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Transport 2: Todesflut

von Phillip P. Peterson (Autor:in)
350 Seiten
Reihe: Transport, Band 2

Zusammenfassung

Wer wird leben? Wer wird sterben? Russell und die anderen Überlebenden des Transporter-Projekts haben zusammen mit einer Gruppe verschollener Soldaten und Wissenschaftler eine Kolonie auf dem Planeten New California gegründet. Nach langen Jahren harter Arbeit blicken die unfreiwilligen Kolonisten endlich wieder hoffnungsvoll in die Zukunft. Aber sie ahnen nicht, dass auf ihrer neuen Heimat eine tödliche Bedrohung auf die Siedler wartet. Als die Menschen die herannahende Gefahr bemerken, ist es fast zu spät und Russell muss im Angesicht des Todes um das Überleben seiner Familie kämpfen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

 

Rückblick: vor zwanzig Jahren

 

»Private Penwill, wie ist die Lage? Wie lange werden wir mit unseren Vorräten noch überleben?«

Die schmächtige Soldatin blickte kurz von den Papieren auf ihrem Schreibtisch auf und salutierte knapp. Ihre vortretenden Wangenknochen und ihre dünnen Ärmchen erweckten immer den Eindruck, als leide die Lagermeisterin unter einer Ernährungsstörung, aber Captain Marlene Wolfe wusste, dass ihre Untergebene mit einem gesunden Appetit gesegnet war. Tatsächlich vermutete Marlene, dass Ann Penwill sich gelegentlich aus den von ihr verwalteten Vorräten eine Extraration abzweigte.

Marlene folgte ihr in den rückwärtigen Teil des Zeltes, in dem die Vorräte in großen Kisten aufeinandergestapelt waren. Private Penwill zeigte auf einen der Türme. »Das sind die verbliebenen Nahrungsmittel. Wir haben etwa die Hälfte verbraucht. Ohne eine Verminderung der Rationen bleiben uns also nochmals drei Monate. Spätestens bis dahin müssen wir eine Lösung gefunden haben.«

»Wie lange könnten wir bei einer Rationierung damit denn maximal überleben?«, fragte Marlene.

Ann Penwill legte den Kopf schief, während sie nachdachte. »Die Rationen liefern etwa dreitausend Kilokalorien pro Tag. Soldaten, die sich viel bewegen und harte Arbeit verrichten, brauchen mehr. Wenn wir die Arbeit der Männer und Frauen einschränken und einen Gewichtsverlust in Kauf nehmen, könnte man eine Zeitlang mit tausend Kilokalorien hinkommen. Ich würde sagen, alles darunter geht an die Substanz. Aber darüber sollten Sie sich besser mit Doktor Lindwall unterhalten.«

»Zu ihm gehe ich anschließend. Also, Ihre Einschätzung ist drei Monate bei normalem Verbrauch und neun Monate mit maximaler Einschränkung?«

Penwill nickte. »Ja, so würde ich es sehen. Allerdings gibt es noch ein größeres Problem jenseits der Nahrungsvorräte.«

»Reden Sie.«

»Die Trinkwasserspeicher werden vorher aufgebraucht sein. Vier Wochen höchstens.«

Wolfe lächelte. »Wenigstens das Problem haben wir inzwischen gelöst. Dr. Dressel hat zusammen mit Lee einen Kondensator errichtet, der genügend Wasser aus der hohen Luftfeuchtigkeit gewinnt. Die ersten Versuche waren erfolgreich und spätestens in zwei Tagen werden wir frisches Wasser haben, nachdem die Ingenieure das Ding mit dem Reaktor verbunden haben.«

»Na, dann sind ja all unsere Probleme gelöst.«

»Immer Kopf hoch«, bemerkte Marlene, wandte sich um und bewegte sich zum Ausgang.

»Sir?«

Wolfe drehte sich wieder um.

»Werden wir wieder nach Hause kommen?«

Marlene lächelte aufmunternd. »Natürlich kommen wir wieder nach Hause. Wir werden einen Weg finden.«

Ein Blick in Penwills starre Miene zeigte, dass ihre Untergebene nicht wirklich beruhigt war.

»Hören Sie, Ann. Es ist zu früh, die Hoffnung aufzugeben. Wir wissen nicht genau, warum der Transporter die Erde als Ziel nicht mehr akzeptiert. Aber ich kann Ihnen versichern, dass zuhause garantiert die fähigsten Wissenschaftler an dem Problem arbeiten. Wir haben hier selber ein Kontingent an hochkarätigen Physikern und Ingenieuren, von denen ich einige vorbehaltlos als Genies bezeichnen würde. Haben Sie ein wenig Geduld und Vertrauen in unsere Fähigkeiten. Wir werden eine Lösung finden.«

Ann schwieg für einen Moment und nickte dann. Wolfe lächelte ihre Untergebene noch einmal an und verließ dann das Zelt. Vor dem Eingang blieb sie stehen und stieß einen lauten Seufzer aus.

Das Vorratszelt war auf einem Hügel etwas abseits des Hauptlagers errichtet. Etwa zweihundert Meter zu ihrer Linken befanden sich die Mannschaftszelte. Alle fünfunddreißig Teilnehmer der Expedition, Soldaten und Wissenschaftler, lebten dort. Auf dem dahinter liegenden, flachen Hügel standen Labormodule und weitere Zelte, in denen die Wissenschaftler und Techniker arbeiteten. Eine hundert Meter hohe Antenne und einige schlanke Türme mit meteorologischen und physikalischen Instrumenten zierten die Spitze.

Marlene ließ die Szenerie auf sich einwirken. Obwohl sie nun schon seit drei Monaten hier war, kam ihr die Umgebung immer noch unwirklich vor. So weit das Auge reichte, nur diese flachen Hügel mit dem grasähnlichen Zeug, das mit seinen saugnapfähnlichen Wurzeln direkt auf dem nackten Gestein des Untergrunds ruhte. Über allem spannte sich der Himmel in einer kräftigen blauen Farbe, die nur gelegentlich von weißen, langsam dahinziehenden Wolken unterbrochen wurde. Die Sonne stand im Zenit, sodass Marlenes Körper kaum einen Schatten warf. Auf den ersten Blick hätte es eine Landschaft auf der Erde sein können. In Irland vielleicht. Oder Nordfrankreich. Bei genauerem Hinsehen fiel aber auf, dass die Farben seltsam waren. Zu kräftig, die Töne zu satt, als betrachte man ein mit Grafiksoftware nachbearbeitetes Bild, um dem Zuschauer eine fremde Welt zu suggerieren.

Genau das war es auch. Eine fremde Welt. Und das blöde Ding, das sie hierhergebracht hatte, lag rechts von ihr in einer Mulde und weigerte sich beharrlich, sie nach Hause zurückzubringen. Der außerirdische Transporter wirkte wie ein Fremdkörper in dieser hellen, warmen Umgebung. Zwölf Meter im Durchmesser, exakt kugelförmig und so schwarz, dass Marlene meinte, einen blinden Fleck auf der Netzhaut zu haben, lag das Erzeugnis einer weit fortgeschrittenen Technologie schon seit Millionen von Jahren auf dem Boden dieser Welt.

In diesem Moment öffnete sich ein Durchgang in der Wölbung der schwarzen Sphäre und ihr Physiker, Dr. John Dressel, trat ins Freie. Ihre Blicke trafen sich. Der kleine, untersetzte Wissenschaftler schüttelte mit dem Kopf und Marlene Wolfe wusste sofort, was er damit meinte.

Wieder nichts!

Zweimal täglich ging Dressel zur Sphäre und versuchte den Zielcode für die Erde einzustellen. Aber nie erschien das Anwahlfeld auf der schwarzen Konsole, mit dem sie den Transport einleiten konnten.

Drei Monate nun. Ursprünglich hatten es drei Wochen sein sollen.

Was ist bloß schief gelaufen?

Marlene wusste nicht mehr, wie oft sie sich diese Frage in den letzten zwei Monaten gestellt hatte.

Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als sie mit ihrer Einheit, einem Ingenieurkorps der Army, den Befehl erhalten hatte, sich nach Nevada zu einem Einsatz zu begeben. Dort war sie in einer Hochsicherheitseinrichtung mit General Morrow, einem knorrigen Kommandeur alter Schule, zusammengetroffen. Was er ihr erzählte, glaubte sie erst, als sie dieses geheimnisvolle schwarze Ding in einer unterirdischen Höhle gezeigt bekam. Ein Tor zu den Sternen! Vor der Küste Kaliforniens auf dem Meeresboden gefunden, geborgen und in die Hochsicherheitseinrichtung in Nevada gebracht.

Marlene hatte sich nie für Raumfahrt interessiert. Für Science-Fiction schon gar nicht. Und doch bekam sie den Befehl, mit ihrer Einheit in den von einer unbekannten außerirdischen Zivilisation konstruierten Teleporter zu steigen und eine Basis auf einem fremden Planeten zu errichten. Drei Wochen sollte das Experiment dauern. Sie sollten Babysitter für eine ganze Riege Wissenschaftler spielen und nach Ablauf der Zeit von einer anderen Kompanie abgelöst werden, aber die Ablösung war nie eingetroffen. Dann versuchten sie selber, wieder nach Hause zurückzukehren, nur um herauszufinden, dass sich die Erde als Ziel nicht mehr anwählen ließ. Als gäbe es die Gegenstation auf ihrem Heimatplaneten gar nicht mehr.

Seither hatte Marlene sich bemüht, die Moral ihrer Soldaten und der Wissenschaftler aufrechtzuerhalten. Als immer mehr Tage ereignislos verstrichen, sank allmählich ihre Zuversicht. Den Männern und Frauen gegenüber ließ sie sich nichts anmerken, aber allmählich beschlich sie das Gefühl, dass sie hier nicht wieder wegkamen. Es war ihr Glück, dass sie wegen der Errichtung des Depots für geplante Folgemissionen deutlich mehr Vorräte eingelagert hatten, sonst wären sie womöglich schon verhungert. So grün der Planet war, Nahrungsmittel gab es hier nicht. Und alle Versuche, das mitgebrachte Saatgut auszubringen, blieben erfolglos. Fruchtbarer Mutterboden existierte hier nämlich auch nicht.

Dr. Dressel hatte inzwischen keuchend den Hügel erklommen und gesellte sich mit resigniertem Gesichtsausdruck zu ihr. »Nichts.«

Marlene nickte. »Habe ich bereits bemerkt. Ihre Miene sagt alles.«

Der Wissenschaftler atmete schwer. Marlene hatte sich schon auf der Erde darüber beklagt, dass einige der Wissenschaftler für das Militär in völlig inakzeptabler Verfassung waren. Und der Kerl war gerade mal Mitte dreißig, Herrgottnochmal!

Dressel rückte sich die Brille zurecht und schüttelte den Kopf. »Ich begreife einfach nicht, warum wir die Erde nicht anwählen können. Andere Ziele funktionieren einwandfrei. Zumindest können wir sie anwählen. Nur den Code für die Heimat nimmt der Teleporter nicht an.«

»Damit erzählen Sie mir nichts Neues. Das Problem haben wir seit nunmehr über zwei Monaten.«

»Wir können hier nicht ewig ausharren. Wir müssen uns langsam Gedanken über Alternativen machen.«

»Und wie sollen die aussehen, Doktor? Haben Sie einen konkreten Vorschlag?«

Kleinlaut senkte der Physiker den Blick zu Boden. »Nein. Ich habe keinen. Wir wissen zu wenig über die Funktionsweise des Teleporters. Das war die Aufgabe des Teams auf der Erde.«

»Was, glauben Sie, könnte geschehen sein?«

Langsam gingen sie den Hügel zu den Mannschaftszelten herunter. Dr. Dressel fuhr sich durch das dichte, schwarze Haar, das sich kaum bändigen ließ. Er konnte seinen Schopf noch so oft kämmen, er sah immer ein wenig ungepflegt aus, was auch an den Bartstoppeln lag, die bereits am späten Vormittag Kinn und Wangen zierte. Ein militärischer Kurzhaarschnitt hätte ihm besser gestanden.

Dr. Dressel zögerte. »Möglichkeiten gibt es genug. Vielleicht hat man mit dem Apparat auf der Erde ein Experiment vorgenommen, das schief gelaufen ist. Der Teleporter könnte dabei zerstört oder beschädigt worden sein. Vielleicht verfügen die Vorrichtungen aber auch nur über eine begrenzte Energieversorgung, die sich inzwischen erschöpft hat. Oder es ist etwas gänzlich Unvorhergesehenes geschehen. Letztlich bleibt das alles reine Spekulation, bis wir zurückkehren und die Wahrheit erfahren.«

Mit Unbehagen dachte Marlene Wolfe an den Nuklearsprengkopf unter dem Teleporter auf der Erde. General Morrow hatte ihr davon erzählt. Vielleicht war eine Gefahr aufgetaucht und ihre Vorgesetzten hatten sich dazu entschlossen, das Gerät zu zerstören. Dann waren sie auf ewig hier gestrandet und blickten einem langsamen Hungertod entgegen. Was auch immer das Problem auf der Erde sein mochte, die Wissenschaftler bekamen es offenbar nicht in den Griff. Ihre Chancen für eine Rückkehr sanken mit jedem verstrichenen Tag.

Sie hatten das Lager erreicht. Wolfe blickte den Physiker an und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Wir werden die Hoffnung nicht aufgeben. Wir haben reichlich Vorräte und können noch einige weitere Monate durchhalten. Bis dahin möchte ich, dass Sie darüber nachdenken, welche Möglichkeiten uns sonst noch bleiben, eine sichere Rückkehr zu ermöglichen. Wenn Sie Experimente mit dem Teleporter durchführen möchten, wäre jetzt der Zeitpunkt, damit zu beginnen.«

Dressel lachte. »Experimente mit dem Teleporter? Dazu haben wir weder das richtige Personal noch die notwendige Ausrüstung.«

Wolfe schüttelte den Kopf. Ihre Stimme wurde lauter. »Herrgott, die Hälfte der hier anwesenden Expeditionsteilnehmer sind Wissenschaftler. Viele haben einen Doktorgrad und zählen zu den Besten ihres Fachs. Lassen Sie sich etwas einfallen.«

Der Physiker nickte langsam. Seine Schultern hingen schlaff herab. »Ist gut. Ich werde mit meinen Kollegen diskutieren, was wir von hier aus versuchen können.«

»Ich möchte, dass Sie bis morgen Abend eine Liste mit mindestens zehn Vorschlägen erarbeiten, die wir dann gemeinsam diskutieren.«

»Zehn Vorschläge? Ich möchte doch stark bezweifeln, dass wir ...«

»Zehn!« Marlene verengte ihre Augen zu dünnen Schlitzen.

Der Wissenschaftler zögerte einige Sekunden, dann senkte er den Kopf. »Ist gut.« Er ging davon, ohne Marlene noch einmal anzublicken.

»Sir?«

Captain Wolfe drehte sich um. Sie musste ihren Kopf heben, um Private Lawrence in die Augen sehen zu können. »Was ist denn, Ernie?«

»Lieutenant Hawke sucht Sie überall. Er würde gerne mit Ihnen sprechen.« Die Bässe in seiner Stimme schienen aus einem in seinem Leib eingebauten Subwoofer zu kommen. Mit stoppelkurzen, blonden Haaren und martialischem Gesichtsausdruck, inszenierte Lawrence sich gerne als harter Kerl und rückte mit verschränkten Armen unverschämt dicht an sie heran. Sie kannte ihn aber lange genug, um es nicht als Zeichen mangelnden Respekts zu deuten. In dieser Kompanie von unerfahrenen Pionieren war sie froh, einen Kämpfer mit dabei zu haben. Und sie wusste, dass sie sich auf Ernie verlassen konnte, auch wenn sie vermutete, dass er sich mehr als Lieutenant Hawkes Untergebener sah als ihrer.

»Wo ist Hawke?«

»Er wartet im Befehlsstand auf Sie.«

Er wartet auf mich? Wer ist denn hier eigentlich der Einsatzleiter?

»Gehen Sie zu ihm und sagen Sie ihm, ich werde zu ihm kommen, wenn ich meine Inspektion beendet habe.«

Was im Übrigen seine Aufgabe gewesen wäre.

»Er sagte, es sei dringend, Sir.«

Marlene musste schmunzeln. Lawrence salutierte knapp und stapfte wortlos davon.

Wolfe schüttelte den Kopf und marschierte zum Lazarettzelt. Der Eingang war geschlossen. Sie schob die Zeltbahn beiseite und trat ein. Ein weißer Operationstisch dominierte das Innere. Feldbetten standen rechts davon. Auf der linken Seite befanden sich einige Regale und Schränke. Im Hintergrund gab es einen Schreibtisch, an dem Dr. Lindwall saß. Der mittelgroße, schlanke Mediziner beugte sich über eine Schale, aus der Rauch aufstieg. Er hatte sie nicht bemerkt, was sicher auch an der lauten Rockmusik lag, die aus einer kleinen Stereoanlage in der Ecke plärrte. Es roch ein wenig nach Weihrauch. Wie in einer Kirche am Hochamt zu Ostern.

»Was machen Sie denn da?«, fragte Marlene stirnrunzelnd und trat näher.

Lindwall zuckte zusammen und blickte auf. Marlene erkannte einige ausgerissene Büsche der grasähnlichen Pflanzen, die den ganzen Planeten bedeckten und die in der Schale langsam vor sich hin kokelten.

»Ich ... äh ... nur ein kleines Experiment«, stotterte der Doktor. Er war zwar gerade mal Mitte vierzig, aber sein dichtes Haar war schon fast vollständig ergraut. Er tastete nach der Stereoanlage. Die Musik verstummte.

»Ich glaube kaum, dass Sie etwas in Erfahrung bringen, das unsere Biologen nicht schon längst wissen. Vor allem Jenny hat in den vergangenen Wochen kaum etwas anderes getan, als das Zeug zu analysieren.«

Lindwall nahm die Schale auf und stellte sie auf einen Tisch hinter sich. »Ja, da mögen Sie wohl recht haben.« Er räusperte sich. »Was kann ich für Sie tun?«

»Fürs Erste reicht mir der Tagesbericht.«

Der Mediziner griff nach einem Klemmbrett, das unter einem Stapel Papier auf seinem Schreibtisch lag. »Nichts Besonderes. Travis Richards hat sich an einem Laborgerät die Hand verbrüht. Ist aber nicht schlimm und eine Salbe sollte reichen. Sammy Yang klagte wiederholt über Rückenschmerzen. Ich habe ihm vorgeschlagen, sein Feldbett zu tauschen oder eine andere Schlafposition auszuprobieren. Ein anderes Mitglied der Expedition hat eine Infektion im Intimbereich. Trotz der fehlenden Privatsphäre scheint es in der letzten Zeit häufiger zu sexuellen Aktivitäten zu kommen. Dafür spricht auch die vermehrte Anfrage nach Verhütungsmitteln.«

Marlene zuckte mit den Schultern. »Das bleibt nicht aus, wenn man längere Zeit an einem Ort ist und sich die Zahl der Männlein und Weiblein in der Einheit die Waage hält.«

Lindwall spielte mit einem Kugelschreiber. Immer wieder drückte er die Miene heraus und wieder herein. Das Geräusch ging Wolfe auf die Nerven. Der Mediziner schien heute sehr fahrig zu sein. Er schwitzte, obwohl es nicht wirklich warm war. Lindwall war doch nicht etwa krank? Eine Grippewelle im Lager fehlte ihr gerade noch. »Ist alles in Ordnung, Doktor?«

»Ja, alles bestens. Mir geht es gut. Hören Sie, obwohl die Gesundheit der Soldaten und Wissenschaftler hervorragend ist, mache ich mir langsam Sorgen um die psychischen Auswirkungen unserer ungewissen Situation.«

»Sie sind kein Psychologe, Doktor«, sagte Marlene schroff.

»Es braucht keinen Psychologen, um zu merken, dass die Stimmung den Bach runtergeht. Waren die Leute am Anfang nur besorgt, so macht sich in den vergangenen Tagen immer größere Verzweiflung breit. Viele glauben inzwischen nicht mehr an eine Rückkehr zur Erde.«

»Was sagen die Männer genau?«

»Die Männer und die Frauen reden sehr offen bei den wöchentlichen Routineuntersuchungen, da sie wissen, dass ich an meine Schweigepflicht gebunden bin. Viele glauben, dass die Verbindung zur Erde dauerhaft unterbrochen ist, weil irgendjemand einen Fehler gemacht hat. Außerdem beklagen einige, besonders die Soldaten, dass von unserer Seite aus nicht mehr unternommen wird und wir uns ausschließlich auf das Warten beschränken.«

Das gab Marlene zu denken. Wenn Zweifel an der Führung aufkamen, drohte am Ende noch eine Meuterei - vor allem, wenn die Soldaten und Wissenschaftler nicht mehr an eine Heimkehr glaubten. Sie bedauerte, dass sie sich nicht öfter an die Mannschaft gewandt hatte. Sie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit eine Ansprache zu halten, aber erst musste sie sich selbst darüber klar werden, wie es weitergehen sollte. Einfach abzuwarten, konnte sie sich nun nicht mehr leisten. Aber was waren die Alternativen? Auf jeden Fall musste sie Führungsstärke zeigen.

»Doktor, ich habe eine Aufgabe für Sie. Ich möchte, dass Sie mit Private Penwill reden und mit ihr einen Plan für eine Rationierung der Lebensmittel aufstellen. Wir haben zwar reichlich Vorräte, aber auch die werden nicht ewig halten. Überlegen Sie, wieweit wir die Lebensmittel im ungünstigsten Falle strecken können, und berichten Sie mir bis morgen.«

Der Mediziner riss die Augen weit auf. »Sind wir wirklich schon so weit, dass wir rationieren müssen? Haben Sie auch die Hoffnung aufgegeben?«

Wolfe schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe überhaupt nichts aufgegeben. Aber es schadet nicht, auf alle Fälle vorbereitet zu sein.«

Dr. Lindwall griff nach einer Kaffeetasse. Erst jetzt fiel Marlene auf, dass seine Hände zitterten. Ein Teil des schwarzen Gebräus schwappte über den Rand und hinterließ dunkle Flecken auf den Papieren.

»Herrgott, Doktor. Was ist mit Ihnen los? Sie sehen ganz schön fertig aus. Sie haben irgendetwas und ich möchte wissen, was es ist. Einen kranken Mannschaftsarzt kann ich mir nicht leisten.«

Der Arzt setzte die Tasse ab und starrte zu Boden. Was auch immer es war, es musste ihm verdammt peinlich sein.

»Nun sagen Sie schon, Doktor. Kann ich irgendwas für Sie tun?«

Lindwall blickte ihr in die Augen und schüttelte den Kopf. »Meine Zigaretten sind ausgegangen«, sagte er kleinlaut.

Marlene verstand. Normalerweise sah man immer eine Zigarette irgendwo in seiner Reichweite glimmen. Selbst im Lazarett war der Arzt nicht bereit, darauf zu verzichten. Sie schmunzelte. »Tja, dann werden Sie eben lernen, ohne Nikotin auszukommen. Die Entzugserscheinungen werden vorübergehen. Sehen Sie es als Chance, von den Dingern wegzukommen. Sie sind eh der Einzige hier, der noch geraucht hat.« Sie stutzte und blickte auf die immer noch vor sich hin qualmende Schüssel auf dem Tisch hinter ihm. »Haben Sie deswegen das Gras verbrannt? Haben Sie gehofft, dass da etwas drin ist, das Ihnen einen Kick gibt?«

Der Mediziner lief rot an.

Erwischt!

Marlene grinste. »Da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe den Bericht von Dr. Baldwin gelesen. In dem Zeug sind keine Wirkstoffe drin.«

»Hätte ja sein können«, murmelte Lindwall.

»Ich erwarte Ihren Bericht über die Rationierung der Vorräte bis morgen Abend, Doktor.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Captain Wolfe um und verließ das Zelt.

Langsam ging sie zwischen den Mannschaftszelten entlang. Je zwei Expeditionsmitglieder teilten sich eines. Nur sie selbst, Lieutenant Hawke, Dr. Dressel und Dr. Lindwall hatten als Leiter der Expedition einzelne Unterkünfte. Die meisten Soldaten und Wissenschaftler waren noch sehr jung, kaum jemand über dreißig Jahre alt. Das Wissenschaftlerteam setzte sich sogar teilweise noch aus Studenten zusammen, die über ein Stipendium der Army ihre Hochschulausbildung finanzierten und sich darum verpflichtet hatten, für Einsätze zur Verfügung zu stehen. Dass die Mannschaften beunruhigt waren, wunderte Marlene nicht. Aber dass die Männer und Frauen schon mit dem Mediziner darüber redeten, sprach dafür, dass sich die Situation zuspitzte, denn normalerweise kotzten sich die Mannschaften erst einmal untereinander aus. Sie wusste, dass der Zeitpunkt noch nicht gekommen war, aber irgendwann würde es eine Meuterei geben, wenn der Kontakt zur Erde noch weiter auf sich warten ließ. Dann würden die Männer und Frauen jemand anderem folgen, der vermeintlich einfachere Lösungen zu bieten hatte.

Sie schlug die Zeltbahn des Kommandozeltes beiseite und sah Lieutenant Hawke an einem der beiden Schreibtische sitzen. Der stellvertretende Kompanieführer mit der spitzen Nase, großgewachsen und kräftig gebaut, hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, die blitzblank geputzten Stiefel auf den Tisch gelegt und spritzte vorsichtig Waffenöl auf den Verschluss seiner Pistole. Er quittierte ihre Ankunft mit einem Nicken, stellte das Fläschchen auf den Schreibtisch und griff nach einem weißen Stofftuch, mit dem er fast schon zärtlich über seine Waffe strich. Obwohl es hier keine Feinde weit und breit gab, hatte Ben seine Pistole immer dabei. Marlene konnte darüber nur den Kopf schütteln. Sie hatte ihre eigene schon seit Wochen nicht mehr aus dem Schrank geholt.

»Du hast dir sehr viel Zeit gelassen, Marlene«, sagte Ben mit einer hohen, quengeligen Stimme, die so gar nicht zu seinem muskulösen Äußeren passte. Sie wusste, dass er neben seinem krankhaften Ehrgeiz, endlich seine eigene Kompanie zu befehligen, ein Problem mit ihr als Frau hatte. Sie hätte seine Versetzung beantragen können, Gründe hatte er ihr schon genug geliefert, aber es war einfach nicht ihre Art, Probleme auf diese Weise zu lösen. »Du wolltest mit mir sprechen, Ben. Was gibt es denn?«

Ben lächelte ein kühles Lächeln. »Wir sind jetzt seit drei Monaten hier. Die Ablösung ist seit zwei Monaten überfällig. Wir sollten uns nun über mögliche Alternativen unterhalten.«

Marlene setzte sich auf ihren Stuhl und holte ein mehrseitiges Dokument aus der Schublade. Dann stand sie wieder auf, schritt energisch zu dem großen Whiteboard hinüber und befestigte das Schriftstück mit einem Magneten an der hellen Metallfläche. Sie drehte sich herum, blickte Ben in die Augen und tippte entschieden auf die Liste.

»Das ist unser Befehl mit den Missionsparametern. Wir sollen auf uns allein gestellt eine Basis errichten, die Wissenschaftler bei ihren Aufgaben unterstützen und die Stellung halten, bis wir nach voraussichtlich drei Wochen abgelöst werden. Voraussichtlich!

Auf der Erde war man sich offenbar bewusst, dass es Verzögerungen geben könnte. Darum sind wir auch mit derartig vielen Vorräten ausgestattet. Außerdem steht hier, dass wir keine Experimente mit der Transportertechnologie durchführen und dass wir keinesfalls andere Ziele als den Code für die Erde anwählen sollen. Wir haben Vorräte für mindestens sechs Monate, vielleicht sogar für über ein Jahr, wenn wir rationieren. Es ist mir zu voreilig, jetzt schon von unseren Befehlen abzuweichen. Das macht auch wenig Sinn. Aber wenn es dich beruhigt, ich habe Dr. Dressel damit beauftragt, Vorschläge für das weitere Vorgehen zu machen.«

Hawkes Kopf ruckte nach vorne. Er legte seine Waffe und den Lappen auf den Tisch und stand auf. Er rückte bedrohlich dicht an Marlene heran und zeigte auf die Liste. »Das gilt nicht mehr.«

Wolfe wich keinen Zentimeter zurück. »Und das entscheidest neuerdings du?«

Er schüttelte den Kopf. »Da muss man nichts entscheiden. Es ist offensichtlich. Der Kontakt zur Erde ist abgebrochen und darum sind wir nicht mehr an ihre Befehle gebunden.«

Marlene ahnte, dass er eine Idee ausgearbeitet hatte. Trotz seiner respektlosen Art war sie neugierig. »Also schön, wie lautet dein Vorschlag?«

»Fassen wir zunächst zusammen, was wir wissen: Die Erde ist für uns nicht mehr erreichbar. Weder haben wir etwas von dort gehört, noch können wir sie als Ziel anwählen, und wir können auch nicht davon ausgehen, dass sich das wieder ändert.«

»Weiter.«

»Zweitens: Wir haben zwar viele Vorräte, aber auf Dauer sind wir nicht imstande, auf Russells Planet zu überleben. Es gibt hier nur dieses ungenießbare Gras, und unsere Versuche, Saatgut auszubringen, waren alle zum Scheitern verurteilt, weil es keinen brauchbaren Mutterboden gibt.«

»Darüber haben wir bereits diskutiert, ist mir also klar.«

»Ergo ist der einzige Ausweg, einen anderen Planeten zu finden, auf dem wir überleben können und der uns auf Dauer eine Zukunftsperspektive bietet.«

Marlene nickte. »Das ist zwar richtig, aber wir haben leider keine Informationen über andere Ziele. Du warst bei der Vorbesprechung dabei. Wir können auch nicht einfach irgendwelche anderen Codes ausprobieren, denn dabei sind bei Experimenten auf der Erde bereits einige Leute ums Leben gekommen, weil der Teleporter sie zu Zielen mit erhöhter Schwerkraft oder in eine tödliche Atmosphäre geschickt hat. Es gibt keinen Weg, vorher herauszufinden, wo man ankommt.«

Hawke ging zu seinem Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier auf. »Darum brauchen wir Testpersonen, die wir durch den Transporter schicken. Das werden wir so lange tun, bis wir einen passenden Planeten gefunden haben.«

Marlene lachte auf. »Soweit ich weiß, ist Russells Planet der einzige, den man gefunden hat, der zumindest über eine atembare Atmosphäre verfügt. Sehr viele Menschen würden draufgehen, bis wir einen anderen gefunden haben, vorausgesetzt, dass wir überhaupt einen finden. Es wäre ein Todeskommando. Wie würdest du denn vorgehen? Freiwillige suchen? Losen?«

Hawke verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir sind ein Militärkommando mit beteiligten Zivilisten, die für die Mission entbehrlich sind. Wir erklären den Notstand auf der Basis, internieren die Zivilisten und schicken die nutzlosesten zuerst hindurch. Ich habe hier bereits eine Liste ausgearbeitet, die die Wissenschaftler nach der Reihenfolge ihres Nutzens sortiert. Zunächst Assistenten wie Radinkovic, Grant oder Young.«

Marlene stieg die Zornesröte ins Gesicht. Sie konnte nicht glauben, was sie da aus dem Mund ihres Stellvertreters hörte.

Ben fuhr fort, noch bevor sie etwas erwidern konnte. »Es ist der einzige Weg. Ungewöhnliche Probleme erfordern ungewöhnliche Maßnahmen.«

Marlenes Stimme bebte. »Du hast wohl völlig den Verstand verloren. Ein solch menschenverachtendes Vorgehen werde ich niemals billigen.« Sie trat vor und riss ihm die Liste aus der Hand. »Es sagt schon alles, dass vor allem die Personen weit oben stehen, die du sowieso nicht leiden kannst.« Sie zerknüllte das Blatt und warf es in hohem Bogen in den Papierkorb.

Sein Gesicht wurde hart wie Stein. »Was schlagen Sie stattdessen vor, Captain?« Das letzte Wort sprach er mit unverhohlenem Hass aus.

»Zunächst werden wir nichts überstürzen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Dann werden wir vor allem mit den Wissenschaftlern zusammen diskutieren, welche Möglichkeiten sich bieten, und gemeinsam eine Entscheidung treffen. Aber so einen Scheiß, wie das, was ich gerade gehört habe, wird es garantiert nicht geben.«

Hawke öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

Marlene fuhr fort. »Du hast eine Einstellung, die mir wirklich Sorgen macht. Wir werden uns über deinen Vorschlag garantiert noch mal unterhalten. Hast Du eine Ahnung, was hier im Camp los ist, wenn so etwas nach draußen dringt? Du musst nicht ganz bei Trost sein.« Sie flüsterte, weil sie nicht wusste, wer alles in diesem Moment am Zelt vorbeiging.

Hatte er sich bereits mit anderen Soldaten über seine Idee unterhalten? Möglicherweise mit Ernie Lawrence, der für sein loses Mundwerk bekannt war. Das ging so nicht weiter. Hawkes Vorschlag war so inakzeptabel, dass sie darauf reagieren musste. Sie konnte Ben als stellvertretenden Kompanieleiter entlassen, aber das würde die Gerüchteküche nur weiter aufheizen. Nein, am besten wäre es, sich unmittelbar an die Mannschaft zu wenden und ihren Plan für das weitere Vorgehen zu verkünden. Vor allem musste sie deutlich machen, dass drastische Maßnahmen wie Hawkes Plan auch in dieser Krisensituation nicht zur Debatte standen. Das Klügste war, auch Ben darin mit einzubeziehen und mit einer Aufgabe zu belegen, aber einer, die kein Unheil anrichten konnte.

»Ben, ich möchte, dass du bis morgen Abend ...« Sie horchte auf. Von draußen hörte sie Rhondas schrille Stimme, ohne die Worte verstehen zu können, und eilige Schritte. Schatten glitten an der Zeltwand vorbei.

»Was ist denn da los?«, murmelte Ben. Er stand auf, als die Zeltbahn am Eingang aufgerissen wurde und Corporal Grant in den Kommandoposten stürmte. Er war völlig außer Atem, seine Augen weit aufgerissen. Er machte sich nicht die Mühe, zu salutieren. »Sir, sie sind gekommen. Sie sind da ...« Seine Stimme überschlug sich fast.

Marlene hob die Arme. »Immer mit der Ruhe, Dillon. Was ist los?«

Corporal Grant atmete tief durch. »Der Transporter. Zwei Männer sind herausgekommen.« Er strahlte. »Wir können nach Hause.«

Marlenes Blick traf Hawkes, der seine Überraschung auch nicht verbergen konnte. »Abwarten ...«

Sie eilte hinter dem Unteroffizier her. Männer und Frauen, die den Aufruhr mitbekommen hatten, streckten neugierig die Köpfe aus ihren Zelten. Vom Laborcontainer konnte man offenbar mehr erkennen, denn die Wissenschaftler liefen direkt in Richtung des abseits gelegenen Transporters. Das konnte nur eines bedeuten! Sie hoffte, dass sie sich nicht irrte. Bitte, bitte! Endlich hatte Marlene Sicht auf das außerirdische Artefakt.

Der Durchgang war geöffnet. Zwei fremde Männer standen reglos davor und blickten sich um. Sie trugen militärische Felduniformen, wie alle anderen aus General Morrows Einheit. Ihre Retter waren endlich gekommen. Im Nu waren die beiden Männer von einer klatschenden und jubelnden Menge umgeben. Camille Ott, die junge Soldatin, die ihr erst kurz vor dem Einsatz zugewiesen worden war, sprang immer wieder in die Höhe und schrie ihre Begeisterung wie ein kleines Kind heraus. Zwei Wissenschaftlerinnen in Laborkitteln umarmten sich erleichtert.

»Endlich ...«

»Nach Hause, wir kommen nach Hause.«

»Wo wart ihr so lange?«

Marlene hatte den Transporter erreicht und schob sich zwischen Dr. Potter und Sergeant Grazier durch. Einer der beiden Eingetroffenen blickte auf ihre Rangabzeichen und nahm Haltung an. Er war etwas größer als Marlene, hatte kurzes, braunes Haar und graue Augen. Eine große Narbe zog sich von der Schläfe bis zum glatt rasierten Unterkiefer.

Der andere Mann war etwas kleiner, aber immer noch größer als Marlene und trat unruhig von einem Bein auf das andere. Auf den Jubel um sie herum reagierten sie nicht. Ihr Gegenüber trat vor und blieb zwei Schritte vor ihr stehen. Sein Gesicht zeigte keine Regung und instinktiv wusste Marlene, dass die beiden Gäste nicht gekommen waren, um sie zur Erde zurückzubringen. Irgendetwas stimmte hier überhaupt nicht. Sie salutierte knapp und stellte sich vor. »Captain Marlene Wolfe. Willkommen auf Russells Planet.«

Sie gaben sich die Hände. Ihr Gegenüber verzog keine Miene. »Ich bin Russell Harris, mein Begleiter ist Christian Holbrook.«

»Wir haben lange gewartet«, sagte Marlene.

»Ich weiß. Es tut mir leid«, antwortete Harris.

»Was ist geschehen?«

Die Stimme des Mannes war so laut, dass alle der Umstehenden ihn hören konnten. Seine Sätze kamen geschliffen heraus, als hätte er lange an seinen Worten gefeilt.

»Ich gehöre einer Gruppe ehemaliger Häftlinge an, die für Experimente mit dem außerirdischen Teleporter ausgewählt wurden. Einige von uns kamen dabei ums Leben.«

»Häftlinge?«, fragte Marlene. Morrow hatte etwas von Freiwilligen erzählt.

»Ja. Ich selbst bin ehemaliger Offizier einer Kommandoeinheit. Christian ist ehemaliger Astronaut und hat unsere Gruppe betreut. Wir haben Ihre Abreise zu diesem Planeten damals verfolgt, dabei sind wir uns schon einmal begegnet.«

»Kann mich nicht daran erinnern. Weiter!«

»Wir haben herausgefunden, dass in den Teleportern eine künstliche Intelligenz untergebracht ist und haben mit ihr über ein telepathieähnliches Verfahren Kontakt aufnehmen können. Dabei sind wir auf die Überreste der Außerirdischen gestoßen, die die Transporter gebaut und in der Galaxis verteilt haben.«

»Die Überreste?«

»Ja. Die Fremden haben ihren Heimatplaneten durch ihre Technik selbst vernichtet. Dieses Schicksal hätte auch der Erde gedroht, wenn man dort weiter mit dem Transporter experimentiert hätte. Darum haben ich und einige andere das Gerät auf der Erde mittels einer Kernwaffe vernichtet, nachdem wir zuvor auf einen anderen Planeten geflohen sind. Wir wissen, dass Sie hier nicht überleben können, darum haben wir uns entschlossen, Sie aufzusuchen und Ihnen anzubieten, uns auf unsere Welt zu begleiten, die für eine Kolonie gute Lebensbedingungen bietet.«

Die letzten Sätze bekam sie nicht mehr richtig mit. In ihrem Geist wiederholten sich immer nur dieselben Worte, die für sie die Quintessenz der Ansprache waren:

Der Transporter auf der Erde ist zerstört. Ich werde nie wieder nach Hause kommen!

Harris redete weiter, aber seine Worte drangen nicht in ihr Bewusstsein vor. Aus den Reihen der um sie herum stehenden Soldaten und Wissenschaftler erklangen Schreie. Sie blickte in Sarah Denings entsetzte Augen. Neben ihr sackte Travis Richards in sich zusammen. Hinter ihr ließ Ben Hawke seiner Wut freien Lauf. Er war nicht der Einzige.

»Diese Schweine!«

»... Nie wieder nach Hause?«

»Nein!«

Harris hatte seine Ansprache beendet. Er blickte sie mit einem ausdruckslosen Gesicht an. Er wusste genau, was nun als Nächstes kam. Private Lawrence packte Holbrook am Kragen und riss ihn herum.

»Es tut mir leid«, sagte Harris leise.

Marlene schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann einfach nicht glauben, dass ...« Ihre Stimme versagte, als ihr die volle Tragweite bewusst wurde.

Ich werde nie wieder nach Hause kommen!

Wut stieg in ihr auf. Ohne, dass sie es selber richtig mitbekam, schlossen sich ihre Hände zur Faust und schnellten mit aller Wucht, die ihr in Windeseile mit Adrenalin vollgepumpter Körper aufbrachte, nach oben in das breite Gesicht des Verräters. Ein Schmerz durchzuckte ihre Hand. Sie musste sich mindestens einen Finger gebrochen haben. Blut spritzte in ihr Gesicht und in die Luft. Es knirschte laut, dann flog sein Kopf nach hinten, riss seinen Körper mit sich und knallte dumpf auf die schwarze Außenhülle des Transporters. Schließlich sackte er wie ein Bündel nasser Kleidung bewusstlos zu Boden.

 

2.

 

»So ein Mist«, fluchte Russell. Er hatte die Kupplung komplett durchgetreten und trotzdem knackte es, als er vom dritten in den zweiten Gang wechselte.

»Schon wieder das Getriebe?«, fragte Marlene Wolfe, die neben ihm auf dem Beifahrersitz des Jeeps saß.

»Scheint so.«

»Ich dachte, Albert hätte das Ding erst letzte Woche repariert.«

»Hat er auch, aber anscheinend zerlegt sich das Zahnrad schon wieder.«

»Unser kleiner Fuhrpark verbringt mittlerweile mehr Zeit in der Werkstatt als auf der Straße.«

Russell sah sie schief von der Seite an und grinste dann. Ihre Lästereien während gemeinsamer Exkursionen hatten mittlerweile Tradition. Er mochte Marlene und wusste, dass das Gefühl auf Gegenseitigkeit basierte. Dabei war ihr Verhältnis in der ersten Zeit unterkühlt gewesen, nachdem sie Russell bei ihrem ersten Zusammentreffen den Kiefer gebrochen hatte. Er hatte damit gerechnet, dass die Reparatur des Wagens nicht lange halten würde. Der Stahl, den Albert und seine Helfer in ihrer Schmiede herstellten, wurde zwar immer besser, aber mit den industriell gefertigten Bauteilen, die sie von der Erde gewohnt gewesen waren, würden sie niemals mithalten können. Der Zustand der sieben Jeeps, die sie von Russells Planet mitgebracht hatten, verschlechterte sich immer weiter, sodass nie mehr als vier oder fünf Fahrzeuge gleichzeitig zu gebrauchen waren.

»Der Begriff Straße trifft es wohl nicht ganz.«

Die rudimentären Pisten, die sie in der Umgebung ihrer Stadt angelegt hatten, war auch nicht gerade geeignet, die Fahrzeuge zu schonen. Entweder waren es holprige Strecken, die über die Ausläufer des nahen Gebirges führten, oder ständig versumpfte Wege in der Tiefebene, über die sie zu ihrem Außenposten mit der Ölquelle und der Raffinerie gelangten.

»Hoffentlich hält der Jeep wenigstens noch, bis wir wieder im Lager sind«, sagte Marlene.

»Ich denke schon. Aber dann muss die Kiste dringend in die Werkstatt. Das klackernde Geräusch von hinten links lässt auch nichts Gutes für die Kugellager erahnen.

»Wir hätten zu Fuß gehen sollen.«

»Dann wären wir den ganzen Tag unterwegs gewesen«, erwiderte Russell.

»Bewegung soll ja angeblich gesund sein.«

Russell nickte. Er hatte sich noch nie vor körperlicher Aktivität gedrückt. Aber heute war er ganz froh, den Jeep zur Verfügung zu haben. Er fühlte sich müde und schlapp. Er schob es auf das Alter. Letzte Woche hatte er seinen zweiundsechzigsten Geburtstag gefeiert. Oder besser gesagt: Elise und Albert hatten ihm die Feier aufgedrängt. Ihm war nicht sehr danach zumute gewesen. Geburtstage, Namenstage und Feiertage waren etwas, das er gedanklich auf der Erde zurückgelassen hatte. Aber andere hielten krampfhaft an alten Traditionen fest und führten akribisch den irdischen Kalender parallel zu dem auf New California weiter, was wegen der unterschiedlichen Dauer der Jahre und Tage alles andere als einfach war. »Ich bin froh, dass ich mir den Fußmarsch heute ersparen konnte.«

»Wieder Kopfschmerzen?«

Russell nickte wieder. Seine Erschöpfung erklärte er sich mit dem fortschreitenden Alter und seiner zunehmenden sportlichen Faulheit. Die Kopfschmerzen mochten das Ergebnis eines unruhigen Schlafes in der letzten Nacht sein.

»Du siehst auch nicht sonderlich gut aus«, sagte Marlene. »Zu blass. Du solltest dich mal von Dr. Lindwall untersuchen lassen.«

Er winkte ab. »Mir geht es gut.«

Sie bogen um die letzten Kurven der engen Gebirgsstraße, die zu beiden Seiten von hohen, steil emporragenden Abhängen umgeben war, und dann änderte sich die Landschaft abrupt. Der schmale Canyon mündete in einer von saftigen Gräsern übersäten Ebene, die ein paar Kilometer weiter, wo das weitverzweigte Flussdelta des Mississippi begann. Es ging weiter östlich in einen dichten Dschungel über, der eine gewaltige Fläche bis hinüber zum hundertfünfzig Kilometer entfernten Ozean bedeckte. »Der Blick ist immer wieder fantastisch«, meinte Marlene.

»Ja, das ist er«, antwortete Russell.

Der Canyon war eine natürliche Verbindung zwischen der Hochebene, wo sich ihre Kolonie befand, und der vegetationsreichen Tiefebene. Der obere Ausgang des schmalen Tals befand sich nur einige Kilometer von Eridu, ihrer Siedlung, entfernt. Am unteren Ausgang des Canyons hatten sie einen permanent bemannten Posten errichtet. Ein Aussichtsturm und eine Hütte für die jeweilige Wachschicht standen vor einem drei Meter hohen Zaun, denn zahlreiche Tierarten, von denen man einige nur als absolut gefährliche Monster bezeichnen konnte, bevölkerten das fruchtbare Land der Tiefebene. Früher waren immer wieder einzelne Tiere oder ganze Herden den Canyon zur Hochebene heraufgekommen und hatten sie in ihrer Kolonie angegriffen. Schon einige Monate nach ihrer Ankunft und den ersten Erkundungsexpeditionen hatten sie den Posten errichtet und seitdem waren kein einziges Mal mehr Angriffe auf Eridu erfolgt. Offenbar gab es jetzt auf der Hochebene keine aggressiven Tierarten mehr.

Russell brachte das Fahrzeug vor der kleinen Holzhütte, die als Unterkunft für den zweiköpfigen Posten diente, zum Stillstand. Chris Neaman kam ihnen aus dem Eingang entgegen. Er sah verschlafen aus, winkte aber fröhlich. Russell sah seinen Kameraden Ernie Lawrence mit einem Scharfschützengewehr auf dem Aussichtsturm stehen. Auch er winkte knapp und beobachtete dann wieder mit seinem Fernglas das weite Grasfeld jenseits des Zauns bis hinüber zum Waldrand.

»Hi Russell, hallo Marlene«, sagte Chris.

Russell stellte den Motor ab und sprang aus dem Jeep. Ihm wurde umgehend schwindlig und er stolperte einige Schritte nach vorne, bis ihn Chris auffing.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der.

Russell winkte ab. »Jaja, mein Kreislauf macht heute einige Zicken. Nichts Ernstes. Das Alter.«

»So alt bist du nun auch wieder nicht«, sagte Marlene. »Jemand, der immer so fit war wie du, sollte mit sechzig nicht schon beim Aussteigen aus einem Fahrzeug zusammenklappen. Du musst dich dringend vom Doc untersuchen lassen.«

»Jaja, bei Gelegenheit.« Russell wechselte eilig das Thema. »Wie ist denn die Lage?«

Chris zuckte mit den Schultern. »Nicht viel Neues. Fünf Wotans und zwei Hyänen erlegt.«

Wotans nannten sie die Monster, die schon dem ersten Erkundungstrupp das Leben schwer gemacht hatten. Stämmig und kopflos, ohne sichtbare Sinnesorgane, war einer von ihnen damals auf Walter Redmont zugestürmt, hatte ihn umgeworfen und sich auf seine Brust gelegt. Russell hatte den Blick abwenden müssen, als das Tier durch seine Haut Säure abgesondert und den schreienden Astronaut bei lebendigem Leib aufgelöst hatte. Die Tiere traten oft in Rudeln auf und waren brandgefährlich.

Hyänen schienen deren kleine Brüder zu sein. Sie rannten in einem Irrsinnstempo auf dünnen, federnden Beinen, hatten im Gegensatz zu den Wotans einen kleinen, knubbelförmigen Kopf, der Säure bis zu zehn Metern Entfernung verspritzen konnte.

»Hört sich viel an«, meinte Russell. »Seit Beginn eurer Schicht?«

Neaman schüttelte den Kopf. »Das ist die Zahl von heute Nacht.«

Russell riss die Augen auf. »Alleine in einer Nacht? Das hatten wir ja noch nie.«

Chris zuckte wieder mit den Schultern. »Schon die letzte Schicht hatte über eine Zunahme der Sichtungen berichtet. Uns stört es nicht. Ist es wenigstens nicht zu langweilig hier. Fünf Tage ziehen sich ganz schön hin.«

»Sind doch nur drei im Jahr«, meinte Marlene. »Und währenddessen bist du von der Feldarbeit erlöst.«

»Die macht mir mehr Spaß als das Rumgehänge hier.«

»Das sieht wohl jeder anders«, gab Russell zurück. »Ich habe es immer lieber, wenn ...«

»Da kommt wieder einer!«, rief Ernie mit seiner kratzigen Stimme vom Ausguck.

Hinter dem Tor mit dem Stacheldraht konnte Russell nichts erkennen. Er lief zum Turm und kletterte die Leiter hinauf. Marlene und Chris folgten ihm.

Russell blickte in die Richtung, in die Ernie mit seinem Fernglas schaute. Er sah nur einen verwaschenen, braunen Fleck vor dem Waldrand, der sich langsam näherte. »Ich kann es nicht genau erkennen.«

Ernie drückte ihm das Scharfschützengewehr in die Hand. »Du darfst.«

»Na, herzlichen Dank.«

Russell nahm das halbautomatische M-110 Scharfschützengewehr und legte sich auf den Holzboden des Ausgucks. Er entfernte die Deckel von der Optik, atmete tief durch und blickte durch das Zielfernrohr.

»Ein Sniper«, murmelte Russel erschrocken. Sniper waren eine weitere Spezies aus der Tiefebene, die direkt aus der Hölle entlaufen sein musste.

Das Tier erinnerte grob an einen Dackel, allerdings geschmeidiger und größer. Der spitze Kopf bewegte sich suchend hin und her. Die flexiblen, dünnen Beinchen ließen das Geschöpf in ruckhaften Sätzen nach vorne schießen.

»Bist du sicher?« Marlene flüsterte, obwohl das Tier noch weit entfernt war.

»Ja, ohne jeden Zweifel«, bestätigte Ernie, der durch sein Fernglas blickte.

»So einen haben wir hier noch nie gesehen«, sagte Chris.

»Ich weiß. Und das macht mir Sorgen.« Russell überprüfte das Gewehr. Eine Patrone steckte bereits in der Kammer.

»Was macht das Tier?«, fragte Marlene.

»Keine Ahnung«, antwortete Ernie.

»Es kommt langsam auf uns zu. Es scheint verunsichert. Man merkt, dass hier nicht sein Revier ist«, sagte Russell.

»Das wundert mich nicht. Sniper haben wir bisher nur in der Nähe des Meeres gesehen.«

»Ja, und Travis Richards wäre beinahe an seinen Wunden gestorben.«

Russell erinnerte sich gut an den Vorfall bei einer der Expeditionen in die Tiefebene, bei denen sie auf einige unbekannte, mordsgefährliche Tierarten gestoßen waren. Travis hatte sich, ohne es zu merken, einem lauernden Sniper genähert, als er auch schon wie aus dem Nichts zusammenbrach und sein Blut in dünnen Fontänen meterhoch durch die Luft spritzte. Russell hatte den Sniper erschossen. Bei der Obduktion fanden sie heraus, dass die Monster ein magenähnliches Organ besaßen, mit denen sie Kristalle unter hohem Druck mit Überschallgeschwindigkeit ausstoßen konnten. Sniper waren sogar noch gefährlicher als Wotans.

»Scheiße! Da kommen noch zwei.«

Ernie hatte recht. Aus dem Wald huschten zwei weitere der unheimlichen Tiere und folgten der Fährte des ersten.

Neben Russell entstand Unruhe. Mehr unbewusst bekam er mit, dass auch Marlene und Chris nach bereitstehenden Waffen griffen und ihre Gewehre in Position brachten. Er ließ sich davon nicht ablenken und blickte konzentriert durch das Zielfernrohr. Schweißtropfen liefen an seiner Stirn hinunter. Er wusste, dass die Viecher verdammt schnell waren und im Laufen Haken schlugen. Es würde schwer werden, sie zu treffen, wenn sie sich entscheiden sollten, auf ihre Stellung zuzulaufen. Andererseits waren die Sniper noch ein gutes Stück entfernt. Er schätzte die Distanz auf achthundert Meter. Das war an der Grenze dessen, was man mit dem M-110 noch zuverlässig erwischen konnte. Und das auch nur, wenn das Ziel stillstand.

»Was tun wir?«, fragte Neaman. »Sollen wir schießen?«

Der Anführer der Biester wandte seinen Kopf immer wieder zur Seite, als ob er irgendetwas suchte. Russell rechnete damit, dass die Viecher jeden Moment loslaufen konnten. Andererseits kamen sie nicht genau auf den Posten zu. »Wir warten, bis sie etwas näher sind.«

»Vielleicht verziehen sie sich wieder«, murmelte Ernie.

»Glaube ich nicht«, gab Russell zurück. »Das sind Fleischfresser. Jäger. Sie kommen nicht aus ihrer Deckung, wenn sie nicht irgendetwas vorhaben. Ich denke, dass sie uns gewittert haben, aber nicht genau wissen, wo wir uns befinden. Wenn sie sich bis auf sechshundert Metern genähert haben, erledigen wir sie. Ich übernehme den in der Mitte. Marlene, du kümmerst dich um den linken und der andere gehört dir, Chris.«

»In Ordnung«, brummte Wolfe.

Fasziniert betrachtete Russell durch die Optik sein Ziel. Der schlanke, lange Körper mit den federnden Beinchen wirkte durch und durch fremdartig. Die braun-graue Haut hatte kein Fell und sah sehr widerstandsfähig aus. Das breite Maul an dem viel zu kleinen Kopf glich einem langen, gezackten Strich. Die winzigen Augen waren nur als schwarze Punkte zu erkennen. Nase oder Ohren waren nicht zu sehen. Und doch mussten die Monster über scharfe Sinne verfügen.

Die hinteren zwei hatten aufgeschlossen und trabten einige Meter neben dem Anführer.

»Noch sechshundertfünfzig Meter«, flüsterte Ernie.

»Bereithalten«, brummte Russell heiser.

Langsam schlichen die Sniper näher.

»Sechshundert Meter«, zischte Ernie.

»Auf mein Kommando in drei, zwei, ...« Weiter kam Russell nicht. Wie auf Befehl rannten die Monster los. »Scheiße! Feuer! Knallt sie ab!« Russell versuchte, sein Ziel in das Zentrum des Fadenkreuzes zu holen, aber er kam mit dem Nachführen nicht hinterher. Die Monster waren schnell. Verdammt schnell. Die Äußeren liefen zunächst seitwärts davon und näherten sich in einem weiten Bogen ihrer Flanke.

Russell schoss.

Als hätte das Tier etwas geahnt, änderte es blitzschnell seine Laufrichtung, schlug einen Haken und näherte sich wieder auf geradem Weg.

»Zweihundert Meter«, brüllte Ernie.

Russell hörte einen Schuss. »Verdammt«, zischte Marlene.

In hundert Metern Entfernung stoppten die Monster für einen kurzen Moment, brachen seitlich aus, stoppten wieder und rannten in die Gegenrichtung. Ihre Köpfe waren immer in Richtung Posten ausgerichtet. Im selben Moment, als Russell erneut schoss und wieder sein Ziel verfehlte, hörte er ein Sirren.

»Sie schießen!«, brüllte Chris. Ein Stück des Holzgeländers löste sich in braune Splitter auf und fetzte in alle Richtungen davon.

Ein Knall. Marlene hatte erneut abgedrückt. »Einer weniger«, zischte sie.

Russell versuchte erneut, sein Ziel ins Fadenkreuz zu bringen. Er wartete auf den unendlich kurzen Moment, an dem das Vieh für einen Augenblick stillstand, bevor es erneut seine Richtung änderte. Wieder das hohle Sirren. Holzsplitter vom Dach regneten auf ihn herunter. Er konzentrierte sich auf sein Ziel, das um das Zentrum des Fadenkreuzes tanzte. Die Vorderbeine des Snipers blockierten plötzlich, während die Hinterbeine seitlich ausrutschten. Es war so weit. Die Zeit schien stillzustehen, als Russell das Fadenkreuz mit einer leichten Bewegung auf den winzigen Kopf führte. Den Atem hatte er schon vor langen Sekunden angehalten. Er krümmte seinen Zeigefinger, um den schwachen Druckpunkt des Abzugs zu überwinden. Der Kopf des Tieres explodierte in einer rot-gelben Fontäne.

Erwischt!

Was machte der Letzte?

Wieder das Sirren. Marlene stieß einen unterdrückten Schrei aus.

Nicht drum kümmern! Erst die Gefahr beseitigen!

Als er sein neues Ziel in die Optik brachte, sackte es auch schon zusammen. Chris setzte das Gewehr ab.

»Wir haben die verdammten Scheißer erledigt«, brüllte Ernie.

Russell wandte sich um. Marlene hielt ihren Unterschenkel und schob die grüne Stoffhose nach oben.

»Bist du schwer verletzt?« Er sah rote Flecken an ihrer Hose.

»Nur gestreift. Glück gehabt.« Sie war blass, aber Russell kannte das Gefühl und das Entsetzen, wenn man im Kampf verletzt wurde und im ersten Moment nicht wusste, wie schlimm es war.

Russell stützte sich am Boden ab und stand auf. Die Sniper lagen regungslos in roten Pfützen in einiger Entfernung vor dem Stacheldrahtzaun. Sie waren noch nicht mal in die Nähe der ausgelegten Landminen vor dem Tor gelangt. Russell blickte sich um. Ihr Unterstand war völlig durchlöchert. Er schüttelte den Kopf. Es war reines Glück gewesen, dass keiner von ihnen ernsthaft verletzt oder gar getötet worden war. Früher hatten sie sich die Biester mit Ultraschall vom Leibe halten können, aber das hatte auch nur eine kurze Zeit funktioniert.

»Das war ganz schön knapp«, fluchte Chris.

Ernie grinste, die Augen weit aufgerissen. Er war süchtig nach solchen Adrenalinkicks. Russell hatte nie verstanden, warum Lawrence zum Pionierkorps gegangen war. Er hätte besser in eine Infanterieeinheit gepasst.

»Ich verstehe es einfach nicht«, sagte Russell.

»Was meinst du?«, fragte Marlene, die sich einen Verbandskasten von der Wand gegriffen hatte und ihre Wunde mit Mull umwickelte.

»In zwanzig Jahren haben wir keinen solchen Angriff erlebt. Und Sniper sind hier noch nie aufgetaucht. Ich mache mir Sorgen.«

»Vielleicht waren sie nur zufällig in der Nähe und haben unsere Witterung aufgenommen«, meinte Chris.

»Im Revier der Wotans? Glaube ich nicht. Und das vermehrte Auftauchen von Viechern am Posten scheint eher auf etwas anderes hinzudeuten«, sagte Russell.

»Und auf was?«, fragte Marlene.

»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht eine natürliche Wanderbewegung. Ich habe wirklich keine Ahnung. Wir sollten uns mit Jenny darüber unterhalten. Vielleicht hat unsere Biologin eine Idee. Einstweilen rate ich dazu, die Besatzung des Postens zu verdoppeln.«

»Oh nein!«, stöhnte Chris. »Das würde sechs Dienste im Jahr bedeuten.«

»Sei’s drum«, sagte Marlene. »Russell hat recht. Stellt euch mal vor, eine Gruppe von den Viechern bricht durch und dringt in die Kolonie ein. Wir sind geliefert, wenn sie uns nachts überraschen.«

Russell, Chris und Marlene kletterten die Leiter herab und gingen zum Jeep. Ernie beobachtete wieder die Gegend jenseits des Tors durch sein Fernglas.

Marlene öffnete eine Kiste auf der Ladefläche und drückte Chris ein klobiges Feldtelefon in die Hand.

»Der eigentliche Grund unseres Kommens«, sagte Russell. »Passt das nächste Mal etwas besser auf. Wir haben fast keine Ersatzteile mehr.«

»Ja, ist gut. Schon blöd, dass wir die Funkgeräte nicht nutzen können.«

Russell nickte. Die engen Canyons machten jeden Funkkontakt mit Eridu unmöglich. Also hatten sie eine Kupferleitung das Tal hinauf gezogen. Die Hälfte ihrer Drahtvorräte war dafür draufgegangen.

»Wenn wir wieder im Lager sind, schicke ich umgehend eine Ablösung. Diesmal aus vier Personen. Wir gehen kein Risiko ein«, sagte Marlene.

»Ja, ist gut.« Chris wandte sich um und trug das Feldtelefon in die Holzbaracke.

Russell setzte sich auf den Fahrersitz. Als Marlene neben ihm Platz genommen hatte, startete er den Motor und setzte ruckelnd zurück.

»Das gefällt mir überhaupt nicht«, murmelte er.

»Mir geht’s genauso. Irgendetwas tut sich hier.«

»Ich mache mir Sorgen um die nächste Versorgungstour zur Raffinerie. Es wird bald wieder Zeit.«

Marlene grunzte. »Auf jeden Fall sollten wir auch die Anzahl der Teilnehmer erhöhen.«

Russell presste die Lippen zusammen. Die nächstgelegenen Erdölvorräte gab es etwa zehn Kilometer jenseits des Postens im Dschungel. Albert, Dr. Cashmore und Lee Shanker hatten direkt neben der Ölquelle schon vor vielen Jahren eine improvisierte Raffinerie errichtet. Sie arbeitete vollautomatisch und sicherte der aufstrebenden Kolonie wertvolle Rohstoffe für Petroleum, Benzin und Schmieröl. Auch rudimentäres Plastik hatten sie aus den Kohlenwasserstoffverbindungen herstellen können, allerdings nur in kleinen Mengen. Jedenfalls mussten die Tanks der Raffinerie alle paar Monate geleert und nach Eridu gebracht werden. Mehr als einmal waren sie bei der regelmäßigen Tour von Wotans angegriffen worden.

»Ja, mehr Wachen sind sicher notwendig.«

Verbittert dachte Russell an die Pläne für eine Pipeline von den Ölquellen bis an den Rand der Kolonie. Dann könnten sie die störanfällige Raffinerie dort montieren und sich die gefährlichen Fahrten in den Dschungel sparen. Aber sie hatten nicht die Ressourcen dafür. Wie so viele andere Pläne, lag die Pipeline ganz tief unten in der Schublade. Eine andere Generation musste sich irgendwann darum kümmern.

Russell fuhr sehr sportlich durch die Kurven. Es bereitete ihm Freude, wenn am engsten Kurvenradius kurz die Hinterachse durch den Schotter abrutschte. Plötzlich trat er fluchend auf die Bremse. Da lag etwas mitten auf der Straße.

»Herrgottverdammt!« Er sprang aus dem Wagen und lief auf Drew Potter zu. Sie kniete auf dem Boden, einen flachen Stein in der Hand, und starrte mit offenem Mund den Wagen an, der nur wenige Meter vor ihr zum Stehen gekommen war.

»Ich hätte dich beinahe über den Haufen gefahren.«

Die Geologin richtete sich auf. »Was soll ich denn sagen? Ich habe mich zu Tode erschreckt, als ihr so plötzlich um die Kurve gerast seid.«

»Was kniest du denn überhaupt mitten auf der Straße herum?«, fragte Marlene, die sich mit verschränkten Armen neben Russell aufbaute.

Drew lachte. »Straße? Was für eine Straße? Ich sehe hier keine Straße, nur den natürlichen Boden des Canyons. Davon abgesehen, gibt es hier wohl kaum genug Fahrzeuge, dass man in jedem Moment mit so einem wahnsinnigen Raser rechnen müsste.«

»Wie dem auch sei. Was machst du hier überhaupt?«, fragte Russell.

Drew trat einen Schritt auf ihn zu, griff nach seiner Hand und legte etwas hinein.

»Kieselsteine?«, fragte er.

»Das ist Evaporit. Mit Ablagerungen von Natriumchlorid«, sagte die Geologin, als erkläre das alles.

Russell wechselte einen schnellen Blick mit Marlene und starrte Drew dann wortlos an.

»Na schön. Ich werde es euch erklären. Dieses Gestein wird durch Kontakt mit Wasser hergestellt. Die Salzkruste ist nicht so ausgeprägt, was bedeutet, dass der Kontakt mit Wasser noch nicht sehr lange her sein kann. Auf der Erde findet man diese Steine nur in Küstennähe.«

»Aber die Küste ist Hunderte von Kilometern weit weg«, bemerkte Russell.

»So ist es. Und das ist nicht die einzige Merkwürdigkeit. Man findet diese Steine nur unterhalb dieses Punktes, also in der Tiefebene bis zur Hälfte des Canyons. In Eridu und auf den Höhen darüber sind die vorherrschenden Mechanismen die erwartbaren Wind- und Niederschlagserosionsbilder.«

»Was?«, machte Russell.

»Stürme und Regen. Beides trägt das Gestein ab und beide Vorgänge kann man durch die Muster in der Gesteinsoberfläche unterscheiden.«

»Ist das für uns von praktischer Bedeutung?«, fragte Marlene.

Drew verdrehte die Augen. »Wir sollten so viel wie möglich über unsere neue Heimat in Erfahrung bringen. Bisher habe ich meine Zeit damit verbracht, für euch nach Bodenschätzen und Rohstoffen zu suchen. Nun ist es an der Zeit, sich endlich grundlegend über die Geologie unserer Umgebung zu informieren.«

»Das stelle ich ja gar nicht in Abrede. Aber wird das, was du uns gerade erzählt hast, Konsequenzen für unsere Planung haben? Betrifft es uns unmittelbar?«

Die Geologin blickte die schroffen, düsteren Wände des Canyons hinauf. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht. Aber es ist sehr ungewöhnlich. Seht ihr diese horizontalen Rillen im Gestein?«

»Ja, habe ich schon mal auf der Erde an der Küste gesehen. An Felsen, gegen die permanent Wellen schlagen«, sagte Russell.

Drew nickte. »Das ist richtig. Das sind Spuren von Abrasion, also Erosion durch Wellengang und Gezeiten. An dem ganzen Gestein von hier bis hinab ins Tal finden sich Ablaufrillen. Die Grenzen sind sehr scharf ausgeprägt. Ich würde meine linke Hand drauf verwetten, dass noch vor kurzer Zeit hier alles unter Wasser stand, das dann sehr schnell wieder abgeflossen ist.«

»Vor kurzer Zeit? Du meinst in geologischem Maßstab?«, fragte Russell.

»Nein, ich meine es wörtlich. Vor sehr kurzer Zeit. Wenige Jahrzehnte.«

Russell legte den Kopf in den Nacken, um die Gesteinsformationen des Canyons zu betrachten. Plötzlich verwandelten sich die Linien in Wellen, die Wände färbten sich pechschwarz. Er schnappte nach Luft, aber das Gefühl des Erstickens blieb.

»Russell? Ist alles in Ordnung?«

Marlenes Stimme kam aus weiter Entfernung. Seine Beine wurden schwach. Er stolperte vorwärts, um sich am Wagen abzustützen, aber er konnte sein Gleichgewicht nicht halten. Er klatschte auf den harten Boden und verlor das Bewusstsein.

3.

 

Rückblick: vor zwanzig Jahren

 

»Die Sitzung ist hiermit eröffnet. Bitte Ruhe dort hinten«, sagte Marlene. Das Gebrabbel in der Ecke des Raumes hörte einfach nicht auf. Sie hob ihre Stimme. »Kenneth, Stanislav! Bitte!«

Stanislav Radinkovic, einer der Ökologen, zuckte zusammen und verstummte.

Die Mannschaftsmesse, aus vorgefertigten Elementen montiert und der größte Raum auf der Basis, war bis zum Bersten gefüllt. Sie hatten die Tische hinausgebracht und zusätzlich Klappstühle in mehreren Reihen aufgestellt. Trotzdem mussten einige Männer und Frauen stehen. Sie lehnten an den Wänden, andere saßen auf dem Boden. Die gesamte Mannschaft der Basis war gekommen, wie sie es verlangt hatte. Neunundzwanzig Männer und Frauen, davon neun Soldaten aus dem Pionierskorps, sie eingeschlossen, der Rest Wissenschaftler und Assistenten. Marlene Wolfe saß an einem langen Tisch an der Vorderseite des Raums, neben ihr spielte Leutnant Hawke mit einem Kugelschreiber. Dr. Lindwall blätterte mit zittrigen Händen in einigen Unterlagen, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Er kaute lautstark einen Kaugummi. Marlene vermutete, dass er immer noch unter Nikotinentzug litt. Neben ihm saß Dr. John Dressel als Leiter der wissenschaftlichen Expedition. Am Ende des Tisches, in Handschellen und bewacht von Ernie Lawrence und Chris Neaman, kauerten die beiden Männer, die ihre Hoffnungen vor einer Woche so jäh zunichtegemacht hatten: Russell Harris und Christian Holbrook.

Sie hatten die Verräter so lange verhört, bis sie jede Einzelheit der Vorfälle in Erfahrung gebracht hatten. Marlene hatte nicht gewusst, dass General Morrow Häftlinge durch den Teleporter geschickt und mehrere Todesfälle verursacht hatte. Im Prinzip war das nichts anderes als der Vorschlag von Ben Hawke. Offenbar gebilligt vom Präsidenten. Marlene war schockiert gewesen, als sie das erfuhr. Sie hätte ein solches Vorgehen niemals gutgeheißen. Seitdem zerbrach sie sich den Kopf. Nicht nur darüber, was sie mit den Verrätern anstellen sollte, sondern auch, wie es nun mit ihrer Expedition weitergehen konnte. In den vergangenen Tagen war ihr klar geworden, dass sie nicht in der Lage war, das alleine zu entscheiden. Zwar war dies ein Militärunternehmen und sie war die Kommandantin, aber die Entscheidung betraf sie alle. Eine Rückkehr zur Erde war unmöglich und damit war auch ihr Einsatz beendet. Sie befanden sich in einer neuen Situation. Aus ihrer Basis war eine unabhängige Kolonie geworden und aus den Expeditionsmitgliedern unfreiwillige Kolonisten. Marlene hatte kein Interesse daran, eine Militärdiktatur zu errichten. Das Problem war nur, dass sie auf Russells Planet nicht überleben konnten. Die anstehende Entscheidung musste demokratisch getroffen werden. Von allen.

Das war ihre Meinung, aber leider nicht die Meinung ihres Stellvertreters. Hawke rückte dicht an sie heran. »Überlege es dir nochmal. Es ist die letzte Möglichkeit, diesen Schwachsinn bleiben zu lassen«, raunte er in ihr Ohr. Er hatte sich dafür ausgesprochen, das Kriegsrecht auszurufen und die Wissenschaftler in ihren Freiheiten zu beschneiden. Als erster Akt sollte ein Exempel statuiert und Harris und Holbrook standrechtlich als Verräter erschossen werden.

Sie schüttelte den Kopf. Dadurch würden sie sich vielleicht der einzigen Möglichkeit berauben, einen lebensfähigen Planeten zu finden, denn weder Harris noch Holbrook hatten den Code des Planeten verraten, zu dem sie vor der Vernichtung des Transporters auf der Erde geflohen waren. Hawke hatte zwar vorgeschlagen, die Männer zu foltern, um die Kombination herauszukriegen, aber das würde es mit ihr nicht geben.

Marlene erhob sich. Augenblicklich verstummte das letzte Geflüster in den Reihen. Marlene nahm sich Zeit und blickte nacheinander möglichst vielen ihrer Schicksalsgenossen in die Augen. Sie wollte ihnen das Gefühl geben, dass sie jeden Einzelnen persönlich ansprach. »Unsere Situation hat sich grundlegend geändert. Ihr wisst, dass wir hier gestrandet sind und es keine Rückkehr zur Erde mehr geben wird.«

Wütendes Gemurmel durchzog den Raum. Die Männer und Frauen wussten genau, wem die Schuld dafür zu geben war.

»Der erste Punkt, den wir heute entscheiden wollen, ist, was mit den beiden Männern hier geschehen soll.«

»Knüpft sie auf«, brüllte Eliot Sargent aus der letzten Reihe. Zustimmendes Gemurmel erklang. Schon am ersten Tag der Ankunft der beiden Männer hatte es einen Übergriff gegeben. Holbrook hatte eine tiefe Wunde am Hals davongetragen, als die Soldatin Andrea Phillips ihm mit einem Messer die Kehle durchschneiden wollte. Marlene hatte Andrea unter Arrest gestellt und die beiden Männer vor weiteren Angriffen geschützt, indem sie sie in einem der Laborcontainer einsperrte und selber den einzigen Schlüssel verwahrte. Dabei hatte ausgerechnet sie als erste Hand an Mr. Harris gelegt und ihm die Nase gebrochen. Es war eine Kurzschlussreaktion gewesen und heute verfluchte sie sich dafür. Entschuldigt hatte sie sich dennoch nicht.

»Die Todesstrafe ist eine Möglichkeit. Wir werden das heute gemeinsam entscheiden«, sagte Marlene.

»Sie sind doch der Kommandant!«, merkte Igor Isalovic aus der zweiten Reihe an.

Marlene schüttelte den Kopf. »Unser Einsatz ist Makulatur geworden, nachdem sich unsere Hoffnung auf eine Rückkehr zerschlagen hat. Ich kann nicht für den Rest unseres Lebens über die Kolonie das Kommando haben.«

»Kolonie?«, fragte Dr. Cashmore in der ersten Reihe.

»Ganz recht. Aus unserem Camp ist eine unfreiwillige Kolonie geworden. Wir sind kein militärisches Kommando mehr. Und wir müssen die Geschicke unserer Kolonie gemeinsam entscheiden. Ich werde mein Kommando abgeben, sobald wir demokratisch einen Rat gewählt haben, der für einen feststehenden Zeitraum die Geschicke unserer Basis leitet. Wenn wir schon eine unfreiwillige Lebensgemeinschaft bilden, dann auf den demokratischen Prinzipien, mit denen unser Heimatland aufgebaut wurde. Auch Amerika wurde als Kolonie gegründet und war für freiwillige und unfreiwillige Exilanten das Tor zu einer neuen Welt. Ich möchte diesem Vorbild folgen in der Hoffnung, dass es uns die Kraft und Stärke gibt, mit unserer verzweifelten Situation fertigzuwerden und unsere Entscheidungen mit den Prinzipien unserer Vorväter zu vereinbaren.«

»Ja!«, sagte Sammy Yang laut. Einige nickten. Marlene hatte das Gefühl, mit ihren pathetischen Worten den richtigen Tonfall getroffen zu haben. Sie ging um den Tisch herum und stellte sich neben Harris und Holbrook. »Und ich bin mir nicht sicher, ob am Anfang dieser neuen Kolonie zwei Todesurteile stehen sollten.« Sie machte eine theatralische Pause.

»Aber das soll die Gemeinschaft entscheiden. Eines ist jedenfalls sicher: Wir können hier nicht bleiben, sonst werden wir sterben. Insofern haben uns diese Gefangenen auch eine Perspektive zu bieten. Ich möchte, dass alle hören, was sie zu sagen haben. Bitte, Mr. Harris.«

Russell Harris stand langsam auf. Er wusste, dass es heute um sein Leben ging, aber trotzdem strahlte er eine merkwürdige Ruhe aus, als sei das für ihn nichts Neues. Harris hatte ihr erzählt, dass er früher Soldat in einer Eliteeinheit gewesen war. Sie vermutete, dass er dabei einige gefährliche Einsätze überlebt hatte. So sehr sie ihn dafür hasste, sie und ihre Männer und Frauen in diese Lage gebracht zu haben, so war sie doch neugierig auf die Geschichte dieses Mannes. Sie hoffte, irgendwann mehr zu erfahren und dass sich die Versammlung gegen ein Todesurteil entscheiden würde. Harris räusperte sich.

»Zunächst möchte ich mich bei Captain Wolfe für die Gelegenheit, hier zu sprechen, bedanken. Mir ist bewusst, dass ich und meine Kollegen dafür verantwortlich sind, dass Sie nicht mehr nach Hause können. Ich entschuldige mich dafür aus tiefstem Herzen. Auch wir hätten uns eine andere Lösung gewünscht. Nachdem wir herausgefunden hatten, dass die Transportertechnologie eine tödliche Gefahr für die Erde darstellte, haben wir uns entschlossen, diesen Preis zu zahlen und ...«

»Verräter. Du sollst in der Hölle schmoren ...«, rief Chris Neaman dazwischen.

»Ruhe! Lasst ihn ausreden«, sagte Marlene Wolfe ruhig, aber bestimmt.

Harris ging auf die Bemerkung nicht ein. »Wir sind nur eine kleine Gruppe von Überlebenden. Ich und Christian Holbrook, sowie auf dem Planeten, zu dem wir von der Erde aus flohen, noch Elise Slayton, Albert Bridgeman und Jim Rogers. Fünf Menschen. Wir können zwar überleben, aber um eine Kolonie aufzubauen, sind wir zu wenige. Wir möchten Sie einladen, mit auf unseren Planeten zu kommen, gemeinsam ein neues Leben aufzubauen und eine permanente Kolonie zu etablieren. Auf unserem Planeten haben wir alles, was wir brauchen, um unser Überleben zu sichern. Das Klima ist angenehm, es gibt essbare Pflanzen und Tiere und der Boden ist für den Anbau Ihres Saatguts geeignet. Es gibt keinen Weg zurück. Weder für Sie noch für uns. Lassen Sie uns die Zukunft gemeinsam gestalten.«

Eliot Sargent stand auf. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Wer hat euch das Recht gegeben, den Transporter zu zerstören? Wieso maßt ihr euch an, darüber zu entscheiden, welche Technik der Menschheit zur Verfügung steht und welche nicht? Die Transporter waren ein Geschenk, das uns unendlichen Fortschritt hätte bringen können. Wir hätten die Galaxis damit besiedeln können. Vielleicht hätten wir mit den Geheimnissen der Technologie alle Probleme der Menschheit lösen können. Ihr seid die schlimmsten Verräter, die die Erde jemals hervorgebracht hat.« Den letzten Satz schrie er so laut, dass sich Julia Stetson neben ihm die Ohren zuhielt.

Sarah Deming, die eine Reihe weiter vorne saß, winkte ab. Sie drehte sich zu ihm herum und sprach so laut, dass alle es hören konnten. »Ach, komm schon. Der Mensch hat bisher noch aus jeder Technik, die er in die Finger bekommen hat, als Erstes neue Waffen gemacht. Vielleicht war die Vernichtung dieses Dings das Beste, was der Erde passieren konnte.«

»Gibst du diesen Verrätern etwa recht?« Eliot brüllte ihr ins Gesicht. Sie zuckte nur mit den Schultern.

»Ruhe jetzt!« Wolfe hob die Hände. »Dr. Dressel hat eine Analyse vorbereitet, ob von den Sphären wirklich eine solche Gefahr ausging.«

Der Chefwissenschaftler stand auf. »Ich habe mich in den vergangenen Tagen oft und lange mit Mr. Harris und Mr. Holbrook unterhalten und so viel in Erfahrung gebracht, wie ich konnte. Einige Sachverhalte konnte ich bereits bestätigen. Wenn man sich im Inneren des Transporters in einen meditativen Trancezustand versetzt, kann man sich auf eine telepathieähnliche Weise mit der künstlichen Intelligenz der Sphäre unterhalten. Mr. Harris hat es mir gezeigt. Ich habe bereits einiges über die Technologie gelernt. Das Arbeitsprinzip des Teleporters ist in einer asymmetrischen ...« Er stockte und suchte nach Worten, die auch die einfachen Soldaten verstehen konnte. »Jedenfalls basiert der Teleportationsvorgang auf dem Aufbau eines Wurmlochs. Das Gerät manipuliert die Raumzeit und erschafft mit ungeheuren Energien, deren Ursprung ich noch nicht verstanden habe, ein starkes Schwerefeld, ähnlich einem Schwarzen Loch, aber ohne Ereignishorizont.«

»Kommen Sie zum Punkt, Doktor ...«, flüsterte Captain Wolfe.

Der Wissenschaftler brach ab, nickte und suchte erneut nach Worten. »Jedenfalls ist das Konzept inhärent instabil.«

»Was heißt das?«, fragte Ben Hawke scharf. Jedes Mal, wenn Dressel ein Fachwort in den Mund nahm, verdrehte er die Augen. »Nun, es ist wie in einem Atomreaktor. Um eine stabile Kettenreaktion zu haben, muss man mit den Kontrollstäben immer wieder nachregeln. Macht man das nicht, bricht entweder die Kettenreaktion ab oder steigt exponentiell an, wie in Tschernobyl. Der Transporter muss das Erschaffen des Wurmloches genau regeln.«

»Sonst was?«, fragte Marianna Waits. »Sonst kommt es zu einer Kettenreaktion wie in Tschernobyl?«

Dressel schüttelte den Kopf. »Nein. Schlimmer. Es würde sich ein Ereignishorizont ausbilden und ein stabiles Schwarzes Loch entstehen, das zunächst den Transporter und innerhalb von Sekundenbruchteilen die ganze Erde vernichten würde.«

»Ich dachte, mikroskopisch kleine Schwarze Löcher würden durch Hawking-Strahlung sofort verdampfen«, sagte Dr. Cashmore. Er war zwar Chemiker, aber Marlene wusste, dass er sich in seiner Freizeit auch mit anderen Zweigen der Wissenschaft beschäftigte.

Dressel nickte. »Generell ja. Der durch den Transporter hervorgerufene Ereignishorizont wäre aber so groß wie der Durchmesser der inneren Sphäre, die dazugehörige Masse entspräche etwa einem Tausendstel der Masse unserer Sonne.«

»Das ist doch unmöglich. Wie könnte das Artefakt so viel Energie aufbringen?«

»Keine Ahnung. Ich nehme an, dass der Transporter Vakuumenergie abpumpt. Aber das ist Spekulation. Jedenfalls würde bei Herausbildung eines Ereignishorizonts sofort ein Teil der Erdmasse in das entstandene Schwarze Loch gezogen. Der Rest würde durch die kosmischen Gewalten völlig zerrissen und mit nahezu Lichtgeschwindigkeit in alle Richtungen davon geschleudert.«

»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Schicksal eingetreten wäre, hätten diese Männer den Transporter nicht vernichtet?«, fragte Wolfe.

»Kann man nicht in eine Zahl fassen, aber ich bin sicher, dass es irgendwann passiert wäre. Sie wissen schon, Murphys Law.«

Ben Hawke stieß einen abfälligen Laut aus.

»Sind Sie sicher?«, fragte Dr. Potter aus der ersten Reihe. »Selbst wenn man alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen hätte?«

»Absolut. Worauf will man Sicherheitsvorkehrungen basieren, wenn man die zugrundeliegenden Prinzipien nicht kennt? Und man hätte mit der Technik weiter experimentiert. Das ist ganz sicher. Ich selbst hätte es so gemacht.«

»Selbst wenn Sie wüssten, dass die Technik gefährlich ist?«, fragte Wolfe.

»Ja, der Drang, hinter die Geheimnisse der Technologie zu kommen, ist zu groß. Stellen Sie sich eine Horde Neandertaler im Schaltraum eines Atomkraftwerks vor, die ununterbrochen an den Hebeln rumspielen. Ein Reaktor verfügt über Notabschaltsysteme, die man aber auch außer Kraft setzen kann. Irgendwann hätte jemand schon die richtigen Knöpfe gefunden.«

»Wir sind doch keine Neandertaler«, entrüstete sich Dr. Lindwall. Der Mediziner nahm seinen Kaugummi aus dem Mund und wickelte ihn in ein Taschentuch ein, das er in seiner Hosentasche verschwinden ließ.

Der Physiker lachte. »Der Abstand zwischen den Außerirdischen und uns ist größer als der zwischen uns und den Neandertalern. Die sind nämlich seit gerade mal dreißigtausend Jahren ausgestorben, während die Erbauer der Sphären uns um Millionen Jahre voraus sind.«

»Wir verzetteln uns«, unterbrach Wolfe die Diskussion. »Dr. Dressel, Sie sind sich also sicher, dass die Zerstörung der Sphäre gerechtfertigt war?«

Der Wissenschaftler seufzte. »Das muss jeder für sich entscheiden. Aber ich hätte auf der Erde nicht mehr viel Geld für die Rente zurückgelegt.«

Wolfe nickte. »Danke, Doktor. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass ...«

»Verdammt nochmal!« Chris Neaman war aufgestanden. Er schnaufte wütend. »Wofür haben wir denn eine Befehlskette? Es wäre Aufgabe der Führung auf der Erde gewesen, zu entscheiden, ob die Technik untersucht wird oder nicht. Auch bei der Army gibt es unzählige hervorragende Wissenschaftler, denen man wohl zutrauen darf, die richtige Entscheidung zu fällen. Die USA geben jedes Jahr Milliarden für Thinktanks in Washington und anderswo aus, um sich mit genau solchen Fragen zu beschäftigen. Aber die Arschlöcher dort ...«, er zeigte mit einem zitternden Finger auf Harris und Holbrook, » ... haben die Entscheidung ganz alleine getroffen. Es ist Verrat. Und zwar Hochverrat. Dafür gibt es nur eine mögliche Strafe.« Er ließ sich auf seinen Platz fallen.

Camille Ott erhob sich in der Reihe dahinter. »Ich bin zu jung, um es persönlich miterlebt zu haben, aber meine Eltern haben mir immer wieder von ihren Erfahrungen während der Kuba-Krise erzählt. Als der Atomkrieg aufgrund der zunehmenden Spannungen zwischen uns und der Sowjetunion jede Minute beginnen konnte, hatten meine Eltern mit ihrem Leben abgeschlossen. Meine Mutter erzählte später, dass sie während dieser Zeit jeden Morgen mit dem Bewusstsein aufwachte, dass dieser Tag der letzte sein könnte, an dem die Welt noch existiert. Ich glaube, dass damals der Großteil der Menschheit alles dafür gegeben hätte, die Entdeckung der Kernspaltung rückgängig zu machen.«

»Quatsch«, rief Travis Richards. Er lehnte an der Wand neben der Eingangstür. Seine Stimme war ruhig, aber bestimmt. »Das ist doch etwas völlig anderes.«

»Nein, ist es nicht. Jedes Mal, wenn die Menschen eine neue Technik entdeckt haben, konnte man davon ausgehen, dass etwas schiefläuft. Es hieß immer, Atomkraftwerke seien sicher. Dann kam Three Mile Island. Es wurde gesagt, es sei nicht so schlimm gewesen, da niemand zu Schaden kam. Dann kam Tschernobyl. Da gab es dann Opfer. Wir wurden damit beruhigt, dass das ein sowjetischer Schrottreaktor war. Und dann kam Fukushima, und das wird noch nicht das letzte Reaktorunglück in der Geschichte gewesen sein.«

»Aber du kannst doch nicht ...«, unterbrach Neaman.

Camille ignorierte ihn. »In der Raumfahrt dasselbe. Als der Shuttle entwickelt wurde, haben schlaue Wissenschaftler ausgerechnet, dass es nur einmal alle hunderttausend Jahre ein Unglück geben kann. Schon fünf Jahre später explodierte die Challenger beim Start. Und trotz aller Bemühungen, das Gefährt sicherer zu machen, verunglückte wenige Jahre später die Columbia. Von der Titanic hieß es auch, sie sei unsinkbar. Immer, wenn wir meinen, ein todsicheres System entwickelt zu haben, geht etwas schief. Wenn ihr mich fragt, ist es nur ein Wunder, dass die Menschheit das letzte Jahrhundert überlebt hat. Und größere Gefahren lauern schon am Horizont. Gentechnik, Nanotechnik, künstliche Intelligenz. Wir stürzen uns mit Eifer auf diese neuen Spielzeuge, die alle das Potenzial haben, den Menschen vom Angesicht der Erde zu tilgen. Da brauchen wir nicht auch noch außerirdische Höllenmaschinen, die die Erde in ein Schwarzes Loch verwandeln können.«

Sie wandte sich jetzt an Chris Neaman. »Wenn wir diese Gefahr für die Menschen gebannt haben, dann ist unser Stranden im Weltraum ein sehr geringer Preis dafür. Du willst die beiden da hinrichten? Ich würde ihnen stattdessen die Tapferkeitsmedaille verleihen. Und das ist meine Meinung dazu.«

»Sonst noch Stimmen?«, fragte Marlene Wolfe.

Marianna Waits hob schüchtern ihre Hand. »Werden wir wirklich nie wieder nach Hause kommen?«

Wolfe schüttelte den Kopf. »Da die Sphäre auf der Erde zerstört ist, gibt es keine Möglichkeit mehr dazu. Niemand von uns wird jemals wieder den Boden der Erde betreten.«

»Das würde ich so nicht bestätigen«, sagte Dr. Dressel.

Captain Wolfe wandte den Kopf und blinzelte. »Was meinen Sie damit?«

»Laut den Aussagen von Mr. Holbrook gibt es in unserem Sonnensystem weitere Sphären. Unter anderem auf dem Mars. Auf der Erde weiß man das auch. Man kann sicher annehmen, dass nach der Vernichtung des Transporters auf der Erde umgehend ein Wettlauf beginnen wird, diese Sphäre zu finden und in Besitz zu nehmen. Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis es an dem Teleporter auf dem Mars eine bemannte Station gibt. Wenn die Regierung das wirklich will und unbegrenzte Ressourcen dazu bereitstellt, könnte es in fünf Jahren so weit sein. Über diesen Umweg könnte uns eine Rückkehr zur Erde gelingen. Unser Exil ist also möglicherweise nur vorläufig.«

Ein Raunen ging durch die Messe. Marlene starrte Dr. Dressel an. Damit hätte sie nicht gerechnet. Sie war fest davon ausgegangen, dass es kein Zurück nach Hause mehr gab. Und nun war doch nicht alles verloren. Das änderte die Situation. Und zwar grundlegend.

»Also schön«, sagte sie. »Das eröffnet uns einen Hoffnungsschimmer, mit dem wir uns später auseinandersetzen werden. Nichtsdestotrotz müssen wir uns entscheiden, wie es in der nahen Zukunft weitergehen soll. Offenbar haben wir nur zwei Möglichkeiten: Entweder, wir lassen unseren Rachegefühlen freien Lauf und richten Mr. Harris und Mr. Holbrook als Hochverräter hin. Oder wir nehmen das Angebot der beiden an, arrangieren uns aufgrund der Gegebenheiten mit der anderen Gruppe und errichten gemeinsam eine Kolonie auf deren Planeten, um so lange durchzuhalten, bis sich ein Weg zurück auf die Erde zeigt.« Oder auch nicht. »Hat jemand einen Alternativvorschlag?«

Sie sah gespannt in den Raum. Einige flüsterten miteinander, vor allem Neaman und Ott waren leise, aber erregt in eine Diskussion vertieft. Sie wartete noch einige Sekunden, bevor sie weitersprach. »Also schön. Wir machen hier eine Pause, in der ihr Gelegenheit habt, miteinander zu diskutieren. Dann werden wir über beide Möglichkeiten abstimmen.«

 

4.

 

»Kommen Sie schon, Russell. Wachen Sie auf!«

Die Stimme dröhnte durch Russells Unterbewusstsein. Sie vermischte sich mit einem Traum aus zusammendrängenden Canyonwänden und einer Vision von ansteigendem, blutrotem Wasser. Er schwamm in diesem Wasser, das ihn gegen die schroffen Felswände drückte. Er schnappte nach Luft, während er immer wieder von der heftigen Strömung unter die Wasseroberfläche gedrückt wurde. Nachdem er sich schon die Hände blutig gescheuert hatte, schaffte er es endlich, sich an einem Felsvorsprung festzuklammern. Er zog sich mit Mühe ein Stück aus dem Wasser und japste. Hinter sich hörte er ein lautes Zischen und wandte den Kopf. Panik stieg in ihm auf, als er eine Meute grau-grüner Monster mit offenen Mäulern und rasiermesserscharfen Zähnen auf sich zuschwimmen sah. Er musste hier weg!

»Russell. Wachen Sie endlich auf! Hören Sie mich?«

Als das erste der Monster ihn fast erreicht hatte, brach plötzlich die Sonne durch eine Wolkenlücke. Die Strahlen blendeten ihn und er blinzelte. Eines der Monster hatte ihn erreicht und hielt sein blutrünstiges Maul direkt vor sein Gesicht. Sonderbarerweise hatte Russell überhaupt keine Angst. Warum war sein Blick nur so unscharf? Er kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Hilflos zwinkerte er, bis das Bild schärfer wurde. Das Monster verwandelte sich in Dr. Lindwall. Die Spitze eines Zahnstochers ragte aus seinem rechten Mundwinkel.

»Na, endlich. Schauen Sie mich an, Russell. Können Sie mich verstehen?«

Russell nickte. Er hatte bohrende Kopfschmerzen. Das Licht stammte natürlich von der hellen Neonleuchte des Lazaretts. Er schloss die Augen für einige Momente, bis die Kopfschmerzen erträglicher wurden.

»Ja, Doktor. Ich verstehe Sie. Was ist geschehen?«

Ein zweites Gesicht schob sich über ihn. Russell war erleichtert, als er seine Frau Elise erkannte. Er hatte geträumt, das war sicher. Aber wie war er hierhergekommen und wieso? Er konnte sich einfach nicht erinnern. Sie strich ihm sanft über die Wangen und lächelte. »Du bist ohnmächtig geworden. Sie haben dich in die Krankenstation gebracht.« Ihre Stimme zitterte leicht. Das tat sie immer, wenn seine Frau beunruhigt war.

»Sie?« Russell hatte keine Ahnung, von wem sie sprach.

»Marlene und Drew. Ihr seid im Canyon gewesen. Auf halber Strecke zum Posten am Talausgang. Kannst du dich erinnern?«

Bruchstückhafte Erinnerungen tauchten allmählich in seinem Gedächtnis auf. Er war mit Marlene beim Posten gewesen. Dann wurden sie von Snipern angegriffen. Bilder des Kampfes erschienen vor seinen Augen. Dann die Rückfahrt durch den Canyon, wo sie auf Drew gestoßen waren. Die Wissenschaftlerin hatte etwas über die Geologie des Canyons herausgefunden. Dann war auf einmal alles dunkel geworden. Er musste zusammengeklappt sein.

»Wird der Kreislauf gewesen sein. Nicht wahr, Doc?«

Lindwall sah ihn kritisch an. »Ihre Frau sagte, dass Sie sich schon in den vergangenen Tagen und Wochen nicht sonderlich gut gefühlt haben.«

»Vielleicht etwas müder und schwächer als sonst. Ist sicher diese Erkältung, die nicht weggeht«, meinte Russell. Es war ihm unangenehm, darüber zu sprechen. Ja, er hatte sich in der letzten Zeit schlapp gefühlt, aber nie wirklich krank. Er wollte nicht als Jammerlappen dastehen.

»Sie hatten eine schwere Grippe?« Lindwall musterte Russell zweifelnd. Es war zwar nicht ganz unglaubwürdig, da sie Influenzaviren von der Erde eingeschleppt hatten und es auch schon einige heftige Grippewellen gegeben hatte, aber Einzelfälle kamen so gut wie nie vor und angesichts der geringen Größe der Kolonie - vierzig Erwachsene und ebensoviele Kinder - war Lindwall in der Regel bestens informiert.

»Nein, keine Grippe. Eher eine leichte Erkältung, die einfach nicht weggeht«, erwiderte Russell.

»Welche Symptome?«

»Fing mit Halsschmerzen an, aus denen ein leichter Husten wurde, der nicht weggeht.«

»Zusammen mit Müdigkeit und einem allgemeinen Krankheitsgefühl?«

»Ja, so könnte man sagen.«

»Hmmm.« Lindwall kratzte sich am Kinn. »Eine verschleppte Grippe wäre zwar möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Um davon einen Kreislaufzusammenbruch zu bekommen, müssten Sie schon eine Lungenentzündung haben und dann hätten Sie wahrscheinlich Fieber und Ihr Auswurf sähe anders aus. Schwitzen Sie nachts?«

»Na ja, ein bisschen vielleicht«, sagte Russell widerwillig. Er wollte hier endlich raus. Er begriff auch nicht, warum der Mediziner so viel Wind machte. Er wurde alt, nichts weiter.

»Lügner!«, sagte Elise sanft, aber bestimmt. Sie strich ihm über den Rücken. »In den letzten Wochen warst du morgens oft total nass.

»Es war aber auch ziemlich warm in der letzten Zeit!«

»Na ja«, machte Dr. Lindwall.

»Was nun?«, fragte Russell. »Nehmen Sie mir eine Blutprobe ab, um das Problem zu untersuchen?«

»Das habe ich schon, als Sie ohnmächtig waren. Ich werde sie heute Abend untersuchen. Die automatische Analysevorrichtung hat leider völlig den Geist aufgegeben. Wie so vieles hier.« Lindwall spuckte den zerkauten Zahnstocher, mit dem er die ganze Zeit im Mund gespielt hatte, in Richtung Mülleimer, den er allerdings verfehlte und griff in eine kleine Schachtel, holte einen neuen Zahnstocher heraus und steckte ihn sich in einer routinierten Bewegung in den Mund. Offenbar hatte der Mediziner nach zwanzig Jahren auf dem neuen Planeten immer noch Sehnsucht nach seinen geliebten Zigaretten.

»Dann kann ich jetzt gehen?«, fragte Russell.

»Ich würde gerne noch eine Röntgenaufnahme des Oberkörpers machen.«

»Ich dachte, der Röntgenapparat hätte den Geist aufgegeben«, sagte Elise.

»Der Röntgenapparat war in Ordnung. Ich hatte nur keine Filmplatten mehr.« Er zuckte mit den Schultern. »Dr. Dressel hat einen Weg gefunden, mir Ersatzplatten zu improvisieren.«

»Wie das?«, fragte Russell, während er sich das Hemd auszog und zu der engen Röntgenkabine herüberging.

Der hagere Mediziner folgte ihm, nahm eine Platte aus einem Behälter und schob sie in eine Vorrichtung. »Er hat Glasplatten mit einer Emulsion aus Silberbromid beschichtet.«

»Silberbromid?«

Lindwall zuckte mit den Schultern. »Reagiert auf Röntgenstrahlen. Unserer Biologin hatte einen Kanister davon in ihrem Labor. Wenn der alle ist, war es das vorerst mit unserer Röntgendiagnostik. Wir werden uns in den nächsten Jahren noch von vielen Annehmlichkeiten verabschieden müssen.« Irgendetwas blitzte in den Augen des Mediziners.

»Es tut mir leid, wenn Sie lieber woanders wären«, sagte Russell leise. Auch nach all den Jahren hatte er immer noch das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.

Dr. Lindwall legte einen Schalter an dem Röntgenapparat um. »Schon gut. Die Höllenmaschine auf dem Mars zu vernichten, war eine demokratische Entscheidung. Ich habe dagegen gestimmt, aber vielleicht ist es gut so, dass die Menschheit keinen Zugang mehr zu dieser Technik hat, wenn sie so gefährlich ist, wie Dr. Dressel behauptet. Ich habe mich damit abgefunden, nie mehr auf die Erde zu kommen, aber manchmal frage mich, in was für einer Welt unsere Kinder aufwachsen werden.« Er zeigte aus dem schmalen Fenster. »Da hinten steht immer noch ein Atomreaktor, der selbst in fünfzig Jahren einen Anteil an unserer Energie liefern wird. Aber unsere Felder müssen wir von Hand bestellen, wenn die Jeeps in ein paar Jahren nicht mehr zu reparieren sind. Wir haben noch nicht mal Pferde oder Rinder, die wir heranziehen können, weil es hier einfach keine vergleichbaren Tiere gibt. Es ist eine sehr seltsame Mischung aus modernster Technik und Mittelaltermethoden. Und in dem Maße, wie unsere mitgebrachten Geräte versagen, rutscht unsere Gesellschaft immer mehr ins Mittelalter ab.«

»Unsere Ingenieure arbeiten doch schon an einem Traktor, der mit einem hier gebauten Verbrennungsmotor arbeitet. Wir haben Öl, und wenn unsere Kinder es geschickt anstellen, leben sie in ein oder zwei Generationen wieder in einer modernen, digitalen Gesellschaft.«

Lindwall lachte leise. »Sie glauben das allen Ernstes, oder? Wie viele Kinder haben wir? Die Generation der hier Geborenen umfasst gerade mal vierzig. Die nächste Generation unserer Enkel, die sich gerade andeutet, umfasst dann vielleicht hundert Menschen. Das ist viel zu wenig für eine moderne, digitale Gesellschaft. Eine moderne Chipfabrik braucht - wie viele? Tausend? - jedenfalls jede Menge Arbeiter, die wir einfach nicht haben. Die nächsten Generationen werden sich aus Universalgelehrten zusammensetzen. Eine detaillierte Spezialisierung, die für moderne Errungenschaften notwendig ist, können wir uns nicht leisten. Unser Entwicklungsstand wird für lange Zeit, wahrscheinlich Hunderte von Jahren, auf dem Status des frühen zwanzigsten Jahrhunderts festgefroren sein. Im Moment haben unsere Kinder noch den Luxus, über die Computer auf das Wissen der Menschheit zurückgreifen zu können, aber die werden auch nicht ewig halten. Von da an muss alles wieder selber erarbeitet werden. Und es gibt nicht genug Papier auf dieser Welt, um auch nur das wichtigste Wissen aufzuschreiben oder auszudrucken. Wir können von Glück sagen, wenn die Gesellschaft unserer Enkel nicht in eine mittelalterliche Barbarei zurückfällt.«

»Ist das nicht eine sehr pessimistische Sichtweise?«, fragte Russell.

»Ich glaube auch, dass wir unseren Kindern und Enkeln eine etwas größere Weitsicht zutrauen können«, meinte Elise.

Der Mediziner lachte laut auf. »Auf Frieden folgt Krieg, auf Kreativität folgt Zerstörung, auf Leben folgt Tod. Wir sollten nicht glauben, uns davon freimachen zu können, nur weil wir unseren Heimatplaneten verlassen haben.«

Er fasste Elise sanft am Arm und schob sie aus dem kleinen Raum. Er wandte sich zu Russell. »Atmen Sie tief ein und halten Sie die Luft an, bis ich Ihnen etwas anderes sage.«

Russell atmete ein und hielt sich so ruhig wie möglich, als der Mediziner die Tür des Raumes schloss.

Es klackte laut und die Röntgenaufnahme war im Kasten.

5.

 

»Ben, bist du das?«, fragte Drew, als sie das quietschende Geräusch der Haustür hörte.

Das schlurfende Geräusch danach waren Bens typische Schritte, was ihre Frage beantwortete und ihr ersparte, von ihrem Mikroskop aufzublicken. Sie hatte sich in ihrer Hütte eine kleine Arbeitsecke eingerichtet, damit sie auch abseits des Labors Aufgaben bearbeiten konnte. Im Moment war die Geologin mit den Gesteinsproben beschäftigt, die sie im Canyon gesammelt hatte.

Ben war meist mit seinem eigenen Kram beschäftigt, und viel gemeinsam taten sie eh nicht mehr, egal, ob innerhalb des Hauses oder außerhalb. Die Tatsache, dass ihr Mann beim Hereinkommen nicht gegrüßt hatte, zeigte, dass er mal wieder schlechte Laune hatte.

»Wo sind die Kinder?«, vernahm sie Bens Stimme hinter sich. Wie immer enthielt sie keinerlei Gefühlsregungen. Anhand seines Tonfalls konnte sie selbst nach all den gemeinsamen Jahren nicht sagen, ob er erfreut, gelangweilt, besorgt oder wütend war.

»Catherine ist bei Jimmy Harris und Dana hat heute Dienst auf den Feldern. Wie war dein Tag?«

Ihr Mann gab keine Antwort.

Drew wandte sich um. Ben stand mit verschränkten Armen da. Sie schaltete die Beleuchtung des Mikroskops aus und stand auf.

Ohne Vorwarnung traf Bens Hand ihr Gesicht. »Du hast wohl völlig den Verstand verloren«, sagte ihr Mann ruhig.

Sie blickte ihn verständnislos an. Was hatte sie diesmal falsch gemacht?

»Was hast du dir dabei gedacht?« Ben griff sie grob am Arm.

»Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst!«, schrie sie ihn an.

Er schlug sie wieder. Drew schmeckte Blut.

»Du wirst mich nie wieder anschreien. Nie wieder! Hast du das verstanden?« Sein Tonfall hatte sich seit Beginn der Unterhaltung um keine Nuance verändert. »Ich fragte, ob du mich verstanden hast« Ben drückte zu.

Drew wimmerte vor Schmerz. »Ja! Ja!«, stieß sie heiser aus. »Ich habe dich verstanden!«

Ben ließ ihren Arm los. »Was hast du alleine in dem Canyon gemacht?«

»Ich habe Gesteinsproben gesammelt.« Sie begriff einfach nicht, was ihn so verdammt wütend machte. »Die Geologie im unteren Teil des Canyons ist eine völlig andere als im ...«

»Mich interessieren deine dämlichen Steine nicht«, sagte Ben. »Aber meine Frau wird nicht auf Knien auf dem Boden herumrutschen, wenn Russell Harris und Marlene Wolfe um die Ecke kommen.«

Darum ging es also.

»Die Männer haben darüber gelacht. Weißt du, wie ich dabei aussehe? Weißt du das?«

Sie schaute zu Boden, weil sie seinen Blick nicht länger ertrug. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass Russell und Marlene um die Ecke kommen. Ich habe ihren Jeep noch nicht mal gehört«, wimmerte sie.

»Das ist mir egal!«, sagte Ben. »Das wird nie wieder geschehen, oder es wird Konsequenzen haben!«

Drew nickte langsam.

»Sag es!«

Drew hob den Kopf, war aber immer noch nicht in der Lage, in seine Augen zu blicken.

»Ich werde es nie wieder tun«, hauchte sie.

Ben fixierte sie noch einige Sekunden und nickte dann. »Gut, dann wäre das geklärt. Außerdem will ich nicht, dass Cathy sich weiterhin mit Jim Harris trifft. Sag das deiner Tochter, sonst werde ich es tun.«

Drew schluchzte. »Ja, ist gut. Ich werde es ihr sagen.«

Wortlos drehte sich Ben um und war durch die Tür verschwunden, noch bevor Drew auf ihren Stuhl zurückgesunken war. Sie schniefte und Tränen rannen ihr übers Gesicht.

Ben hasste Russell. Immer noch, nach all den Jahren. Drew versuchte, sich an die Zeit zurückzuerinnern, als sie zusammen glücklich gewesen waren. Sie hatten sich vor über zwanzig Jahren bei einem Einsatz in Afghanistan kennengelernt. Es war ein Friedenseinsatz gewesen, ohne Kämpfe. Ben und sein Team hatten eine Brücke gebaut und Drew war als Geologin hinzugezogen worden, um den schwierigen Untergrund zu analysieren. Ben war der blitzgescheite stellvertretende Kompaniechef, der sich auf sein baldiges erstes Kommando freute. Sie hatte sich sofort in ihn verliebt. Trotz seines manchmal machohaften Benehmens konnte er sehr aufmerksam sein und schien sich im Gegensatz zu den anderen Soldaten ernsthaft für ihre Arbeit zu interessieren. Sie hatten sich gerade eine gemeinsame Wohnung außerhalb des Stützpunktes gemietet, als der Befehl zu dem unglücksseligen Einsatz durch den Transporter einging.

Dass sie hier gestrandet waren, hatte Bens Karriereplanung zerstört, eine eigene Kompanie zu befehligen. Als Marlene die Kompanie auflöste und in eine informelle Miliz umwandelte, die größere Ähnlichkeiten mit der Nationalgarde hatte als mit einer spezialisierten Berufsarmee, wusste Ben nichts mehr mit sich anzufangen. Er hatte sich auf New California nie eingelebt und auch keine Aufgabe für sich gefunden. Er war nun mal Berufsoffizier und kein Techniker, Mechaniker oder Ingenieur, wie viele andere aus seiner Pionierskompanie. Dass Drew sogar eine maßlose Freude an der Erforschung der geologischen Eigenheiten ihrer neuen Heimat hatte, machte ihre Beziehung nicht einfacher. Im Laufe der Jahre entlud sich sein Frust zunehmend in gewalttätigen Attacken. Nachdem er sie das erste Mal geschlagen hatte, war sie bereit gewesen, ihn zu verlassen, aber sie war wegen der Kinder auf seine Bitte eingegangen, ihm nochmal zu verzeihen.

Von da an waren seine Ausraster immer häufiger gekommen und nun musste sie feststellen, dass sie nicht mehr die Kraft hatte, ihn zu verlassen. Wenigstens schlug Ben die Mädchen nicht. Jedenfalls hoffte sie es.

 

 

6.

 

Russell war außer Atem und hustete, als er die Tür zu seinem Haus aufstieß. Ihm war schwindlig und das Kratzen im Hals wurde einfach nicht besser.

»Wo warst du?«, fragte Elise, die an der Feuerstelle beschäftigt war. Sie benutzten den offenen Kamin zum Heizen und zum Kochen. Einbauküchen gab es auf diesem Planeten nicht. Immerhin hatten sie es vor ein paar Jahren geschafft, Glas herzustellen, sodass es in den Blockhütten heller wurde. Vorher hatten sie die Fensterrahmen mit Ledermatten abgespannt. Es war ein einfaches Leben, aber sie hatten alles, was sie brauchten. Die Segnungen der modernen Zivilisation fehlten Russell nicht. Auf Fernseher, Telefon, Computer, Internet, Autos und Zeitungen konnte er ganz gut verzichten. Es gefiel ihm sogar, dass sich ihr Leben hier auf die wesentlichen Dinge konzentrierte. Elise sah es genauso.

»Ich war bei Chris«, sagte Russell.

»Chris Neaman?«

»Christian Holbrook«, erwiderte er. »Ich habe ihm geholfen, sein Dach zu flicken.« Er hustete wieder.

Elise legte die Drahtbürste, mit der sie den Ruß aus den Ritzen zwischen den Steinen entfernt hatte, beiseite. »Dr. Dressel hat gesagt, du sollst dich schonen. Du siehst schon wieder sehr schlecht aus und deine Husterei ist auch nicht besser geworden.«

Russell hob hilflos die Arme. »Ich kann doch nicht den ganzen Tag nur herumsitzen.«

Elise trat näher, gab ihm einen Kuss und streichelte ihm über die Wange. »Das hat auch niemand gesagt. Aber du musst auch nicht unbedingt mit Chris auf Dächern herumklettern. Was ist, wenn du da oben wieder ohnmächtig wirst?«

»Dann falle ich wohl runter«, meinte Russell trocken.

»Hat sich der Doc endlich gemeldet?«

»Nein, er meinte, er käme vorbei, wenn er das Blut und die Röntgenaufnahme untersucht hat. Ich rechne eigentlich heute noch mit ihm.«

»Hoffentlich ist es nichts Ernstes.«

Er erkannte am Tonfall seiner Frau, dass sein Zusammenbruch im Canyon sie beunruhigt hatte. Er hatte Verständnis dafür, schließlich war er all die Jahre überhaupt nicht krank gewesen. Er selbst machte sich keine großen Sorgen. Er hatte sich nie geschont und war überall in der Kolonie herumgeeilt, wenn er gebraucht wurde. Irgendwo gab es immer was zu tun, sei es, dass ein Dach ausgebessert werden musste oder eine neue Hütte errichtet wurde. Auch vor der Arbeit auf den Feldern hatte er sich nie gedrückt. Die körperliche Tätigkeit machte ihm Spaß. Er wurde einfach nur älter, das war los. Er würde es in Zukunft ruhiger angehen lassen, dann würde schon alles in Ordnung sein.

»Ach was«, erwiderte Russell. »Sicher eine leichte Lungenentzündung. Dann kriege ich etwas Antibiotikum und nach ein paar Tagen bin ich wieder fit.«

»Hoffen wir es.«

Kaum hatte sich Russell auf einen Stuhl gesetzt, knallte die Tür auf und Greg stürzte in den Raum. Der Junge hat eindeutig zu viel Energie, dachte Russell. Aber ich war in dem Alter auch nicht anders.

Das jüngste ihrer drei Kinder war nun acht Jahre alt. Greg stürmte geradewegs auf seinen Vater zu und blieb breitbeinig vor ihm stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. »Du, Dad, Courtney hat gesagt, auf der Erde gäbe es Häuser, die so groß sind wie Mammutbäume. Und es hätten mehr Menschen reingepasst, als es auf der Welt gibt.« Mit Welt meinte er natürlich New California, ihre Kolonie. »Dimitri und ich haben sie ausgelacht. Sie hat doch gelogen, oder nicht, Dad?«

Russell stand auf und wollte ihn impulsiv umarmen. Der Junge ließ es geschehen, erwiderte die Umarmung aber nicht mehr so wie früher, wahrscheinlich, weil es ihm peinlich war. Russell versetzte das einen Stich. Auch sein Jüngster wurde allmählich flügge. »Ich fürchte, ihr müsst euch bei Courtney entschuldigen. Das höchste Gebäude auf der Erde stand in Dubai, war einen Kilometer hoch und damit tatsächlich so hoch wie unsere Mammutbäume. Ich weiß nicht, wie viele Menschen darin lebten und arbeiteten, aber ich würde wetten, dass es über zehntausend waren.«

Greg riss die Augen auf. »Zehntausend? Du verarschst mich doch, Dad!«

Russell setzte sich wieder hin, als er merkte, dass ihm wieder schwindlig wurde. »Nein, Greg. So große Gebäude gab es wirklich.«

»Und Courtney hat auch gesagt, dass es auf der Erde Schiffe gab, die so groß waren wie Mammutbäume und in die tausend Menschen reinpassten. Das kann doch nicht gehen!«

Es versetzte Russell einen Stich, wenn er daran dachte. Es gab so viele Dinge, die seine Kinder niemals zu Gesicht bekommen würden. Für seinen Sohn, der noch niemals das Meer oder auch nur einen größeren See gesehen hatte, mussten sich die Geschichten von der Erde anhören wie Erzählungen aus einem mythischen Land. In einigen Generationen, wenn auch die letzten Fotos verblasst waren, würde die Erde zu einer Legende und schließlich zu einem Mythos werden. Es würde Russell nicht wundern, wenn der Name ihres Ursprungsplaneten irgendwann ganz vergessen war.

»Doch, Greg. Es gab tatsächlich Schiffe, die so viele Menschen transportieren konnten.«

»Können wir hier nicht auch einmal so ein Schiff bauen?«

Russell lachte leise bei der Vorstellung, ein Kreuzfahrtschiff über die Ozeane New Californias zu steuern. »Ich fürchte, so viele Leute haben wir hier gar nicht für so ein großes Schiff.«

»Vielleicht können wir ja ein kleines bauen.«

»Das Meer ist ein gutes Stück weg. Es wird sicher noch viele Jahre dauern, bis wir eine Siedlung dort haben und noch länger, bis es sich lohnt, ein Schiff zu bauen.«

»Ich würde wenigstens gerne mal das Meer sehen. So viel Wasser ...« Seine Stimme wurde leise.

Russell lächelte. »Das wirst du, Junge. Keine Sorge. Es mag vielleicht noch ein paar Jahre dauern, bis wir eine neue Expedition zum Meer wagen, aber dann bist du sicher erwachsen und kannst mitkommen.«

Greg befreite sich aus dem Griff seines Vaters und rannte zur Tür.

»Wohin willst du denn schon wieder?«, fragte Elise, die den großen Tisch wieder vor die Feuerstelle rückte.

»Ich will Dimitri fragen, ob er Lust hat, mit mir ein Schiff zu bauen. Das können wir dann in ein paar Jahren mitnehmen, wenn wir zum Meer gehen. Darf ich, Mom?«

»Ja, ist schon gut. Geh nur.«

Greg riss die Tür auf und rannte beinahe Dr. Lindwall um, der mit einer Papierrolle im Arm davor stand.

»Kommen Sie rein, Doc. Wir sind beide hier.«

Der hagere Mediziner trat ein. Er lächelte nicht, wie er es sonst zur Begrüßung immer tat.

»Setzen Sie sich, Doktor«, sagte Elise. Sie rückte ihm einen Stuhl am Tisch zurecht. Russell stand schwerfällig auf und ließ sich Dr. Lindwall gegenüber nieder. »Etwas zu trinken? Einen Kaffee vielleicht?«, fragte er.

Lindwall schüttelte den Kopf. Sein Gesicht sah sehr ernst aus. Wie jemand, dem eine sehr unangenehme Aufgabe bevorstand. Eine diffuse Angst stieg in Russell auf. Es musste natürlich mit seiner Diagnose zu tun haben. Wie schlimm würde es sein? War etwas mit seinem Herz? Sein Vater war mit sechzig an einem Herzinfarkt gestorben. Russell war wie immer in einem Einsatz gewesen und hatte erst hinterher davon erfahren, als das Begräbnis längst gelaufen war. Vielleicht war es etwas Erbliches.

Elise presste die Lippen aufeinander und nahm Platz. Die Atmosphäre hatte sich in wenigen Augenblicken komplett verändert. Eben noch warme Gemütlichkeit eines kleinen, aber vertrauten Heimes, jetzt ein beißend kühler Gerichtssaal. Und gleich würde Russell sein Urteil erfahren.

»Ich sehe an Ihrem Gesicht, dass Sie nicht mit guten Nachrichten gekommen sind. Sagen Sie es geradeheraus. Wie schlimm ist es?«

Wortlos rollte der Mediziner seine Papiere aus und entfaltete die Röntgenaufnahme von Russels Thorax. Im oberen Bilddrittel erkannte Russell die beiden Lungenflügel. Dr. Lindwall wies mit einem Kugelschreiber auf eine helle, annähernd runde Fläche an der Seite der rechten Lunge. »Der Fleck sollte hier nicht sein. Außerdem weist Ihr Blut auffällige Werte von CEA und NSE auf.«

»NSE?«

»Neuronenspezifische Enolase. Das ist ein Enzym des Glucose-Stoffwechsels. Ein deutlich erhöhter NSE-Wert ist der zentrale Tumormarker des kleinzelligen Bronchialkarzinoms.«

Elises Augen wurden groß. Russell fühlte sich wie betäubt.

Ich habe einen Tumor? Lungenkrebs? »Wollen Sie mir damit etwa sagen, dass ...« Seine Stimme versagte.

Lindwall sah ihm direkt in die Augen. »Ja. Es tut mir unendlich leid.«

»Ist das sicher? Gibt es weitere Untersuchungen, die wir machen können?«, fragte Elise.

Lindwall schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe auch auffällige Zellen unter dem Mikroskop in seinem Auswurf feststellen können. Auf der Erde würden wir zur Absicherung noch ein CT mit Kontrastmittel und eine Bronchoskopie für die Pathologie machen, aber einen Tomographen haben wir nicht und die Bronchoskopie hilft uns hier leider auch nicht weiter.«

Russell hörte den Doktor wie durch einen dichten Nebel. Seine Gedanken drehten sich nur noch um diesen einen Satz.

Ich habe Krebs!

Er hatte Mühe, sich auf den Mediziner zu konzentrieren. »Wie schlimm ist es? Gibt es schon Metastasen?« Er schluckte.

Lindwall sprach leise. »Ich habe zwar keine Metastasen gesehen, aber das kleinzellige Bronchialkarzinom streut sehr schnell. Wenn man die ersten Symptome bemerkt, befindet man sich in der Regel schon in einem fortgeschrittenen Stadium.« Er nahm Russells Hand. Das war ungewöhnlich für den Mediziner, der sonst einen engen Kontakt scheute. »Wollen Sie die Details wirklich wissen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es den Patienten nicht unbedingt hilft, wenn sie ...«

Russell unterbrach ihn schroff. »Es ist mein Körper. Ich will seinen Zustand wissen, egal, wie unangenehm es ist.«

Elise folgte der Unterhaltung mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen.

Sie hat es noch nicht begriffen.

Aber er selbst hatte es begriffen: Er würde sterben, und das nicht erst irgendwann, sondern in einem eng begrenzten Zeitraum. Er zog seine Hand aus der des Mediziners und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Zwei Fragen: Was können wir tun und wie lange habe ich noch?«

Lindwall hob verzweifelt die Arme. »Auf der Erde würde ich eine Kombination aus Chemotherapie mit Cisplatin oder Carboplatin zusammen mit einer Strahlentherapie empfehlen. Wir haben weder Chemotherapeutika noch radiologische Gerätschaften, von daher können wir lediglich die Symptome behandeln.«

»Kann man es nicht rausoperieren?«, fragte Elise. Ihr Tonfall war schrill, die Augen immer noch weit aufgerissen.

Lindwall schüttelte den Kopf. »Kleinzeller sind in diesem Stadium inoperabel. Es würde am Ergebnis nichts ändern. Man kriegt nie alle Metastasen heraus und die übrigen wachsen sehr schnell.«

Ich will es jetzt wissen, dachte Russell. »Wie lange habe ich?«

Lindwall seufzte, schaute einen Moment zu Boden und hob dann wieder den Kopf. »Drei Monate.«

Oh Gott! Drei Monate! Keine hundert Tage, dann bin ich tot!

Russell sah Elise in die Augen. Sie waren weit aufgerissen und starrten ihn verständnislos an.

»Sie sollten Ihre Dinge in Ordnung bringen und sich von Ihren Lieben verabschieden.« Der Satz des Mediziners hörte sich komisch an. Vielleicht hatten Ärzte selber keinen Plan, was sie Sinnvolles sagen sollten und bemühten alleine aus diesem Grund die Klischees.

Drei Monate! Mein Gott! Was kann ich tun? Es muss einen Ausweg geben!

»Wie wird es weitergehen? Ich meine, wie wird es ablaufen?«

Der Mediziner seufzte. »Einen Monat lang werden Sie sich ähnlich fühlen wie jetzt. Das allgemeine Unwohlsein können wir mit Vitaminspritzen und entzündungshemmenden Mitteln gut bekämpfen, auch wenn Sie sich müder und schwächer fühlen.« Es bereitete ihm offenbar Mühe, Russell in die Augen zu sehen, denn sein Blick wanderte immer wieder im Raum umher. »Vielleicht fangen Sie an, deswegen neue Hoffnung zu schöpfen, aber der Tumor und auch die Metastasen wachsen schnell. Das Atmen wird schwerer. Sie werden immer schneller außer Puste sein. Je nachdem, wie schnell der Tumor auf andere Organe drückt, kann es zu Schmerzen und auch Wasserablagerungen in der Lunge kommen. Metastasen im Gehirn können das Verhalten ändern. Es kann sein, dass Sie depressiv werden. Vielleicht sogar aggressiv, bis hin zu einer kompletten Persönlichkeitsänderung, sodass selbst Ihre Familie Sie nicht mehr wiedererkennt.«

Der Mediziner zögerte. »Der letzte Monat wird schlimm. Sie werden kaum noch Luft bekommen und wir haben hier wenig Möglichkeiten, das zu ändern. Je nachdem können starke Schmerzen dazukommen, gegen die wir aber Morphium haben. Zuletzt werden Sie langsam ersticken. Spätestens dann werden wir Sie komplett betäuben müssen, sodass Sie vom Ende nichts mehr mitbekommen.«

Mein Gott! Und das alles steht unmittelbar bevor!

»Danke, Doc, dass Sie so ehrlich gesprochen haben. Ich weiß das zu schätzen«, sagte Russell tonlos.

Elise fing an zu schluchzen.

Der Doktor presste die Lippen zusammen, bevor er weitersprach. »Es tut mir leid. Ehrlich, unendlich leid. Ich kann das alles nicht ändern, aber ich werde versuchen, es so erträglich wie irgend möglich zu machen, das verspreche ich.«

Russell stand auf. Er wollte den Mediziner hier raus haben, um mit seiner Frau alleine zu sein.

Dr. Lindwall erhob sich ebenfalls. »Ich stehe fest an Ihrer Seite. Wann immer Sie mich brauchen, lassen Sie es mich wissen.«

Russell nickte nur knapp und schloss die Tür hinter ihm. Wie betäubt wankte er zu seiner Frau herüber und setzte sich neben sie. Sie schluchzte immer noch, als er sie in den Arm nahm. Sie vergrub ihren Kopf an seiner Schulter.

Drei Monate! Ich habe noch drei Monate! Er schüttelte den Kopf. Eigentlich habe ich noch nicht mal drei Monate. In einem Monat schon geht es rapide bergab. Ich werde jämmerlich krepieren. Und meine Frau, meine Kinder werden danebensitzen und sich das aus nächster Nähe ansehen müssen.

7.

 

Rückblick: vor achtzehn Jahren

 

»Was? Was ist?«, fragte Russell, als Katrina Cole aus dem Lazarett schritt und die Tür hinter sich schloss.

»Beruhige dich. Es ist noch nicht so weit.«

Russell hob hilflos die Arme. Die Wehen hatten schon vor über zwölf Stunden eingesetzt. Es konnte doch nicht sein, dass sich dieses Drama noch länger hinzog. »Wie geht es ihr?«

»Sie hält sich gut. Ich mache mir eher Sorgen um dich. Willst du nicht mal für eine Stunde nach Hause gehen und dich etwas hinlegen? Hast du heute überhaupt schon etwas gegessen?«

Sollte das ein Witz sein? Wie sollte er in dieser Situation auch nur einen Bissen herunterkriegen?

»Elise hat gegessen!«, sagte Katrina.

»Kann ich zu ihr?«

Katrina schüttelte den Kopf. »Es ist besser, wenn du hier draußen wartest.«

Russell grunzte nur. Katrina, die von Dr. Lindwall als Krankenschwester rekrutiert worden war und heute die Rolle der Hebamme übernommen hatte, drehte sich herum, verschwand wieder im Lazarett und ließ den hilflosen werdenden Vater vor der Baracke zurück.

Russell seufzte und nahm seine Runden vor der Tür wieder auf.

»Jetzt hör doch mal auf, permanent im Kreis zu gehen«, sagte Christian Holbrook, der auf der Stufe vor dem Eingang der Krankenstation saß. »Wenn du noch länger damit weitermachst, müssen wir morgen die Spurrillen wieder zuschütten, die durch deine endlosen Bahnen entstanden sind.«

»Versetz du dich mal in meine Lage! Diese Warterei macht mich noch wahnsinnig!«

Die Sonne ging allmählich unter. Die letzte Nacht schon hatte sich Elise im Bett nur hin und her gewälzt. Am frühen Morgen hatte sie bereits regelmäßig aufgestöhnt, als die ersten Eröffnungswehen eingesetzt hatten. Russell hatte sie dann zu Dr. Lindwall gebracht, in der festen Erwartung, dass es binnen Minuten so weit sein würde. Wie hatte er sich getäuscht. Nun versank die Sonne im Westen hinter dem Wald aus Mammutbäumen und nur noch vereinzelte Sonnenstrahlen fielen durch die kilometerhohen Baumkronen auf die Wände der Baracke, die sie vor noch nicht allzu langer Zeit für die Krankenstation gebaut hatten.

»Das kann doch nicht normal sein, dass das so lange dauert!«, sagte Russell.

»Willst du dich nicht endlich mal hinsetzen?«, fragte Christian.

»Zum hundertsten Mal: nein!«

Der ehemalige Astronaut grinste kurz, zwang sich aber sofort wieder eine ernste Miene auf. Russell wusste genau, dass sich sein Freund königlich über seine Unbeholfenheit amüsierte. Wenn die Zeit doch wenigstens schneller vergehen würde!

Marlene und Albert bogen um die Ecke der Baracke. Sie lachte und schlug dem fast zwanzig Jahre älteren Albert neckisch auf die Brust, als hätte dieser gerade einen unanständigen Witz erzählt. In ihrer anderen Hand hielt sie einige Blätter Papier. Sie lächelte, als sie Russell sah und beide traten zu ihm und Christian.

»Immer noch nichts?«, fragte Marlene.

»Nein. Seit Stunden warten wir hier. Es passiert einfach nichts.«

»Na, der Kleine fühlt sich im Bauch seiner Mutter halt noch recht wohl.«

»Ach, Klein-Jimmy hat nur keine Lust, in die hässliche Visage seines Vaters schauen zu müssen«, sagte Albert grinsend. Russell strecke ihm die Zunge entgegen.

»Warum bist du nicht drinnen bei Elise?«, fragte Marlene.

Russell setzte zum Sprechen an, aber Christian kam ihm zuvor. »Lindwall hat ihn rausgeworfen, nachdem er einmal zu oft hysterisch um seine Frau herumgelaufen ist.«

Marlene lachte. »Tja, da haben wir wohl doch eine Aufgabe gefunden, der der Elitesoldat Russell Harris nicht gewachsen ist.«

Albert war auf ihn zugetreten und griff mit beiden Händen an Russells Schultern. »Er hat es mit Guerillas, Islamisten und Außerirdischen aufgenommen. Aber die bevorstehende Ankunft eines kleinen Babys haut selbst den tapfersten Kämpfer aus den Stiefeln.«

Russell wand sich aus Alberts Griff heraus. »Dass man aber auch gar nichts tun kann.« Er hüpfte wieder nervös von einem Bein auf das andere. Ihm war schon klar, dass er sich vor seinen Freunden zum Idioten machte, aber noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt.

»Überlass die Arbeit diesmal anderen«, sagte Marlene. »Doc Lindwall ist ein ausgezeichneter Arzt und Katrina gibt sicher eine ganz hervorragende Hebamme ab.«

»Woher willst du das wissen? Sie war noch nie bei einer Geburt dabei.«

Aus dem Inneren der Baracke hörte er ein langgezogenes Stöhnen, das in einen lauten Schrei mündete.

Ich halte das nicht länger aus!

Russell drehte sich herum und wollte auf die Tür des Lazaretts zugehen, aber Marlene hielt ihn zurück. »Russell, Russell! Bleib schön hier. Das ist völlig normal, beruhige dich!«

Normal? Der Schrei hatte sich überhaupt nicht normal angehört!

Aber Marlene hatte recht. Selbst wenn er jetzt hineinging, er konnte ja doch nichts tun. Er zwang sich zur Ruhe.

»Also schön. Hast ja recht«, sagte er. »Also lenkt mich ab. Erzählt mir etwas Neues. Worüber habt ihr euch unterhalten?« Er zeigte auf die Papiere in Marlenes Hand.

»Die endgültigen Pläne für die Werkstatt«, sagte Albert. »Wir brauchen einen großen Steinofen mit Luftzuführung. Er muss heiß genug sein, dass wir Metalle einschmelzen können, um Werkzeuge und Ersatzteile herzustellen. Die Maschinen, die wir hier haben, werden nicht ewig halten.«

»Wir beginnen nächste Woche mit dem Bau. Dann sollten wir sie vor der Erntezeit fertig haben«, sagte Marlene.

»Wir sollten auch über eine Vergrößerung der Krankenstation nachdenken«, sagte Christian.

»Ja, wir haben die Baracke zu klein gebaut.« Sie zögerte. »Ich weiß zwar nicht, ob ich es sagen darf, aber egal. Dein Kleiner wird schon bald einige Spielkameraden haben«, sagte sie zu Russell gewandt.

»Du meinst ...? Wer?«

»Ben. Er und Drew erwarten ein Mädchen. Sie ist schon im dritten Monat.«

Russell biss sich auf die Lippe. Ben. Der würde seine Tochter lieber in Einzelhaft aufziehen, als sie mit Russells Sohn spielen zu lassen. Die meisten Kolonisten, die sie von Russells Planet hierher gebracht hatten, hatten sich inzwischen mit ihrer Lage arrangiert und mit Russell ausgesöhnt. Einige, wie Eliot und Donald, warfen ihm immer noch Schimpfwörter an den Kopf, wenn er ihnen begegnete. Aber Ben hasste ihn. Nicht, dass er Russell beschimpfte oder ihm mit Gewalt drohte, dafür mussten sie bei der Planung der Kolonie zu eng zusammenarbeiten. Aber in seinen Augen sah er nur tiefste Verachtung. Wenn er ihm gegenüberstand, baute sich grenzenlose Ablehnung auf wie ein elektrisches Feld, dass es ihm die Nackenhaare aufstellte. Russell hoffte, dass sich ihr Verhältnis irgendwann besserte, aber das konnte wohl noch sehr lange dauern.

»Rhonda ist auch schwanger«, sagte Christian.

Marlene riss die Augen auf. »Rhonda? Das wusste ich gar nicht. Von Dr. Cashmore?«

Christian nickte. »Sie wollen nächsten Monat heiraten.«

»Jetzt wird es mir klar«, sagte Marlene.

»Was wird dir klar?«, fragte Russell.

»Unser Chemiker hat mich vor einigen Tagen gefragt, ob ich eine Zeremonie durchführen könne. Ich hatte aber keine Zeit und ihn gebeten, nächste Woche nochmal wiederzukommen. Ich wusste nicht, dass es um eine Hochzeit ging, sonst hätte ich ihn nicht so eilig abgebügelt.«

Elise schrie schon wieder. Lindwall rief irgendwas, aber Russell konnte den Wortlaut nicht verstehen.

Wann hat das endlich ein Ende?

»Bei einigen anderen Paaren könnte es auch bald so weit sein. Aus der Hütte von Ernie und Andrea hört man fast jeden Abend das Gestöhne, wenn sie es miteinander treiben«, sagte Albert, dessen Hütte neben der von Ernie Lawrence stand. »Manchmal wache ich nachts davon auf.«

»Dann such dir jemand, mit dem du Ernie und Andrea kontra geben kannst!«, sagte Russell.

Marlene lief rot an. Er hatte gar nicht gewusst, dass sie solche Unterhaltungen peinlich fand. Er wollte eine spitze Bemerkung loslassen, aber Christian wechselte schon das Thema.

»Müssen wir uns langfristig Gedanken über Inzest oder genetische Verarmung machen?«

»Nein, wenn wir ein wenig aufpassen, dass es bei unseren Kindern nicht zu Hochzeiten zwischen zu engen Verwandten kommt.«, sagte Marlene. »Ich habe mich mit Jenny darüber unterhalten. Wir sind vierzig Erwachsene. Es ist zwar knapp, aber die genetische Vielfalt sollte ausreichen. Sie hat von irgendeinem Kiwi erzählt, von dem es nur noch fünf Exemplare gab. Nachdem deren Insel unter Naturschutz gestellt wurde, lebten zuletzt wohl wieder über tausend dieser Vögel dort. Es ist klar; wir gehen durch einen genetischen Flaschenhals. Aber wir werden es überstehen. Der beste Weg ist, so viele Kinder wie möglich zu bekommen.«

»Russell geht ja schon mit gutem Beispiel voran«, sagte Albert.

»Jaja, geplant war es aber nicht.« Verhütungsmittel hatten sie keine mehr. Der geringe Vorrat des Mediziners war schon nach wenigen Wochen aufgebraucht gewesen. Zunächst wollten sie gar keine Kinder, aber Elise war wohl beim Zählen der Zyklustage durcheinandergeraten, wobei die Methode ohnehin nicht sonderlich zuverlässig war. Aber sie hatten sich gefreut, als Lindwall ihnen die frohe Botschaft mitteilte. Um so mehr wollte Russell jetzt endlich seinen Sohn sehen!

Wie auf Kommando öffnete sich die Tür des Lazaretts. Katrina hatte Blut an ihrer Schürze, aber sie lächelte verschmitzt. Sie hielt die Tür auf und machte eine einladende Kopfbewegung.

Russell zögerte. »Du meinst ...?«

»Na, nun geh schon!«, spornte ihn Marlene an.

Langsam ging Russell die zwei Stufen zur Eingangstüre hinauf und zwängte sich an Katrina vorbei, die ihm auf den Rücken klopfte. Dr. Lindwall kam ihm entgegen, der sich gerade die Handschuhe auszog. Er lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. Russell ergriff sie.

»Glückwunsch, Harris. Gehen Sie durch. Elise wartet schon. Und jemand anderes auch.«

Er sah den Mediziner kaum an und ließ seine Hand los. »Ich könnte jetzt so gut eine Zigarette gebrauchen«, murmelte Lindwall, während er sich an ihm vorbei schob.

Russell trat durch die Tür des Behandlungsraums. Elise lag dort im Bett. Sie sah erschöpft aus. In ihrem rechten Auge war wohl eine Ader geplatzt. Er konnte keine weiße Farbe darin mehr erkennen. Aber sie lächelte. In ihrem Arm hielt sie ein kleines weißes Bündel. Nur ein kleines Eckchen rosafarbener Haut schaute zwischen den Decken hervor. Russell konnte ein zugekniffenes winziges Auge erkennen.

Langsam, mit offenem Mund, ging er um das Bett herum. Er wusste, er hätte sich zunächst Elise widmen sollen, aber er konnte nicht anders. Er zog ein Stück der weißen Decke zurück und ein winzig kleines Ärmchen streckte sich ihm entgegen. Vorsichtig strich er mit dem Zeigefinger über die zarte Haut. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals und er musste kämpfen, dass ihm nicht die Tränen kamen.

»Dein Sohn!«, krächzte Elise.

Mein Sohn!

Kleine Finger schlossen sich um seinen Zeigefinger und hielten ihn fest, als wollten sie ihn nicht mehr loslassen. Die Dämme brachen und Russell weinte leise.

»Jim!«, flüsterte er.

8.

 

Marlene sichtete die Papiere in ihrer Ablage. Es waren Protokolle der jüngsten Koloniesitzung. Sie kniff die Augen zusammen, während sie versuchte, die Schrift von Robert Cashmore zu entziffern, den das Los zum Protokollanten bestimmt hatte. Als sie die erste Seite durchhatte, nahm sie einen Füllfederhalter aus hartem Mammutbaumholz aus der zweckentfremdeten Kaffeetasse, tunkte ihn in die von ihrem Chemiker zusammengerührte Tinte aus Wasser und Titanoxid und malte ihre Initialen auf den unteren rechten Rand der Seite. Das Blatt war gelb wie antikes Pergament, aber etwas Besseres bekamen sie aus den Holzschnipseln dieser Welt einfach nicht hin.

Marlene ärgerte sich, dass sie hier einen kompletten, gesellschaftlichen Neuanfang gestartet hatten und doch auf Bürokratie einfach nicht verzichten konnten. Es hatte sich schon nach einer der ersten Koloniesitzungen gezeigt, als Dorothy Moore die Rechtmäßigkeit des Beschlusses anzweifelte, einen Teil des naheliegenden Waldes zu roden, obwohl alle darüber abgestimmt hatten. Die Auseinandersetzung war so heftig gewesen, dass Marlene beschlossen hatte, in Zukunft Protokolle über die Sitzungen und deren Beschlüsse zu führen. Zwei Monate später war ihnen das Papier ausgegangen. Aber Dr. Cashmore erwies sich mal wieder als ausgesprochen innovativ. Nochmal einige Monate später hatte sich der Großteil der mitgebrachten Kugelschreiber verabschiedet. Lee Shanker war auf die Lösung mit den Holzfederhaltern gekommen.

Gerade, als Marlene die letzte Seite gegengezeichnet hatte, klopfte es an die Tür der Holzbaracke, die der Kolonie als Regierungssitz diente. In Anlehnung an einen nunmehr weit entfernten anderen Regierungssitz wurde das Gebäude in der Kolonie scherzhaft als »Das braune Haus« tituliert. Hier hielten sie wöchentlich die kleinen Ratssitzungen ab und zwei Schreibtische standen für die Arbeit der Ratsmitglieder bereit.

»Herein!«

Die Tür öffnete sich und Chris Neaman kam herein. Wie Ben Hawke hatte er nie eine passende Aufgabe in der Kolonie für sich gefunden und sah sich immer noch als Soldat.

»Hallo Marlene. Hast du eine Minute?«

»Ich habe auch mehr als eine Minute, wenn du mir noch einen Augenblick gibst, um den Papierkram abzuheften.«

Chris setzte sich auf einen der beiden Holzstühle vor Marlenes Schreibtisch und zupfte an seinem grob gewebten Sweatshirt herum. Obwohl vorsichtig gepflegt, hatten sich viele der mitgebrachten Uniformen schon vor langer Zeit aufgelöst, und das von Albert zusammengebastelte Spinnrad, zusammen mit Sammy Yangs improvisiertem Webstuhl, erfreute sich zunehmender Auslastung. Das Nähen des Stoffes zu Kleidung blieb jedem Siedler selbst überlassen. Vor fünf Jahren war es Donald Bell gelungen, aus einer ansässigen Pflanze, die sie wegen der Ähnlichkeit »Hanf« genannt hatten, ein mehrfaseriges Garn herzustellen. Seitdem wurde Stricken zu einer zwangsläufigen Freizeittätigkeit. Marlene hatte schmunzeln müssen, als sie sogar den kantigen Einzelkämpfer Ernie vor seine Hütte fluchend mit zwei Stricknadeln hatte hantieren sehen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135329
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
science-fiction Space Opera Sci-Fi SF SciFi Hard-SF Military Roman Abenteuer

Autor

  • Phillip P. Peterson (Autor:in)

Phillip P. Peterson arbeitete als Ingenieur an zukünftigen Trägerraketenkonzepten und im Management von Satellitenprogrammen. "Transport" war sein erster Roman, der zum Bestseller wurde. Mit "Paradox" gelang ihm schließlich ein Astronautenthriller, der 2015 den Kindle Storyteller-Award gewann und 2016 den 3. Platz des deutschen Science-Fiction-Preises erlangte. Zu seinen literarischen Vorbildern gehören die Hard-SF-Autoren Stephen Baxter, Arthur C. Clarke und Larry Niven.
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Titel: Transport 2: Todesflut