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Transport 1

von Phillip P. Peterson (Autor:in)
260 Seiten
Reihe: Transport, Band 1

Zusammenfassung

„Transport? Transport wohin, Sir?“, fragte Russell skeptisch. „Möglicherweise direkt in die Hölle“, antwortete General Morrow. Vor der Küste Kaliforniens wird ein außerirdisches Artefakt geborgen, das Menschen zu anderen Sternensystemen transportieren kann. Der zum Tode verurteilte Russell Harris und neun andere Häftlinge bekommen als Versuchspersonen für den Teleporter die Chance, ihr Leben zu retten. Doch das Unternehmen entpuppt sich als gnadenloses Todeskommando, nachdem der erste Freiwillige auf grauenhafte Weise stirbt. Russell und seinen Kameraden wird klar, dass sie das Projekt nicht überleben werden. Der einzige Ausweg besteht darin, das Geheimnis des Artefakts zu lüften. Aber auch das scheint hoffnungslos – denn von den Erbauern fehlt jede Spur. Stargate meets Das dreckige Dutzend - ein ungewöhnlicher und spannender Science-Fiction-Roman von Storyteller-Award-Preisträger Phillip P. Peterson. Als erstes Buch der gleichnamigen Trilogie jetzt schon ein Klassiker.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

 

1. Unerwarteter Besuch

2. Flug nach Nevada

3. Training

4. Der Transporter

5. Die hässliche Wahrheit

6. Diskussionen

7. Der Raumanzug

8. Der erste Transport

9. Die Lotterie

10. Der Physiker

11. O’Brien

12. Elise

13. Walker

14. Russell

15. Albert

16. Bridges

17. Hilmers

18. Rushworth

19. Williams

20. Ungewissheit

21. Die Bombe

22. Verzweiflung

23. Erkenntnis

24. Testmissionen

25. Elises zweite Mission

26. Nichts gefunden

27. Die Drohne

28. Tomograf

29. Begegnungen

30. Kommando

31. General Morrow

32. Flucht

33. Kontakt

34. Ursprung

35. Antworten

36. Epilog

37. Impressum

1. Unerwarteter Besuch

 

„Aufstehen. Hände durch die Luke!“

Russell Harris brauchte einen Moment, um sich von seinen düsteren Gedanken zu lösen, und blinzelte verwundert den Schlitz im Stahl an. Normalerweise ließ man die Todeskandidaten in ihren letzten Tagen in Ruhe.

„Was ist los, Dan? Zellenkontrolle?“

Harris stand auf und schleppte sich zu der schweren Stahltür. Er streckte beide Hände durch die Luke. Daniel, der offenbar die Schicht von Walter übernommen hatte, legte ihm Handschellen an.

„Keine Kontrolle mehr, Harris. Besuch. Jetzt tritt zurück an die Zellenwand.“

Russell ging rückwärts, bis er die Wand im Rücken spürte. Als Dan die Tür aufschloss, legte er die gefesselten Hände auf seinen Bauch. Der Wärter kniete nieder und ließ weitere Schellen um seine Fußgelenke einrasten. Russell blickte auf und sah Joe im Gang stehen, der missmutig in die Zelle starrte.

Joe, mit offiziellem Namen Joseph Hill, war der Oberaufseher des Todestraktes. Normalerweise scherzte er um diese Zeit längst am Stammtisch über die nächste Hinrichtung. Wenn er sich jetzt noch im Gefängnis aufhielt, musste es sich um etwas Wichtiges handeln.

Bald richtete Dan sich wieder auf und Russell stand ihm wie ein ungleichwertiger Duellant gegenüber. Kurz darauf griff der Wächter nach seinen Handschellen und zog ihn aus der Zelle. Langsam marschierten sie den Gang hinunter, auf dessen Boden Russells Schuhsohlen ein quietschendes Geräusch verursachten. Bis zu seiner Hinrichtung hatte er mit keinem Besuch mehr gerechnet.

„Ist es mein Anwalt?“, fragte er. „Ich dachte, der wäre nach dem abgewiesenen Gnadengesuch schon auf dem Weg in die Karibik.“

Bei dem Gedanken lachte Russell leise auf. Sein arbeitssüchtiger Winkeladvokat würde niemals freiwillig in den Urlaub fahren. Eher würde er nach Feierabend in die nächste Unfallaufnahme stürmen und Verletzte dazu überreden, ihn als Beistand für eine Klage zu engagieren.

„Kein Anwalt“, brummte Joe.

Er spürte, dass die Aufseher verunsichert waren. Offenbar konnte sein unbekannter Besucher mit verdammt guten Argumenten aufwarten. Vor der Tür des Besucherraumes blieb er stehen, aber Dan zog ihn weiter, zum Ausgang des Todestraktes. Russell sträubte sich. Er hatte bereits akzeptiert, den Todestrakt in entgegengesetzte Richtung zu verlassen – mit Kurs auf den Hinrichtungsraum, auf den elektrischen Stuhl.

Der Wärter schritt vor und öffnete die Stahltür.

„Joe, ich hatte nicht mehr damit gerechnet, durch diese Tür zu gehen.“

„Wenn es nach mir ginge, würdest du das auch nicht.“

Sie schritten an dem Überwachungsraum vorbei, in dem sich normalerweise die Wärter aufhielten. Dann durchquerten sie die äußere Tür. Geradeaus befand sich der Durchgang zum Haupttrakt, dessen Fenster aus massivem Bleiglas bestanden. Sie bogen nach rechts in einen Korridor, der zu einigen Büros und Lagerräumen führte. Grelles Licht fiel aus der offenen Tür eines Besprechungsraums auf den Boden des Flurs. Ein Mann in einem schwarzen Anzug stand neben der Tür und starrte ausdruckslos die gegenüberliegende Wand an. Der Anzugträger war eindeutig vom Secret Service, wie Russell aus dem Knopf im Ohr schloss.

Sie schritten in den Raum. Er war nicht groß und für Zusammenkünfte der Wärter mit der Gefängnisleitung gedacht. Manchmal warteten die Angehörigen des Hinzurichtenden hier auf den Beginn der Zeremonie. Ein runder Tisch aus dunklem, abgenutztem Holz stand in der Mitte des Raumes. Einige unbequem aussehende Stühle waren um ihn herum verteilt. Die Wände präsentierten sich vergilbt und kahl. Ein Bild von Präsident Bigby hing etwas schief unter einem Regal, auf dem ein kleiner Plasmafernseher stand. Auf der entgegengesetzten Seite des Tisches saß ein Mann in einer dunkelblauen Uniform. Der Besucher sah ihm in die Augen. Es waren braune, beinahe schwarze Augen, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Russell blieb stehen und sie schauten sich gegenseitig mit ausdrucksloser Miene an.

„Sir, ich weiß immer noch nicht, was ich davon halten soll“, brach Joe das Schweigen.

Der Mann am Tisch stand auf, wandte nun erstmals den Blick von Russell ab und stierte dem Wärter abschätzig entgegen.

„Leutnant Hill, Sie haben die Papiere, noch dazu unterzeichnet vom Präsidenten der Vereinigten Staaten. Sie haben mit dem Justizministerium telefoniert und sich das Schreiben bestätigen lassen. Wenn ich noch länger warten muss, wird das Konsequenzen für Sie haben.“

Diese Stimme hatte Russell schon lange nicht mehr gehört. Vor allem diesen Tonfall hatte er immer gefürchtet. Colonel Morrow zögerte nie, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Er wusste das aus eigener Erfahrung.

„Was meinen Sie, was Senator Gould morgen mit mir macht?“, jammerte Joe. „Er hat sich persönlich darauf gefreut, den Bastard nächsten Dienstag in der Hölle schmoren zu sehen!“

Russell spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Wurde seine Hinrichtung aufgeschoben? Sollte er begnadigt werden? Normalerweise mischte sich der Präsident nie in die Justizangelegenheiten der Bundesstaaten ein, aber vielleicht hatte sich Bigby doch für ihn eingesetzt, immerhin hatte er von ihm die Tapferkeitsmedaille überreicht bekommen. Damals war Russell mehrere hundert Meter durch feindliches Feuer gelaufen, um zu einem verletzten Kameraden zu gelangen. Das hatte auf einige Leute mächtig Eindruck gemacht. War die Rettung eines Lebens nun genug, um ihn zu begnadigen? Jedoch würde eine Begnadigung „lebenslänglich“ heißen – und was hatte Morrow damit zu tun?

„Das ist Ihr Problem, Leutnant. Und jetzt nehmen Sie dem Mann bitte seine Fesseln ab!“

„Das werde ich erst, wenn Sie Ihre Unterschrift unter die Amnestieerklärung gesetzt haben, General!“

General. Russell blickte auf die Rangabzeichen der Uniform. Es war vorherzusehen, dass man Morrow irgendwann zum General beförderte. Sein politisches Gespür war so berüchtigt wie sein messerscharfer Verstand. Er fragte sich, welche Einheit Morrow jetzt führte.

Die Gesichtszüge des Generals entspannten sich. Er wusste genau, welcher Ärger dem Leutnant bevorstand. „Also gut. Lassen Sie uns bitte allein. Agent Smith wird Sie rufen lassen, wenn wir fertig sind.“

Mit einem verbissenen Gesichtsausdruck verließ Joe den Raum und der Agent schloss von außen die Tür. Sie waren allein. Der General ging um den Tisch herum auf Russell zu, bis sie sich gegenüberstanden.

„Schön, Sie zu sehen, General. Es ist lange her.“

„Ja, das ist es, Soldat.“

Russell lachte leise. „Ich bin kein Soldat mehr.“

„Sie werden es wieder sein, Harris. Wenn Sie mein Angebot akzeptieren, werden Sie es wieder sein.“

„Sie wollen mich aus der Todeszelle rausholen und mich wieder in die Armee stecken?“ Er lachte erneut. „Das muss aber ein übler Einsatz sein, Sir. Es ist ungewöhnlich, dass sich die Army bei Hinrichtungskandidaten bedient.“

„Setzen Sie sich, Harris. Es ist kompliziert, weil ich Ihnen viele Aspekte nicht verraten darf. Jedenfalls nicht, bevor Sie eine Entscheidung getroffen haben.“

Russell setzte sich und legte seine gefesselten Hände auf den Tisch. Der General ging um den Tisch herum und blieb hinter seinem Stuhl stehen. Mit den Händen stützte er sich auf die Rückenlehne und beugte sich nach vorne.

„Passen Sie auf, Harris. Ich möchte nicht, dass Sie sich falschen Hoffnungen hingeben. Ich bin zwar noch bei der Army, aber als Leiter einer Spezialeinheit direkt dem Präsidenten unterstellt.“

„Was für eine Spezialeinheit soll das sein, die …“

Morrow hob die Hand. „Lassen Sie mich ausreden, danach können Sie Ihre Fragen stellen! Es handelt sich jedenfalls nicht um einen Kampfeinsatz.“

Russell sah ihn fragend an.

„Es geht um eine Erkundungs- und Aufklärungsmission. Die Überlebensaussichten sind gering, daher unterbreitet der Präsident Ihnen folgendes Angebot: Sie nehmen an zehn extrem gefährlichen Einsätzen teil und bekommen die Chance, Ihr Leben für Ihr Land zu opfern, vielleicht sogar zum Wohle der gesamten Menschheit. Sollten Sie die zehn Missionen überstehen, werden Sie begnadigt. Sie sind einer von zehn Häftlingen, denen dieses Angebot gemacht wird. Jetzt können Sie Ihre Fragen stellen. Viel mehr werde ich Ihnen jedoch nicht sagen können. Sie haben fünf Minuten für Ihre Entscheidung.“

Russells Gedanken rasten.

„Sir … Sie wollen mich hier rausholen, um mich bei einer Geheimmission einzusetzen, die meinen sicheren Tod bedeutet? Was für eine Mission hat solch eine niedrige Erfolgswahrscheinlichkeit? Wollen Sie mich in einen Vulkan schicken?“

„Es wäre möglich, dass Sie genau dort herauskommen.“

Russell runzelte die Stirn. „Wohin wollen Sie mich schicken?“

„Genau das sollen Sie herausfinden.“

„Sie wissen nicht, wo Sie mich hinschicken wollen?“

Der General nickte. „So ist es, Harris! Wenn Sie mein Angebot annehmen, gehen wir in einer Minute gemeinsam aus diesem Gefängnis. Sie gehören sowieso nicht hierher. In den nächsten Wochen werden Sie die Details erfahren, während Sie sich auf Ihre Mission vorbereiten.“

„Warum ausgerechnet ich?“

„Sie haben am Projekt Leo teilgenommen. Es wäre möglich, dass sich dieses Training jetzt auszahlt.“

Harris schluckte. Projekt Leo lag schon einige Jahre zurück. Dabei war es um das Training von Nahkämpfen in der Schwerelosigkeit gegangen. Seine Einheit hatte unzählige Parabeln in einem alten Kotzbomber der NASA geflogen, denn irgendein hohes Tier im Pentagon hielt es für eine gute Idee, sich auf das Entern der chinesischen Tiangong-Raumstation im erdnahen Orbit vorzubereiten. Im Ernstfall hätte man sein Team in eine Orionkapsel gesteckt und mit einer Delta-Rakete hochgebracht. Nach der Wahl des neuen Präsidenten war das Projekt genauso heimlich beerdigt worden, wie es ins Leben gerufen worden war.

Aber was hat das mit der jetzigen Situation zu tun? Wollen die mich auf eine Rakete setzen und in den Weltraum schießen?

Russell schüttelte den Kopf. Dafür gab es Astronauten und Testpiloten. Die Sache musste verdammt übel sein, wenn sie dafür Todeskandidaten aus dem Knast holten.

Aber es ist auf jeden Fall besser, als in ein paar Tagen auf dem elektrischen Stuhl zu verrecken.

„Ich habe keine andere Wahl, oder?“

General Morrow blickte ihm in die Augen. „Nein, Harris, die haben Sie nicht. Aber ich sage Ihnen was: Wir haben auch keine!“

Der General unterschrieb die Amnestieerklärung und klopfte an die Tür. Fluchend kam Joe in den Raum. Er entfernte die Fußfesseln und löste dann Russells Handschellen. Durch einen Hinterausgang verließen sie das Gebäude und stiegen in eine schwarze Limousine. Agent Smith saß am Steuer.

Auch am Haupteingang des Geländes hielt sie niemand auf.

Vom Häftling und Todeszelleninsassen zurück ins Soldatenleben …

Es war surreal. In der staatlichen Verwaltung des Justizapparates fanden Änderungen nur sehr langsam statt. Selbst der Besuch seines Anwalts zog Unmengen an Papierkram mit sich und es dauerte Tage, bis das Treffen zustande kam. Dagegen hatte die Verwandlung vom Häftling zum Soldaten keine sechzig Minuten gedauert.

Während sie den Highway 32 entlangrasten, blinzelte Russell in die Dunkelheit hinaus.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte er.

General Morrow hatte sein Leselicht eingeschaltet und kramte in einigen Papieren.

„Zunächst geht es zum Cleveland Municipal Airport“, erklärte er, indessen er ein Dokument las. „Da warten zwei Maschinen. Eine für mich und eine für Sie. Ich fliege nach Florence zum nächsten Kandidaten und Sie reisen nach Nevada.“

„Nach Nevada? Lassen Sie mich raten: Wenn das Projekt so geheim und brisant ist, kann mein Ziel nur Area 51 sein.“

Russell musste schmunzeln. Es war als Scherz gemeint.

„Nicht ganz, aber dicht dran. Yucca Flats.“

„Das alte Atomtestgebiet?“, fragte er verblüfft. Damit hatte er nicht gerechnet. Eine böse Vermutung drängte sich ihm auf. Sollte er durch die Bombenkrater laufen, damit Wissenschaftler die Effekte der Strahlung studieren konnten?

„Ich sehe an Ihrem Gesichtsausdruck, was Sie denken, Harris. Aber ich kann Sie beruhigen. Das Projekt hat nichts mit Atomwaffen zu tun. Auf dem Gelände können wir in Ruhe arbeiten und die Reststrahlung der Bombenkrater verdeckt unsere eigenen Emissionen.“

„Worum geht es? Können Sie nicht konkreter werden?“

„Nein, nicht jetzt. Sie werden das Projekt und Ihre Aufgabe früh genug kennenlernen. In Yucca kommen Sie mit den anderen Freiwilligen zusammen und werden von Ausbildern erst mal wieder in Form gebracht.“ Morrow musterte ihn von oben bis unten. „Ihrem Aussehen nach haben Sie sich in der letzten Zeit nicht viel bewegt.“

„Zum Footballspielen war meine Zelle zu klein.“

Der General schmunzelte. „Ihren seltsamen Humor haben Sie jedenfalls nicht verloren. Genießen Sie Ihre wenigen Tage in Freiheit. Es wird früh genug unangenehm. Parallel zur physischen Ausbildung trainieren Sie an verschiedenen Ausrüstungsgegenständen, dann erfahren Sie auch Einzelheiten Ihrer Mission. Ihr erster Transport wird in vier Wochen stattfinden.“

„Transport? Transport wohin, Sir?“

„Möglicherweise direkt in die Hölle.“

 

2. Flug nach Nevada

 

Am Flughafen standen zwei Jets nebeneinander. Russell musterte die Leitwerke beider Maschinen, wo er jeweils ein Logo der Firma Tepper Aviation erkannte. Er wusste, dass es sich um eine Tarnfirma der CIA handelte. Die Maschinen der Scheinfluggesellschaft flogen vermeintliche Terroristen heimlich in Verhöreinrichtungen arabischer und osteuropäischer Länder, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nahmen. Licht brannte in den Cockpits der Flieger. Zwischen beiden Flugzeugen lief ein Pilot herum und zog hastig an einer Zigarette. Als Morrows Wagen vor den beiden Jets hielt, trat der Mann die Kippe aus und kletterte über eine Treppe in sein Flugzeug. Der General brachte Russell zum Einstieg der Maschine.

„Sehen wir uns in Nevada, General?“

„Erst gegen Ende Ihrer Ausbildung. Sehen Sie zu, dass Sie sich wieder in Form bringen. Und noch etwas: Wir holen zwar keine Perversen und Psychos aus der Zelle, aber ein paar von den anderen Kandidaten haben ganz schön was auf dem Kerbholz. Sie sind ein guter Mann und besitzen Führungsqualitäten. Helfen Sie, die Gruppe unter Kontrolle zu halten. Der Präsident ist von der Verwendung von Häftlingen für das Projekt nicht sonderlich begeistert und ich halte persönlich meinen Kopf hin. Wenn das Projekt außer Kontrolle gerät, wird die komplette Gruppe an einen Ort geschickt, an dem sie garantiert nicht überlebt. Behalten Sie das im Hinterkopf, Harris!“

„Ja, Sir“, antwortete Russell. „Aber eines noch.“

„Ja, mein Sohn?“

„Danke, dass Sie mich da rausgeholt haben!“

„Bedanken Sie sich nicht zu früh. Was auf Sie wartet, könnte übler sein als der elektrische Stuhl!“

Russell schluckte, woraufhin Morrow lächelte.

„Schon gut. Entspannen Sie sich. In der Kühlbox hinten finden Sie ein paar Dosen Bier.“ Der General nickte in Richtung der Kabine, und als Russell drin war, schloss er von außen die Tür.

Da spürte Russell, wie ein leichter Schwung durch das Flugzeug ging, und der Pilot drehte sich auf seinem Sitz zu ihm um.

„Setzen Sie sich und schnallen Sie sich an. Wir haben Startfreigabe und rollen schon. Die Flugzeit beträgt etwa fünf Stunden.“

Fünf Stunden von Mississippi nach Nevada?

Er stutzte, fragte aber nicht nach.

Die Kabine war spartanisch eingerichtet. Sechs Sitze mit zwei Tischen, dahinter ein freier Raum.

Sind das etwa Blutspuren auf dem Boden?

Am Ende der Kabine befand sich ein halb zugezogener Vorhang, hinter dem er eine chemische Toilette erkannte. Schließlich nahm er sich einen Platz am Fenster, griff in die Kühlbox hinter seinem Sitz und angelte sich eine Dose Bier heraus. Sie war eiskalt. Mit einem einzigen Zug leerte er sie, während das Flugzeug die Startbahn entlangjagte. Die Maschine schraubte sich in die Höhe.

Gedankenverloren starrte er aus der Luke in die Dunkelheit. Er zerbrach sich den Kopf darüber, was hinter der Geschichte steckte. Wenigstens war er dem elektrischen Stuhl entkommen und egal, welche Gefahren auf seinem baldigen Einsatz drohten, schlimmer als der Stuhl konnten sie nicht sein.

Nach zwei Stunden ging die Maschine in den Sinkflug, jagte in einer lang gezogenen Kurve knapp über dem Boden dahin und stieg dann wieder hoch.

„Keiner muss unseren Kurs nachvollziehen.“

Russell drehte den Kopf vom Fenster weg und blickte zu dem Sprecher. Im Durchgang zum Cockpit stand der Pilot.

„Wir haben unter dem Radar gedreht und den Transpondercode gewechselt“, erklärte er. „Jetzt fliegen wir auf dem schnellsten Weg nach Yucca Flats. Kurz nach Sonnenaufgang werden wir landen.“

Der Mann versuchte nüchtern zu klingen, aber seine Stimme verriet Unsicherheit.

„Was irritiert Sie?“, fragte Russell.

„Nichts. Ist nur etwas ungewohnt. Meistens sind die Passagiere hinten auf dem Boden festgekettet, während wir sie nach Osteuropa oder Libyen kutschieren.“

Also doch!

„Ich bin wohl ein Sonderfall.“

Der Pilot zuckte mit den Schultern, kramte zwei Flaschen Wasser aus der Kühlbox hervor und verschwand im Cockpit.

Viele düstere Gedanken später erkannte Russell spitze Felsnadeln und Sanddünen, die vom Mond in geisterhaftes Licht getaucht wurden. Als eine Meldung aus den Lautsprechern kam, befand sich der Jet bereits im Sinkflug.

„Schnallen Sie sich an. Wir landen in etwa fünfzehn Minuten“.

Russell befolgte die Anweisung, ehe er erneut durch die Luke starrte. Die Morgendämmerung zog herauf, in deren Licht er unter sich eine sandfarbene Mondlandschaft mit einer Vielzahl an Kratern erblickte. Es kam ihm vor, als würde er über ein verwittertes, vernarbtes Gesicht fliegen. Er sah die Überreste der zahlreichen Atomtests, welche die Regierung vor Jahrzehnten in der Wüste durchgeführt hatte.

Die Maschine landete auf einer staubigen Betonbahn und kam zum Stillstand. Sofort wurde die Tür aufgerissen und ein bulliger Militärpolizist stürzte herein.

„Aufstehen! Raus!“, brüllte er und griff Russell an der Schulter.

„Immer mit der Ruhe.“

„Nichts Ruhe! Beweg deinen Arsch aus dem Flugzeug, du bist hier nicht im Urlaub!“ Der Mann schubste ihn die Treppe hinunter, wo ein weiterer Militärpolizist neben einem Geländewagen wartete. „Steig da ein und halt die Fresse! Ich will keinen Ton hören!“

Russell nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Mit einem Ruck setzte sich der Jeep in Bewegung und fuhr durch die Wüste davon.

Es war eine zermürbende Fahrt. Die Helligkeit der tief stehenden Sonne brannte in seinen Augen und er spürte die Wärme auf seiner Haut, die nach der langen Zeit in der Zelle das Sonnenlicht nicht mehr gewohnt war.

Nach einigen Minuten bogen sie auf eine breite Straße nach Norden ab, die über einen ausgetrockneten Salzsee in Richtung eines entfernten Gebirges führte. Scheinbar wahllos in der Landschaft verteilt, erkannte Russell Gebäudegruppen und turmähnliche Gerüste, die in der sengenden Hitze Nevadas vor sich hin rosteten. In regelmäßigen Abständen erspähte er flache, zerfurchte Mulden im Sand. Wie zusammengefallene, riesige Höhlen sahen sie aus und er vermutete, dass es sich um die Krater gezündeter Kernwaffen handelte.

„Nicht gerade eine einladende Gegend habt ihr hier“, meinte er zum Fahrer des Jeeps. Von der Rückbank schlug ihm der Soldat auf den Kopf. „Was habe ich dir gesagt? Du sollst die Schnauze halten!“, brüllte der Mann in sein Ohr.

Russell sagte nichts mehr, sondern verschränkte nur die Arme vor seiner Brust.

Sie fuhren etwa dreißig Kilometer, bis sie zu einer Gruppe aus vier Gebäuden gelangten. Hohe Stacheldrahtzäune umgaben den Komplex. Schließlich passierten sie ein Tor mit einem Wachposten und hielten neben einer in die Jahre gekommenen Baracke.

„Aussteigen.“

Russell gehorchte. Der Soldat hinter ihm ergriff seinen Arm und zog ihn in das Gebäude. Ein Korridor mit einem Fußboden aus Holzbrettern führte an einigen Türen vorbei. An der vorletzten Tür auf der linken Seite blieben sie stehen.

Der Soldat öffnete sie und stieß Russell hindurch. Ein klappriges Bett stand auf der linken Seite der schmalen Zelle. Ein kleiner Tisch und ein Stuhl standen auf der anderen Seite, und ein Loch im Boden vor dem Fenster sollte wohl als Toilette dienen. Der Soldat knallte die Stahltür zu und schloss ab.

Russell blickte aus dem Fenster. Er sah den Zaun und dahinter kilometerweit Sandwüste, die dann abrupt in ein felsiges Gebirge überging. Erschöpft setzte er sich auf das Bett und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er schloss die Augen und wartete.

3. Training

 

Zwei Tage blieb Russell in seiner Zelle. Die Mahlzeiten brachte ihm ein Soldat auf einem Plastiktablett. Er erhielt eine Felduniform und einen Beutel mit Hygienekram. In diesen Tagen hatte er nichts zu tun, als auf seiner Liege zu sitzen und seinen düsteren Gedanken nachzuhängen.

Welche Pläne haben sie mit mir? Auf welche Weise soll ich in den Tod laufen? Es kann nur ein Einsatz tief in feindlichem Gebiet ohne Rückzugsmöglichkeiten sein!

Am Morgen des dritten Tages riss ein Soldat die Tür der Zelle auf und stürzte in die Kammer. „Aufstehen. Anziehen und in sechzig Sekunden vor dem Gebäude antreten. Los, los!“

Russell zwang sich, Ruhe mit Zügigkeit zu vereinen. In geübter Manier zog er sich die Hose an, stürzte aber beinahe, als sein Kreislauf wegsackte.

Inzwischen war der Soldat in die Nachbarzelle gestapft. Auf der anderen Seite der Wand polterte es. Mit zitternden Händen knöpfte Russell sein grün-braun getupftes Hemd zu und schlüpfte in die Stiefel, die er gestern bereits vorgeschnürt hatte.

Da stand der Soldat erneut in seiner Zelle.

„Was habe ich dir gesagt? Du sollst deinen Arsch bewegen, bevor ich dich nach draußen trete!“

Tropfen seines Geschreis spritzten in Russells Gesicht. Ohne sie wegzuwischen, eilte er nach draußen und den Gang hinunter. Dabei stieß er mit einem glatzköpfigen Mann zusammen, der aus einer anderen Zelle auf den Gang hetzte. Nebeneinander stolperten sie ins Freie. Einige andere Männer – und eine Frau – standen dort in einer ungeordneten Reihe nebeneinander.

An der Seite wachte mit verschränkten Armen ein grauhaariger Soldat und schaute sich das Spektakel mit grimmiger Miene an.

„Los, los, in Reih und Glied, ihr faulen Säcke! Der Größe nach Aufstellung nehmen und stillgestanden!“, brüllte der Mann, der hinter ihnen aus der Baracke trat.

Russell drängelte sich zwischen einen Mann mit Schnäuzer und die Frau, der er in der Hektik auf die Füße trat. Er murmelte eine Entschuldigung, bekam aber keine Antwort.

Ein weiterer Gefangener stolperte aus dem Gebäude und wäre beinahe die kurze Treppe heruntergefallen.

„Der Größe nach habe ich gesagt! Du gehst da zwischen. Nein, da! Bist du blöde? Na endlich!“

Der Soldat stellte sich vor seinen Vorgesetzten, salutierte und erstattete Meldung.

„Gruppe vollzählig angetreten, Sergeant Niven!“

Der Angesprochene nickte. Noch ein Soldat trat aus der Baracke und verzog das Gesicht.

„Da drin stinkt’s schlimmer als in der Gosse! Da werdet ihr heute Abend erst mal sauber machen müssen!“

Er stellte sich neben seinen Kameraden. Dafür trat der Sergeant nach vorne.

„Na, das ist doch mal was“, sagte der Unteroffizier mit gereizter Stimme. „Ich habe selten eine so erbärmliche und verkommene Gruppe vor mir gehabt.“ Er schritt die Reihe ab und schlug einem der Männer auf die Stirn. „Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“

Der Angesprochene machte den Mund auf, um etwas zu sagen. Im letzten Moment überlegte er es sich aber anders.

„Ich habe keine Ahnung, warum man euch beschissenes Pack aus dem Knast geholt hat, und ich würde euch am liebsten mit eigenem Gewehr das Gehirn rauspusten. Aber ich habe den Befehl, wieder Soldaten aus euch zu machen. Und genau das werde ich tun.“

Er stellte sich wieder vor den Trupp und blickte den Häftlingen nacheinander in die Augen. Seine Unterlippe bebte.

„An die nächsten vier Wochen werdet ihr euch für den Rest eures Lebens erinnern. Und es werden keine guten Erinnerungen sein. Ihr werdet mich anbetteln, euch wieder in den Knast zu stecken. Ihr werdet laufen, bis ihr kotzt, und marschieren, bis eure Füße nur noch blutige Klumpen sind. Vier Wochen sind viel zu kurz, um aus euch Pennern wieder Menschen zu machen. Wenn ihr glaubt, dass ich auch nur das geringste Mitleid mit euch habe, dann ist das der Fehler eures Lebens.“

Erneut schritt er vor der Gruppe auf und ab.

„Ich bin Sergeant Niven und das hier sind Corporal Barnes und Corporal Gerrold. Was immer wir euch sagen, es geschieht in Rekordzeit, verstanden? Und wenn mir einer komisch kommt, stecke ich ihm meinen Schlagstock tiefer in den Arsch, als ihr es jemals für möglich halten würdet!“

Russell nahm das Spektakel nicht ernst. Das hatte er in der Vergangenheit zur Genüge bei seinen Ausbildungen erlebt. Nach der langen Zeit in seiner Zelle freute er sich geradezu darauf, bei einem unerbittlichen Training wieder seinen Körper zu spüren. Weitaus mehr Sorgen machte ihm, was hinter den vier Wochen des Trainings auf ihn wartete. Auch die anderen in seinem Team bereiteten ihm Bedenken. Einige sahen aus, als könnten sie für Ärger sorgen. – Und er hatte nicht damit gerechnet, dass eine Frau in der Gruppe war.

Er wandte den Kopf und blickte zur Seite. Sie war ein wenig kleiner und jünger als er. Ihre wachen Augen passten zu ihrem sportlichen Körper und selbst die Felduniform konnte nicht verbergen, dass sie sehr hübsch war.

Klatsch!

Sergeant Nivens Hand landete in Russells Gesicht.

„Augen geradeaus, Soldat!“

Wie befohlen blickte Russell nach vorn, wenngleich seine Gedanken noch bei seiner Kameradin weilten. Na, man würde sich schon kennenlernen.

„Schon besser!“, sagte der Sergeant. „Und jetzt schnappt sich jeder einen Tornister und dann los. Im Laufschritt!“ Er zeigte auf einen Stapel Rucksäcke, die ein Stück abseits lagen. Sie schienen mit etwas Schwerem gefüllt zu sein, aber keiner der Männer rührte sich. Daraufhin stierte er den Trupp mit schmalen Augen an. „Wer den Rucksack mit dem roten Kreuz erwischt, wird nach Feierabend die Latrinen leeren!“

Die Männer hetzten zu den Rucksäcken. Russell hatte keine Schwierigkeiten, eine Alternative zu dem markierten Gepäck zu finden. Zuletzt riss die Frau einem weitaus größeren Gefangenen den letzten Rucksack ohne Kreuz aus den Händen. Dabei quetschte sie seine Finger, der Unglückliche schrie auf.

Niven lief voraus und die Gruppe stolperte ungeordnet hinterher. Einige Meter hinter dem Tor des Geländes blieb der Sergeant stehen. „Halt, so geht das nicht. Alle in einer Reihe hintereinander. Und du hinter mir.“ Er zeigte auf den Größten der Gruppe. „Dann der Größe nach. Ja, das ist besser. Und jetzt los! Bis zum Mittagessen wollt ihr dreißig Kilometer hinter euch gebracht haben!“

Russell spurtete zusammen mit den anderen los. Sie liefen bis zum Fuße des Gebirges, wo der erste Gefangene zusammenbrach. Er übergab sich, obwohl es gar kein Frühstück gegeben hatte.

Corporal Barnes trat ihm in die Seite. „Du faules Stück Scheiße! Steh sofort auf und lauf weiter!“

Der Mann hustete, rappelte sich auf und stolperte die nächsten Meter vorwärts.

Sie bogen nach Osten ab und gelangten zum Rand einer weiten Mulde, die früher einmal ein Flusstal gewesen sein musste. Das Laufen in der Wüste war anstrengend. Bei jedem Schritt musste der Fuß mühsam aus dem Sand herausgezogen werden. Sandkörner gelangten in die schweren Stiefel und scheuerten die Haut auf.

Russell bekam Magenkrämpfe. Er spürte, wie ihm die Galle hochkam, und musste sich übergeben. Doch er machte sich nicht die Mühe, währenddessen anzuhalten, sondern spuckte das brennende Zeug zur Seite weg. Vor Jahren war er einen Marathon in dreieinhalb Stunden gelaufen, aber damals war er deutlich fitter gewesen und hatte er auch keinen Rucksack auf dem Rücken getragen.

Er blickte sich um. Hinter ihm lief die Frau, die tapfer die Zähne zusammenbiss. Die kurzen blonden Haare glänzten vor Schweiß.

Ganz schön zäh, die Kleine.

Sie erinnerte ihn an eine Sanitätsoffizierin, die zu seinem Trupp in Afghanistan gehört hatte. Sie hatten sich glänzend verstanden – bis zur Grenze von dem, was einem verheirateten Mann lieb sein konnte. Diese Frau war ebenfalls sehr zäh gewesen und hatte bei den langen Märschen in der sengenden Hitze am Grenzgebiet zu Pakistan niemals die Miene verzogen. Doch ihre Zähigkeit hatte ihr nicht mehr helfen können, als ihr Gehirn von einem Granatsplitter über eine Hauswand verteilt worden war. Von einem Moment auf den anderen war aus der jungen Frau ein Haufen totes Fleisch geworden.

Er fühlte eine beklemmende Enge in seiner Brust, als er an diesen Anblick zurückdachte. Bei jeder Patrouille hatten sie an diesem gottverdammten Haus in diesem verlotterten Dreckskaff vorbeimarschieren müssen, dessen Wände noch Monate später mit roten und gelben Flecken gesprenkelt gewesen waren. Ein junger Unteroffizier, der den Angriff ebenfalls miterlebt hatte, rastete eines Tages aus und warf eine Handgranate durch das Fenster des Gebäudes. Die halbe Fassade des Hauses stürzte ein, zum Glück hatte sich niemand darin aufgehalten.

Dem Kommandeur hatten sie erzählt, sie seien während der Streife aus den Fenstern beschossen worden. Keiner hatte Fragen gestellt und danach war der Vorfall vergessen gewesen.

Aber es gibt Narben, die verheilen nie, dachte Russell, während sie durch den Sand stapften.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie einen riesigen Krater. Sergeant Niven gewährte ihnen eine Pause und Russell setzte sich neben die Frau und einen älteren Mann mit Schnäuzer. Dann kramte er im Rucksack nach der Wasserflasche und blickte anschließend in den trichterförmigen Abgrund, der einige Hundert Meter Durchmesser hatte.

„Ganz schön tiefes Loch. Könnte ein Meteoritenkrater sein, was meinst du?“, wandte er sich an die Frau.

„Ich denke, es ist einfach nur ein Bombenkrater“, entgegnete sie.

„Das ist der Sedan-Krater“, sagte der Mann mit dem Schnäuzer.

„Wie bitte?“

„Das Projekt hieß Sedan. Hier wurde in den fünfziger Jahren eine Wasserstoffbombe unter der Oberfläche gezündet. Man wollte herausfinden, ob man mit Atomexplosionen Hafenbecken ausheben und Berge für den Autobahnbau einebnen kann.“

„Woher willst du das wissen?“, fragte die Frau.

„Weil ich in der Nähe gearbeitet habe und täglich über dieses Gebiet geflogen bin.“

„In der Nähe? Du meinst, in der Area 51?“, bohrte Russell nach.

„Ja, wir haben dort Testflüge mit der SR-71 durchgeführt.“

„SR-71? Das ist doch dieser Überschalljäger.“

„Nein, ein Überschall-Aufklärer, der als Nachfolger der U-2 entwickelt wurde. Ich habe die Maschine im Einsatz geflogen und später in der Area 51, wo sie von der NASA als Testplattform für luftatmende Raketentriebwerke genutzt wurde.“

„Tja, sieht aus, als hättest du dich nicht unbedingt gesteigert“, meinte die Frau sarkastisch.

„Gefällt mir immer noch besser als der Scheißladen, wo ich vor drei Tagen noch war“, meinte Albert.

„Ich muss zugeben, dass das auch für mich gilt. Ich bin Elise Slayton.“

„Albert Bridgeman.“

Russell stellte sich ebenfalls vor.

„Weiß einer von euch, worum es bei diesem Scheiß hier geht?“, fragte er nach einigen Sekunden Schweigen.

„Nein. Der General sagte nur, dass es verdammt ungemütlich wird. Aber alles ist besser als die Gaskammer, die in Arkansas für mich bereitstand“, entgegnete Elise.

„Bei mir wäre es die Spritze gewesen. Ich habe nur noch auf den Termin gewartet“, gestand Bridgeman.

Russell zögerte einen Moment.

„Ich hätte nur noch ein paar Tage gehabt“, offenbarte er. „Ich hatte mich längst damit abgefunden. Auch jetzt mache ich mir keine großen Hoffnungen. Der General sagte, dass die Überlebenschance bei unserer Mission eher gering ist.“

„Warum hast du es dann nicht im Knast hinter dich gebracht, anstatt dir diese Quälerei anzutun?“, fragte Elise.

„Eine kleine Chance ist besser als gar keine. Außerdem gehe ich lieber für eine Sache drauf, die Sinn macht, anstatt nur dafür zu büßen, dass ich einen Menschen auf dem Gewissen habe“, erwiderte Russell mit bitterer Miene.

„Ehrliche Antwort. Die meisten in meinem Knast haben behauptet, sie seien unschuldig.“

„Und was ist mit dir? Bist du unschuldig?“

Elise lachte trotzig. „Wohl genauso wenig wie du. Was ich getan habe, würde ich wieder tun. Mir blieb gar nichts anderes übrig, aber die Geschworenen sahen es anders. Mehr wirst du von mir nicht hören, denn das ist meine Sache und geht dich einen Scheißdreck an.“ Ihre Augen funkelten zornig.

„Schon gut“, beschwichtigte Russell sie und wandte sich zu Albert um. „Und was ist deine Ausrede? Hast du deine Bomben über dem falschen Land abgeworfen?“

Ihm ging es nicht darum, zu erfahren, was seine Kameraden in die Todeszellen geführt hatte, denn kein Häftling redete gern darüber. Er wollte nur herausfinden, wie reizbar seine Kameraden waren und auf wen er sich im Notfall verlassen konnte.

Albert blieb erstaunlich ruhig und redete offen über seine Vergangenheit.

„Ausrede?“, knurrte er. „Ich habe keine Ausrede. Ich kam zwei Tage früher von einem Einsatz zurück. Da wollte ich meine Frau überraschen und ging leise ins Haus. Sie war unter der Dusche. Ich konnte das Rauschen des Wassers bis in den Flur hören. Ich schlich mich ins Badezimmer und bemerkte, dass sie nicht alleine unter der Brause stand. In dem Moment ist mir die Sicherung durchgebrannt. Ich stürmte ins Schlafzimmer, holte mein Gewehr aus dem Schrank und schoss dem Liebhaber von hinten in den Kopf. Sein Gehirn verteilte sich über ihren ganzen Körper. Erst dann habe ich begriffen, was ich getan hatte.“

Während Bridgeman seine Geschichte erzählte, blinzelte er nicht ein einziges Mal.

Russell schüttelte den Kopf. „Kurzschlusshandlung im Affekt“, murmelte er vor sich hin. „Das hätte noch nicht mal lebenslänglich geben dürfen.“

„Nach der Einführung der Bigby-Doktrin?“, konterte Bridgeman und stieß einen abfälligen Laut aus. „Heute werden doch alle im Schnellverfahren zum Tode verurteilt.“

Russell schaute den Hang des Sedan-Kraters hinab. Albert hatte recht. Präsident Bigby hatte sein Wahlversprechen mit Hilfe des Senats schnell umgesetzt, etwas gegen die ausufernde Kriminalitätsrate und die explodierenden Gefängniskosten zu unternehmen. Seitdem wurde jeder Mord und jeder Totschlag, egal aus welchem Grund, in den Vereinigten Staaten mit der Todesstrafe vergolten. Dasselbe galt für Vergewaltigung und Drogenhandel. Gerichtsverfahren wurden im Eilverfahren durchgeführt und Berufungsprozesse nur noch im Ausnahmefall gewährt. Saßen die Gefangenen früher jahrelang im Todestrakt, so dauerte es heute von der Verhaftung bis zur Hinrichtung nur noch wenige Monate. Die Empörung über die neuen Regeln war anfangs groß gewesen, aber als die Kriminalitätsrate in Rekordzeit sank, verstummten die Proteste und Präsident Bigby konnte sich seiner Wiederwahl im nächsten Jahr sicher sein.

Umso erstaunlicher, dass er nun dieser Amnestie zugestimmt hatte, die ihn, Russell, an den Rand dieses Atombombenkraters geführt hatte.

„Müssen wir nicht fürchten, verstrahlt zu werden?“, fragte er.

„Keine Sorge. Wind und Wetter haben die radioaktiven Rückstände längst abgetragen. Aber wie viele Krebstote Las Vegas diesem Loch zu verdanken hat, das weiß nur Gott allein“, antwortete Albert.

„Aufstehen, ihr Penner! Ihr habt euch lang genug ausgeruht!“, brüllte Corporal Barnes. „Wer bei zehn nicht auf den Beinen ist, dem werde ich höchstpersönlich ins Gehirn springen!“

Russell mühte sich zurück auf die schmerzenden, untrainierten Beine, wobei er beobachtete, wie Albert das Aufstehen noch schwerer fiel.

Sie marschierten den ganzen Nachmittag und waren erst wieder zurück bei ihrer Unterkunft, als die Sonne längst untergegangen war. Vor dem Gebäude ließ Niven die Gruppe strammstehen. Einige der Männer schwankten, als würden sie jeden Moment umkippen.

„So, ihr Drecksäcke! Der erste Tag ist vorbei und ich sage euch jetzt, wie das hier läuft. Ihr könnt euch auf dem Gelände frei bewegen. Eure gemütlichen Hotelzimmer habt ihr ja bereits kennengelernt und das Gebäude dort drüben ist die Mannschaftsmesse.“ Er zeigte auf einen lang gestreckten Bau in einiger Entfernung. „Da könnt ihr euch abends aufhalten, wenn ihr noch nicht zu müde seid. Die Mahlzeiten werden ebenfalls dort eingenommen.“

„Und wo ist die Baracke mit dem Feldpuff, Sir?“, fragte ein Mann, dessen Stirn von einer Narbe durchzogen war, und grinste breit.

„Sperren Sie Soldat Bridges in seine Zelle“, ordnete Niven mit ungerührter Miene an. Kein Abendessen heute. Außerdem Hand- und Fußfesseln!“

Die beiden Hilfsausbilder führten den fluchenden Mann ab.

„Wenn es eines gibt, das ich hasse wie die Pest, dann sind das blöde Sprüche. Merkt euch das, sonst fallen mir noch ganz andere Dinge ein. Morgen beginnen wir um 0500 mit einer gemütlichen Wanderung auf den nächsten Gipfel. Mit vollem Gepäck, versteht sich. Und jetzt wegtreten!“

Russell wankte in die Messe, wo ein Kübel mit dampfendem Eintopf stand. Er schöpfte sich eine Schüssel voll und setzte sich an einen Tisch mit Elise und Albert.

Sein Kamerad sah fertig aus, aber Elise wirkte noch recht frisch.

„Du scheinst solche Tage gewohnt zu sein“, meinte Russell.

„Ich bin früher regelmäßig bei Wettkämpfen gelaufen“, sagte sie. „Ich war immer im Training und nicht lang genug im Gefängnis, um meine Form völlig zu verlieren.“

Russell senkte den Blick auf die Schale und sog den aufsteigenden Dampf mit der Nase ein. Das Essen roch gar nicht mal so schlecht, aber beim ersten Löffel zog es ihm die Mundwinkel zusammen. Total versalzen.

Hinter Elise tauchte ein Mann auf und fingerte in ihren Haaren herum. „Ja, was haben wir denn da? Ein blondes Schätzchen. Du solltest mich heute Nacht mal besuchen, dann zeig ich dir, wie …“

„Ich gebe dir zwei Sekunden, um die Finger von meinem Kopf zu nehmen, sonst werde ich sie dir brechen“, sagte Elise mit zuckersüßer Stimme.

„Kopfmassagen sind meine Spezialität. Kannst mich auch mal massieren. Am besten an meinem …“

Blitzschnell wirbelte Elise herum um und griff nach der Hand des Mannes. Es knirschte, als sie eine ruckartige Bewegung machte. Das Grinsen des Soldaten verwandelte sich in einen schmerzerfüllten Schrei. Die Schüssel, die er in seiner anderen Hand gehalten hatte, flog in hohem Bogen durch den Raum. Zwei seiner Finger waren unnatürlich weit nach hinten gebogen. Er biss die Zähne zusammen und wankte aus der Messe nach draußen.

Russell grinste. „Wo hast du das gelernt?“

„Ich habe mein ganzes Leben lang in einer Männerwelt gelebt und weiß genau, wie ich mich gegenüber Idioten verhalten muss. Ich wüsste nur gerne, ob es hier noch mehr von seiner Sorte gibt.“

Ein anderer Mann setzte sich auf den freien Stuhl neben Russell und blickte zu Elise herüber.

„Einige schon“, antwortete er auf ihre Frage, „aber Sean O’Brien ist der Schlimmste.“

„Und wer bist du?“, fragte Russell.

„Mein Name ist James Rogers. Nennt mich Jim.“

„Schön, Jim. Du scheinst ja einiges zu wissen. Also klär uns mal auf.“

„Ich bin mit diesem General Morrow hergeflogen. Er schlief auf dem Sitz neben mir ein, also habe ich die Gelegenheit genutzt, das Dossier vor ihm auf dem Tisch zu lesen.“

„Und was stand drin?“

„Die Persönlichkeitsprofile der hier anwesenden Zwangsfreiwilligen.“

„Und?“, fragte Elise.

„O’Brien, dem du gerade die Finger gebrochen hast, und Michael Bridges, der nach dem blöden Spruch von eben in seiner Zelle sitzt, sind Kumpels. Sie haben zusammen eine Tankstelle überfallen und den Kassierer erschossen. Die psychologischen Profile von beiden lassen darauf schließen, dass sie ganz gehörig einen an der Waffel haben.“

„Was weißt du über die anderen?“, hakte Russell nach.

„Da drüben am Tisch“, sagte er und zeigte auf besagte Tafel, „das sind Robert Walker, Vance Hilmers und John Rushworth. Walker war Soldat und hat nach einem Streit seinen Vorgesetzten erstochen. Hilmers wurde bei einem Einbruch vom Besitzer überrascht und hat ihn erschossen. Rushworth hat mit ein paar Freunden einen Geldtransporter gesprengt, in dem leider noch ein Wachmann saß. Dass er nur das Fluchtauto gefahren ist, hat den Richter nicht interessiert.“ Er zögerte. „Über euch weiß ich natürlich auch Bescheid.“

Elise verzog das Gesicht. „Prima, und wen hast du auf dem Gewissen?“

„Eine Million tapfere Amerikaner.“

Russell zog die Augenbrauen nach oben. Mit so einer Menge hatte selbst er nicht gerechnet. Wie konnte ein einzelner Mensch so viele seinesgleichen umbringen? Hatte er eine Atombombe gezündet?

„Das sagte jedenfalls der Richter“, schob Jim nach. „Ich habe Militärgeheimnisse ins Internet geladen. Ich dachte, Amerika und die Welt sollten wissen, was die RedEye-Satelliten draufhaben, welche die CIA und die NSA nächstes Jahr in den Weltraum schießen.“

„Nie davon gehört. Was haben sie denn drauf?“, fragte Albert.

„Es sind Infrarotlasersysteme mit einem ausgeklügelten Pointing-System und einer hochauflösenden Optik. Aus dem Orbit kann man mit den Satelliten auf jeden beliebigen Menschen im Sichtfeld zielen. Den Strahl des Infrarotlasers sieht man nicht und alle Welt wird annehmen, dass das arme Schwein an einem Schlaganfall gestorben ist.“

„Das gibt es doch wohl nicht! So etwas ist möglich?“

„Es ist das perfekte Attentatswerkzeug. Die Geheimdienste haben eine perverse Menge Geld dafür ausgegeben. Ich habe bei einem Satellitenzulieferer gearbeitet und mit einem Kollegen zusammen die Baupläne vom Server geladen. Dann wollte ich sie im Internet veröffentlichen. Leider war die Plattform NetLeaks nur ein Honeypot der Regierung. Pech gehabt. Selbst der Gerichtsprozess fand im Geheimen statt.“

„Wurde dein Kumpel auch geschnappt?“, fragte Russell.

„George Williams. Ja, er wurde. Er ist ebenfalls hier. Hat sich heute dermaßen die Seele aus dem Leib gekotzt, dass er keinen Hunger mehr hatte, und rüber in die Koje ist. Bedauerlicherweise habe ich seit der Sache kein so gutes Verhältnis mehr zu ihm.“

„Hast du in Morrows Papieren etwas darüber gelesen, worum es hier geht?“

„Nichts wirklich Erhellendes. Aber in einem Memo wurde der Einsatzzweck vage umrissen. Sie haben wohl irgendein Objekt hier auf dem Gelände versteckt, das wir testen sollen und bei dessen Benutzung ein Mann ums Leben gekommen ist.“

„Was für ein Objekt?“, fragte Elise.

„Das kann ich nicht sagen. Das Schreiben war sehr nebulös. Es war nur von dem Objekt die Rede und von den Häftlingen, mit denen der Transport durchgeführt werden soll.“

„Transport? Dann kann es sich nur um ein Fahrzeug handeln“, schlussfolgerte Russell.

„Oder um ein Flugzeug oder eine Rakete“, überlegte Albert. „Ich bin Testpilot für Flugzeuge und habe auch Maschinen mit Raketenantrieb geflogen.“

„Unsere Astronautin hier ebenfalls“, sagte Jim.

Russell sah überrascht auf. Astronautin?

Er hätte eher auf Soldatin getippt. Auf Astronautin wäre er niemals gekommen. Astronauten hatte er sich immer anders vorgestellt.

Elise winkte ab. „Ich war Missionsspezialistin und habe das Shuttle nicht geflogen. Ich saß bloß im Rücksitz und habe mich in den Orbit kutschieren lassen. Auf der Internationalen Raumstation habe ich Forschungen durchgeführt und war Spezialistin für Weltraumspaziergänge und Konstruktionsarbeiten. Zwar habe ich meine Pflichtstunden in der T-38 absolviert, aber als Pilotin wäre ich ungeeignet.“

„Ich habe keinerlei Flugerfahrung“, gestand Russell. „Vor einigen Jahren habe ich ein Kampftraining in der Schwerelosigkeit durchgeführt, aber das ist auch schon alles. – Jim, du kennst die Persönlichkeitsprofile. Was ist unser kleinster gemeinsamer Nenner?“

„Darüber habe ich bereits lange nachgedacht. Wir haben alle eine militärische Ausbildung und Einsatzerfahrung. Etwa die Hälfte von uns kennt sich im Fliegen aus. Der Rest hat Kampferfahrung in exotischen Ländern. Ich selbst war bei Desert Storm dabei.“

„Sehr aufschlussreich“, sagte Albert sarkastisch. „Also sollen wir mit einem mysteriösen Objekt zu Kampfeinsätzen in exotische Länder fliegen. Die Arschlöcher könnten uns wenigstens sagen, was sie von uns wollen.“

„Ich weiß nicht, ob wir uns dann besser fühlen würden“, entgegnete Russell nachdenklich.

 

Müde, aber innerlich aufgedreht, saß Russell auf seinem Bett und grübelte. Nach einer Weile ging er noch einmal zur Mannschaftsbaracke hinüber. Dort entdeckte er im untersten Fach des Kühlschranks eine Palette mit Bierdosen und nahm sich eine heraus. Er riss die Dose auf, dann trat er nach draußen in die frische Luft. Es war dunkel geworden und in einem Häuschen sah er den Wachposten sitzen. Aufmerksam wirkte er jedoch nicht, sondern blätterte in einem Farbmagazin mit einer nackten, vollbusigen Frau auf dem Cover.

Da bemerkte Russell im rechten Augenwinkel eine Bewegung. Sie kam von der anderen Seite des Gebäudes. Jemand hockte hinter den Mülltonnen und beobachtete den Wachposten. Russell hustete absichtlich laut.

Der Schatten bewegte sich und trat ins Licht des untergehenden Mondes. Es war Sean O’Brien. Er hatte einen Verband um seine Hand.

„Spionierst du mir nach, Arschloch?“, fragte er.

Russell ging auf die Beleidigung nicht ein.

„Nein“, sagte er. „Hab mir nur ein Bier geholt und deinen Schatten hinter dem Haus gesehen. Was machst du hier draußen?“

„Ich würde mal sagen, das geht dich einen Scheißdreck an, Wichser. Verpiss dich in dein Bett!“

„Immer mit der Ruhe. Warum so feindselig? Ich will dir ja gar nichts.“

„Das würde dir auch nicht gut bekommen, Arschloch. Ich habe schon ganz andere fertiggemacht.“

Russell nahm die Drohung nicht allzu ernst. O’Brien war fast zwanzig Zentimeter kleiner als er und sehr gelenkig sah er auch nicht aus. Er wollte sich mit ihm nicht unnötig anlegen. Gleichzeitig fragte er sich, warum sein Gegenüber so feindselig war.

„Ist ja gut, Mann. Krieg dich wieder ein. Wir sollten nicht aufeinander losgehen, denn wahrscheinlich müssen wir noch ein Weilchen miteinander auskommen. Du bist Sean O’Brien, richtig?“

„Hast gut aufgepasst“, knurrte O’Brien sarkastisch.

„Ich bin Russell.“

„Schön für dich.“ O’Brien sah sich immer wieder gehetzt um.

„Was machst du hier draußen?“, fragte Russell mit ruhiger Stimme.

„Lage peilen. Rausfinden, wie man verschwinden kann.“

„Willst du abhauen?“

„Bei der erstbesten Gelegenheit.“ O’Brien grinste.

Russell schüttelte innerlich den Kopf. „Dir ist klar, dass wir alle drunter leiden werden, wenn du Mist baust?“

O’Brien zuckte mit den Schultern. „Ist mir doch scheißegal. Kannst ja mitkommen.“

„Ich warte erst mal ab, worum es überhaupt geht, bevor ich was Blödes mache.“

„Ein paar Tage werd ich auch noch warten – bis hier etwas Ruhe eingekehrt ist. Außerdem muss ich mich noch bei der blonden Schlampe bedanken.“ Er hielt seine Hand mit dem Verband in die Höhe.

„Nenn sie nicht so. Du hast sie angemacht und sie hat sich gewehrt. Lass es gut sein.“

„Ich sag dir was: Die wird mir noch den Schwanz lutschen für die Aktion!“

„Und ich sage dir, lass sie in Ruhe.“

„Und wenn nicht? Willst du dann den Helden spielen? Würde dir nicht gut tun, Wichser!“

Russell spürte Wut in sich aufkeimen. Er hatte gelernt, nicht auf jede Beleidigung einzugehen, aber O’Brien begann den Bogen zu überspannen. Er überlegte, ob er es auf eine Konfrontation ankommen lassen sollte. Vielleicht war der andere einfach nur ein Großmaul, das sich verpisste, bevor es brenzlig wurde.

Doch O’Brien wandte sich bereits ab. „Trink du schön dein Bier und kümmer dich nicht um Scheiße, die dich nichts angeht, Arschloch.“

Sein bissiger Kamerad verschwand im Unterkunftsgebäude. Russell trank sein Bier aus und warf die Dose hoch über den Zaun. Eigentlich hatte er das Bier geholt, um müder zu werden. Nach der Unterhaltung mit O’Brien fühlte er sich wieder hellwach.

 

Die nächsten Tage waren übel. Sie marschierten mit schweren Rucksäcken durch die Wüste oder das nahe Gebirge. Immer wieder machten sie Leibesübungen, bis jeder Muskel schmerzte. Die Tage waren lang und Russell fiel abends müde in sein Bett.

Dafür lernte er seine Kameraden von Tag zu Tag besser kennen. Michael Bridges und Sean O’Brien gehörten zur Spezies der Arschlöcher, die keinerlei Anstrengung unternahmen, sich in die Gruppe zu integrieren. Beide gefielen sich darin, die anderen zu beleidigen und lächerlich zu machen. Vor allem O’Brien traute er es zu, dass dieser sich daran erfreute, kleine Tiere zu quälen. Zudem schielte er alle paar Minuten lüstern oder giftig zu Elise herüber. Sicher würde O’Brien eine Gelegenheit für einen Übergriff nicht ungenutzt lassen.

Er selbst wiederum freundete sich mit der ehemaligen Astronautin schnell an. Sie teilten eine pragmatische Einstellung und einen gesunden Humor. Gerne hätte er gewusst, was Elise in die Todeszelle gebracht hatte, aber er verkniff sich jede Frage danach.

Auch mit Jim Rogers und Albert Bridgeman verstand er sich gut. Jim war ein Moralist und konnte stundenlang darüber diskutieren, was richtig und was falsch war. Der Kerl litt deutlich unter der Situation. Zusammen mit Elise baute er seinen Kameraden auf, wenn dieser mal wieder eine Durststrecke hatte.

Nach einigen Tagen liefen sie wieder am Rand des Sedan-Kraters entlang und Russell fiel mit Albert ein Stück zurück.

„Hat man diese Sedanbombe eigentlich jemals für einen zivilen Zweck genutzt?“, fragte Russell schnaufend.

„Nein, der radioaktive Fallout war einfach zu groß. Die Bombe hat große Mengen radioaktiven Staubs hoch in die Atmosphäre geblasen und der hat sich dann in halb Nevada verteilt. Las Vegas hat damals ganz schön was abbekommen.“

„Wirklich? Hab nie davon gehört.“

„War eine andere Zeit damals. Mein Vater hat seine Ferien oft bei Verwandten in Nevada verbracht und mir erzählt, dass sie mehrmals raus in die Berge gefahren sind, um sich Atomtests der Army anzuschauen. Einmal kam ein Journalist aus New York dazu und hat Vaters Onkel gefragt, ob er sich keine Sorgen wegen der Kinder und der radioaktiven Strahlen mache.“

„Und was hat der Onkel gesagt?“

„Ach, ein bisschen Radioaktivität sei gut für die Kinder und härte ab!“

Russell lachte. „Ja, damals war wirklich noch eine andere Welt. Ist verdammt lange her.“

Er mochte Albert. Sein Gefährte hatte eine beruhigende Art, was sich darin zeigte, dass er nie eine überflüssige oder hektische Bewegung machte. Unter anderen Umständen hätte er einen überzeugenden Priester abgegeben. Doch als er ihm von seiner Assoziation erzählte, winkte dieser ab.

„Der äußere Schein trügt. Es staut sich verdammt viel Scheiße im Hintergrund an, die anderen bekommen es bloß nicht mit. Schon als Jugendlicher habe ich nie gerne Gefühle gezeigt und das sachliche Training zum Piloten trug das Übrige dazu bei. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt noch Gefühle habe, aber dieser Mistberg brodelt ziemlich stark. Und diese Scheiße kann von einem Augenblick auf den anderen explodieren, sonst hätte ich kaum den Liebhaber meiner Exfrau umgelegt.“

„Das belastet dich sehr, oder?“

„Nicht so sehr, wie es sollte. Mitleid mit dem Arschloch habe ich keins. Ich weiß nicht, wie viele Bomben ich in zehn Jahren Militärkarriere abgeworfen habe, doch es lasten sicher Hunderte Menschen auf meinem Gewissen. Der Liebhaber meiner Frau war der Einzige von diesen ganzen Toten, wo ich wirklich einen Grund hatte, sauer zu sein.“ Albert zuckte mit den Schultern. „Ich bereue die Sache, weil ich mir dadurch mein eigenes Leben versaut habe, doch letzten Endes hätte ich die Hinrichtung wohl verdient – oder bei der Scheiße draufzugehen, die hier auf uns wartet.“

„Was denkst du, worum es geht?“

„Wären wir alle Piloten hier, würde ich sagen, es geht um Kamikazekommandos. Aber ein paar Idioten in der Gruppe würde ich noch nicht mal einen Flugsimulator anvertrauen.“

 

Russell schlief abends schnell ein und erwachte meist lange vor dem Weckruf. Er ertappte sich oft beim Grübeln: über die Dinge, die in seinem Leben schiefgelaufen waren, über dieses seltsame Kommando hier und über Elise.

Gerne hätte er mehr über sie erfahren, aber sie erzählte nicht viel über ihre Vergangenheit. Zwischen Ihnen war etwas entstanden, das leicht über reine Freundschaft hinausgehen konnte, jedoch machte es in dieser seltsamen Gruppe mit einem Todeskommando am Horizont wenig Sinn, diese Gefühle zuzulassen.

Mit einfachen Meditationsübungen entkam er seiner Grübelneigung, durch die er in Afghanistan an den Rand einer Depression gedrängt worden war. Er hatte sie von einem indischstämmigen Kameraden gelernt, der bei seinem letzten Einsatz doch noch eine Kugel abbekommen hatte. Bei dem Training konzentrierte er sich auf den Moment und beobachtete seine Gedanken. Wenn unwillkommene Bilder auftauchten, drängte er sie behutsam zurück, bis er ein Gefühl entspannter Leere erreichte, auf dem er wie auf einer sanften Woge schwebte. Achtsamkeit hatte Ravi diese Praxis genannt. Sie hatte ihm nicht nur im Krieg, sondern auch im Knast geholfen, als ihn der Gedanke an die bevorstehende Hinrichtung in der Enge seiner Zelle fast wahnsinnig gemacht hätte.

 

4. Der Transporter

 

Am nächsten Tag gab es vor dem Frühstück keine Morgenübungen. Als sie nach der Mahlzeit vor dem Gebäude antraten, stand General Morrow neben Sergeant Niven und begrüßte die Gruppe. Russell wusste, dass der Drill nun ein Ende hatte. Endlich würden sie erfahren, worum es ging.

„Guten Morgen, Soldaten. Ich freue mich, dass Sie nach dem Training besser aussehen. Sie haben mehr Farbe, eindeutig eine bessere Kondition und ich kann Ihnen versichern, dass Sie diese brauchen werden. Ich weiß, dass Sie sich fragen, warum der Präsident Sie aus dem Gefängnis holen ließ. Heute sollen Sie erfahren, worum es bei dem Projekt geht.“

„Na, das wird auch Zeit“, murmelte Jim Rogers.

„Was Ihnen bevorsteht, wird sich für Sie sehr unglaubwürdig anhören, wenn ich es Ihnen sage. Also habe ich beschlossen, es Ihnen einfach zu zeigen. Ich schlage vor, dass Sie Ihre Habseligkeiten holen und auf den Wagen dort steigen. Sie werden umquartiert und kehren nicht hierher zurück.“

Minuten später saßen alle auf der Ladefläche des Armee-Lastwagens. Sie fuhren eine halbe Stunde durch die Wüste an den Rand des Gebirges, wo einige Gebäude vor einer Tunneleinfahrt standen. Die Bauwerke waren offenbar in Eile hochgezogen worden. Eines war noch von Gerüsten umgeben. Wiederum gab es den Tunnel schon deutlich länger. Seine Betonwände waren mit Moos bewachsen und schwer bewaffnete Wächter sicheren den Eingang.

Der General zeigte auf die Gebäude. „Hier werden Sie untergebracht und auf Ihre Missionen vorbereitet. Sie können sich auf dem Gelände frei bewegen und es stehen Ihnen einige Annehmlichkeiten zur Verfügung.“

„Können wir mit unseren Familien telefonieren?“, fragte George Williams. Seit dem gemeinsamen Geheimnisverrat schien sich der ehemalige Partner von Jim Rogers fernzuhalten. Russell hatte noch nicht viele Worte mit ihm gewechselt.

„Nein. Das wird nicht möglich sein“, antwortete General Morrow. „Das Projekt unterliegt striktester Geheimhaltung. Ihre Familien wurden informiert, dass Sie sich freiwillig für ein Militärkommando gemeldet haben und im Überlebensfall eine Amnestie erwarten. Sie werden keinen Kontakt mit der Außenwelt haben. Mobiltelefone sind auf dem Areal verboten und ein Empfang wird zusätzlich mit Störsendern verhindert. Auch Leitungsverbindungen wie Internet und Telefon stehen auf dem Gelände nicht bereit. Wir sind von der Außenwelt abgekapselt bis auf eine Datenverbindung zum Pentagon, und für diese besitze ich die alleinigen Zugriffsrechte.“

„Und worum geht es jetzt?“

„Das werden Sie gleich sehen. Einige Minuten Geduld bitte.“

Sie passierten die Wachen vor der dunklen Röhre. Soldaten öffneten die Schranke für den Laster und trugen eine Sperre beiseite. Die Wächter starrten die Gruppe mit großen Augen an. Fast schon mit Ehrfurcht.

Sie wissen Bescheid. Verdammt, was erwartet uns in dem Tunnel?

„Diese Anlage ist ein Überbleibsel des Kalten Krieges“, sagte Morrow, während sie eine enge Straße im Stollen hinabfuhren. „Er führt uns in einen Hohlraum in etwa zwei Kilometern Tiefe.“

Gefühlte fünf Minuten dauerte die Fahrt, ehe der Laster zum Stehen kam. Das Ende des Tunnels wurde von einem massiven Stahlschott verschlossen, das sich auf Befehl des Generals zur Seite hin öffnete. Der Transporter fuhr noch einige Meter und hielt dann an, während sich die schwere Tür hinter ihnen wieder schloss.

Russell stieg von dem Wagen und schaute beeindruckt in die weite Höhle. Sie hatte mindestens einen Kilometer Durchmesser und glich in ihrer Form einer Halbkugel.

„Dieser Hohlraum wurde mit einer Wasserstoffbombe Anfang der sechziger Jahre in den Felsen geschmolzen. Den Sedan-Krater kennen Sie bereits von Ihrem Training. Hier kam ein Sprengsatz mit vergleichbarer Stärke zum Einsatz. Allerdings dauerte es fünf Jahre, bis die Radioaktivität so stark nachgelassen hatte, dass wir die Höhle einer Nutzung zuführen konnten. Das war länger, als wir dachten. Und es gibt immer noch eine Reststrahlung, die Ihnen aber nicht schaden wird.“

Russell blickte sich um. Überall standen Zelte, Bürocontainer, Generatoren und Fahrzeuge herum. Kabel verliefen kreuz und quer über den kahlen Betonboden.

Nur wenige Menschen hielten sich in der Höhle auf. Einige Soldaten standen um den Eingang herum, und neben einem Gerät, das auf einem dreibeinigen Stativ stand, diskutierten Ingenieure mit Technikern in weißen Laborkitteln. Scheinwerfer leuchteten die gesamte Höhle aus. Die meisten zeigten auf die Mitte der Felshalle. Und dann sah Russell das fremdartige Objekt.

„Was zum Teufel ist das?“, rief Vance Hilmers erstaunt.

Jetzt starrten alle mit aufgerissenen Augen in das Zentrum des Hohlraums. Das Objekt erschien Russell wie eine schwarze Fläche in seinem Gesichtsfeld. Es war so dunkel und ohne Struktur, dass es sich anfühlte, als hätte er einen blinden Fleck auf seiner Netzhaut. Erst als sie näher gingen, erkannte er eine gräuliche Schattierung. Das Ding hatte die Form einer Kugel mit etwa zehn Metern Durchmesser. Einige Gerüste standen an der Seite der schwarzen Sphäre.

Der General stellte sich vor das Ding und wies die Männer an, stehen zu bleiben.

„Vor einigen Monaten haben wir dieses Objekt auf dem Meeresgrund an der kalifornischen Küste gefunden. Eine Expedition sollte den Meeresboden gravimetrisch vermessen, dabei fand sie eine Massenkonzentration in zweitausend Metern Tiefe. Schließlich hat ein Bergungsschiff das Objekt nach oben gehievt und erste Untersuchungen ergaben einen Hohlraum innerhalb der Sphäre. Man kann Zugang erlangen, indem man seine Hand auf die Außenwand legt.“

Morrow machte es vor und eine Öffnung von etwa fünf mal fünf Metern entstand wie aus dem Nichts neben der Stelle, an die der General seine Hand gelegt hatte.

„Folgen Sie mir.“

Verblüfft trat Russell in die fremdartige Kugel hinein. Die Hülle war kaum einen Millimeter dick, wie bei einer Blase. Innen war die Wand von gräulicher Farbe und strahlte ein ganz eigentümliches, unwirkliches Licht aus. In der Mitte des gewölbten Raumes schwebte eine kleinere Sphäre mit einem Durchmesser von etwa vier Metern. Um Zugang zu der zweiten Kugel zu erlangen, hatte man eine Flugzeuggangway herbeigeschafft.

„Die kleine Sphäre dort oben ist ebenfalls hohl. Man gelangt auf dieselbe Art hinein, also indem man seine Hand auf die Wandung legt. In diesem Fall erscheint unmittelbar danach eine Öffnung. Aber wenn Sie mich jetzt fragen, was sie da oben schweben lässt, dann muss ich Ihnen gestehen, dass wir keine Ahnung haben.“

„Was ist das für ein Ding? Wer hat es gebaut?“, fragte Vance Hilmers.

„Wir gehen davon aus, dass es sich um ein außerirdisches Artefakt handelt.“

Leises Kichern im Hintergrund.

„Und wie kommen Sie darauf?“

„Das soll Ihnen Dr. Gilbert erklären. Er ist unser Chefphysiker und wissenschaftlicher Projektleiter.“ Morrow nickte einem hageren Mann zu, der hinter ihnen die Sphäre betreten hatte. Er trug einen weißen Laborkittel, darunter ein graues Hemd und eine hässliche, nachlässig gebundene Krawatte. In der Hand hielt er ein großes Notizbuch und seine Brillengläser schienen aus Glasbausteinen zu bestehen.

„Guten Tag, meine Herren. Ah, und die Dame. Nachdem Sie nun unseren Schatz in Augenschein genommen haben, erkläre ich Ihnen zusammenfassend, was wir wissen – nicht wahr, General?“

„Legen Sie los, Gilbert. Hier sind keine Geheimnisse nötig.“

„Gut“, sagte der Projektleiter und drehte das Gesicht den Versammelten zu. „Das Objekt hat einen Außendurchmesser von 11,60 Metern und einen Innendurchmesser von 12,50 Metern.“ Er machte eine theatralische Pause, ehe er fortfuhr: „Ja, Sie haben richtig gehört, der ermittelte Durchmesser ist innen größer als außen.“

„Völlig unmöglich“, sagte Elise. „Wie sollte das machbar sein?“

„Wir gehen davon aus, dass die Außenhülle eine gewisse Raumkrümmung verursacht, ähnlich wie dies in der Nähe eines Schwarzen Lochs zu erwarten wäre. Und das ist nicht die einzige Merkwürdigkeit.“

Auch Russell hörte weiterhin ungläubig zu.

Schwarze Löcher? Wovon zum Teufel redet der? Was haben die hier nur rangeschafft?

Unsicher blickte er nach unten zu der Hülle der Sphäre, auf der er stand. Wenn er sein Gewicht verlagerte, spürte er die leichte Neigung der Oberfläche. Er schloss die Augen und versuchte das Gesagte zu verarbeiten.

„Wir haben das Objekt im Rahmen von gravimetrischen Untersuchungen des Meeresbodens gefunden. Nach der Messung seiner Anziehungskraft sollte es eine Masse von etwa fünf Mal zehn hoch zwölf Kilogramm haben, was etwas mehr ist als die Masse des Mount Everest. Oder vergleichen Sie es mit einem kleinen Planetoiden. In der Tat beträgt das Gewicht aber nur etwa zwanzigtausend Tonnen, sonst wären wir natürlich nie in der Lage gewesen, die Sphäre zu bergen.“

„Und woraus besteht das Ding?“, wagte diesmal Jim Rogers eine Nachfrage.

„Das wissen wir nicht.“

„Haben Sie keine spektroskopische Analyse durchgeführt?“

„Wir haben alles probiert: Röntgen, Gamma, Laser, Neutronen, Alphastrahlen. Das ganze Programm. Das Material absorbiert einfach alles. Wir haben versucht, die Hülle mit Diamant anzuritzen, auch das blieb ohne Erfolg.“

„Was ist mit elektromagnetischer Strahlung?“

„Durchdringt nicht die Hülle. Wird alles absorbiert. Allerdings gibt das Objekt selber eine Strahlung im Gigahertzbereich ab. Wir gehen davon aus, dass dieses schnell wechselnde Magnetfeld für die Kopfschmerzen verantwortlich ist, die Sie zweifellos alle verspüren. Seltsamerweise findet man es nur im Inneren der Sphäre. Der Energiegehalt der Strahlung ist aber gering, sodass es keine biologischen Schäden geben dürfte.“

Russell und Elise sahen sich an. Erst jetzt bemerkte er, dass er tatsächlich leichte Kopfschmerzen hatte.

Was ist das nur für ein merkwürdiges Ding?

„Und? Haben Sie herausgefunden, wofür das Teil gut sein soll?“, fragte Rushworth.

Russell blickte gespannt zu dem Physiker, der bedächtig nickte.

„Ja, es handelt sich um eine Transportvorrichtung.“

„Sie meinen, das Ding kann sich bewegen? Ist es ein Raumschiff?“

„Nein, das Objekt selber bewegt sich nicht. Aber es ist in der Lage, Menschen zu transportieren, die sich im Inneren der kleinen, schwebenden Sphäre befinden. Die Kugel ist offenbar eine Teleportationsvorrichtung.“

„Unfassbar!“, flüsterte Russell.

„Wollen Sie uns verarschen?“, fragte Vance Hilmers.

„Und wohin führt das Ding?“, bohrte Elise nach.

Gilbert begab sich zu einer schwarzen Säule, die einen Meter weit aus dem Boden herausragte, wie ein Ast aus einem Baumstamm. Die Oberseite war völlig glatt und schwarz, eine Reihe fremdartiger Symbole leuchtete darauf.

„Mit dieser Vorrichtung kann man das Ziel einstellen. Dann begibt sich die zu transportierende Person in die innere Sphäre, schließt den Einstieg und drückt dort auf den Knopf einer ähnlichen Säule, woraufhin der Teleportationsvorgang beginnt. Wahlweise kann man den Vorgang auch von dieser Säule hier steuern. Zwei meiner Mitarbeiter haben das per Zufall herausgefunden, als sie Testreihen mit der Vorrichtung durchführten.“

„Und wo kann man damit hin?“

Der General, der sich in den letzten Minuten im Hintergrund gehalten hatte, trat vor und sah die Gruppe an.

„Zu vergleichbaren Vorrichtungen in anderen Sternensystemen, soviel konnten wir bereits in Erfahrung bringen. Wohin genau, das sollen Sie herausfinden. Und zwar, indem Sie sich von der Maschine teleportieren lassen.“

Russell wurde schwindlig. Das war also das große Geheimnis. In den letzten Wochen hatte er sich viele Gedanken gemacht, worum es bei dem Kommando gehen könnte. Seine Fantasie hatte sich so einige Möglichkeiten ausgedacht, aber auf eine solche Ungeheuerlichkeit wäre er niemals gekommen.

Wahnsinn.

General Morrow ließ die Männer allein und kündigte für den Nachmittag eine Besprechung mit weiteren Details an.

Danach führte Dr. Gilbert sie alle noch ein wenig in der Höhle herum und erklärte einige Messgeräte, die um die geheimnisvolle Sphäre herum aufgestellt waren. Schließlich brachte der Lastwagen die Gruppe wieder an die Oberfläche und in ihre neuen Unterkünfte.

Russell schmiss seinen Seesack auf das Bett, noch überwältigt von den Eindrücken in der Höhle. Es waren erstaunlich wenige Fragen gestellt worden. Die Häftlinge mussten die Neuigkeiten wohl erst mal verdauen.

Er blickte aus dem Fenster, wo er den Tunneleingang erkennen konnte. Ein Lastwagen mit Gerätschaften auf der offenen Ladefläche passierte gerade die Sicherheitsbarriere.

Die neuen Unterkünfte waren weitaus komfortabler als die Baracken, in denen sie die letzten Wochen verbracht hatten. Jeder Freiwillige hatte ein eigenes Zimmer mit Bett, Schreibtisch, Spind und einem kleinen Waschraum. Überdies konnten die Zimmertüren von innen verschlossen werden.

Auch der Gemeinschaftsbereich suggerierte, dass sie alle einen Rang aufgestiegen waren. Den Gang hinunter gab es eine Küche und einen größeren Aufenthaltsraum mit Fernseher sowie einen mit Getränken gefüllten Kühlschrank.

Russell legte sich in seiner Uniform auf das Bett. Die Füße mit den schweren Stiefeln ließ er über der Kante des Gestells baumeln. Nachdenklich schloss er die Augen und hatte sofort wieder diese unheimliche schwarze Sphäre vor Augen. In wenigen Tagen würde er in dieses fremdartige Ding steigen und sich teleportieren lassen. Zu den Sternen.

5. Die hässliche Wahrheit

 

Einige Männer hatten sich in der Küche versammelt, um erregt zu diskutieren. Kurz darauf betrat General Morrow mit Dr. Gilbert den Raum und forderte die Gruppe zum Mitkommen auf.

Sie holten die übrigen Leute aus ihren Zimmern und begaben sich in das benachbarte Gebäude, das mit zwei Stockwerken etwas größer war. Hier nahmen sie in einem Besprechungsraum Platz, dessen Tische man in Hufeisenform zusammengerückt hatte. Ein Videoprojektor warf das Logo der Air Force an die Wand. Während General Morrow zu einer Ansprache ansetzte, machte sich der Physiker an einem Laptop zu schaffen.

„Sie haben das Objekt gesehen und wissen nun, worum es geht. Sie hatten ein paar Stunden Zeit, um die Neuigkeiten zu verdauen, und werden nun jede Menge Fragen haben. Nun ist der Punkt gekommen, ins Detail zu gehen.“

Ein Bild erschien auf der Wand. Es zeigte eine Lastenbarke, die von einem Kriegsschiff in einen Hafen gezogen wurde. Von Planen verhüllt, lag ein kugelförmiges Objekt auf der Barke.

„Auf diesem Lastentransporter wurden vor einigen Jahren die großen Außentanks der Space Shuttles von der Fabrik bei New Orleans nach Cape Canaveral geschleppt. Wir haben das Schiff für den Transport des Objekts von der NASA ausgeliehen, um es nach Vandenberg in Kalifornien zu schaffen. Von da aus ging es per Schwertransport hierher.“

„Warum ausgerechnet in die Höhle?“, fragte Albert?

„Weil wir es da am besten abschirmen konnten. Außerdem blockiert das kilometerdicke Felsgestein die elektromagnetische Strahlung der Sphäre, die unsere chinesischen Freunde mit ihren Satelliten messen könnten.“

„Und wie sind Sie darauf gekommen, dass es ein Teleportgerät ist?“

„Das werden Sie umgehend erfahren.“

An der Wand entstand ein Bild aus der Höhle. Die fremdartige Kugel war gut zu erkennen. Zwei Techniker in Laborkitteln standen vor der Sphäre, legten ihre Hände darauf, öffneten einen Durchgang und verschwanden darin. Das Bild wechselte zu einer Kameraaufnahme aus dem Inneren der Sphäre.

„Die Vorgänge in der Höhle und im Objekt selber werden pausenlos von einem Dutzend Überwachungskameras festgehalten. Die Männer, die Sie im Bild sehen, sind zwei unserer Ingenieure. Links an der Steuerungssäule steht Mr. Blumberg. Ihm werden Sie später noch begegnen. Er betreut die technischen Einrichtungen der Höhle und ist für die Messgeräte verantwortlich. Der Mann, der jetzt über die Treppe geht und gleich im Inneren der kleineren Sphäre verschwindet, ist Gordon Evans. Ihn werden Sie leider nicht mehr kennenlernen.“

Russells Schultern verspannten sich. Er ahnte, warum sie diesem Evans nicht mehr begegnen konnten, und die nachfolgenden Worte des Generals festigten seinen Verdacht.

„Zu dem Zeitpunkt, als diese Aufnahmen entstanden, haben wir vermutetet, dass es sich bei dem Objekt um eine Kommunikationsanlage handelt“, erklärte Gilbert. „Da keine elektromagnetische Strahlung in das Innere der kleinen Kugel gelangt und somit auch kein Funkkontakt möglich ist, gingen wir davon aus, dass man mit den Säulen eine Kommunikationsverbindung herstellen kann. Mr. Evans hatte eine Idee, die er im Inneren der kleinen Sphäre ausprobieren wollte. Nun passen Sie auf. Sie sehen hier, wie sich durch Mr. Blumbergs Berührung mit dem Finger eines der Symbole auf der Steuerungssäule ändert. Und nun drückt er auf das helle Feld darunter. Mit diesem Druck wurde offenbar die Teleportation eingeleitet. Wie Sie sehen, entsteht neben dem Feld auf der Säule ein weiteres links davon.“

Russell blickte genauer hin. Auf dem Bildschirm war zu erkennen, dass Blumberg nach einer Fotokamera griff und die Säule aus mehreren Winkeln fotografierte. Einen Moment lang schien der Ingenieur zu überlegen, ehe er nochmals auf das erste Feld der Säule drückte. Dann rief er einem Techniker etwas zu, woraufhin dieser eilig die Treppe hinauflief und einen Durchgang in der kleinen Sphäre öffnete. Der Blickwinkel der Kamera gab nicht genau preis, was im Inneren vor sich ging, aber in der Szene entstand Hektik. Männer in Uniformen und Laborkitteln liefen die Treppe hinauf und beugten sich im Inneren der Kugel über etwas. Zuletzt trugen sie ein lebloses Bündel die Treppe hinunter.

Der Ingenieur Evans, dachte Russell.

„Was ist mit dem Mann passiert?“, fragte er.

Physiker Gilbert öffnete eine andere Datei. „Ich zeige Ihnen nun die Aufnahme einer Überwachungskamera aus dem Inneren der Transportersphäre.“

Ein neuer Film lief ab. Russell sah, wie der Ingenieur das Innere der kleinen Kugel betrat und die Öffnung schloss. Einige Minuten hantierte er an einem Messgerät herum, bis er plötzlich die Augen aufriss und sich an die Brust griff. Seine Beine berührten den Boden nicht mehr, sondern zappelten hilflos in der Luft. Mit seinem rechten Fuß trat er gegen das Gerät neben sich, das daraufhin langsam nach oben davonschwebte.

Russell hatte noch nie jemanden gesehen, dessen Augen so weit aufgerissen waren – als würden seine Augäpfel gleich aus den Höhlen quellen. Der Mann schien zu schreien, aber es war kein Ton aus den Lautsprechern zu hören. Er lief blau an, während er sich immer noch an die Brust fasste. Aus seiner Nase drangen dicke Bluttropfen, die sich erst als Kügelchen auf der Nasenspitze sammelten und dann in alle Richtungen davonschwebten. Der Ingenieur wurde immer blauer im Gesicht. Seine Zunge quoll grotesk aus dem Mund, während sich der Körper langsam um sich selber drehte. Es sah aus, als würde der Mann in einer unsichtbaren Hängematte liegen und mit Armen und Beinen zappeln. Dann, ganz plötzlich, fiel der Ingenieur wie ein nasser Sack zurück auf den Boden, wo er regungslos liegen blieb. Nach einigen Minuten öffnete sich der Durchgang der Kugel und Männer kamen herein, die den leblosen Körper untersuchten, ratlos die Köpfe schüttelten und den Techniker letzten Endes wegtrugen.

Russell blickte nach links zu George Williams. Sein Kamerad war blass geworden und sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. „Was war das? Was ist mit dem Mann geschehen?“

„Die physiologischen Symptome und die anschließende Untersuchung lassen den Schluss zu, dass der Mann etwa anderthalb Minuten einem Vakuum ausgesetzt war.“

Russell drehte sich auf seinem Stuhl um. In der Tür stand ein älterer Mann mit glatten grauen Haaren, die ihm ungeordnet in den Nacken fielen. Er hatte ein schmales Gesicht und trug einen abgetragenen, grauen Anzug.

„Darf ich Ihnen Dr. Darren Cummings vorstellen? Er ist als Mediziner unserem Projekt zugeordnet und wird Sie in den nächsten Wochen betreuen“, sagte Morrow.

„Danke, General“, entgegnete dieser. Der Mediziner ging um den Tisch herum und stellte sich neben den General. „Ich habe die Untersuchung des Vorfalls durchgeführt und konnte schnell die richtigen Schlüsse ziehen. Weiterhin fiel die Körpertemperatur des Mannes sehr schnell ab, wodurch man auf eine Umgebungstemperatur von weniger als minus zweihundert Grad schließen konnte. Dass er der Schwerelosigkeit ausgesetzt war, konnten Sie ja selber sehen.“

„Da hätten Sie besser einen Astronauten in die Kugel geschickt!“, kommentierte Russell.

„Genau das haben wir getan.“ Der General lächelte.

Indessen öffnete Gilbert eine neue Datei. Wieder war das Innere der Sphäre zu sehen. Durch die Öffnung schritt ein Mann im Raumanzug. Er trug einen großen Kasten, den er neben der Steuersäule abstellte, bevor er die Öffnung von innen schloss.

„Wir haben uns Hilfe bei der NASA gesucht, die uns einige ehemalige Astronauten des Shuttle-Programms schickte“, sagte Gilbert. „Dieser Mann hier ist Colonel Holbrook. Zu diesem Zeitpunkt gingen wir immer noch nicht davon aus, dass wir einen Transporter vor uns hatten. Wir vermuteten vielmehr, dass man mit den Einstellungsmöglichkeiten der Säule beliebige Umgebungsbedingungen im Inneren der Sphäre herstellen kann. Wie in einer Atmosphärenkammer. Aber sehen Sie selber.“

Der Astronaut machte sich an der Säule zu schaffen und wurde plötzlich schwerelos. Wie der Ingenieur vorhin. Der Raumanzug schützte ihn vor dem Vakuum. Jetzt widmete er sich dem Kasten, den er mitgenommen hatte, und betätigte dort mehrere Kippschalter.

„Wir haben dieselben Einstellungen an der Säule vorgenommen. Colonel Holbrook sollte genaue Messungen der Umgebungsbedingungen vornehmen. Außerdem wollte er versuchen, während dieser Phase die Wand der inneren Sphäre zu öffnen.“

Interessiert verfolgte Russell die Aufnahmen. In der Wandung entstand eine Öffnung und der Astronaut schaute lange Zeit hinaus. Dann griff er nach einer Kamera, die an seinem Anzug befestigt war, und machte mehrere Bilder. Im Film war nicht zu erkennen, was sich außerhalb der Öffnung befand.

Die Szenerie wechselte nun. Bei dem jetzigen Ausschnitt schien es sich um ein Bild des äußeren Hohlraums zu handeln, aber die Geräte und die Menschen waren weg.

„Erst jetzt dämmerte dem Astronauten, dass er sich an einem anderen Ort befand. Er hangelte sich in der Schwerelosigkeit am Rand der äußeren Kugel entlang und öffnete dort ebenfalls den Durchgang. Aus dieser Perspektive nahm er die folgenden Bilder auf.“

Jetzt sah man ein Bild, das von den Apollo-Mondlandungen zu stammen könnte: eine graue, leicht gewellte Oberfläche mit kleineren Kratern, die von einem feinen Staub bedeckt wurden. Der Horizont wirkte sehr nah. Über der Szenerie funkelten Sterne.

Russell machte sich seine Gedanken dazu. Es schien fantastisch. Man stieg in diese merkwürdige Kugel, tippte etwas auf die Steuerkonsole und befand sich unvermittelt auf einem fernen Planeten. Russell hatte Schwierigkeiten, das zu akzeptieren. Es war zu sehr Science-Fiction.

„Colonel Holbrook gelang es glücklicherweise, mit Hilfe der Steuervorrichtung wieder zurückzukehren.“

Der Physiker projizierte ein Bild der schwarzen Steuerungssäule an die Wand. Darauf war eine Platte mit einer Symbolreihenfolge zu sehen.

„Es handelt sich um eine Art Nummernkombination. Die Symbole lassen sich durch Druck auf die entsprechende Stelle der Platte verstellen. Es ist prinzipiell dasselbe, wie bei unseren modernen Touchscreens. Jede Zahlenkombination definiert ein bestimmtes Ziel. Die Kombination, die Sie hier sehen, ist offenbar die Zielnummer des hiesigen Objekts auf der Erde. Nach einem Transport springt die Kombination nämlich wieder auf diesen Wert zurück. Sie sollten sie sich gut merken.“

„Wollen Sie damit sagen, das verdammte Scheißding funktioniert wie eine Telefonzelle? Man geht rein, wählt eine Nummer und ist – Puff! – auf dem Mond?“

„Sie haben es auf den Punkt genau getroffen, Mr. Bridges.“ General Morrows sarkastischer Tonfall zeigte, was er von dessen schnoddriger Ausdrucksweise hielt.

Da erschien ein neues Bild auf der Wand: Eine schwarze Sphäre, scheinbar identisch mit der Kugel unten in der Höhle, ruhte inmitten der Mondlandschaft. Derart platziert, schaute sie aus wie eine futuristische Landekapsel.

„Dieses Bild hat Colonel Holbrook bei einer weiteren Expedition geschossen. Er machte auch Fotoserien des Sternenhimmels, um später die eigene Position herauszufinden.“

„Ist das auf dem Mond? Wo ist die Erde?“

„Diese Sphäre befindet sich nicht auf dem Mond. Das wussten wir aber schon vorher. Auf dem Erdtrabanten herrscht zwar eine geringere Schwerkraft als auf der Erde, aber sie ist nicht so niedrig, dass man dort einen schwerelosigkeitsähnlichen Zustand hat. Wir dachten mehr an einen Asteroiden oder kleinen Mond im äußeren Sonnensystem.“

„Ja, und?“

„Der Sternenhimmel unterscheidet sich erheblich von demjenigen der Erde. Das Bild entstand weder in unserem noch in einem benachbarten Sonnensystem.“

Gemurmel brach los. Einige der Männer begannen miteinander zu diskutieren. Elise beugte sich zu Russell herüber. „Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe. Jeder Astronaut würde sich darum reißen, die Welten zu erforschen, die uns mit diesem Ding offenstehen.“

Russell nickte nachdenklich mit dem Kopf. Genau den Schluss hatte er auch gezogen. Er stemmte die Arme auf den Tisch und stand auf. Alle im Raum blickten ihn an.

„Bei allem Respekt, Sir. Sie sagten, Sie haben Astronauten von der NASA geholt, um sie diese Welten erkunden zu lassen. Wozu brauchen Sie uns?“

Die Gesichter wandten sich zum General. Morrow sprach lange nichts, dann wandte er den Kopf zu Dr. Gilbert und nickte. Der Physiker nickte kurz zurück, bevor er eine weitere Videodatei öffnete.

Ein Astronaut in einem Raumanzug war zu sehen, der auf einem Stuhl saß und sich den Helm überzog. Er hantierte einige Sekunden mit dem Verschluss, bis ihm ein Techniker im blauen Overall half. Im Hintergrund erkannte man – leicht verschwommen – die Sphäre.

„Das ist Captain Summers, ein ehemaliger Testflieger und Shuttle-Pilot. Nachdem Colonel Holbrook mehrere Transporte zu dem Planetoiden durchführte, hat Summers vorgeschlagen, eine andere Symbolkonfiguration anzuwählen, was ihn zu einem anderen Ziel bringen würde.“ Dr. Gilbert rückte seine Brille zurecht. Seine Stimme war brüchig, als kämpfte er mit seinen Erinnerungen. „Captain Peter Summers war ein Sunnyboy. Wo er hinkam, verbreitete er gute Laune und Optimismus. Er war ein junger Mann voller Energie und der Erste, der sich meldete, wenn es um ein Abenteuer ging.“

Der Physiker machte eine Pause. Inzwischen hatte der Astronaut im Film seinen Helm aufgesetzt, das Visier hochgeklappt und blickte offenbar zum Kameramann.

„Hey, Ridley. Nimm das schön auf!“, rief er. „Das zeig ich meiner Frau, wenn ich wieder zurück bin und die Mission deklassifiziert wird. Die denkt, ich spiele Poker auf irgendeinem Flugzeugträger.“

Im Hintergrund lachte jemand. Jetzt schaute der Astronaut direkt in die Kamera. Mit seinen kurzen blonden Haaren, den intelligent und wach blickenden blauen Augen und dem gewinnenden Lächeln hätte der Typ jede rumgekriegt, dachte Russell belustigt.

„Hey Schatz, ich mach mich auf den Weg zu den Sternen! In ein paar Minuten bin ich weiter weg, als du es dir vorstellen kannst. Siehst du das hier?“ Summers hielt eine Kette in die Höhe, an der ein Anhänger mit einer kleinen Schatulle baumelte. „Den hier fülle ich mit Sternenstaub und lege ihn dir zu Füßen!“ Nun blickte der Draufgänger etwas ernster in die Kamera. „Ich liebe dich!“

Ein Techniker hinter ihm grinste amüsiert. Der Astronaut wandte sich um und marschierte mit zwei Technikern zur Sphäre.

Dr. Gilbert räusperte sich. „Wir haben die Anwahlkombination wie eine Telefonnummer behandelt und die letzte Ziffer um eine Zahl verschoben. Wir dachten, dass die ersten Symbole eine Art Vorwahl darstellen. Folglich erwarteten wir, dass man mit der Veränderung der letzten Zahl ein Ziel anwählt, das nah an dem ersten Ziel dran ist. Wir hofften, eine Systematik zu entdecken oder an ein Ziel zu gelangen, an dem wir mehr Informationen über die Sphäre und deren Funktionsweise erlangen konnten.“

Jetzt hatte Captain Summers die äußere Sphärenhülle erreicht und verschwand mit den zwei Technikern im Inneren. Die Szene wechselte in den äußeren Hohlraum. Links im Vordergrund standen die Ingenieure an der Steuersäule des Artefakts und rechts im Hintergrund befand sich Summers am oberen Rand der Treppe. Vor der Öffnung der inneren Sphäre warf er sich in Pose, blickte kurz zurück und klappte das Visier seines Helmes herunter. Ein breites Lächeln war das Letzte, was man von seinem Gesicht sah. Dann reckte er entschlossen die Hand mit dem Daumen nach oben. Einer der Techniker erwiderte die Geste, während der Sunnyboy in der Kugel verschwand und die Öffnung hinter sich schloss, indem er die Wand daneben berührte.

„Wir haben mit Captain Summers ausgemacht, dass er nach dem Transport die Umgebungsatmosphäre analysiert und innerhalb von fünf Minuten selbstständig zurückkehrt“, erklärte Gilbert. „Nach der Teleportation besteht die Verbindung noch weiterhin, bis sie entweder von hier oder von der Gegenseite gelöst wird. Das geschieht durch den Druck auf ein Feld der Steuersäule. Erst dann kann die Innenluke geöffnet werden.“

„Und was passierte mit Summers?“, fragte Jim.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135299
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Space Opera Hard SF Techno Abenteuer Transport science-Fiction Military Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Phillip P. Peterson (Autor:in)

Phillip P. Peterson arbeitete als Ingenieur an zukünftigen Trägerraketenkonzepten und im Management von Satellitenprogrammen. "Transport" war sein erster Roman, der zum Bestseller wurde. Mit "Paradox" gelang ihm schließlich ein Astronautenthriller, der 2015 den Kindle Storyteller-Award gewann und 2016 den 3. Platz des deutschen Science-Fiction-Preises erlangte. Zu seinen literarischen Vorbildern gehören die Hard-SF-Autoren Stephen Baxter, Arthur C. Clarke und Larry Niven.
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Titel: Transport 1