorierte er sie und verschwand für mehrere Stunden ins Wohnzimmer, um fernzusehen.

»Igor? Igor!«

Eva wartete vergeblich auf nur ein einziges Wort von ihm, doch das Einzige, was sie hörte, war das Knacksen der Dose Bier, die er öffnete, und wie er kurz darauf die Tür hinter sich zuschlug. Sie konnte diese Stille, die jeden Tag die Wohnung heimsuchte, nicht mehr ertragen. Es gab einen Grund, warum sich ihr Mann von jedem Menschen auf dieser Welt abschottete, doch diesen durfte sie nicht erfahren – auch wenn sie innerlich darum bettelte.

Vier Uhr. Kowalski hatte nun schon mehr als fünf Stunden lang ferngesehen – und nicht einmal einen Film, sondern dieselbe zwanzigminütige Werbesendung, die sich immer und immer wiederholte. Dabei ging es ihm gar nicht um den besonders stromsparenden Staubsauger, der angepriesen wurde, sondern um die geheime Botschaft, die »sie« für ihn in der Sendung eingebaut hatten. Er wusste, dass diese Nachricht irgendwo im Flimmern des Bildschirms versteckt war und er sie nur noch finden musste. Kowalski war gewiss niemand, der schon nach kurzer Zeit enttäuscht aufgab – nein, er musste diesen Auftrag erfüllen. Warum? Aus Angst vor »denen« vermutlich, obwohl er sich selbst immer als Auserwählter sah. Nur er sei dazu fähig, die Botschaften zu entschlüsseln.

Und noch einmal. Die Sendung begann wie etliche Male zuvor. Kowalski drehte die Lautstärke auf null herab. Vielleicht könnte er sich so besser konzentrieren, dachte er. Im Raum herrschte nun eine furchterregende Stille, die jeden normalen Menschen in den Wahnsinn getrieben hätte. Kowalski kniete wie ein kleines Kind, das seine Lieblingsserie gebannt aufsaugt, vor dem Fernsehgerät, und starrte mit weit geöffneten Augen auf die Bilder vor ihm. Er war so sehr in dieser Sendung gefangen, dass ihm nicht einmal auffiel, wie die eben noch perfekte Stille von einer leichten Brise, die durch die zwei halbgeöffneten Fenster in das Wohnzimmer schlich, zerstört wurde. Auch das fröhliche Zwitschern der Vögel, die draußen auf den Stromleitungen ihre Lieder sangen, holte ihn nicht aus dieser Welt, zurück, von der er besessen war. Dann folgten noch weitere aufdringliche Geräusche: das störende Rasseln eines Weckers, den Kowalski zuvor auf den Fernsehtisch gestellt hatte, um das wichtigste Ereignis seines Lebens nicht zu versäumen, das konstante Ticken einer Uhr, das laute Brummen einer Kaffeemaschine in der Küche nebenan, die Hupgeräusche der Fahrzeuge auf der Straße draußen, das Prasseln der Regentropfen auf das blecherne Dach der Garagen des Wohnhauses, das Wehen des fast schon sturmartigen Windes und das daraus folgende Flattern der Vorhänge vor den immer noch nicht geschlossenen Fenstern.

Kowalski wachte auf. Er kauerte in einer – einem Fötus gleichen – Position am Boden und blickte verwirrt auf das große schwarze Nichts vor ihm, das sein gesamtes Sichtfeld umfasste. Er drehte sich auf den Rücken und starrte auf die tapezierte Zimmerdecke über ihn. Kowalski hatte eine Vermutung, die sich allerdings erst bestätigte, als er sich zum Sitzen aufrichtete. Er befand sich noch im gleichen Wohnzimmer, aber es war bereits Tag. Seltsam, gerade eben war es noch mitten in der Nacht gewesen und Kowalski hatte die Staubsaugerwerbung im Fernsehen verfolgt. Er wendete seinen Blick nach rechts und erkannte, dass sein rechter Arm auf dem ausgesteckten Stromkabel des Fernsehers lag. Daraus schlussfolgerte er, dass er wohl irgendwann in der Nacht eingeschlafen und auf das Kabel gefallen sein musste, wodurch sich dieses aus der Steckdose gelöst und das Fernsehgerät vom Stromnetz getrennt hatte.

»Bitte, nein … nicht«, murmelte er mit lallender Stimme.

Kowalski vergaß völlig auf diesen äußerst bedeutsamen Termin heute, und im Halbschlaf, in dem er sich noch befand, fiel ihm nichts Besseres ein, als den Fernseher wieder einzuschalten und weiter nach geheimen Zeichen in der Werbung zu suchen. Doch statt besonders leisen Staubsaugern und kräftigen Rabattversprechen für Erstkunden bekamen seine Augen nur ein monotones Testbild zu sehen. Der Sender war richtig, aber er schien nicht den ganzen Tag zu übertragen. Kowalski hämmerte mit seinen Fingern auf den wenigen Knöpfen des Röhrenfernsehers herum, ehe er verzweifelt die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkannte. Er wusste noch immer nicht, welche Botschaften ihm entgangen waren, und würde er nur etwas länger den Werbesendungen zusehen, müsste er alle Rätsel entschlüsseln, da war er sich sicher. Doch das konnte er jetzt nicht mehr. Kowalski zuckte panisch am ganzen Körper. Seine Zähne klapperten vor Nervosität und der Angstschweiß lief ihm über das Gesicht. Er hatte versagt und »sie« würden sich für seine Unfähigkeit rächen. Das glaubte er nicht, das wusste er.

»Nein, nein, bitte!« Abermals, aber dieses Mal noch viel verzweifelter, bettelte er die finsteren Mächte um Gnade an.

Würden sie ihm noch ein einziges Mal verzeihen? Wer weiß. Er musste sich beeilen. Wenn er jetzt noch schnell zur Apotheke ginge und seine Medikamente abholte, könnte er den ganzen restlichen Tag vorm Fernseher verbringen und endlich die Zeichen herausfiltern, wie es von ihm gefordert wurde.

Kowalski durfte auf keinen Fall Zeit verlieren. Er stand auf, wagte einen flüchtigen Blick auf die Uhr und stellte mit Erschrecken fest, dass es bereits fast Mittag war und er den ganzen Vormittag untätig verschlafen hatte. Trotzdem wusste er, dass seine Frau auch erst vor kurzem das Haus verlassen haben musste, da er ja vorhin die Kaffeemaschine gehört hatte und niemand anderes im Haus war – oder doch nicht? Er wusste es nicht. Kowalski holte eine bunte Regenjacke aus dem Kleiderschrank hervor. Er hasste Farben. Beim Verlassen der Wohnung bemerkte er auf einem Kasten einen leeren Zettel und einen Stift. Das hatte wahrscheinlich seine Frau dort hinterlassen. Weshalb, wusste er noch nicht, aber er würde sie vielleicht später fragen.

An diesem Tag verzichtete er sogar auf seine morgendliche Tasse Kaffee, die er nur pur trank. Er hasste Milch und Zucker. Doch er würde es auch so zur Apotheke schaffen, redete er sich selbst ein, während er bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Wenigstens flutete der Regen in Strömen durch die Straßen. Kowalski liebte es, ab und zu im Regen zu stehen und einfach nass zu werden. Er hasste die Sonne. Nur wenn er eine Straße überqueren musste, wagte er es, um sich zu schauen. Sonst fixierte er mit seinem Blick stets den Boden unter ihm. Selbst, als er nach einer gefühlten Ewigkeit die Apotheke erreichte, sprach er die Verkäuferin nur mit gesenktem Blick an. Er wusste nicht einmal, wie sie aussah, obwohl er hier schon seit Monaten seine Medikamente abholte.

Widerwillig kramte er in seiner Hosentasche und reichte ihr ein zerknülltes Stück Papier, auf dem das Rezept gedruckt war. Bei den Mitarbeitern waren Herr Kowalski und sein eigenartiges Auftreten, das ihm selbst aber völlig normal vorkam, alles andere als unbekannt. Sie hatten sich damit abgefunden, ihre Arbeit bei ihm einfach hinter sich zu bringen und zu hoffen, dass er möglichst schnell das Gebäude verlassen würde, denn insgeheim hatten sie alle etwas Angst vor ihm.

»Ziprasidon, zwei Mal täglich 40 Milligramm, Sie kennen das Medikament?«

Wortlos riss er die Tablettenpackung an sich und verstaute sie mit einem lieblosen Handgriff in seiner Jackentasche. So schnell er die Apotheke betreten hatte, verließ er sie auch wieder. Er wollte nur noch nach Hause fliehen, diese gehassten Tabletten schlucken, damit seine Frau endlich Ruhe geben würde, und den restlichen Tag die Werbesendungen im Fernsehen nach Hinweisen untersuchen. In seinen eigenen vier Wänden fühlte er sich wohler als irgendwo anders. Das trifft vielleicht auf viele Leute zu, aber für Kowalski war es der einzige Ort, an dem er sich wohlfühlen konnte. Er hasste die Außenwelt, fremde Menschen und allgemein die gesamte Gesellschaft, da alle bis auf ihn blind waren vor der unerträglichen Wahrheit, die nur Kowalski kannte.

Als Kowalski hektisch durch das verzweigte Straßennetz der Stadt irrte, überkam ihn plötzlich das seltsame Gefühl, in die Straßenbahn, die sich ihm gegenüber einer Haltestelle der Siebzehnerlinie näherte, einsteigen zu müssen. Er wusste zwar, dass diese in die völlig falsche Richtung fuhr und er nicht einmal eine Fahrkarte mit sich führte, doch er konnte diesem spontan aufkommenden Drang nicht widerstehen. Schließlich stieg er in die Bahn ein und rechtfertigte diese Entscheidung damit, dass seine Intuition ihn noch nie betrogen hatte. Möglicherweise wollten »sie« ihm einen wertvollen Hinweis geben, wo er denn zu suchen hätte.

Stotternd und mit den Rädern auf den nassen Schienen quietschend, bewegte sich die Straßenbahn allmählich in Richtung Innenstadt. Neben Kowalski befanden sich in diesem Fahrzeug nicht mehr als drei weitere Personen, die mit gelangweiltem Blick in die unendliche Leere der stickigen Luft in der Straßenbahn starrten. Obwohl er die Anwesenheit ihm unbekannter Leute in der Regel vermied, war es doch von großem Interesse für ihn, ab und zu die typischen Alltagshandlungen, die für jeden anderen selbstverständlich gewesen wären, wie ein Außerirdischer, der die Erdbewohner studierte, zu beobachten. Ein älterer Mann unmittelbar vor ihm befeuchtete beispielsweise alle paar Sekunden seinen Zeigefinger mit der Zunge, um die Zeitung, die er in den Händen hielt, leichter umblättern zu können. Eine junge Frau auf dem Sitz vor ihm mit den Kopfhörern eines Walkmans tappte andererseits im Rhythmus der Musik, die sie hörte, mit dem linken Fuß auf dem Boden. Kowalski war einerseits fasziniert von diesen menschlichen Handlungen, andererseits aber auch verstört, da er sich nicht vorstellen konnte, so ignorant und gleichgültig durch die Welt zu taumeln wie der Großteil der Menschheit.

»Lügner!« Kowalski zuckte mit dem Kopf und stammelte leise bei diesem Ausruf, sodass ihn niemand hörte. Er wusste gar nicht, warum er dies sagte, er konnte es aber auch nicht steuern.

Die Fahrt bis zur nächsten Haltestelle war relativ kurz und Kowalski spürte erneut einen dieser unerklärbaren Dränge, genau hier und nicht irgendwo anders die Straßenbahn zu verlassen. Er wartete ungeduldig auf das Öffnen der Türen und rannte hinaus auf die vielbefahrene Straße vor ihm. Ohne auch nur die Zeit für einen Blick nach links oder rechts zu vergeuden, überquerte er im Eiltempo die Fahrbahn. Dann blieb er kurz stehen und prüfte die Uhrzeit auf seiner Armbanduhr. Exakt dreizehn Uhr. Kowalski bereute es zutiefst, so viel wertvolle Zeit mit sinnlosem Herumfahren verbracht zu haben. Selbstverständlich wollten ihm keine dunklen Kräfte Hinweise geben, sie wären alle nur eine Einbildung. Kowalski wusste von seiner geistigen Störung und er erkannte, dass nur diese Tabletten ihm Abhilfe verschaffen könnten. Wenn er geheilt werden wollte, musste er diese einnehmen, auch wenn sich seine inneren Dämonen dagegen wehrten. Nur er selbst wäre in der Lage, diesen Kampf zu gewinnen.

Kowalski blickte in diesem besonders seltenen Moment der Klarheit ein letztes Mal mit leicht tränenden Augen auf seine Armbanduhr, ehe er wieder in eine Straßenbahn der Siebzehnerlinie stieg – dieses Mal aber zurück in die andere Richtung. Er musste auf schnellstem Wege nach Hause. Nicht um den ganzen Tag Werbesendungen zu verfolgen, sondern um sich selbst und andere zu schützen. Nur zu Hause wäre er für niemanden eine Bedrohung. Kowalski wusste, dass diese Momente, in denen ihn die Symptome seiner Krankheit nicht plagten, oft von nur sehr kurzer Dauer waren und er sie deshalb unbedingt ausnutzen musste. Er sprang noch schnell zwischen die sich bereits schließenden Türen in die Straßenbahn und suchte sich einen freien Platz. Dieses Mal waren viel mehr Personen um ihn herum, doch er analysierte nicht ihre menschlichen Handlungen. Er blieb nur ruhig auf seinem Sitzplatz und versuchte mit größter Anstrengung, sich nicht wieder von den Verführungen seiner Dämonen zum Wahnsinn verleiten zu lassen.

Nach langer Zeit erreichte er schlussendlich seine Wohnung und legte seine Schlüssel auf den Schrank neben der Tür. Er entsann sich, dass seine Frau diesen Morgen einen leeren Zettel und einen Stift auf eben diesem Schrank platziert hatte. Neugierig suchte er das gesamte Möbelstück ab, bis er schließlich in einer Schublade ganz unten fündig wurde. Mit kräftiger Schrift hatte sie das Wort »Omega«, also die Bezeichnung für den letzten Buchstaben des griechischen Alphabets, niedergeschrieben. Kowalski starrte mit konfusem Blick auf das Stück Papier und legte es rasch wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück, da er sowieso nicht daraus schlau werden würde. Die Tabletten stellte er in der Küche ab. Er würde sie erst am Abend einnehmen müssen. Nachdem er noch den Staub vom Fensterbrett abgewischt hatte, wurde er aus dem Nichts von einem starken Hustenanfall übermannt, der ihn in die Knie zwang. Kowalski lehnte sich mit dem linken Arm gegen die Wand und stützte sich mit der rechten Hand am Boden ab, während er verzweifelt nach Luft rang. Wenige Augenblicke später war der Husten verschwunden, doch der Reiz lag immer noch beklemmend im Rachen. Gewiss lag dieser Anfall nicht am Staub, Kowalski war einfach nur erkältet, das regnerische Wetter der letzten Tage hatte Spuren hinterlassen, redete er sich ein. Mit Mühe stand er auf und beschloss, für eine Weile im Fernsehsessel zu entspannen. Nicht, um wieder in die Welt der Werbungen abzutauchen, sondern um einfach nur Ruhe zu finden. Seine geistige Erkrankung setzte Kowalski auch körperlich enorm zu, weswegen er oft Pausen machen musste, auch wenn er für gewöhnlich den ganzen Tag nur im Haus verbrachte.

Immer noch etwas angeschlagen steuerte er auf den Sessel zu, in dessen weichen Pölstern er förmlich versank. Seine Gedanken schweiften von einer Erinnerung zur nächsten, kreisten um Arzttermine und Verpflichtungen, ehe er in einen tiefen Schlaf fiel, von dem er aber nach kürzester Zeit wieder aufwachen sollte. Seine Frau stürmte durch die Wohnungstür, eine Hand hielt sie auf die Stirn ihres schmerzverzogenen Gesichtes. Sie war völlig blass, wirkte unbeschreiblich schlapp und konnte nur mit größter Anstrengung auf beiden Beinen stehen.

»Hilfe, Hi-i-i-…«, krächzte sie mit einem schmerzverzogenen Gesichtsausdruck.

Kowalski sorgte sich um Eva, als er ihren Anblick verarbeitete. Er wollte sie auf ihren Zustand ansprechen, doch sie lallte nur mit letzter Kraft, dass sie von unglaublichen Magenkrämpfen geplagt würde. Kowalski starrte immer noch ahnungslos auf seine Frau, als diese mit krampfartigen Bewegungen zu Boden sank. Gegen Mittag war sie doch noch wie immer zur Arbeit gegangen, wie konnten sich die Beschwerden so rapide entwickeln? Er war ratlos und wollte sich nicht weiter mit ungesicherten Spekulationen belasten, daher entspannte er wieder in seinem Sessel. Doch seine Frau ließ ihn nicht los:

»Du weißt, was du zu tun hast. Du weißt es!«, schrie sie in einem befehlerischen, gar aggressiven Ton, bevor ihre Stimme endgültig versagte.

Kowalski lehnte sich zurück. Der Blick aus dem Fenster, vor dem er den Fernsehsessel ausgerichtet hatte, war atemberaubend. Mittlerweile kämpfte sich schon wieder die Sonne durch die grauen Wolkenfelder und ließ mit ihren Strahlen ein Lichtkonzert am Himmel entstehen. Die Aussicht war so beeindruckend, dass Kowalski gar nicht mehr hätte schlafen können. Seine Müdigkeit verflog und er wurde immer tiefer in das Himmelsblau gezogen. Tiefer und tiefer, nichts anderes war mehr von Bedeutung. Nur diese eine besondere Farbe und das grelle Glitzern der Sonne waren wichtig. Kowalski wurde in einen Bann gezogen, der ihn wie ein Strudel in einem Fluss immer weiter weg von der sicheren Oberfläche bewegte. Die Wolken hatten sich nun vollständig verabschiedet und er war dieser bekannten, aber doch so fremden Dimension ausgesetzt. Eine tiefe Männerstimme sprach aus den Weiten des Himmels heraus und Kowalski lauschte ihren Worten.

»Igor!« Kowalski wollte antworten, doch er konnte es nicht. Seine Gedanken waren in diesem Moment ohne Bedeutung. »Du weißt!«, rief die Stimme, ehe sie in einem Echo verblasste. Und Kowalski wusste. Er wusste alles, was es zu wissen gab und mehr benötigte er nicht.

Kowalski kehrte zurück. Eigentlich waren die Vorhänge vor dem Fenster geschlossen und er hätte nie einen blauen Himmel sehen können, doch diese Realität wurde ihm niemals zuteil. Warum denn auch, seine Wahrnehmung fand auch nicht in der realen, also zumindest nicht in dieser Welt, statt. Kowalski sprang aus seinem Fernsehsessel auf, öffnete schwungvoll die Vorhänge und warf noch einmal einen letzten Blick auf die mächtige Wolkendecke draußen, aus der Fluten von Regenwasser herabstürzten. Schade, im Radio hätten sie für heute wenigstens ein bisschen Sonnenschein vorausgesagt. Kowalski fühlte sich erstaunlich energiegeladen und ging zielstrebig in die Küche, wo er sich einige Stück von seinem Lieblingskäse aufschneiden wollte, um diese dann bei einem gemütlichen Fernsehnachmittag zu verspeisen. Wer weiß, vielleicht gab es das neue Staubsaugermodell bereits zu kaufen? Nachdem er den Käse auf dem Fernsehtisch in zahlreiche kleine Würfel zerteilt hatte, verspürte er starken Durst und wollte sich noch ein Glas Wasser holen. Als er zurückgekehrt war, lag seine Frau blutverschmiert mit einem gewaltig großen Messer in der Brust auf dem Boden. Sie war zweifelsfrei tot. Kowalski ärgerte sich zunächst, dass er über sie hinwegsteigen musste, freute sich aber dann sofort wieder auf das Fernsehproramm. Voller Erwartung wechselte er auf den Werbekanal und blickte mit riesigen Augen auf die Staubsauger, die präsentiert wurden. Tatsächlich war das neueste Modell bereits erhältlich. Er würde sofort dort anrufen und einen Staubsauger bestellen. Den bräuchte er ohnehin, wo er sich doch ab sofort allein um den ganzen Haushalt kümmern müsste. Auf seine hypochondrische Frau konnte er sich ja nicht mehr verlassen.

Während er fasziniert den im Röhrenfernseher flackernden Bildern zusah, fiel ihm etwas ein, das ihm schon viel früher hätte bewusst werden sollen. Er erinnerte sich an die letzte Nacht, in der er fest davon überzeugt war, dass diese seine Augen für immer öffnen und ihn für »sie« endlich bereit machen würde. Kowalski konnte nicht mehr länger die Ankunft von »denen« erwarten, er wusste, dass es nun Zeit war, aber »sie« traten bisher noch nicht in Erscheinung. Derweil hatte er all ihre Anweisungen befolgt, er wollte endlich die Wahrheit empfangen, nach der er schon sein ganzes Leben lang suchte. Kowalski schaltete das Fernsehgerät aus und lenkte seinen Blick auf seine Frau, die regungslos am Boden lag. Sie war von dunkelroten Flecken überzogen. Seltsam, vielleicht hatte sie Rotwein verschüttet. Und warum bewegte sie sich nicht? Vielleicht schlief sie, mutmaßte er. Und das Messer in der Brust? Ein Unfall in der Küche wahrscheinlich. Vielleicht wollte sie Zwiebeln schneiden und hatte, ungeschickt wie sie war, unabsichtlich eine Flasche Wein zerbrochen. Kowalski hatte Verständnis für ihr teilnahmsloses Erscheinungsbild, auch er würde sich recht schlapp fühlen, wenn ein großes Messer seine Brust durchstoßen hätte. Was ihr auch fehlte, er würde sie erst morgen fragen, denn jetzt musste er den geheimen Kräften dienen, um diese nicht zu enttäuschen.

Schon wieder: Kowalski verspürte einen dieser unerklärlichen inneren Dränge, die ihm sagten, was er zu tun hätte. Dieses Mal forderten sie ihn auf, die Wohnung zu verlassen. Es war nicht klar, wohin sie ihn schicken wollten, doch er war sich ziemlich sicher, dass die Reise zu seiner Lieblingskneipe in Stegolsberg führen müsste. Wenn er überhaupt einmal außer Haus ging, dann nur an diesen Ort. Warum also nicht auch heute? Kowalski musste immer gewohnten Mustern folgen, sonst geriet er in Panik. Es würde ihm also keine andere Option übrigbleiben und »sie« wussten das bestimmt auch. Er ließ sich von seiner Intuition leiten und diese war niemals im Unrecht. Er stand auf und wollte noch seine Jacke für draußen holen. Zum Glück war diese in einem monotonen Grau. Als er das Treppenhaus hinabsprintete, wurde er plötzlich wieder durch einen starken Hustenanfall für einige Zeit außer Gefecht gesetzt. Er wusste nicht, ob dies etwas Ernsteres zu bedeuten hatte oder ob ihn einfach nur die Symptome einer Erkältung plagten, doch sich jetzt für Tage im Bett auszukurieren, war undenkbar. Kowalski hatte Pflichten, die er unbedingt erfüllen müsste, wollte er nicht Opfer von »denen« werden.

»Eine Sache habe ich aber noch vergessen. Nicht wahr?«, flüsterte er sich selbst zu. »Die Tabletten, Igor!« Er musste sie jeden Tag nehmen. Kowalski starrte auf die Treppen vor ihm, während er tief in Gedanken versank. Doch er wusste schnell eine Antwort auf die Frage, die er sich selbst gestellt hatte – und diese lautete: Die Medikamente würden ihn zerstören und von innen wie ein Wurm einen Apfel aushöhlen. Er verlöre seine Persönlichkeit und all das, was ihn ausmachte; und noch schrecklicher, er verlöre den Kontakt zu »ihnen«. Diese Nebenwirkungen konnte er unmöglich tolerieren. Er stürmte zurück in die Wohnung und griff nach der noch ungeöffneten Schachtel mit den Tabletten. Anschließend öffnete er das Fenster im Bad und ließ sie durch die kühle Nachtluft in den Rhododendronbüschen, die neben dem Wohnhaus im Garten wucherten, verschwinden. So würde er sie, da war er sich sicher, nie wieder finden – und niemand konnte ihn zwingen, diese noch ein einziges Mal einzunehmen. Kowalski atmete tief durch. Endlich! Endlich fühlte er sich frei. Die Medikamente waren für ihn wie eine gierige Schlange, die sich immer fester und fester um seinen Hals schlang, um ihn schließlich langsam zu töten und dann zu verspeisen. Die Ketten, die den Draht zwischen ihm und »denen« zu schmelzen versuchten, waren gebrochen. Kowalski fühlte sich nicht nur frei, er war auch frei.

»Seht, ich bin euer Diener!«, raunte er »ihnen« zu.

Zuversichtlich lief er die Treppen hinunter, bis er schließlich durch die breite Eingangstür die Vollendung seiner angestrebten Freiheit erreichte. Er warf einen besorgten Blick auf seine Armbanduhr und erkannte, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Seine Lieblingskneipe schloss in einer Stunde ihre Pforten und »sie« hätten auch nur begrenzt Geduld. Er entschuldigte sich gedanklich bei »ihnen« für sein träges Verhalten. Eigentlich hätte er viel gewissenhafter und rascher arbeiten müssen. Er hoffte, dass »sie« ihm noch einmal verzeihen würden. Kowalski startete den Motor seines hellblauen VW Golf I und rollte langsam aus der Mietgarage auf die Straße. Die »Taverne Poseidon«, wie sie so schön und einfallslos hieß, lag nur etwa zehn Fahrminuten entfernt, etwas außerhalb des Ortszentrums in der Nähe der Nadelwälder. Er würde ohnehin nichts trinken, beschloss er, denn er wusste, dass er nur wegen »ihnen« um diese Uhrzeit noch seine geliebte Wohnung verließ und für »ihre« Botschaften völlig empfänglich sein müsste.

Der Verkehr war ungewöhnlich ruhig, normalerweise waren die Straßen auch in der Nacht mit einigen Fahrzeugen gefüllt, doch heute war er der einzige. Selbst, als er auf die Hauptstraße auffuhr, war er allein mit dem Schein der Straßenlaternen – und auch diese waren zu dieser Zeit überflüssig, denn kein einziger Fußgänger bevölkerte den Bürgersteig. Leicht ermüdet erreichte er schlussendlich das Lokal, auf dessen Dach ein enorm großer, beleuchteter Hai angebracht war, dessen Neonröhren immer wieder ausfielen und dann wieder hell erstrahlten. Kowalski parkte sein Fahrzeug neben den anderen. Scheinbar hatte er den letzten Parkplatz erwischt und das bedeutete, dass noch viele Leute in der Kneipe sein müssten. Das verunsicherte ihn ein wenig, da er Menschen überhaupt nicht mehr ertragen konnte. Er konnte ihnen nicht vertrauen und sie würden ihn für wahnsinnig halten. Das ergäbe keine gute Mischung. Kowalski wusste, dass letztere Einschätzung ungerechtfertigt war. Immerhin wusste er als einziger die Wahrheit und er würde sein Wissen heute Nacht mit dem letzten Mosaiksteinchen, das ihm noch bis zur einzigartigen geistigen Vollkommenheit fehlte, vervollständigen – und er wusste zudem die echte Wahrheit und nicht die Lügen, die von machtbesessenen Regierungen verbreitet wurden. 

Er betrat die Kneipe und seine Vermutungen wurden tatsächlich bestätigt. Fast alle Tische waren von Gästen okkupiert, die sich heiter unterhielten. Müde schienen sie bei ihrer unbeschwerten Laune nicht zu werden, es wirkte so, als würde jeder von ihnen noch bis zum Morgengrauen bleiben. Kowalski fand keinen Platz, an dem er weit von den anderen weit genug abgeschottet hätte sein können, also setzte er sich zur Bar und senkte seinen Blick weit nach unten, bevor ihn noch jemand ansprechen könnte. Dieser Plan ging aber nicht auf, denn kurze Zeit später wurde er von einer Kellnerin nach seiner Bestellung gefragt. Da er in den sozialen Normen in gewisser Weise gefangen war, bestellte er ein kleines Bier. Vielleicht würde er mit einem Getränk weniger auffallen, dachte er.

»Schön, dich wieder einmal hier zu sehen, Igor. Igor?« Perplex starrte die Kellnerin auf den stillen Mann vor ihr, der mit einem verrückten und verstörten Blick auf den Tresen starrte, ehe sie fortging. An was dachte er? Und warum war es nicht so gesellig wie sonst? Was war bloß mit ihm geschehen?

Kowalski wagte es trotz aller Ängste und Sorgen, seine Umgebung zu mustern. Er sah einen Haufen ignoranter Arbeitsbienen, die für die Königin, die sie zur Versklavung selbst gewählt hatten, im Alkohol ihre wahren Wünsche, von denen sie glaubten, sie nie erleben zu dürfen, zu ertränken versuchten. Er fixierte seinen Blick so sehr auf die anderen, dass er gar nicht die Stimme der Kellnerin hörte, die ihn auf das Bier, das sie ihm gebracht hatte, aufmerksam machte.

»Igor, hier. Deine Lieblingssorte. Igor?« Abermals versuchte sie, an ihn heranzukommen, doch vergeblich. Er schwieg.

Lustlos schob er ihr ein paar Mark zu und verzichtete auf das Wechselgeld. Er fühlte sich hintergangen – hintergangen und betrogen durch seine eigenen Gedanken. Niemals hätte er hierher kommen dürfen. Es war alles umsonst, nichts von dem, was er glaubte, ergab an diesem Ort Sinn. Wo war denn nun die Erkenntnis? Kowalski verzweifelte, denn er konnte nicht mehr länger warten. In der Aussichtslosigkeit fiel ihm nichts Besseres ein, als sein Gesicht auf das Glas Bier vor sich zu legen, sodass er mit einem Auge fast die kreisrunde Oberfläche des Getränks vor ihm berührte. Er würde nichts davon trinken, denn es mache ihn dumm, den falschen Propheten gegenüber gehorsam, und würde die Tore zu »ihnen« schließen. Alkohol war ein feines Mittel, um die Massen ruhig zu halten, das wusste natürlich auch die Politik, denn sonst wäre er trotz der Gefährlichkeit nicht eine der wenigen legalen Drogen. Ihm war es egal, was andere über seine Ansichten dachten, denn er wusste, dass sie sowieso alle Unrecht hatten.

Kowalski verengte sein Sichtfeld immer mehr auf das Bier, denn er hatte eine gewisse Vorahnung, was nun geschehen würde. Er wurde wie schon so oft zuvor regelrecht von dem, was er sah, aufgesaugt. Seine Gedanken wanderten in die hintersten Winkel seines Kopfes, denn von nun an zählte lediglich die Einheit von allem, was einst war, was ist und was einmal sein wird. Seine Pupillen erweiterten sich ins Unermessliche und er schwebte bereits wieder in dieser einen Welt, die er nur zu gern bis in alle Ewigkeit zu bewohnen begehrte. Doch das war nicht möglich, nur in diesen seltenen Phasen durfte er Einsicht in dieses Universum erhaschen.

»Igor!« Die Stimme rief viel lauter als beim letzten Mal. »Ein letzter Schritt!«

»Wohin?« Zum ersten Mal konnte Kowalski in dieser Dimension sprechen und er war neugierig, was ihn nun erwarten würde.

»Du weißt!« Und er wusste.

Nacht. Er befand sich wieder in seinem VW Golf I, aber nur geistig, das konnte er mit Sicherheit sagen. Der Wagen fuhr von allein. Er rollte mit gemäßigtem Tempo entlang einer abgelegenen Landstraße, die durch einen dichten Wald führte. Kowalski wurde durch eine unbekannte Kraft gegen den Fahrersitz gedrückt, er hatte aber keine Angst, da er all dem, was geschah, vertraute. Das war eine seiner Eigenheiten. Manchmal ließ er die Dinge einfach ihren Lauf nehmen, ohne einzugreifen. Eine Methode, die er sich angewöhnt hatte, um mit seiner Umwelt klarzukommen. Kowalski starrte in die Leere der Nacht, während er allmählich das Auftreten einer Kälte spürte, die in den Wagen drang und ihn wie den Hauch verlorener Seelen umgab. Er wusste nicht, wohin die Reise führte, aber er blieb ruhig. Mit der Zeit drehte er die Heizung an, um der unangenehm niedrigen Temperatur entgegenzuwirken. Er wagte nun erstmals einen genauen Blick durch die Fenster auf die Bäume des Waldes, die links und rechts von der Straße emporstiegen. In ihnen bemerkte er seltsame Schattenkreaturen, die durch die Äste streiften und eine mächtige schwarze Rauchwolke hinterließen. Einige von ihnen wirkten besonders anziehend auf ihn, obwohl ihm völlig bewusst war, dass sie ihn nur zu falschen Entscheidungen locken wollten. Er durfte nicht ihrem Charme unterliegen und musste stattdessen möglichst auf seinen Verstand als einziges vernünftiges Werkzeug seines Geistes vertrauen.

Die Schattengestalten glichen in ihrer Form durchaus Menschen, die vorgaben, auf Kowalskis Seite zu stehen. Anfangs gaben sie harmonische Melodien von sich, aber bald verwandelten sich diese in echte Wörter und Sätze. Sie versuchten, ihn zum Halt zu bringen, doch er dachte sich, schlau genug zu sein, um nicht in diese Falle zu tappen. Egal, wie oft sie probierten, ihn umzustimmen, Kowalski blieb standhaft und fokussierte nur die Fahrbahn vor sich. Mit Erfolg. Durch seine gedankliche Manifestation verschwanden die Schatten allmählich und er kehrte wieder in die vorherige Atmosphäre zurück. Der Spuk sollte aber noch nicht zu Ende sein. Vor ihm verschwanden alle Bäume, sie wurden durch eine eintönige Wiese ersetzt. Die Straße nahm zudem einen unerwarteten Verlauf. Kowalski musste durch eine scharfe Linkskurve lenken, nach der er schließlich einen weiten See direkt am Wegesrand erkannte. Ein Ausläufer dieses Gewässers lief sogar unter der Straße hindurch, weswegen er seine mentale Reise über eine schmale Holzbrücke fortsetzen musste. Die Umgebung war lediglich durch den Schein eines glühend gelbweißen Mondes erleuchtet, der plötzlich am Himmel sichtbar wurde und immer näher zu kommen schien. Für Kowalski war das ein schlechtes Omen, er konzentrierte sich wieder darauf, alle äußeren Reize zu ignorieren. Er musste nur auf der Straße bleiben, um diese Prüfung zu bestehen.

Mittlerweile kehrten die Bäume zurück, der Weg verlief auch wieder kerzengerade, der Mond verschwand, bedauerlicherweise begannen seine Scheinwerfer zu flackern. Er musste sich darauf einstellen, auch ohne jegliche Beleuchtung auf der Straße zu bleiben, sollte das Licht vollständig ausfallen. Kowalski atmete erneut tief durch. Er war entschlossen, diese Situation zu meistern, und er redete sich ständig ein, einfach nur alle Störungen gekonnt zu ignorieren, um diesen Test zu bestehen. In diesem Augenblick meldete sich das Autoradio mit den aktuellen Nachrichten, aber selbst diese brachten ihn vorerst nicht aus der Ruhe. Im nächsten Moment wurde er wieder von den Stimmen der Schatten angegriffen, die nun vom Rücksitz seines Fahrzeugs zu kommen schienen. In Kowalskis Kopf loderte ein Feuer der Nervosität und Furcht auf. Er wusste, dass er diese eingebildeten Reize nur durch die Beherrschung seiner Gedanken vernichten konnte, doch gleichzeitig fühlten sie sich so real an, dass er an seiner Urteilsfähigkeit zweifelte. Die Straße wurde immer enger, sodass lediglich sein eigener Wagen gerade noch Platz hatte. Die Scheinwerfer flackerten ein weiteres Mal, ehe er wieder von einem frostigen Wind angeblasen wurde. Kowalski bremste etwas ab, bevor er eventuell ein Hindernis übersähe. Er sah Kreaturen vor sich herumschwirren, die er aber nicht eindeutig identifizieren konnte. Zu schnell schossen sie vor seinen Augen von einer Seite zur anderen. Kowalski verspürte nun ein starkes Übelkeitsgefühl und Ermüdung, wodurch er gezwungen war, kurz anzuhalten, obwohl er sich der Gefahren bewusst war, die bei Stillstand auf ihn lauerten. Er schloss nur für den Bruchteil einer Sekunde seine Augen, bevor er sich dazu entschied, trotz seines Unwohlseins das Ritual fortzusetzen. Ab hier hielt er seinen Kopf starr, um nur in eine einzige Richtung, nämlich nach vorn, zu blicken. Er konnte sich nicht erlauben, von hinterhältigen Kräften übermannt zu werden, sobald er sich auf ihre Erscheinungsformen konzentrierte.

Das Fahrzeug begann zu stottern. Es plagte sich merklich, in Bewegung zu bleiben. Nach etwa einem halben Kilometer, in dem er nichts Neues vor Augen bekam, wurde er schlussendlich von einer roten Ampel überrascht. Es war dort keine Kreuzung, mitten im Nirgendwo befand sich eine Ampel, die ihn anscheinend zum Halten aufforderte. Er hatte eine Vermutung, die sich mit etwas Wagemut bestätigen ließe. Vielleicht symbolisierte das Stopp-Signal eine letzte Ausweichmöglichkeit, sollte Kowalski trotz aller Bemühungen dennoch nicht die Wahrheit erfahren wollen. Er war sich aber sicher, dass er bereit war, sie zu empfangen, koste es, was es wolle, auch wenn er dafür eventuell zahlreiche Opfer bringen müsste. Er drückte das Gaspedal vollständig durch, schloss seine Augen, um nichts zu sehen und hielt die Hände auf die Ohren, um nichts zu hören. Er hörte trotzdem Schreie. Schreie von verzweifelten Seelen, die anscheinend in der Hölle unvorstellbare Qualen litten. Vor seinem geistigen Auge zeigten sich bizarre Szenen, in denen diese Menschen brutal gehäutet und anschließend in einem kochend heißen Topf mit Wasser langsam und schmerzvoll von ihrem Leid erlöst wurden, nur um kurze Zeit später wieder gepeinigt aufzuwachen, sodass sich dieser Kreislauf wiederholte. Währenddessen prallten auch die Hitzestrahlen dieser Unterwelt auf ihn und er hätte sich am liebsten selbst Kleidung und Haut abgerissen, um diesem unbeschreiblich ungnädigen Zustand zu entfliehen. Das Fahrzeug bremste schließlich abrupt von selbst ab. Kowalski befand sich in diesem Traum noch auf der gleichen Landstraße, doch die Umgebung wirkte eigenartiger Weise um einiges friedlicher. Er litt auch nicht mehr die Qualen, welche vermutlich einen Einblick in die Hölle geben sollten.

Die Straße endete vor ihm. Kowalski schloss wieder die Augen und stellte sich dieses Mal seinen tiefsten Wunsch, sein dringendstes Begehren, vor. Er hoffte, dass dieser nun endlich erfüllt werden könnte – und er wusste, dass es so sein würde. Er wachte auf, sein Sichtfeld bestand wieder aus dem Blick auf das noch nicht getrunkene Bier. Er hob seinen Kopf, aber senkte ihn immer noch so, damit er unmöglich andere Menschen anblicken musste. Seine Augenknochen schmerzten leicht durch den ständigen Druck auf das Bierglas. Für einen kurzen Moment erlaubte er sich, auf den Wirt vor ihm zu spähen, der gerade den Tresen reinigte und ihn mit einer schüttelnden Kopfbewegung bedachte. Kowalski wusste nicht, was er damit meinte, aber er hielt es für besser, sein Verhalten einfach auszublenden. Nachdem die nachfolgenden Minuten ereignislos vergingen, verspürte er aus dem Nichts einen starken Schmerz, der seinen gesamten Kopf durchzog und besonders kräftig in der Mitte seiner Stirn zu fühlen war, an jenem Punkt, den fernöstliche Religionen als »drittes Auge« bezeichneten und als Zugang zur Spiritualität schätzten. Dann, plötzlich – Kowalski hörte eine Stimme. Er wusste nicht, ob die anderen diese auch wahrnehmen konnten, doch er vermutete, dass sie nur zu ihm persönlich sprach. Er hatte wieder eine dieser Eingebungen.

»Igor.«

Das reichte ihm dieses Mal bereits, denn er wusste schon. Kowalski kannte seinen Auftrag, den er und nur er erfüllen könnte. Ja, er wusste es. Kowalski wusste es und er war in seinem Leben noch nie so entschlossen, etwas zu erfüllen, wie zu diesem Zeitpunkt. Er hatte das Talent. Er hatte die Kenntnis. Er hatte die Willenskraft – und nur er hatte den Mut. Kowalski manifestierte die von den hohen Mächten gesandte Pflicht, die ihm in dieser Stunde auferlegt wurde. Er musste die Welt und all ihre unwürdigen Bewohner von den grausamsten und unmenschlichsten Gestalten reinigen, die bisher noch unbekümmert über den Erdball wanderten und ihre Schandtaten verrichteten. Erst dann wäre die Zeit reif für ein Goldenes Zeitalter der Sittlichkeit und des Gehorsams zu den mächtigen Kräften, die mit Entsetzen den Anblick der derzeit herrschenden Zustände ertragen mussten. Das Karussell der Straffreiheit dieser verlorenen Seelen dürfte nicht weiter andere in den Abgrund reißen, den sie mit ihrem Handeln erschaffen hatten. Ja, Kowalski wusste – er würde über sie richten.

Die letzten Auswirkungen dieses Anfalls begannen abzuklingen und er fand sich bald in seinem normalen, gesunden Zustand wieder. Kowalski war zwar bewusst, dass er sich in seiner Lieblingskneipe befand, doch er hatte keine Ahnung, was er dort vorhatte, geschweige denn, wie er überhaupt dorthin gekommen war. In seinem Kopf schwirrten einige Gedanken umher, auf die er aber nicht zugreifen konnte. Er müsste irgendetwas Wichtiges erlebt haben, an das er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Kowalski erkundigte sich nach der Uhrzeit und wurde von der Antwort ziemlich stark entsetzt. Hatte er seine Tabletten bereits genommen? Von denen hätte er eigentlich zwei Stück bereits am Abend zu sich nehmen müssen. Vermutlich hatte er darauf vergessen und wäre wieder in seiner psychotischen Manie gefangen worden, die ihn zu Taten verleitete, über die er keine Kontrolle ausüben konnte. Kowalski atmete noch einmal tief durch und dachte an seine Frau. Sie würde sich angesichts seiner ungewöhnlich langen Abwesenheit bestimmt um ihn sorgen – und da er seine Medizin nicht eingenommen hatte, umso mehr. In diesen Anfällen seiner geistigen Erkrankung war er zu Dingen fähig, von denen nicht einmal er selbst wissen wollte.

Kowalski war müde. Erschöpft blickte er um sich, doch das sollte nicht lang so bleiben. Der Anfall vorhin hatte ihm stark zugesetzt und er fiel rückwärts vom Stuhl und prallte mit voller Wucht auf den Boden. Die Leute um ihn schraken auf und starrten ihn mit verwirrten Gesichtern an.

»Igor!«, rief die Kellnerin von vorher, so laut, dass auch jeder in den letzten Ecken der Kneipe auf Kowalski aufmerksam wurde.

Von einem Moment zum anderen herrschte in dem Lokal Totenstille, sogar die Hintergrundmusik wurde abgeschaltet, um den Fokus auf den liegenden Kowalski zu richten. Die eben noch fröhliche und heitere Atmosphäre verwandelte sich im Bruchteil einer Sekunde in etwa jene Stimmung, die ein Scheintoter am Friedhof verspüren müsste, wenn er soeben in seinem Sarggefängnis aufgewacht wäre. Lange hielt der Ausnahmezustand aber nicht an, die Leute begannen wieder leise zu reden und wendeten sich erneut ihren Freunden zu. Ein Freund von Kowalski, Peter, half dem Gestürzten auf und erkundigte sich nach seinem Befinden. Kowalski schien schnell wieder zu Sinnen gekommen zu sein.

»Igor, was ist passiert? Geht es dir gut?«

»Ja, ja, keine Sorge. Ich bin nur etwas müde vom langen Tag. Alles gut!«, murmelte Kowalski noch leicht benommen.

Peter runzelte die Stirn. »Gut … Wenn du meinst. Du willst nicht zufällig mit uns noch eine Runde Billard spielen, Igor?«

Bevor Kowalski auch nur mit dem Wimpern schlagen konnte, mischte sich der Wirt in das Gespräch ein.

»Lasst ihn nach Hause gehen. Er ist betrunken.«

Kowalski stimmte aus einem anderen Grund zu, es war sowieso schon für seine Verhältnisse viel zu spät, wenngleich er in Wahrheit noch keinen einzigen Tropfen von seinem ersten Bier getrunken hatte.

Er verabschiedete sich noch bei Peter und verließ die Kneipe. Kowalski freute sich auf sein Bett und stieg in seinen Wagen, doch schon hier schien dieser Plan zu scheitern. Er konnte trotz mehrerer Versuche seinen Fahrzeugschlüssel nicht in das Zündschloss stecken. Egal, welche Seite er auch probierte, oder wie oft er kontrollierte, ob er ihn nicht mit dem Haustürschlüssel verwechselt hatte, was nicht der Fall war, konnte er einfach nicht seinen Wagen starten. Kowalski zweifelte bereits an seinem Verstand und stieg aus, um zu überprüfen, ob er nicht das falsche Fahrzeug erwischt hätte. Dem schien aber nicht so zu sein, es war eindeutig sein blauer VW Golf I. Es musste ohnehin sein Wagen gewesen sein, denn sonst hätte er nicht die Fahrzeugtür mit demselben Schlüssel aufsperren können, dämmerte es ihm. Gelassen bleiben, redete er sich ein, während er bereits in einem Meer aus Verzweiflung versank. Kowalski drehte eine Runde um das Fahrzeug, aber es fielen ihm keine Besonderheiten auf, die diesen Umstand logisch begründen könnten. Erst beim zweiten Mal, als er wie ein Verrückter den Wagen umkreiste, bemerkte er eine Ungereimtheit, die ihn aufmerken ließ: Auf dem Kennzeichen stand, statt den üblichen Zahlen- und Buchstabenkombinationen, lediglich das Wort »Erlösung« in Großbuchstaben. Erlösung! Kowalski hatte nun endlich Klarheit in diesem bisher unerklärlichen Fall. Er wusste, was zu tun war.

II. Blut

Eine Ameisenkolonie von unvorstellbarem Ausmaß streifte an diesem frühen Morgen über die morschen Baumstämme, die wild verstreut im Dickicht des Waldes verteilt lagen. Zur gleichen Zeit nutzten die zahlreichen Vögel, die das Leben im Wald durch ihren unbekümmerten Gesang weckten, ihre Flugkünste aus, um sich geschickt von einem Ast zum nächsten zu bewegen. Alle waren heiter und genossen die unbeschwerte Zeit, alle bis auf Kowalski. Die ersten Sonnenstrahlen, die sich vorsichtig einen Weg durch die Vegetation bahnten, hatten ihn geweckt. Er lag völlig durchnässt und orientierungslos im Gestrüpp. Sein gesamter Körper schmerzte und sein Gesicht war von unzähligen Wunden und getrocknetem Blut überdeckt. Die Kleidung war grauenhaft zerfetzt, Kowalski rang nach Luft, während er mehrmals lautstark husten musste. Es fühlte sich an, als hätte man ihm alle Knochen gebrochen. Nur mit äußerster Anstrengung gelang es ihm schließlich, sich aufzusetzen. Zum Aufstehen war er noch viel zu schwach. Sein Kopf verwandelte sich in ein Karussell aus Gedanken, die aber alle nicht erklären konnten, warum er frühmorgens schwer verletzt im Wald lag. Was war geschehen?

Kowalski konzentrierte sich auf den letzten Anhaltspunkt seiner Erinnerung. Wollte er nicht gestern noch in seine Lieblingskneipe gehen? Er entsann sich, dass er etwas in diese Richtung vorhatte, doch er wusste nicht, ob er diesen Plan auch wirklich in die Tat umgesetzt hatte. Wie konnte es nur sein, dass ihm jegliche Erinnerung an diese Nacht fehlte? Kowalski war verzweifelt. Er befürchtete, dass er wieder einen dieser Anfälle hatte, die jedes Mal alle Erinnerungen aus seinem Kopf löschten. Er konnte sich aber nicht erklären, wie es dazu hätte kommen können. Er nahm doch jeden Tag zwei Mal seine Tabletten, um eben diese Anfälle zu verhindern. Seine Frau hätte ihn sicher gestern noch darauf hingewiesen, dass er seine Medikamente nicht vergessen sollte. Seine Frau – was war mit ihr? Sie müsste sich doch schreckliche Sorgen um ihn machen. Als Kowalski über sie nachdachte, fiel ihm auf, dass er sie gestern gar nicht gesehen hatte. Wo war sie bloß? Sie würde es ihm doch sagen, falls sie unterwegs sein sollte.

Er hatte so viele offene Fragen, dass er nur hoffen konnte, dass sich zumindest einige von ihnen bald klären ließen. Dazu musste Kowalski aber fürs Erste aus diesem Wald heraus. Mittlerweile war er wieder stark genug, um aufstehen zu können. Hinter ihm formte sich eine mächtige Staubwolke, die von der verdreckten Kleidung Kowalskis stammte und sich langsam auf dem Abdruck, den er am Boden hinterlassen hatte, niederließ. Unter starken Schmerzen humpelte er über die verwachsene Landschaft, verlor ab und zu das Gleichgewicht und stürzte, ehe er sich wieder in die Höhe zwang. Kowalski wusste nicht, wo er war, geschweige denn, wohin er gehen müsste. Lediglich eine Lichtung in der Ferne schenkte ihm Hoffnung, dass es einen Weg hinaus geben müsste. Währenddessen kämpfte Kowalski innerlich mit dem Hintergedanken, dass er jemanden während seines Anfalls in dieser Nacht verletzt haben könnte. Er wusste, dass er zu allem fähig sei, wenn er nicht seines Geistes Herr war. Vielleicht war er aber auch in den Wald gegangen und irgendwo gestürzt. Kowalski beschloss, diese Theorie fürs Erste für ihn zur Tatsache zu machen, bevor er im Meer des schlechten Gewissens untergehen würde.

Nachdem er sich durch den unwegsamen Forst gekämpft und endlich diese Lichtung, die er ständig anvisiert hatte, erreichte hatte, stand er vor einer Straße. Diese kam ihn mehr als nur bekannt vor und das hatte auch einen einfachen Grund. Kowalski hob seinen Blick und sah seine Lieblingskneipe, in der er gestern vermutlich Gast gewesen war. Nicht nur das, auf den Parkplätzen vor dem Lokal stand allein sein Fahrzeug. Die Kneipe war an diesem Tag geschlossen, die Umgebung wirkte fast gespenstisch. Kowalski wusste nicht, warum sein Wagen dort stand, aber so musste er zumindest nicht nach Hause laufen. Vielleicht würde ihm während der Fahrt einfallen, was letzte Nacht vor sich gegangen war. Er stürmte zu seinem blauen VW Golf I und bemerkte, dass die Türen aus einem unerfindlichen Grund geöffnet waren. In seiner Verwunderung wagte er einen Blick in das Fahrzeuginnere und sah, dass der Schlüssel noch im Zündschloss steckte. Kowalski musste wohl vergessen haben, seinen Schlüssel mitzunehmen und den Wagen abzusperren. Seltsam, er schien in letzter Zeit viele Sachen zu vergessen.

Ein kleiner Trost war es für ihn aber, dass sein Fahrzeug wenigstens nicht gestohlen wurde. Kowalski startete den Motor und fuhr nach Hause. Erst jetzt wurde ihm das Ausmaß seiner Verletzungen bewusst. Sein Körper war von Wunden übersät, einen Blick in den Innenspiegel scheute er, denn er wollte nicht sein entstelltes Gesicht betrachten. Während der Fahrt schossen ihm keine beunruhigenden Gedanken mehr durch den Kopf. Er akzeptierte seinen Zustand und wollte nur mehr wissen, was in dieser Nacht bloß geschehen sein könnte. Vielleicht könnten ihm einiger seiner Freunde weiterhelfen, sollte er wirklich in der Kneipe gewesen sein. Vielleicht war seine Frau schon wieder zu Hause und sie hätte Antworten parat. Was es auch immer war, Kowalski wollte es wissen.

Als er unter den entsetzten Blicken der Leute um ihn herum, die entgeistert auf sein zerlumptes Erscheinungsbild starrten, die Wohnung betrat, wurde er von einem grässlichen Gestank begrüßt, der in jeden abgelegenen Winkel strömte und ihn fast ohnmächtig werden ließ. Es roch verwest, als hätte hier jemand eine Leiche liegen lassen. Dann ging Kowalski ein Licht auf. Er schloss die Tür und bewegte sich Richtung Wohnzimmer, wo seine Vermutung schließlich bestätigt wurde. Nun wusste er, wo seine Frau war. Sie lag leblos mit einem Messer in der Brust auf dem Boden, der Bauch unansehnlich aufgebläht, die Haut leichenblass, stellenweise formten sich violette Flecken. Kowalskis Frau war nun schon länger tot als normal, etwa ein bis zwei Tage, wenn er sich richtig erinnerte. Er wunderte sich, wann sie wieder aufwachen würde. Sie hatte ihm versprochen, ihm bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz zu helfen und nun verharrte sie hier schon längere Zeit so unproduktiv. Kowalski beschloss, seine Zeit nicht weiter mit Ärgern zu verschwenden, er hatte aber auch keine Aufgaben zu erledigen, daher entschied er sich, einen Tag Auszeit zu nehmen und im Fernsehen spannende Werbesendungen zu verfolgen. Zwar wusste er, dass er nicht mehr nach geheimen Zeichen suchen musste, aber dennoch genoss er die Unterhaltung, die ihm diese sich alle zwanzig Minuten wiederholenden Werbungen boten.

Kowalski verbrachte in etwa achtzehn Stunden damit, sich immer wieder die gleiche Staubsaugerwerbung anzusehen, also dieses Mal nicht so lange wie sonst. Es war gegen Mitternacht, als er einen Hauch der Müdigkeit verspürte und das Fernsehgerät abschaltete. Vor ihm war nun nur mehr das nichtssagende Schwarz, das aber trotzdem etwas zu sagen hatte. Schwarz. Sonst nichts. Kein Bild. Kein Ton. Nur die scheinbar unendliche Leere, die Kowalski wie ein Wasserstrudel einsaugte. Sein Sichtfeld begann sich, wie schon so oft, zu verengen, bis er nur mehr dieses Schwarz vor Augen hatte. Die Welt um ihn herum schien für den Moment stehenzubleiben, oder sie hörte auf zu existieren. Das konnte er nicht genau sagen. Aber dennoch wusste er. Kowalski wusste.

»Igor!« Eine kräftige Stimme hallte durch die Dimension, in der er sich befand. »Die Zeit ist reif!«, rief sie, ehe sie wieder im Nichts verstummte.

Kowalski wusste natürlich, was gemeint war. Doch dieses eine Mal wollte er die Gelegenheit ausnutzen und eine riskante Frage an die dunklen Mächte stellen. Er hoffte, dass er sie dadurch nicht bis in alle Ewigkeit verärgern würde.

»Wer bist du?« Kowalski konnte das Echo, das nach diesem Satz durch den schwarzen Raum schallte, in seinem gesamten Körper spüren.

Lange Zeit herrschte Stille. Kowalski bereute, dass er es gewagt hatte, diese dreiste Frage zu stellen, deren Antwort er nicht im Entferntesten würdig war. Er musste »ihnen« dienen, nicht sinnlos seine Neugierde befriedigen.

»Omega!« Die Wucht der Stimme war heftiger und schmerzhafter als alles, was er bisher erlebt hatte. Kowalski kehrte schlagartig aus dieser Welt zurück. Er konnte zwar noch immer das Schwarz sehen, aber auch wieder die Umrisse des Fernsehers, auf den er die ganze Zeit unbewusst sabberte. Er legte sich ergebend auf den Boden. Niemals hätte er erwartet, wie stark die Macht war, die er schon zu oft enttäuscht hatte. Nun musste er handeln, die Zeit war reif, das hatte Omega selbst gesagt. Omega? Kowalski kam dieser Name bekannt vor. Hatte er nicht vor kurzem einen Zettel gefunden, auf den seine Frau genau diesen Namen niedergeschrieben hatte? In ihm stieg ein Misstrauen gegen seine Frau auf. Hatte sie ebenfalls Kontakt mit Omega? Warum hatte sie ihm nichts davon erzählt? Kowalski wusste nicht mehr, was richtig und was falsch war, er zweifelte sein gesamtes Weltbild an. Zwar hatte ihn noch nie etwas so sehr aus der Ruhe gebracht wie das, aber üblicherweise musste er in solchen Momenten einfach nur raus. Raus aus der Wohnung, die ihm mittlerweile wie ein Gefängnis aus zerstörten Hoffnungen und falschen Glaubenssätzen schien – raus in die Freiheit.

Kowalski lief trotz seiner schweren Verletzungen energisch, völlig aus dem geistigen Gleichgewicht gebracht, wie ein Wahnsinniger aus der Wohnung, sprang die Stufen des Treppenhauses hinab, ignorierte die gaffenden Blicke der wenigen anderen, die sich um diese Uhrzeit noch hier aufhielten und stürmte in sein Fahrzeug. Es war mitten in der Nacht, er hätte nirgendwo hinfahren können. Seine Lieblingskneipe hatte Ruhetag. Lediglich die Straße diente ihm als Zufluchtsort seines völlig aus der Ordnung gebrachten Kopfes, der nach Stabilität suchte, wo keine zu finden war. Kowalski fiel nur eine Person ein, die ihm in dieser schweren Krise helfen konnte. Er erinnerte sich an eine Bekannte seiner Frau, bei der er selbst einige Male zu Besuch war, wenn er nach Rat suchte. Sie war eine betagte Frau, die streng christlich lebte und trotz ihres hohen Alters noch sehr aktiv in der lokalen Kirche tätig war und bei zahlreichen Veranstaltungen mithalf. Obwohl Kowalski alles andere als religiös war, fand er doch von Zeit zu Zeit Trost in ihrer sanften und beruhigenden Art. Sie hatte ein Talent, Menschen mit einfachen Worten zu heilen, wo Ärzte bereits aufgegeben hatten. 

Die Frau wohnte nicht weit weg, etwa vier Straßen weiter. Kowalski stellte seinen Wagen in ihrer Einfahrt ab und stieg aus. Es begann zu nieseln. Leicht möglich, dass in dieser Nacht noch ein stürmisches Gewitter aufzog, sollte man den Wetterpropheten der Zeitung Glauben schenken. In diesem Fall wollte er lieber bald zu Hause sein, und die Pflanzen, die am Balkon seiner Wohnung standen, in Sicherheit bringen. Er liebte seine Pflanzen über alles, mehr als jeden Menschen. Kowalski ging über einen Weg aus kreisrunden Steinen, der durch einen prachtvollen Garten führte, Richtung Haustür und klingelte. Auf dem Namensschild der Klingel war ihr Vorname, Rosa, eingetragen. Nun hatte er zumindest auch diese Information, die er bereits vergessen hatte, und konnte sich so unangenehme Situationen ersparen. Kowalski wartete einige Zeit, doch niemand öffnete ihm die Tür. Verständlich, es war bereits ein Uhr in der Nacht und die Frau schlief vermutlich. Dennoch probierte er es ein weiteres Mal und drückte erneut die Klingel. Im selben Augenblick erschrak er, als ein pechschwarzer Vogel gegen die Hauswand prallte. Sollte dies ein schlechtes Omen sein? Er wusste es nicht, aber im Grund sollte er sich sowieso nicht zu sehr auf irreführenden Aberglauben konzentrieren. »Du bist allmächtig, Igor!«, flüsterte er sich selbst zu. Dann ging das Licht im Foyer des Hauses auf und jemand näherte sich der Tür.

Im Schlafanzug, öffnete die alte Dame Kowalski die Tür. Sie wirkte müde und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen auch leicht genervt – verständlich, hatte er sie auch mitten in der Nacht geweckt! Die beiden standen sich eine Weile lang regungslos gegenüber, niemand sagte etwas, niemand rührte auch nur einen Finger. Wie Zinnsoldaten überwachten sie sich gegenseitig; wer es gewagt hätte, sprachlich die Waffe zu ziehen, wäre im nächsten Moment das Opfer gewesen. Wie es der Zufall wollte, geschah in diesem Moment etwas, das die dicke Eisschicht zwischen den beiden endlich schmelzen sollte: Der gleiche schwarze Vogel, der währenddessen im Garten rastete, forderte das Schicksal erneut heraus. Vergeblich, wie sich kurz darauf herausstellen sollte. Er flog hoch in die Lüfte, immer höher und höher, bis die Hauswand für ihn erneut zu einem unüberwindbaren Hindernis wurde. Dies weckte zumindest die alte Dame aus ihrem Halbschlaf. Zornig bahnte sie sich einen Weg an Kowalski vorbei aus dem Haus und fluchte energisch mit jenem Vogel, der doch nur an einigen Orientierungsschwierigkeiten litt. Kowalski staunte nicht schlecht, als er ihre ausfallende Wortwahl vernahm. Sollte sie sich als strenggläubige Christin nicht zurückhaltender ausdrücken? Dies sollte aber, wie sich später herausstellte, nur eine von vielen Überraschungen sein, die er schlichtweg nicht glauben konnte. 

Rosa kehrte, nachdem der Vogel endlich verschwunden war, zum Hauseingang zurück. Sie blickte Kowalski verächtlich an und meinte spöttisch, dass er bei dümmeren Leuten nach Geld betteln sollte. Er war zurecht entsetzt über ihren Charakterwandel. Er hatte sie als gutmütige, herzensliebe Frau in Erinnerung, die immer mit Rat und Tat den Menschen, die Hilfe suchten, zur Seite stand.

»Rosa, weißt du, wer ich bin?« Kowalski konnte nicht glauben, dass er nach all der Zeit bereits aus ihrem Gedächtnis geschwunden sei. Er war von Zeit zu Zeit bei ihr, auch Bekannte von ihm besuchten sie des Öfteren. Zwar hatte er seit knapp vier Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr, doch sie müsste sich zumindest noch an sein Aussehen erinnern.

»Ich rede nicht mit Straßengesindel. Ich kaufe nichts. Geh jetzt!« Die alte Dame zeigte eine Seite, die überhaupt nicht ihrer ehemaligen Art entsprach. Hatte Kowalski sich etwa am Haus geirrt? Nein, unmöglich, er wusste noch genau, wie ihr Haus aussah – der gepflegte Garten, die Figuren auf dem Stiegenaufgang, der grüne Drahtzaun. Alles wie in seiner Erinnerung. Und auch Rosa selbst ähnelte dem Bild aus seinem Gedächtnis, es dürfte sich also auch nicht um jemand anderen handeln, der hier eingezogen sein könnte.

»Wovon redest du? Ich bin Igor. Kennst du mich nicht mehr?«

»Hast du auch einen Nachnamen?«

»Kowalski. Igor Kowalski. Wir haben uns das letzte Mal vor vier Jahren getroffen.«

»Ich weiß weder, wer du bist, noch was du von mir willst. Verschwinde endlich!«

Kowalski konnte nicht glauben, was in diesem Augenblick vor sich ging. Es folgte ein langes Wortgefecht zwischen den beiden, Kowalski wollte die Situation erklären, Rosa blockierte sein Ansuchen anfänglich nur, schlussendlich zersprang aber ein Teil der frostigen Schicht, die sich auf ihrem Herzen gebildet hatte. Sie ließ Kowalski mehr oder minder widerwillig in ihr Haus eintreten, aber nicht ohne an ihm zu zweifeln. Er erblickte flüchtig ein Messer, das sie zu ihrem Schutz aus einer Schublade hervorholte und rasch auf der von ihm abgewandten Seite versteckte. Er fühlte sich zwar nicht von ihr bedroht, doch folgte er ihr mit gemischten Gefühlen und Erwartungen in das Wohnzimmer.

Trotz der späten Stunde setzte sich Rosa mit Kowalski an den Esstisch. Er hielt es für möglich, dass in den turbulenten Wellen, mit denen sie sich ihm zuvor präsentiert hatte, vielleicht noch ein Wassertropfen der Ruhe aus längst vergangenen Zeiten, wie Kowalski sie in Erinnerung hatte, stecken könnte. Doch dieser Funken der Hoffnung erlosch, als sie kurz darauf wieder in ihr abweisendes, menschenfeindliches Verhaltensmuster verfiel und Kowalski als gestörten Obdachlosen diffamierte, der ehrliche Leute wie sie um das letzte Ersparte bringen würde und nur andere zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen wollte. Kowalski war noch immer verwirrt über diese ungeahnte Veränderung ihres Wesens, aber mittlerweile bereits an ihre fortwährenden Beleidigungen gewöhnt. Eigentlich wollte er gar nicht mehr über seinen Kummer sprechen, er genoss nur den Umstand, dass er es nicht zu Hause mit seiner Frau, zu der er das gesamte Vertrauen verloren hatte, aushalten musste, sondern an einem anderen Ort seinem Geist eine Auszeit gönnen konnte. Dafür müsste er nur den gehässigen Monolog der alten Dame ausblenden und sich stattdessen auf etwas anderes konzentrieren. Er durchforstete mit seinen Augen die Räume ihres Hauses, die er von hier aus sehen konnte. Bei dieser Erkundung fand er aber nichts, was sein Interesse geweckt hätte, nur altmodische Einrichtungen und Fotos aus längst vergangenen Zeiten, in denen Rosa sogar noch mit einem Lächeln zu sehen war. Wenn es drinnen nichts Spannendes zu sehen gab, blieb ihm nur die Umgebung draußen zum Betrachten. Er warf also einen Blick, der keine hohen Erwartungen beherbergte, aus dem Fenster in der Wand neben dem Esstisch, an dem er nun schon viel zu lange dem senilen Ärger einer Frau zuhören musste, die selbst nicht mehr wusste, wer sie einst war.

Draußen prallten die zahlreichen Regentropfen mit unbeschreiblicher Kraft auf all das, was sich nicht vor ihrer Wucht in Sicherheit bringen konnte. Die Wassermenge stieg im Verlauf einer einzelnen Minute so rapide an, dass die Aussicht aus dem Fenster schließlich einem Fluss entsprach, der in seinen Fluten alles unter sich begrub. Kowalski konnte seine Augen nicht mehr von diesem Naturschauspiel abwenden. Der monotone Regen, der selbst das Schwarz der Nacht verschluckte, schien ihn in einen unerklärlichen Bann zu ziehen, wie es bereits so oft geschehen war. Er wusste, dass dieses Starren ein Auslöser für die Symptome seiner Krankheit war und versuchte mit aller Kraft, diesem Bann zu entfliehen. Er musste ihm entkommen, denn sonst würde er wieder ohne jegliches Erinnerungsvermögen an einem völlig fremden Ort aufwachen – und während des Anfalls sich und jeden in seinem Umfeld vielleicht in Gefahr bringen. Kowalski stemmte sich mit den Armen fest an der Tischkante ab und probierte, seinen Körper vor der Versuchung, in diesen Fluss einzutauchen, zu bewahren. Die Stimme der Alten verblasste mehr und mehr im Hintergrund. Selbst wenn er ihr hätte zuhören wollen, gelang es ihm nicht. Die Dämonen in seinem Kopf rissen die Macht an sich und wollten ihn in eine andere Dimension transportieren. Dieses Mal fühlte es sich stärker an als jemals zuvor. Kowalski winselte innerlich um Gnade. Er wollte nicht wieder abtauchen, um möglicherweise nie wieder lebend zurückzukehren. Er war zwar nicht gläubig, doch unter diesen Umständen war ihm jeder Weg, sich dem Bann zu entziehen, recht. Kowalski betete zu Gott, er möge ihm vergeben und von dieser Erkrankung heilen. Doch niemand war mehr für ihn da. Er war auf sich allein gestellt. Je länger sich Kowalski widersetzte, desto stärker wurden seine Kopfschmerzen. Ebenso entwickelte sich eine enorme Hitze um ihn herum, als würde er in einem Backofen sitzen und nie wieder herauskommen.

Schlussendlich musste er vor den Kräften kapitulieren. Er konnte nicht mehr. Die höllischen Schmerzen wurden ihm zu viel. Er konnte sie nicht mehr ertragen und ergab sich ihnen. Es wäre ihm in diesem Moment sogar lieber gewesen, zu sterben, als diese Leiden über sich ergehen zu lassen.

»Igor!« Die Stimme schrie noch lauter und kräftiger als letztes Mal. Seine Trommelfelle schienen unter dieser Lautstärke zu zerreißen, zumindest fühlte es sich so an.

»Wehre dich nicht! Du bist uns in aller Ewigkeit unterlegen!« Die Dämonen waren alles andere als erfreut über Kowalskis geistigen Fluchtversuch. Er wusste, dass er sich nicht gegen sie auflehnen durfte. Warum war er so leichtsinnig und startete vor jedem Anfall einen neuen Versuch, ihnen zu entkommen? Es war zwecklos. Er war für immer ihr Sklave und musste ihren Befehlen gehorchen. Niemand war mächtiger als sie, schon gar nicht er. Kowalski war nun, wie schon so oft zuvor, in dieser Dimension, die er erschaffen hatte, gefangen. Zwar sprach in dieser immer die Stimme Omegas, wie er sich selbst nannte, zu ihm, doch die Umgebung, aus der diese ertönte, schien immer wieder zu wechseln. So befand er sich dieses Mal schwebend über den stürmischen Fluten eines Meeres, das sich weit bis zum Horizont erstreckte und sich mit den unzähligen Regentropfen, die aus dem sternenlosen Nachthimmel stammten, zu einer einheitlichen Wassermasse vereinte. Omega war nun schon des Längeren still, sein Schweigen missbrauchte er wohl, um Kowalski noch mehr in Panik zu versetzen, diesen Ort nicht mehr verlassen zu können.

Dann, ein glühend heißer Feuerball bahnte sich einen Weg durch die Regenwolken und ging schließlich mit all seiner Kraft in den Wellen unter. In diesem Augenblick begann Omega wieder mit Kowalski zu sprechen.

»Sieh zu, ich habe die Macht über all deine Gedanken. Du bist mir unterworfen. Ich kann dich zu jeder einzelnen Sekunde kontrollieren und jedes erdenkliche Gefühl in dir hervorrufen. Dein Geist hat mich erschaffen, aber er kann mich nicht mehr zerstören. Ich weiß alles über dich, und ich scheue mich nicht, dieses Wissen auch gegen dich zu nutzen. Mir sind deine frühesten Erinnerungen bekannt, deine Kindheit, deine Jugend, kein einziges Detail bleibt mir verborgen. Ich kenne auch deine Sorgen, deinen Kummer, deine Geheimnisse sowie deine Stärken und Schwächen. Ich bin der Gott, an den du nie glauben wolltest, aber glauben musst, weil ich ein Teil von dir bin. Ich bin das Produkt aus der Erziehung deiner Eltern, dem Umfeld, in dem du aufgewachsen bist und der Menschen, die dir in deinem Leben Leid angetan haben und dich zu dem kranken Mörder machten, der du heute bist. Ich erinnere mich an deinen alkoholkranken Vater, der dich an jedem Abend deiner Kindheit geschlagen und misshandelt hat, und an deine geistig gestörte Mutter, die jeden Fehlschlag ihres eigenen Lebens auf dich projiziert hatte und dich für alle Ewigkeit für etwas schuldig fühlen ließ, das du gar nicht getan hast. Ich wiederhole mich nun – ich werde nicht davor zurückschrecken, diese verdrängten Erlebnisse wieder alle gleichzeitig ans Tageslicht deines Gedächtnisses zu befördern, um dich so sehr zu quälen, dass du dein Leben, das sowieso nur mehr aus Scherben, die von dünnen Fäden zusammengehalten werden, besteht, beenden willst. Glaub mir, du kannst mich nicht besiegen, denn wir sind die gleiche Person, ein Geist, eine Einheit. Was wirst du jetzt tun? Es ist deine Entscheidung, denn ich existiere nicht selbstständig. Wirst du wieder morden, wie früher, als du deine Eltern erlöst hast? Die Leute glaubten, es wären zwei tragische Ereignisse an einem Tag geschehen, doch niemand hätte jemals gedacht, dass du die Fäden hinter diesen Todesfällen gezogen hast. Warum auch? Du warst so jung und unschuldig. Man hatte Mitleid mit dir, du wurdest von einem Tag zum anderen zum Waisenkind. Fühlst du dich nicht schuldig, du Mörder? Deine Eltern hatten selbst kein erfülltes Leben und mit einem Kind wie dir wurden sie sicherlich nicht froh. Mach doch, was du immer schon getan hast. Hol die Messer hervor und ernte Seelen, ich habe Blutdurst!«

Rosa blickte Kowalski verächtlich an. Er lag sabbernd mit dem Kopf auf dem Tisch und schien einige Minuten geschlafen zu haben.

»Was fällt euch Gesindel eigentlich ein, sich zuerst in das Haus einer alten Dame zu betteln und dann hier zu schlafen? Habt ihr denn überhaupt keinen Anstand? Raus, sofort! Ich rufe die Behörden an!«

Kowalski verstand nicht, was sie meinte. Überhaupt verstand er nicht, was sich um ihn abspielte. Wo war er? Wer war diese alte Dame und warum beschimpfte sie ihn und forderte, dass er ihr Haus verlassen müsse? Warum war er eigentlich hier und nicht zu Hause bei seiner Frau? Immer, wenn Kowalski von einem seiner Anfälle zurück in die Realität geschleudert wurde, musste er seine Sinne erst wieder sortieren, an die alte Umgebung anpassen und seine Wahrnehmung für das, was tatsächlich existierte und nicht ein Produkt seiner Dämonen war, schärfen. Langsam kehrte er in die reale Welt zurück, überraschenderweise kehrten auch die Fähigkeiten seines Gedächtnisses zurück, was nicht selbstverständlich war, da ein solcher Anfall in der Regel eine gravierende Lücke in seiner Erinnerung hinterließ. Doch heute schien der Übergang sanft zu verlaufen, obwohl er die Erfahrung vorhin als ziemlich heftig bewerten würde. Lediglich ein leichtes Glühen verspürte er in seinem Kopf, das nach dem Anfall andauerte, vergleichbar mit der Glut eines Lagerfeuers, das noch lange nach seinem Erlöschen Funken sprüht und Wärme ausstrahlt. Dieses Glühen wirkte sich negativ auf seine kognitive Leistung aus. Er konnte nur mehr in einfachen Sachverhalten denken und nahm die Welt wie eine Kamera wahr, die einen Film aufnahm. Er selbst beobachtete passiv das Geschehen von außen.

Rosa, an die er sich mittlerweile wieder entsann, fuchtelte wild mit den Armen und wiederholte ihre Forderung, er solle ihr Haus verlassen. Kowalski wollte das nicht. Omega hatte ihn nicht umsonst hierher geschickt. Er wusste, dass es hier eine Aufgabe für ihn zu erfüllen gab und er würde nicht eher gehen, ehe er nicht dieses Ziel erreicht hätte. Er hatte bereits einen recht simplen Plan, wie er die Dame hinters Licht führen könnte. Kowalski stand auf, verabschiedete sich höflich bei Rosa, die als Reaktion nur genervt den Kopf schüttelte, und ging in Richtung Foyer, durch das er das Haus ursprünglich betreten hatte.

Die alte Dame schlug die Tür, nachdem er ihr Heim verlassen hatte, energisch zu und ließ Kowalski im bitterkalten Regen frieren. Dass dies nur vorübergehend sein sollte, wusste er. Er harrte einige Zeit draußen aus, bevor er durch den Garten zur Veranda ging und durch die offene Schiebetür, die er vorhin bemerkt hatte, zurück ins Haus schlich. Kowalski hoffte, dass sich Rosa mittlerweile wieder schlafen gelegt hätte. Zur Erfüllung von Omegas Forderung musste er zuerst allein in Ruhe handeln. Er musterte das Wohnzimmer und schließlich auch die anderen Räume, die er noch nicht gesehen hatte. In diesen fand er aber nichts Brauchbares, das ihm vielleicht bei seinem Vorhaben geholfen hätte – lediglich verstaubte Kartons, in denen Rosa antiquiertes Gerümpel lagerte. Kowalski kehrte zurück zum Esstisch, an dem er vorhin mit ihr gesessen war. Ziemlich mittig auf dem Möbelstück befand sich eine vergoldete Armbanduhr, die ihm noch nicht aufgefallen war. Er nahm sie in die Hand und bewunderte ihre detailreichen Verzierungen und die sorgfältige Ausarbeitung. Kowalski hatte eine Idee. Er wollte Rosa ein letztes Mal von ihm überzeugen und ihr sein künstlerisches Talent präsentieren. Tatsächlich war er lange Zeit als Maler tätig. Mittlerweile fertigte er zwar nicht mehr in der Häufigkeit von früher Werke an, trotzdem genoss er es, seinem Geist Freiheit zu verschaffen und die unterschiedlichsten Beobachtungen und Eindrücke in ihren Eigenheiten farblich festzuhalten.

Kowalski warf noch einen bewussten Blick auf die Uhr. In ihm stieg eine zunehmende Sicherheit auf, dass er genau dieses Objekt verewigen wollte. Er hatte vor, das fertige Bild Rosa zu zeigen, um ihre Abneigung gegen ihn zu schwächen. Kowalski wollte ein Stillleben anfertigen, doch er hatte keine Farben. Er grübelte, von wo er welche beschaffen könnte, bis sich wieder eine Stimme in seinem Kopf meldete. Es war Omega, der nun scheinbar ständig zu ihm sprechen konnte, auch wenn sich Kowalski nicht in seiner Dimension befand.

»Die Farbe, die du suchst, fließt durch deine Venen.«

Kurz darauf versank Omega wieder in Schweigen. Er hätte aber ohnehin nicht mehr sagen müssen, denn seine Anweisung war offensichtlich genug. Kowalski musste sich selbst verletzten und sein eigenes Blut verwenden, um sein Kunstwerk anzufertigen. Wollte er das wirklich? Nein. Aber Omega wollte es, also hatte er keine Wahl.

Er ging in die Küche und suchte in der Schublade, in dem das Besteck lag, nach dem schärfsten Messer, das er nur finden konnte. Kowalski stellte sich vor eine Wand im Wohnzimmer und legte das Messer an seinen linken Unterarm. Er zitterte, doch Omega ließ ihm keine Zeit, sich vorzubereiten. Er musste es hinter sich bringen. Kowalski schnitt sich kräftig in den Arm. Wegen der starken Schmerzen verkrampfte er sich, doch er musste leise sein, denn sonst würde er Rosa aufwecken. Das Blut strömte aus der Wunde und lief über seinen Arm zum Ellbogen, wo es schließlich langsam zu Boden tropfte. Kowalski war höllischen Schmerzen ausgesetzt. Das Messer lag noch immer auf seinem Arm auf, aber Omega war wohl noch nicht zufrieden. Er sprach wieder zu ihm, dieses Mal aggressiv und ungeduldig. Omega forderte ihn auf, das Messer noch einmal in die Wunde zu rammen. Kowalski winselte innerlich um Gnade, doch diese wurde ihm nicht erteilt. Er konnte es nicht. Das wäre verrückt. Er würde sich selbst töten. Was hätte das für einen Sinn?

Omega ließ nicht lange mit seinen Strafen warten. Kowalski widersetzte sich seinen Befehlen, also musste er leiden. In seinem Kopf entfachte sich ein Schmerz, der noch stärker war als jener der Armverletzung. Kowalski begann zu taumeln. Er ergab sich der Macht seines Gottes und folgte seiner Aufforderung. Kowalski stach das Messer noch tiefer hinein und schnitt anschließend seinen gesamten Unterarm auf, bevor er das Messer mit letzter Kraft herauszog und auf den Boden fallen ließ. Er wünschte sich den Tod, ehe er diese Schmerzen ertragen müsste, aber Omega ließ das nicht zu. Kowalski lag am Boden, sein Sichtfeld verengt von schwarzen Flecken. Er müsste wohl bald bewusstlos werden. Sein Arm pochte, er konnte seinen Puls durch den ganzen Körper spüren. Mit jedem Herzschlag sprudelte mehr Blut aus der Wunde. Es floss wie ein ungezähmter Wildbach aus ihm heraus und bildete einen dunkelroten See am Boden. Kowalski konnte kein Stillleben mehr anfertigen. Er war sich eigentlich nicht mehr sicher, ob er diese Selbstverstümmelung überhaupt überleben würde. Omega meldete sich erneut in seinem Geist. Er war enttäuscht über Kowalskis Schwäche und überlegte, ob er ihn dafür innerlich quälen sollte. Omega lachte diabolisch, verstummte dann aber wieder für einige Zeit und entschied sich, Kowalski in Ruhe zu lassen, wenn er ihm endlich ein Opfer bringen würde. Dieser fragte nach, wen er meinte und Omega meinte nur spöttisch, dass es doch sowieso offensichtlich wäre. Kowalski wusste. Er wusste es nun wirklich.

Erneut zog ein stechender Schmerz durch seinen Kopf. Omega gefiel es nicht, dass er nichtsnutzig am Boden winselte. Er wollte sein Opfer, jetzt. Kowalski griff nach einem Stück Stoff, das sich auf dem Wohnzimmertisch befand, und drückte mit diesem seine Wunden provisorisch ab, um den Blutverlust zu verringern. Anschließend robbte er zur Wand, die neben dem Treppenhaus, das zum Schlafzimmer hinaufführte, lag. Dort presste er seinen Rücken mühevoll gegen die Wand, um sich anschließend langsam und schmerzvoll hinaufzukämpfen. Er wäre zu schwach gewesen, sich direkt vom Boden aus aufzurichten. Kowalski bewegte sich entlang der Wand, indem er sich immer wieder leicht zur Seite fallen ließ und sich dann wieder gerade positionierte. Nach einigen mehr oder minder erfolgreichen Versuchen gelang es ihm, auf die andere Seite der Wand zu kommen, wo ihm schließlich die Mächtigkeit der langen Treppe den Atem raubte. Wie sollte er bloß dieses Hindernis bezwingen? Er konnte nur mit Mühe aufrecht stehen, sein Arm pulsierte vor Schmerz und das Blut rann ungebremst durch den Stoff, den er fest mit seiner Hand gegen seinen Unterarm presste. Kowalski atmete mühsam. Der Schweiß rann aus allen Poren über das Gesicht. Seine Augen fühlten sich an, als würden sie jeden Moment aus dem Kopf fallen. Ihn übermannte ein starkes Gefühl der Müdigkeit und Erschöpfung. Die Verletzungen, auch jene der letzten Nacht, hatten ihm bereits schwer zugesetzt, und die zusätzliche Bewegung schien ihn an dieser Stelle endgültig zu Fall zu bringen. Er überlegte, ob er loslassen sollte. Kowalski beugte sich aus Überanstrengung nach vorne. Seine Knie zitterten und wurden noch schwächer als zuvor. Wenn er jetzt aufgäbe, wäre er all seine Probleme los. Denn Omega war ein Teil von ihm, und wenn Kowalskis Leben endete, so ging auch sein brutaler Gott ins Nichts auf. Kowalski hustete stark. Er verspürte ein beklemmendes Gefühl im Hals, als würde er gleich ersticken. In seinen Ohren entwickelte sich ein Druckgefühl, wodurch er die wenigen Geräusche um ihn herum nur mehr dumpf wahrnahm. Seine Sicht wurde unscharf, bis er nicht einmal mehr das Teppichmuster, auf welches er unmittelbar starrte, erkennen konnte. Kowalski kapitulierte. Niemand konnte dies noch aufhalten, weder er noch Omega. Sie beide würden sich nun auflösen und Kowalskis Seele wäre endlich frei. All seine Dämonen, seine schrecklichen Erinnerungen, die traumatischen Erlebnisse, seine Zukunftssorgen und vieles mehr, würden von einer Sekunde zur nächsten wie Papier von Feuer zerstört werden. Sie wären zwar für andere noch bekannt, aber ungefährlich, so wie man auf Asche keinen Brief mehr schreiben konnte.

Kowalski holte noch ein letztes Mal tief Luft und entfernte den Stoff von seinem linken Arm, um sicher zu verbluten, bevor er sich schlussendlich der Schwerkraft ergab und laut auf dem Boden aufschlug. Es war vorbei, es war geschafft. Kowalski wusste das.

III. Opfer

Kommissar Steinhofer trank einen kräftigen Schluck seines morgendlichen Kaffees, als er lustlos den Bericht über einen Fall der gestrigen Nacht auf der Schreibmaschine in seinem Büro verfasste. Mit jedem monotonen Klickgeräusch der Tasten, auf die er in einem gleichmäßigen Rhythmus mit seinen Zeigefingern schlug, schlossen sich seine Augen vor Müdigkeit und Langeweile immer mehr und mehr, obwohl er erst vor einer Stunde aufgestanden war. Mittlerweile war er bereits dermaßen an solche schockierende Vorfälle gewöhnt, dass die Buchstaben auf dem Blatt Papier für ihn in ein eintöniges Konglomerat aus in ihren Einzelheiten bedeutungslosen Zeichen verschmolzen. Steinhofer griff erneut zur Tasse, ehe er das beschriebene Blatt herauszog und ein neues hastig in die Schreibmaschine einspannte. Wieder begann sich dieses Stück für Stück mit Wörtern zu füllen, die er als Teil seiner Anstellung schreiben musste, die aber wohl nie von Wichtigkeit sein würden.

Absatz für Absatz entstand, ehe er bemerkte, dass die Buchstaben immer blasser wurden, bis die Schreibmaschine nur noch Luft auf das Papier druckte. Steinhofer musste das Farbband wechseln, um an seinem Bericht weiterschreiben zu können, doch das hatte noch Zeit. Er entschloss sich, eine kurze Pause einzulegen und sich mit seinen Kollegen zu unterhalten. Er nahm seine Schlüssel, sperrte das Büro ab und ging in Richtung Freizeitraum. Steinhofer blickte verdutzt auf die anderen Mitarbeiter, die sich dort eingefunden hatten. Auch sie schlürften fleißig an ihren Kaffeebechern, wirkten aber allesamt glücklich und motiviert für den heutigen Arbeitstag. Steinhofer konnte bei diesem Anblick ein kleines Grinsen nicht zurückhalten. Er wusste, dass der anfängliche Tatendrang und die Begeisterung, hier arbeiten zu dürfen, über die Jahre im Sand der nicht vorhandenen Abwechslung und der ständigen Pflichten verlaufen würden. Steinhofer war auch durchwegs berechtigt, eine solche Ansicht zu vertreten, diente er nicht selber schon seit zweiundzwanzig Jahren der Kriminalpolizei, und ertrug er nicht auch das Leid, an einen so farblosen Beruf gefesselt zu sein, da man ihm in seinem fortgeschrittenen Alter keine Möglichkeit mehr gab, noch in einen anderen Bereich zu wechseln. Steinhofer seufzte, er konnte sowieso nichts mehr ändern, und setzte sich auf eine Bank zu zwei anderen Kollegen, die über eben jenen Fall diskutierten, über den er einen Bericht schreiben sollte.

Steinhofer war nicht sonderlich daran interessiert und schnappte nur schweigend einige Wortfetzen auf, um sich einen groben Überblick zu verschaffen. Er wusste den grundsätzlichen Tathergang, wollte sich aber noch inspirieren lassen, um seinem Bericht einen passenden Schluss zu verleihen, der weder nichtssagend, noch zu detailliert war, um jemand anderen zu Nachforschungen über den Wahrheitsgehalt des Berichts zu verleiten. Steinhofer blieb solange mehr oder minder aufmerksam bis das Allerwichtigste erzählt worden war, verabschiedete sich wieder von seinen Kollegen und verließ den Raum. Nicht um zu seiner Arbeit zurückzukehren, sondern um das Gebäude zu verlassen und sich als Belohnung für die bisher erbrachte Leistung eine Zigarette anzuzünden. Sein neuer Begleiter bei Einsätzen, Praktikant Mayer, erblickte die zu Boden fallende Asche, die an diesem kühlen Novembermorgen vom Wind verstreut in alle erdenklichen Richtungen rieselte und sprach seinen Kollegen belehrend an, er solle nicht seine Lunge schädigen, sondern lieber an dem Bericht arbeiten. Obwohl sich die beiden eigentlich gut verstanden, gipfelten ihre hitzigen Debatten um die Arbeitsmoral von Zeit zu Zeit in heftigen Wortgefechten, aus denen aber schlussendlich niemand einen Nutzen zog. Steinhofer antwortete schnippisch, seine Schreibmaschine stehe erwartungsfreudig in seinem Büro und die Schlüssel zum Aufsperren der Tür könnte er ihm geben. Mayer schüttelte leicht den Kopf, atmete tief durch und griff nach den Schlüsseln, die sein Kollege bereits mit einem breiten Grinsen in die Höhe hielt. Er genoss es, jemanden zu haben, der seine Arbeit für ihn erledigen konnte, was nur möglich war, da beide in ihrem Rang nicht weiter voneinander entfernt hätten sein können. Steinhofer musste selbst, als er hier anfing, die ungeliebten Pflichten seiner Vorgesetzten erfüllen, warum sollte er diese Tradition nicht fortsetzen, jetzt wo er an fast oberster Stelle war?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752125771
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Psychothriller inkompetent dummer Ermittler Serienmörder Krimi Deutschland Psychopath Wahnvorstellung Regionalkrimi Nordrhein-Westfalen Weihnachten Humor Krimi Ermittler Thriller Spannung

Autoren

  • Lukas Hochholzer (Autor:in)

  • Chris Gilcher (Illustrationen)

Der 2002 in Stadl-Paura (Oberösterreich) geborene Autor Lukas Hochholzer entdeckte bereits in jungen Jahren seine Liebe zum Schreiben. Nach einigen beim Internationalen Kinder- und Jugendbuchwettbewerb in Schwanenstadt ausgezeichneten Kinderbüchern widmete er sich 2017 seinem ersten Romanprojekt „Der Untergang von Florenz“. Besonderen Schwerpunkt legt er hierbei auf die Erarbeitung und Beschreibung psychischer Entgleisungen der Hauptfiguren.
Zurück

Titel: Der Stilllebenmörder: Psychokrimi