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Transport 3: Todeszone

von Phillip P. Peterson (Autor:in)
280 Seiten
Reihe: Transport, Band 3

Zusammenfassung

Der dritte Teil der Erfolgsreihe von Phillip P. Peterson. Während Russell und die anderen Siedler von New California mit General Morrow und seinen Söldnern um die Unabhängigkeit ihrer Kolonie streiten, taucht eine neue Gefahr auf. Die Transporter entpuppen sich als fürchterliche Waffen, die nicht nur die Menschen auf New California, sondern die gesamte Milchstraße bedrohen. Eine Gruppe Freiwilliger begibt sich schließlich auf eine Reihe gefährlicher Missionen mit dem Transporter, um der Gefahr entgegenzutreten. Aber am Ende muss sich Russell fragen, wer der größere Feind ist: die geheimnisvolle Macht hinter den Transportern oder General Morrow.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

 

Quälend langsam kam Russell zu sich. Ein dumpfer, pochender Schmerz wütete in seinem Schädel und machte es ihm fast unmöglich, sich zu konzentrieren. Dann war da noch ein anderer brennender Schmerz in seiner Lunge, der ihm den Verstand zu rauben drohte, vor allem beim Einatmen. Wo war er und was zum Teufel war geschehen?

Zögernd öffnete er die Augen. Ein grelles Licht von oben verstärkte die Schmerzen auf ein beinahe unerträgliches Maß und er wandte etwas zu ruckhaft den Kopf zur Seite. Die Strafe war eine fürchterliche Übelkeit, er würgte und hustete. In seinem Mund hatte er einen schrecklichen Geschmack, der ihn an gelegentliche Sauftouren aus lange vergangenen Zeiten erinnerte. Er fuhr mit der Hand zu seinen Lippen, die verkrustet und ausgetrocknet waren.

Russell raffte alle Kräfte zusammen, stützte sich auf der Unterlage ab und setzte sich auf. Stöhnte, blickte sich um. Er saß auf einem Metallbett, dessen mit einem weißen Laken umwickelte Matratze viel zu hart war. Eine grüne Bettdecke lag unbenutzt am Fußende. Der Raum war klein. Höchstens drei Meter lang und so schmal, dass er, auf dem Bett sitzend, die Hand nach der gegenüberliegenden Wand ausstrecken konnte. Abgesehen von dem Bett gab es nur eine chemische Toilette aus weißem Plastik an der Wand. Ein dickes Gitter verdeckte einen schmalen Lüftungsschacht unter der Decke. Neben dem Bett stand ein Krug aus Blech, der mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Russell hob ihn hoch und setzte ihn an seine Lippen. Eklig warm rann es seine Kehle hinab, aber immerhin war es Wasser, mit dem er seinen Durst löschen konnte.

Zu seiner Linken begrenzte eine metallene Tür den Raum. Er wusste schon vom Hinsehen, dass sie verschlossen war. Sie hatte auf seiner Seite nur ein Schlüsselloch. Russell befand sich in einer Zelle und war ein Gefangener.

Mit zitternden Händen wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Es war heiß. Sogar geradezu mörderisch heiß, die Luft trocken. Unwillkürlich wähnte er sich bei einem lang zurückliegenden Militäreinsatz in Somalia. Hatten die Rebellen ihn gefangen genommen? War er in eines der verdreckten Wüstenkäffer verschleppt und in die Zelle einer alten Polizeistation geworfen worden? Würden die Rebellen ein Lösegeld von der UN fordern oder ein Exempel statuieren und seinen Kopf mit einer verrosteten Machete abschneiden, während er in das Objektiv einer Kamera blicken musste?

Dann kehrte allmählich sein Erinnerungsvermögen zurück. New California! Der Angriff der Biester im Canyon! Die Atombombe! Sie hatten gewonnen und gefeiert. Dann die Nacht mit Elise. Sie waren überfallen worden. General Morrow!

Russell zuckte zusammen. Sein alter Vorgesetzter war nach zwanzig Jahren mit einem Einsatzkommando in ihrer Siedlung aufgetaucht. Der Transporter! Sie hatten alle außerirdischen Geräte im Sonnensystem zerstört, aber offenbar musste es noch einen weiteren gegeben haben. Offenbar hatten sie ihn, Russell, bewusstlos geschlagen und verschleppt. Auf New California konnte er nicht sein, dafür war es zu heiß. Anscheinend hatten sie ihn durch den Transporter gebracht. Wenn er in einem Gefängnis war, konnte er nur auf der Erde sein. Möglicherweise in Nevada, wo vor zwanzig Jahren sein unwahrscheinliches Abenteuer begonnen hatte.

Stöhnend stand Russell auf und stützte sich an der gegenüberliegenden Wand ab, als er einen heftigen Hustenanfall bekam. Was auch immer Morrow hier mit ihm vorhatte, der Krebs würde ihn sowieso erledigen. Er legte die Hand auf die Stahltür. Das Metall war so warm wie die Luft. Russell stolperte rückwärts, bis er unter dem Lüftungsschacht stand, und blickte nach oben, was ihm einen Schwindelanfall bescherte. Er spürte einen schwachen Luftzug, der aber ebenfalls nur warm und stickig war.

Russell dachte an Elise und die Kinder. Ob sie auch hier irgendwo waren? Vielleicht hatten sie alle Bewohner der Siedlung durch den Transporter auf die Erde gezwungen und wie ihn in Zellen geworfen, irgendwo in einem militärischen Sperrgebiet.

Plötzlich hörte Russell Schritte. Irgendjemand näherte sich seiner Zelle und schon drehte sich ein Schlüssel mehrfach in einem für ihn nicht sichtbaren Schließzylinder. Mit einem lauten Knall wurde ein Riegel zurückgezogen, dann öffnete sich quietschend die Tür.

Russell blickte in die Gesichter zweier schwer bewaffneter Soldaten. Ihre Felduniformen hatten die gelbliche Tarnfärbung von Einheiten, die in wüstenartigem Gelände stationiert waren. Die winkelförmigen Streifen der Schulterklappen wiesen beide als Unteroffiziere aus, obwohl Russell die genaue Form der Symbole unbekannt war. Es konnten durchaus Soldaten der Air Force sein - vielleicht hatte man das Design in den vergangenen zwanzig Jahren leicht verändert. Aber wo normalerweise der Schriftzug der US Luftstreitkräfte über der Brusttasche prangte, war ein blaues Symbol in Form eines Sterns mit breiten Flügeln angebracht, die nach oben zeigten. Auf den schwarzen Baretts der Männer prangte ein Wappen, das Russell auch nichts sagte. Es war gelb mit einem schwarz ausgefüllten Kreis in der Mitte und erinnerte ihn eher an ein Firmenlogo. Beide Soldaten trugen je ein Schnellfeuergewehr vor der Brust, das wie eine Weiterentwicklung des M-16 aussah.

»Mr. Harris, folgen Sie mir bitte!«, sagte der vordere der beiden, der etwas kleiner war und eine randlose Brille trug.

»Worum geht’s denn, Jungs?«, fragte Russell, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Der Brillenträger blinzelte nicht einmal. »Ich möchte Sie bitten, mir zu folgen, Mr. Harris.«

Es war offensichtlich, dass es sich nicht um eine Bitte handelte. Russell traute den Männern zu, ihn notfalls mit Gewalt auf den Flur zu befördern. Er hatte keine Wahl, aber in dieser Zelle wollte er sowieso nicht bleiben. Vielleicht würde er endlich erfahren, was Morrow mit ihm vorhatte.

»Also schön. Gehen wir.«

Mit zittrigen Beinen wankte Russell hinter dem kleineren Mann her. Der andere schloss die Tür und folgte ihnen in einem Abstand von zwei Metern.

Langsam gingen sie einen engen Korridor hinunter, der von grellen Deckenleuchten erhellt wurde. Russells Zelle war die hinterste von vieren. An einigen Stellen war der Putz von den Wänden abgebröckelt und entblößte nacktes, beiges Gestein. Die Anlage schien unterirdisch zu liegen und direkt aus dem Fels geschlagen oder gesprengt worden zu sein. Auch hier draußen war die Hitze mörderisch.

»Jungs, habt ihr keine Klimaanlage?«, fragte Russell, aber er bekam keine Antwort.

Am Ende des Korridors hielten sie vor einer schweren Stahltür an. Der Soldat vor ihm schulterte seine Waffe und schloss sie mit einem kleinen Schlüssel auf.

Ein weiterer Korridor. Auf der ersten Türe zur Rechten war ein breites, rotes Kreuz angebracht. Medizinische Station stand in schwarzen Lettern darunter.

Eine Frau fluchte laut. »Wegen so einem Kratzer halten Sie mich von der Arbeit ab? Da, nehmen Sie das und verarzten Sie sich selber.«

Gerade als Russel an der Tür vorbeiging, öffnete sie sich und ein junger Soldat, dem Blut von einer kleinen Wunde an der Stirn bis hinunter in die Augen rann, stürmte hinaus. In der Hand hielt er ein breites Pflaster. Durch den Spalt erkannte Russell ein grimmiges Frauengesicht, das ihn anstarrte. Die Dame mochte um die Fünfzig sein. Sie hatte kurze, blonde Haare, die in alle Richtungen abstanden, und trug einen weißen Arztkittel. Ihre Blicke trafen sich kurz, bevor sie die Tür mit Schwung zuknallte.

Zu seiner Linken passierte Russell weitere Zugänge, laut Aufschrift zum Lager und zur Küche. Zu seiner Rechten bog ein weiterer Korridor ab. Die kargen Wände waren in einer gelblichen Farbe gestrichen. Zwei Männer in weißen Laborkitteln, die lautstark miteinander diskutierten, gingen vorbei, ohne Notiz von Russell und seinen Begleitern zu nehmen. Ein merkwürdiger Ort. Ein reines Gefängnis war das hier definitiv nicht.

Kurz darauf bogen sie nach links ab und blieben an der ersten Tür auf der rechten Seite stehen. Brig. Gen. R. Morrow prangte dort in dünnen, schwarzen Buchstaben. Russell atmete tief ein. Er erinnerte sich an den Hass in den Augen seines ehemaligen Vorgesetzten. Von dem folgenden Gespräch hatte er garantiert nichts Positives zu erwarten. Schlimmstenfalls würde er in seinem Leben nichts anderes mehr sehen als das Innere einer Zelle. Aber seine Lebensuhr lief sowieso ab. Nur - er hätte gerne vorher wenigstens noch einmal seine Familie gesehen.

Der Soldat klopfte an die Tür und öffnete sie, ohne eine Antwort abzuwarten. »Sir, Mr. Harris!«

Russell trat in den Raum. Es war ein winziges Büro. Morrow saß hinter einem hässlichen, grauen Metallschreibtisch. An der Wand stand ein Regal, das zur Hälfte mit Aktenordnern gefüllt war. Eine Flagge der USA lehnte daran.

Der General sah Russell wortlos an. Er hatte Mühe, Morrows Blick standzuhalten. Die Augen waren wie aus schwarzem Eis. Wie früher schon war es unmöglich zu erkennen, was in Morrow vor sich ging. Fühlte er Genugtuung, dass er Russell nach so vielen Jahren doch noch geschnappt hatte? War es sogar Hass? Russell konnte es nicht sagen.

Mit einer knappen Handbewegung zeigte Morrow auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch und langsam setzte sich Russell. Die Soldaten positionierten sich an der Tür.

»Warten Sie draußen«, sagte Morrow tonlos.

»Sollen wir ihm Handschellen anlegen, Sir?«

»Er kann hier nicht raus.«

Ohne Erwiderung verließen die Männer den Raum.

Lange Minuten vergingen, in denen er und Morrow sich wortlos anstarrten. Es fiel Russell schwer, sich einzugestehen, dass zwanzig Jahre seit seiner letzten Begegnung mit dem General vergangen waren. Das Gesicht war so schmal und eingefallen, die Haare so grau, wie Russell es in Erinnerung hatte. Vielleicht waren einige Falten dazugekommen, während andere sich tiefer gegraben hatten, aber die Augen waren so wach und klar, wie sie es immer gewesen waren. Russell hatte nie genau gewusst, wie alt sein ehemaliger Vorgesetzter eigentlich war, aber er musste nun mindestens achtzig sein und hätte schon lange pensioniert werden müssen.

»Sie haben mich enttäuscht«, sagte Morrow. »Maßlos enttäuscht!«

Seine Stimme war ruhig und emotionslos.

»Tut mir leid, General«, antwortete Russell ebenso ruhig.

»Ausgerechnet Sie, Harris!« Morrow lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Sie waren einmal mein bester Mann. Sie hätten nach Nevada als Volksheld in die Geschichte eingehen können. Stattdessen haben Sie sich zum größten Verräter deklassiert, den unser Land jemals hervorgebracht hat. Ich habe es bis heute nicht verstanden, Harris. Warum?« Der General schüttelte den Kopf.

Diese Frage musste Morrow unzählige schlaflose Nächte gekostet haben. »Ich sehe es eher so, dass wir durch die Zerstörung der Sphäre die Zukunft der Erde gerettet haben.« Russell sah Morrow in die Augen. »Scheinbar ohne Erfolg.«

Der General nickte. »Irgendwie haben Sie es sogar geschafft, die anderen Transporter im Sonnensystem zu vernichten. Sie haben keine Vorstellung davon, welchen Tumult Sie mit der Sprengung auf dem Mars ausgelöst haben. Ein Raumschiff befand sich schon fertig montiert im Erdorbit und wartete nur noch auf die Crew, um zum Mars aufzubrechen und den Transporter dort für die Vereinigten Staaten in Besitz zu nehmen. Bis unsere Satelliten den Gammablitz registrierten. Unsere Instrumente erfassten auch die Atomexplosionen auf den anderen Planeten und Monden.«

»Und trotzdem haben Sie sich einen Transporter beschafft«, sagte Russell resigniert.

»In der Tat. Sie haben einen schweren Fehler gemacht und uns unterschätzt. Schließlich hatten wir bereits eine Menge Daten von der Transportertechnologie gewonnen, bevor Sie die Höhle in Nevada gesprengt haben. Wir haben wieder einen, obwohl es alles andere als einfach war. Und natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis wir auf Ihren Fluchtplaneten stießen.«

Russell nickte. Der Verfolgung der Abtrünnigen hatte man ganz gewiss eine hohe Priorität eingeräumt. »Und was haben Sie jetzt mit mir vor? Rache?«

Morrow verzog keine Miene. »Rache? Nein.«

»Sondern?«

»Vergeltung!«

Russell blinzelte. »Ist das nicht dasselbe?«

»Rache ist eine emotionale Reaktion. Vergeltung hingegen eine logische. Haben Sie geglaubt, dass wir Sie davonkommen lassen? Welches Zeichen würde das setzen für andere Staatsfeinde der USA?«

Russell lächelte gequält. »Ich kann mir vorstellen, dass es für Sie durchaus eine persönliche Genugtuung ist, uns aufgespürt zu haben.«

Morrow sah ihn an, ohne zu blinzeln. »Sie haben keine Vorstellung davon, was ich durchmachen musste, nachdem der Transporter unter meinem Kommando zerstört wurde. Zwanzig Jahre hat es gedauert, bis ich meinen Ruf halbwegs reparieren konnte.« Seine Lippen bebten. »Ja, Harris. Ich habe diesen Tag lange herbeigesehnt, an dem wir uns endlich wiederbegegnen. Jeder bekommt am Ende, was er verdient.«

Russell musste es endlich wissen. »Wo ist meine Familie? Sind sie auch hier?«

»Nein. Kein Einwohner von New California, wie Sie offenbar Ihren Planeten genannt haben, wird jemals wieder den Boden der Erde betreten. Im Pentagon wurde beschlossen, als Strafe eine Verbannung festzulegen. Die Kolonie wurde eingenommen, unter militärisches Kommando gestellt und zu einem Außenposten umgebaut.«

»Mit mir haben Sie offenbar andere Pläne.«

»In der Tat«, sagte der General schroff. »Sie sind der Rädelsführer des Aufstands. Sie werden vor ein Gericht gestellt und nach einem fairen Prozess hingerichtet.«

Ein fairer Prozess, bei dem das Urteil bereits feststeht? Russell begann, leise zu lachen.

»Dürfte ich erfahren, was Sie daran so lustig finden?«, fragte Morrow.

»Die Mühe hätten Sie sich sparen können. Ich bin krank. In zwei bis drei Wochen werde ich sterben. Bringen Sie mich zu meiner Familie zurück, denn einen Prozess werde ich ohnehin nicht mehr erleben.«

Morrows Mundwinkel kräuselten sich. »Wir haben Sie untersucht, als Sie bewusstlos waren. Ihr Zustand ist mir also bekannt. Sie werden behandelt und als gesunder Mann in den Prozess gehen.«

Russell schüttelte den Kopf. »Gegen Lungenkrebs im Endstadium gibt es keine Heilung.«

»Die Zeit ist auf der Erde in den vergangenen zwanzig Jahren nicht stehen geblieben. Ihre Behandlung beginnt in Kürze. Anschließend werden Sie an das Gericht überführt.«

Russell sah den General ungläubig an. »Sie wollen mir das Leben retten, um mich dann am Ende doch noch umzubringen?«

»Sie werden der Gerechtigkeit nicht entkommen. Und damit eins klar ist: Ihre Familie werden Sie nie wiedersehen.«

Morrows letzte Worte hallten in Russells Bewusstsein nach. Er blickte zu Boden. Es musste doch eine Möglichkeit geben, diesem Irrsinn zu entkommen! »Und wenn ich mich der Behandlung verweigere?«

»Dann werden wir Sie eben mit Gewalt behandeln, wenn das Ihr Wunsch ist.« Der General drückte auf einen Knopf an der Seite seines Schreibtisches.

Kurz darauf öffnete einer der Soldaten die Tür. »Sir?«

»Wir sind hier fertig. Bringen Sie Mr. Harris in seine Zelle zurück.« Er wandte sich wieder an Russell und lächelte boshaft. »Ihre Verhandlung wird ohne Ihre Anwesenheit stattfinden, da die Entfernung zur Erde keine direkte Kommunikation zulässt. Das Urteil wird dann hier vollstreckt.«

Die Entfernung zur Erde? »Sind wir denn nicht in Guantánamo?«

Morrow lachte rau. »Wie kommen Sie denn darauf? Haben Sie es immer noch nicht begriffen? Ich dachte, Ihnen sei klar, welchen Fehler Sie gemacht haben!« Er lachte wieder.

»Wo zum Teufel sind wir hier?«

»Auf der Venus.«

2.

 

»Verdammt nochmal, es reicht langsam!«, schrie Travis Richards, nachdem er in Marlenes Büro gestürmt war und die Tür so heftig hinter sich zugeknallt hatte, dass eine der von Albert geschnitzten Figuren auf dem Schreibtisch umgekippt war. Sein Kopf war rot und seine Hände zitterten, was sie von dem fähigen Mechaniker so gar nicht gewohnt war.

Marlene blieb ruhig an ihrem Schreibtisch sitzen. »Beruhige dich erst mal.«

»Ich will mich nicht beruhigen! Es reicht mir! Soll ich dir was zeigen?«

Es war keine Frage. Der großgewachsene Richards, der sich in den vergangenen Jahren auch als fähiger Farmer hervorgetan hatte, zog seine Jacke aus, warf sie vor sich auf den Boden und krempelte seinen rechten Ärmel hoch. Auf der hellen Haut war ein Bluterguss zu sehen.

»Einer von diesen Rüpeln hat mir den Arm umgedreht, als ich mit Rhonda in einen Jeep steigen wollte, um die Felder zu inspizieren.«

Marlene stöhnte auf. »Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt den Anweisungen der Soldaten vorerst Folge leisten.«

Richards zerrte seinen Ärmel wieder nach unten, trat vor und beugte sich über Marlenes Schreibtisch. »Wenn wir uns nicht schnell um die Felder kümmern, wird schon bald nichts mehr übrig sein, was man noch ernten kann«, zischte er.

Marlene blickte ihm einige Sekunden lang in die Augen, dann lehnte sie sich zurück in ihren Sessel und stieß einen tiefen Seufzer aus. Als wüsste ich das nicht selber.

Vor drei Nächten waren die Soldaten unter der Führung von Morrow in Eridu eingedrungen. Sie hatten alle Siedler zusammen mit ihren Kindern aus den Häusern gezerrt und auf dem Platz vor dem Verwaltungsgebäude versammelt. Während die Kolonisten noch versucht hatten zu begreifen, was geschehen war, hatten die Fremden die Häuser durchwühlt und sämtliche Waffen sichergestellt. Die Fahrzeuge waren zur Werkstatt gebracht worden und standen seitdem unter ständiger Beobachtung. Stundenlang waren die Kolonisten ohne jeden weiteren Kommentar unter freiem Himmel festgehalten worden, bis endlich General Morrow aufgetaucht war. Marlene hatte es kaum glauben wollen, als sie plötzlich sein markantes Gesicht mit der hohen Stirn und dem spitzen Kinn vor sich sah. Er hatte sich vor sie gestellt und in formalem Ton verkündet, dass New California von nun an unter dem Befehl der US-Regierung stand und bis auf weiteres niemand die Siedlung verlassen dürfe. Marlene wollte mit ihm sprechen, aber der General hatte sich nur umgedreht und war in der Dunkelheit verschwunden. Erst später erzählte ihr eine aufgelöste Elise, dass die Soldaten den todkranken Russell verschleppt hatten. Marlene vermutete, dass er nun auf der Erde war.

Morrow hatte ein gutes Dutzend Soldaten zurückgelassen, die seitdem durch die Siedlung patrouillierten. Alle zwölf Stunden wurden sie abgelöst, wenn neue Uniformierte aus Richtung des Transporters eintrafen.

Marlene hatte zur Besonnenheit aufgerufen und gemeinsam hatten sie entschieden, sich vorerst dem Willen der Eindringlinge zu beugen. Marlene vermutete, dass sie in Kürze Antworten erhalten würden, aber seit drei Tagen war nichts weiter geschehen.

Und Richards hatte recht! Wenn sie nicht bald wieder auf die Felder kamen, würde ihnen ein harter Winter bevorstehen. Warum ließ Morrow sie nicht wenigstens für die Ernte die Siedlung verlassen? Lag es vielleicht daran, dass der Transporter auf halber Strecke zwischen Eridu und den Feldern lag?

»Was ist nun?«, fragte Richards.

Marlene gab sich einen Ruck und schob sich mühsam aus ihrem Sessel. Ihr Rücken schmerzte, eine Spätfolge des Kampfes gegen die Wotans, aber andere waren noch übler dran. Sie hatte gehofft, dass sich nach dem Sieg über die Monster die Zeiten bessern würden. Und nun das!

»Komm mit«, sagte sie zu Richards. »Wir reden mit ihnen.«

Sie ging zur Tür, öffnete sie und trat ins Freie. Die Sonne schien und ein sanfter Wind streichelte ihr Gesicht. Es wäre ein perfekter Tag für die Ernte gewesen. Richards folgte ihr auf den Platz vor dem Verwaltungsgebäude. Zu ihrer Rechten sah sie zwei von Morrows Soldaten stehen, die mit grimmiger Miene und geschultertem Gewehr die Werkstatt im Auge behielten, wo Albert an einem der Jeeps herumschraubte.

Mit Richards an ihrer Seite ging Marlene langsam zu den Männern hinüber. Die Soldaten wandten den Kopf und blickten ihnen missmutig entgegen.

Marlene sah auf ihre Ärmelabzeichen. Einer war ein Sergeant, »P. Conrad«, wie das aufgenähte Namensschild auf seiner rechten Brust informierte.

»Wer ist hier der Kommandierende?«, fragte sie.

»Das bin ich, Ms. Wolfe», sagte der Mann. Er war großgewachsen und hatte durchdringende Augen, die sie abschätzig, fast schon arrogant, fixierten.

»Captain Wolfe, Sergeant!«

Die Lippen des Mannes kräuselten sich leicht, als hätte sie einen lustigen, aber unpassenden Witz gemacht. »Sie sind nicht mehr Angehörige der US-Streitkräfte. Sie verfügen über keinen Dienstgrad mehr, Ms. Wolfe.«

Marlene zuckte mit den Schultern. Sie war nicht gekommen, um über ihren Dienstgrad zu diskutieren. Sie beschloss trotzdem, so autoritär wie möglich aufzutreten. »Ich will wissen, wie es nun weitergeht, Sergeant. Wir haben Arbeiten zu erledigen, die keinen Aufschub mehr zulassen. Wir haben lange genug gewartet und verlangen nun endlich Antworten.«

Der Mann schien nicht sonderlich beeindruckt. »Sie werden weitere Antworten erhalten, sobald General Morrow zurückkehrt. Bis dahin können Sie sich in der Siedlung frei bewegen. Mehr kann ich nicht für Sie tun.«

»Wir haben Felder, die abgeerntet werden müssen. Und das muss bald geschehen, Sergeant.«

»Niemand verlässt die Siedlung! Das ist ein Befehl.«

Richards trat vor und machte eine drohende Geste mit seiner Faust. »Verdammt nochmal, ich ...«

Marlene sah, dass der Sergeant den Gewehrkolben nach hinten zog. Gleich würde er Richards eine verpassen. Sie ergriff ihren Freund an der Schulter und zog ihn zurück. »Beruhige dich!«, zischte sie ihn leise an, bevor sie sich wieder an den Soldaten wandte. »Wenn wir die Felder nicht sehr bald abernten, werden wir nichts zu essen mehr haben, wenn der Winter kommt. Unsere Reserven sind wegen der Krise mit der Flut erschöpft. Also, wenn Sie uns weiter daran hindern, unsere Nahrungsmittel zu ernten, dann kann ich nur hoffen, dass Sie uns genügend Essen von der Erde herüberschaffen, denn sonst werden wir verhungern.«

Der Soldat lachte leise. »Es wird keine Nahrungsmittel von der Erde geben.«

»Wann wird General Morrow hier eintreffen und mit uns reden? Wo ist er überhaupt?«, fragte Marlene direkt.

»Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben, Ms. Wolfe. Und jetzt möchte ich Sie bitten, sich wieder um Ihren Kram zu kümmern.«

Sie schnaubte. »Was meinen Sie denn, was ich gerade mache?« Doch Marlene sah ein, dass bei dieser Diskussion nichts herumkommen würde. Der Typ hatte nichts zu melden und befolgte nur seine Befehle. Bevor nicht Morrow auftauchte oder ein anderer Offizier, würde sich nichts weiter tun. »Sagen Sie dem General, dass uns die Nahrungsmittel ausgehen. Und wenn die Leute bezweifeln, dass sie im nächsten Winter noch etwas zu essen haben, wird es einen Aufstand geben. Dann spielt es keine Rolle mehr, ob Sie uns erschießen, denn dann werden wir sowieso verhungern.«

Demonstrativ zackig drehte sie sich um und ging davon. Den wütenden Richards zog sie mit sich. Als sie nach einigen Metern einen kurzen Blick über die Schultern warf, konnte sie sehen, dass Sergeant Conrad sein Funkgerät in der Hand hatte.

»Verdammte Arschlöcher!«, fluchte Richards.

»Lass gut sein. Ich denke, dass es nicht mehr lange dauert.«

Vor der Tür des Verwaltungsgebäudes blieben sie stehen. Richards zitterte immer noch, aber er schien sich allmählich zu beruhigen und atmete tief durch. »Wofür?«

Marlene starrte ihn an. »Was meinst du?«

»Wofür haben wir gekämpft? Um jetzt von diesen Arschlöchern in unserer eigenen Siedlung eingesperrt zu werden?« Er schüttelte den Kopf. »Dabei bin ich auch selber schuld.«

»Bist du?«

»Ich habe mir die ganzen Jahre immer gewünscht, dass sie uns endlich finden. Dass einfach jemand von der Erde hier auftaucht und sagt: Ihr könnt nach Hause.« Er zeigte auf die Soldaten. »Und jetzt das!«

Marlene nickte. »Ich verstehe es auch nicht. Russell und seine Freunde haben den Transporter damals zerstört. Damit haben wir aber nichts zu tun und dennoch behandeln sie uns alle als Verräter. Dabei sollte ausgerechnet Morrow wissen, dass er uns nicht über einen Kamm scheren kann.«

»Ich habe ihn nie kennengelernt«, sagte Richards. »Aber ich habe nicht viel Gutes über ihn gehört. Er geht über Leichen, um seine Ziele zu erreichen, sagt man.«

Marlene schüttelte den Kopf. »Das war nicht immer so. Als er noch Oberst war, hat er sich immer für seine Männer eingesetzt. Er war hart, aber beliebt. Erst, als er im Pentagon teure Rüstungsprojekte gemanagt hat, wurde er zum opportunistischen Politiker.« Sie machte eine wegwerfende Geste. »Zurück zur Ernte. Wie viel Zeit haben wir noch, um das Zeug von den Feldern zu kriegen?«

»Anderthalb Wochen. Vielleicht! Und eine Woche brauchen wir für die Arbeit mindestens.«

Marlene blickte in Richtung Werkstatt. Wenigstens lassen sie Albert und Lee die notwendigen Reparaturen an den Fahrzeugen durchführen.

»Warten wir es ab. Geh nach Hause und ruh dich aus. Die letzten Wochen waren hart und ich habe die Befürchtung, dass uns weitere harte Zeiten bevorstehen.«

Richards Zittern hatte aufgehört. Jetzt sah er einfach nur noch müde aus. »Wird mir wohl kaum was anderes übrig bleiben.«

»Wie geht es Marianna?«

»Ihre Verletzung am Bein heilt gut.«

»Freut mich zu hören. Der Sniper hat sie ganz schön erwischt.«

Richards nickte. »Da ist sie nicht die Einzige. Der Doc hatte ganz gut zu tun.«

»Das hat er immer noch. Ich denke, ich werde zu ihm gehen und sehen, wie es mit Mike aussieht.« Der Sohn von Sammy Yang hatte eine ordentliche Ladung Säure abbekommen, als ein Wotan direkt neben ihm von einer Mine in tausend Fetzen gesprengt worden war. »Willst du mitkommen?«

Richards schüttelte den Kopf. »Nein. Ich würde doch nur im Weg herumstehen.« Er atmete tief ein. »Ich gehe nach Hause.«

»In Ordnung. Ich werde dich rufen, sobald ich etwas Neues weiß.«

Ohne ein weiteres Wort drehte sich Richards herum und ging davon. Marlene sah ihm noch für einen Moment nach und machte sich dann auf den Weg zum Lazarett. In der Siedlung sah sie kaum jemanden. Die meisten Kolonisten hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen und harrten offenbar der Dinge, die da kommen würden. Tun konnten sie eh nicht viel seit der Besetzung Eridus.

Dr. Lindwall stand neben der Tür der Krankenstation. Sein abgetragener Medizinerkittel war mit blassen, rötlichen Flecken übersät. Die meisten davon waren alt und ließen sich einfach nicht mehr auswaschen. Es gab aber auch viele neue. In seiner Hand hielt Lindwall eine Zigarette und blies dicke Rauchwolken in die Luft. Er bemerkte Marlene und lächelte schwach.

»Wie bist du denn an die gekommen?«, fragte sie.

»Habe sie einem der Soldaten abgeschwatzt, der mit einer Schürfwunde in die Krankenstation gekommen ist.«

Darüber wunderte sich Marlene. »Haben die keinen eigenen Sanitäter dabei?«

Lindwall nahm einen weiteren tiefen Zug. »Jedenfalls nicht hier in Eridu. Ich habe versucht, etwas aus ihm herauszuquetschen, aber die haben anscheinend eine strikte Vorgabe, nicht mit uns zu reden. Jedenfalls nicht über ihre Mission.«

»Ja, die Erfahrung habe ich auch schon gemacht. Sie warten alle auf die Rückkehr des Generals.«

»Ich habe eine Liste mit Dingen angefertigt, die wir gut brauchen könnten. Darunter Verbandszeug und Antibiotika.«

Marlene hob beschwichtigend die Hände. »Erst mal abwarten, wie es weitergeht. Vielleicht sind wir in ein paar Tagen alle wieder auf der Erde.«

Der Mediziner seufzte. »Die Erde. Wie lange habe ich mir gewünscht, wieder dorthin zurückkehren zu können.« Nachdenklich zog er an seiner Zigarette. »Aber jetzt, wo uns diese Möglichkeit vielleicht unmittelbar bevorsteht, bin ich mir nicht mehr so sicher. Wir haben so viel Arbeit in unsere Kolonie gesteckt.«

»Ja«, sagte Marlene. »Und zuletzt haben wir für unsere neue Heimat gekämpft. Ich weiß auch nicht, ob ich mit dem Leben auf der Erde noch zurechtkäme.«

»Was haben die wohl mit uns vor?«

Marlene schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich finde ihr Auftreten sehr merkwürdig. Als hätten sie ein feindliches Dorf besetzt. Oder als wären wir alle Verräter.«

»Dann hätten sie uns doch einfach durch den Transporter zur Erde bringen und dort einsperren können.«

»Mit Russell haben sie wohl genau das getan.«

Lindwall warf den Zigarettenstummel achtlos auf den Boden. »Aber warum nur mit ihm? Was unterscheidet ihn von uns anderen? Wenn sie es auf die Verräter abgesehen haben, dann hätten sie doch auch Holbrook, Elise und die anderen mitnehmen müssen.«

»Russell war der Anführer. Er hat die Entscheidung getroffen, den Transporter auf der Erde zu zerstören. Die anderen haben ihn zwar unterstützt, aber er trug die Verantwortung. Und General Morrow weiß das genau. Ich vermute, dass sie an ihm ein Exempel statuieren wollen.«

»Können wir etwas dagegen tun?«, fragte Dr. Lindwall leise. Er nestelte in der Tasche seines Kittels herum, zog die Schachtel mit den Zigaretten heraus, überlegte es sich offenbar anders und ließ das Päckchen wieder verschwinden.

»Im Moment nicht. Ich muss mit Morrow reden und in Erfahrung bringen, was man mit uns vorhat. Dann sehen wir weiter.« Marlene holte tief Luft. »Wie geht es Mike?«

Lindwall lächelte. »Besser. Die Entzündung ist zurückgegangen. Er wird sein Bein behalten können.«

Marlene atmete auf. »Gott sei Dank!«

»Allerdings gehen uns jetzt endgültig die Antibiotika aus, um wieder auf die Liste zurückzukommen.«

»Ich werde mich darum kümmern, aber zunächst muss ich mit General Morrow reden.«

Der Mediziner neigte den Kopf und fixierte mit seinen Augen einen Punkt hinter ihr. »Dazu wirst du umgehend die Gelegenheit bekommen«, sagte er mit tonloser Stimme.

Marlene drehte sich um. Der General näherte sich ihnen aus Richtung der Verwaltungsbaracke. Der mittelgroße, hagere Morrow trug eine gefleckte Felduniform. Ein schwarzes Barett bedeckte seinen Kopf. Sein Gesicht war blass, als hätte er in den vergangenen Wochen und Monaten die Sonne nicht zu Gesicht bekommen. Unbewusst wollte Marlene ihre Hand zum militärischen Gruß erheben, aber sie stoppte sich. Der General blieb zwei Schritte vor ihr stehen.

»General Morrow«, begann Marlene. »Es wird Zeit, dass ...«

Er beendete ihren Satz mit einer unwirschen Handbewegung.

Marlene musste schlucken. Der Mann strahlte eine ungeheure Autorität aus.

»Ms. Wolfe. Sie haben recht, es wird höchste Zeit, dass wir uns unterhalten«, sagte der General mit rauer Stimme. »Rufen Sie Ihren Stab zusammen. Wir treffen uns in einer Stunde in Ihrem Mannschaftsgebäude.«

 

»Wollen Sie endlich sagen, was Sie von uns wollen, oder glotzen Sie mich noch eine Stunde weiter so an, General?«, sagte Christian Holbrook in einem ätzenden Tonfall.

Marlene war nicht entgangen, mit welch boshaften Blicken Morrow den ehemaligen Astronauten bedachte. Zu ihr war der General schon nicht übermäßig freundlich gewesen, aber Holbrook und Albert zählten für ihn offensichtlich zur Kategorie der Verräter. Marlene saß am Kopfende des langen Tisches, der General ihr gegenüber. Der Rat von Eridu hatte an den Längsseiten Platz genommen, die Stühle direkt neben dem General blieben frei. Neben Albert und Holbrook saßen noch Dr. Dressel, Dr. Lindwall, sowie Lee Shanker, ihr Stellvertreter Sammy Yang und Travis Richards. Elise hatte um die Teilnahme an der Besprechung gebeten, um etwas über das Schicksal von Russell zu erfahren, aber Marlene hatte es für klüger gehalten, sie vorerst von Morrow fernzuhalten.

»Wir sind vollzählig, General«, sagte Marlene knapp.

Endlich wandte Morrow den Blick von Holbrook ab. Nach langen Sekunden nickte er. »Gut. Ich werde Ihnen nun mitteilen, wie es mit Eridu, wie Sie Ihre Kolonie so phantasievoll genannt haben, weitergeht.«

Richards schnaubte laut.

»Die Siedlung wird dem Kommando der US-Regierung unterstellt, deren Repräsentant ich bin. Mein Stellvertreter, Major Palmer, wird sich Ihnen in Kürze vorstellen. Sie können Ihren Rat und Ihren eigenen Befehlshaber behalten, aber das wird nur noch eine rein administrative Tätigkeit sein, um die Durchsetzung unserer Anweisungen zu organisieren. Ein Trupp Soldaten wird ständig anwesend sein, um die Siedlung zu überwachen. Niemand verlässt Eridu, ohne sich vorher beim befehlshabenden Offizier abzumelden.«

Marlenes Puls stieg, aber sie zwang sich zu einem sachlichen Tonfall. »Sie wollen uns unter Arrest stellen? Wer gibt Ihnen das Recht dazu? Und wer gibt Ihnen das Recht, unsere Kolonie zu besetzen? Wir haben sie in jahrelanger Arbeit aufgebaut, nachdem der Kontakt zur Erde abgerissen war, und sie zuletzt mit unserem Leben verteidigt. Und jetzt kommen Sie und stellen unsere Siedlung unter Kriegsrecht?«

Morrow zuckte nicht einmal. »Der Transporter in Nevada wurde von Verrätern und Meuterern vernichtet, mit denen Sie gemeinsame Sache machen.«

»Wir hatten wohl kaum eine andere Wahl«, sagte Lee entrüstet.

Der General ging nicht darauf ein. »Diese Kolonie wurde von Ihnen, also von ehemaligen Soldaten und Angestellten der US Army, aufgebaut. Mit Material der Armee und der Regierung der Vereinigten Staaten. Der Aufbau eines Stützpunktes war Ihre Aufgabe. Und nun, da der Kontakt wieder hergestellt ist, fordern wir diesen Stützpunkt zurück und werden ihn für unsere Zwecke nutzen.«

»Das ist über zwanzig Jahre her, General«, sagte Marlene. »Für uns ging es ums nackte Überleben. Sie haben selbst gesagt, dass wir nicht mehr Angehörige der Streitkräfte sind, also was soll das jetzt? Und warum diese Feindseligkeit? Der Großteil der Kolonisten hat mit der Zerstörung des Transporters in Nevada nichts zu tun, sondern selber darunter gelitten.« Marlene beugte sich in ihrem Stuhl nach vorne. »In der Tat gibt es einige Kolonisten, die gerne wieder mit Ihnen zurück auf Erde gehen würden.«

Der General blinzelte. »Niemand von New California wird jemals wieder die Erde betreten.«

»Ja, aber ...«, begann Dr. Lindwall.

Morrow machte eine wegwerfende Handbewegung. »Auch ich und meine Soldaten werden möglicherweise nie wieder einen Fuß auf die Erde setzen. Sie unterliegen einem Denkfehler.« Er machte eine kurze Pause. »Wir kommen nicht von der Erde.«

Marlene war einen Moment sprachlos. Nicht von der Erde? »Ich verstehe nicht ...«, sagte sie.

»Ich hätte Sie für intelligenter gehalten«, sagte Morrow, wandte den Kopf und blickte Holbrook an. »Sie haben jeden Transporter im Sonnensystem zerstört. Bis auf eine Ausnahme.«

Der ehemalige Astronaut runzelte die Stirn, dann wurde er blass. »Mein Gott, die Venus! Sie kommen von der Venus!«

»Wir waren schon auf dem Weg zum Mars, als der Satellit MAVEN einen Gammastrahlenblitz auf der Oberfläche registrierte. Es hat Ihnen ja offensichtlich nicht gereicht, den Transporter in Nevada zu vernichten, Sie mussten ja unbedingt noch alle anderen Transporter des Sonnensystems zerstören. Aber den auf der Venus haben Sie übersehen.«

»Nicht übersehen«, sagte Holbrook heiser.

Morrow nickte. »Oder vielmehr haben Sie keine Möglichkeit gehabt, mit Ihren Mitteln auf die Venus zu gelangen. Sie hielten den Transporter dort inmitten der tödlichen Umweltbedingungen für unzugänglich genug, aber das war ein Fehler. Vor fünfzehn Jahren begannen die Planungen für die Errichtung einer Basis auf unserem Nachbarplaneten.«

»Aber wie?«, fragte der Astronaut ungläubig.

Morrow machte eine unwirsche Handbewegung. »Das würde hier viel zu weit führen. Aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass es Unsummen gekostet hat. Ein Großteil der Wirtschaftsleistung der Vereinigten Staaten ist dafür draufgegangen. Und es hat trotzdem nur für eine Einwegmission gereicht.«

»Ich verstehe«, sagte Marlene. »Sie haben einen Stützpunkt auf der Venus errichtet und wahrscheinlich auch für regelmäßigen Nachschub gesorgt, aber Sie haben nicht die Mittel für eine Rückkehr zur Erde.«

Morrow nickte. »Das ist korrekt. Wir haben zwar zwei Schiffe, die zwischen Erd- und Venusorbit pendeln. Mit Wiedereintrittskapseln an Fallschirmen bringen wir Menschen und Material auf den Boden. Eine Möglichkeit zurück in die Umlaufbahn haben wir leider nicht.«

Marlene schüttelte sich. Die Regierung hatte diese Menschen auf eine Mission ohne Wiederkehr geschickt. Die Venus besaß fast dieselbe Masse wie die Erde und eine große Rakete wäre nötig, um die Männer und Frauen vom Boden zurück in die Umlaufbahn und zu ihrem Schiff zu bringen, das nur wenige hundert Kilometer über ihnen seine Kreise um den Planeten zog. Sie stellte sich Kolumbus vor, der mit einem Beiboot am Strand der neuen Welt landete, aber keine Möglichkeit hatte, mit ihm zur Santa Maria zurückzukehren und dem Schiff zum Abschied nur deprimiert zuwinken konnte. Ein gruseliges Bild. Was für Männer und Frauen waren bereit, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen?

»Unser Auftrag lautet, den Transporter zu sichern«, fuhr Morrow fort. »Wir haben eine Basis um ihn herum gebaut und ein Wissenschaftlerteam untersucht das Artefakt rund um die Uhr. Die Erkenntnisse werden dann zur Erde gesendet. Die Wissenschaftler und Soldaten, mich eingeschlossen, sind Freiwillige. Wir haben die Hoffnung, dass die gewonnenen Daten ausreichen, einen eigenen Transporter auf der Erde zu bauen und irgendwann auf diesem Weg zurückzukehren, wobei es allerdings auch Planungen gibt, eine Fähre zu bauen, die Material vom Boden der Venus wieder in die Umlaufbahn bringt.«

»Und wenn das fehlschlägt?«, fragte Marlene. Im selben Moment wusste sie schon die Antwort.

»Dann werden wir uns bei Ihnen auf New California niederlassen, wenn unsere Arbeit getan ist. Bis dahin werden Sie und Ihre Kolonie uns bei unserer Arbeit unterstützen. Das ist der Befehl.«

Es herrschte Stille im Besprechungsraum, als die Kolonisten das verdauten. Marlene kaute auf ihrer Unterlippe. Sie waren nicht länger unabhängig. Von jetzt an würde die Erde und somit Morrow über die Geschicke der Kolonie entscheiden. Einerseits konnte der erneute Kontakt Vorteile haben. Über den Umweg Venus konnte man ihnen Medikamente und dringend benötigte Ersatzteile und Ausrüstung zukommen lassen. Andererseits bereiteten ihr das Auftreten Morrows und seiner Soldaten Sorgen. Sie war nicht bereit, so ohne weiteres auf die Autonomie ihrer Kolonie zu verzichten. Zu hart hatten sie dafür gekämpft. Aber wie die Dinge standen, hatten sie zumindest im Moment keine Wahl. Es galt, aus der Situation das Beste zu machen, und dieser Weg führte nur über die Kooperation mit Morrow.

»Was erwarten Sie von uns?«, fragte sie den General.

Er räusperte sich. »Zum einen erwarte ich Gehorsam. Sie haben meinen Befehlen Folge zu leisten. Versuchen Sie nicht, mich zu hintergehen. Das würde ich als Meuterei ansehen und in Anbetracht des Kriegsrechts harte Strafen verhängen. Übergriffe gegen meine Männer werden mit der vollen Härte geahndet. Sie wissen, was das bedeutet?«

Hinrichtung! Marlene nickte.

»Weiterhin benötigen wir Nahrungsmittel und Wasser für die Versorgung des Venus-Stützpunktes. Ich erwarte, dass Sie alle geernteten Lebensmittel zentral einlagern und Buch führen über alle Entnahmen.«

Richards stand auf. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Wir haben kaum selber genug für uns nach dem Kampf gegen die Bestien. Außerdem hindern Ihre Männer uns seit Tagen daran, auf den Feldern unsere Arbeit zu machen.«

»Von wie vielen Personen, die versorgt werden müssen, reden wir überhaupt?«, fragte Marlene.

»Fünfzig«, sagte Morrow knapp. Er wandte sich Richards zu. »Aber wir haben noch Vorräte in den Lagern auf der Venus. Es wird also zu keinen Engpässen kommen. Sie können ab sofort wieder die Felder bearbeiten und die Geländewagen nutzen. Aber Sie müssen sich beim Kommandierenden abmelden, wenn Sie die Siedlung verlassen. Ich will jederzeit wissen, wo sich jeder Kolonist aufhält.«

»Wo ist Russell?«, unterbrach Albert den General. Marlene hielt das für keinen guten Zeitpunkt, ließ ihn aber gewähren.

Morrows Kopf ruckte herum. »Mr. Harris befindet sich auf der Venus und wartet auf seinen Prozess, Mr. Bridgeman. Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie, Mr. Holbrook und Ms. Slayton ebenfalls an die Wand stellen lassen, aber meine Vorgesetzten haben entschieden, lediglich an Mr. Harris als Rädelsführer der Meuterei ein Exempel zu statuieren.«

»Mein Gott!«, sagte Marlene. »Sie wollen ihn hinrichten lassen!«

»Er bekommt einen fairen Prozess. Aber die Beweislast ist so erdrückend, dass es am Ende ganz sicher darauf hinauslaufen wird. Er hat sich der schlimmsten Form des Hochverrats schuldig gemacht. Das kann nicht ohne Folgen bleiben.«

»Aber ...«, begann Holbrook.

»Halten Sie den Mund!«, zischte der General und drehte sich so ruckhaft um, dass sein Barett verrutschte. »Sie waren einmal ein hochdekorierter Militärastronaut. Dann haben Sie Ihrem Land seinen vielleicht wichtigsten Besitz genommen. Das werden Sie nie wieder gutmachen können, und was mich angeht, ist Verbannung dafür nicht Strafe genug.«

»Verbannung?«, fragte Marlene.

Der General rückte sein Barett wieder zurecht. »Die Gruppe der ehemaligen Meuterer wird nie wieder einen Fuß auf die Erde setzen und hier sterben - ganz gleich, ob es uns gelingt, dem Transporter auf der Venus seine Geheimnisse zu entreißen.« Er griff nach seiner Tasche, die neben ihm stand. »Ich denke, wir sind für’s Erste fertig. In Kürze wird Major Palmer hier eintreffen und genaue Instruktionen mit sich führen. Ich erwarte, dass Sie sich genau daran halten.«

Der General erhob sich und machte einen Schritt in Richtung Tür.

»Einen Moment. Eine Frage habe ich noch«, sagte Holbrook.

Der General blieb stehen und wandte leicht den Kopf, ohne sich jedoch umzudrehen. »Was?«

»Der Transporter. Vor einigen Tagen haben wir erfolglos versucht, auf einen anderen Planeten zu gelangen. Das waren Sie, nicht wahr?«

Nun drehte sich Morrow doch um und blickte seinem ehemaligen Untergebenen in die Augen. Er erlaubte sich ein leichtes Lächeln. »Sehr scharfsinnig, Mr. Holbrook. Sie haben es erfasst! Wir haben bereits einige Fortschritte mit Technologie und Steuerung des Transporters erreichen können. Wir haben Ihren von der Venus aus lahmgelegt.«

 

3.

 

Russell lag auf der unbequemen Pritsche seiner Zelle und zerbrach sich den Kopf.

Auf der Venus!

Morrow hatte recht gehabt. Er hätte von selbst darauf kommen müssen. Vor zwanzig Jahren hatte Russell zusammen mit Chris alle Transporter im Sonnensystem zerstört, um sie dem Zugriff der Menschheit zu entziehen. Bis auf den einen auf der Venus! Der Druck auf der Oberfläche des Höllenplaneten betrug fast hundert Bar. Das entsprach dem Druck in einer Wassertiefe von einem Kilometer. Die Temperatur lag bei mörderischen fünfhundert Grad Celsius und die Atmosphäre bestand aus einer giftigen Mischung aus Kohlendioxid, Stickstoff und Schwefeldioxid. In größeren Höhen regnete es dicke Tropfen von Schwefelsäure. Wie man unter diesen Bedingungen eine Basis auf dem von dicken Wolken umhüllten Planeten errichten konnte, war Russell ganz und gar schleierhaft. Alleine der Flug wäre vor zwanzig Jahren eine absolute Unmöglichkeit gewesen. Aber offenbar hatte man Lösungen für die technischen Probleme gefunden. Die Anstrengungen und Kosten dafür mussten gigantisch gewesen sein.

Die meiste Zeit dachte Russell jedoch an seine Familie. Es durfte einfach nicht sein, dass er Elise und seine Kinder niemals wiedersah. Er zerbrach sich den Kopf über einen Ausweg. Vielleicht konnte er Morrow einen Deal anbieten, aber ihm wollten einfach keine guten Argumente einfallen.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Irgendwann wurde er von denselben zwei Soldaten abgeholt, die ihn vorhin schon zu General Morrow gebracht hatten. Vor dem Lazarett blieben sie stehen. Der Soldat mit der Brille, den Russell für sich John Lennon nannte, klopfte. Nach einigen Sekunden ohne Reaktion klopfte er erneut.

»Ich bin ja nicht taub, verdammt nochmal!«, brüllte eine raue Frauenstimme durch die geschlossene Tür. Lennon zuckte kurz zusammen und verzog das Gesicht. Gemeinsam warteten sie.

Russell zeigte auf das Emblem über Lennons Brusttasche. »Es erinnert mich an das Symbol der Air Force. Habt ihr das Design geändert?«

Lennon schüttelte den Kopf. »Darkbridge«, sagte er knapp.

Russell verstand. Darkbridge war der Name einer Rüstungsfirma, die schon vor zwanzig Jahren dabei gewesen war, stark zu expandieren. Also hatte die Regierung den Aufbau und den Betrieb des Venuslabors in die Hände einer Privatfirma gelegt. Und die Männer neben ihm waren eigentlich keine Soldaten, sondern Söldner. »Ist die Eroberung des Weltraums nicht die Aufgabe der NASA?«

Der größere der Männer verzog belustigt den Mund. »Die NASA gibt es nicht mehr. Und jetzt halten Sie die Klappe.«

Die Tür zum Lazarett öffnete sich und die grimmig dreinblickende Ärztin winkte sie hinein. Die Krankenstation war klein. Ein Behandlungsstuhl, der zur Liege gekippt werden konnte, stand im Zentrum des Raums. In mehreren Regalen stapelten sich ungeordnet Bücher, Instrumente und medizinische Geräte. Ein kleiner Schreibtisch war mit Papieren bedeckt. Eine Flasche Whisky war offenbar hastig unter einem Aktenordner versteckt worden. Glastüren führten zu einem winzigen Zimmer mit einem Operationstisch, neben dem nicht einmal drei Ärzte Platz finden konnten, und zu einer Diagnoseeinrichtung, die unschwer als Computertomograph zu erkennen war. Hinter einer weiteren Tür befand sich offenbar eine Intensivstation, wie aus der Beschriftung neben dem Rahmen hervorging.

»Setzen Sie sich in den Behandlungsstuhl«, sagte die Medizinerin mit gleichgültiger Stimme.

Russell zögerte. Vor einer Woche noch hätte er alles dafür getan, seine Krankheit behandeln zu lassen. Aber geheilt zu werden, nur um dann vor ein Erschießungskommando zu kommen, war nicht das, was er sich erträumt hatte. Er spielte mit dem Gedanken, sich zu weigern. Aber Morrow hatte angedroht, ihn notfalls mit Gewalt behandeln zu lassen, also hatte er sowieso keine Chance.

»Nun machen Sie schon, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.« Der Atem der Medizinerin roch nach Whisky.

Russell zuckte mit den Schultern und ließ sich dann auf dem Behandlungsstuhl nieder.

»Warten Sie draußen«, forderte die Ärztin die Soldaten auf. »Sie stehen mir hier im Weg.«

Lennon bewegte sich keinen Millimeter. »Wir haben Befehl, den Gefangenen nicht aus den Augen zu lassen.«

»Es ist mir scheißegal, was der Alte sagt«, brauste sie auf. »Das hier ist meine Krankenstation und hier bestimme ich, was gemacht wird. Ich werde mit der Behandlung nicht beginnen, bevor Sie sich verpisst haben. Sie können draußen warten, das Lazarett hat nur eine Ausgangstür. Er entkommt Ihnen schon nicht!«

»Er könnte Sie als Geisel nehmen.«

»Sehen Sie ihn sich doch an.« Sie wedelte die Hand in Russells Richtung. »Er ist ein Wrack. Er nimmt überhaupt niemanden als Geisel. Wo sollte er auch schon hin? Und jetzt raus!«

»Ich werde Ihr unkooperatives Verhalten dem General melden«, sagte Lennon sichtlich erbost, aber er öffnete die Tür.

»Tun Sie das.«

Die Soldaten verließen den Behandlungsraum. »Arschlöcher!«, murmelte die Ärztin, nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte.

»Der Alte?«, fragte Russell. Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Hört sich nicht so an, als wären Sie von Morrows Kommando allzu angetan.«

Sie blickte ihn streng an. »Er tut nur seinen Job. Genau wie ich. Leider stehen die Bedürfnisse der Besatzung in seiner Prioritätenliste nicht sehr weit oben.«

Russell streckte die Hand aus. »Russell Harris«, sagte er.

Sie sah ihn an wie eine Laborratte vor der Sektion. »Ich weiß, wer Sie sind. Ihnen haben wir den Einsatz auf diesem Scheißplaneten zu verdanken«, sagte sie schroff.

Russell nickte. »Ja, das ist wohl so. Darf ich trotzdem Ihren Namen erfahren?«

»Dr. Megan Payne.«

Russell zog seine Hand zurück, nachdem die Doktorin keine Anstalten machte, sie zu ergreifen. Er lächelte. »Payne? Ist ja ein passender Name für eine Medizinerin.«

Sie verzog den Mund. »Sie können sich vorstellen, dass ich die Anspielungen auf meinen Namen nach einer dreißigjährigen Karriere nicht mehr hören kann.«

»Ja, kann ich. Wie wird es jetzt weitergehen? Was haben Sie mit mir vor?«

Dr. Payne rollte ein hüfthohes Gerät mit einem großen Monitor heran. »Sie bekommen jetzt eine Infusion mit genetisch hergestellten Antikörpern. Mit diesem Resonanzfeldscanner werde ich überwachen, ob die Therapie anschlägt.«

Russell musste den Oberkörper freimachen und die Ärztin befestigte einen flachen Plastikring, der über ein Kabel mit der Diagnostik verbunden war, an seiner Brust. Dann holte sie einen Beutel mit einer klaren Flüssigkeit aus einem Kühlgerät und schloss ihn an ein Infusionsbesteck an. Russell zuckte, als die Nadel den Weg in seine rechte Armvene fand.

»Was verabreichen Sie mir da?«, fragte er.

»Es ist eine Immuntherapie. Sie wurde vor etwa zehn Jahren zur ersten Wahl für die Behandlung der meisten Krebsarten.«

»Eine Art Chemotherapie?«

Die Ärztin verdrehte die Augen. »Nein, diese Immuntherapie funktioniert völlig anders. Ich habe an Ihnen, als Sie bewusstlos waren, eine Biopsie des kranken Lungengewebes durchgeführt. Mit einem Gensequenzer wurden die verantwortlichen Mutationen in der DNS identifiziert. Dann wurden künstliche T-Lymphozyten synthetisiert, die auf die speziellen T-Zell-Rezeptoren der kanzerogenen Zellen reagieren. Es ist wie eine Impfung, die gegen Ihre spezielle Krebsart für Sie personalisiert hergestellt wurde.«

Russell blickte auf den Plastikbeutel, der sich ganz allmählich leerte. Um die Einstichstelle der Infusionsnadel herum rötete sich die Haut und es brannte leicht. »Wie viele Sitzungen werde ich brauchen?«

»Nur diese eine. In fünfzehn Minuten sind wir fertig. Morgen kontrolliere ich den Verlauf mit dem MRT, nehme eine weitere Biopsie vor und in fünf Tagen sollten alle kanzerogenen Zellen zerstört sein.«

Russell schüttelte den Kopf. Als er die Erde vor zwanzig Jahren verlassen hatte, war Krebs in den meisten Fällen noch eine endgültige, tödliche Krankheit gewesen. Selbst monatelange Behandlungen hatten den Krankheitsverlauf nur leicht verzögert.

»Die Medizin scheint während meiner Abwesenheit gewaltige Fortschritte gemacht zu haben«, sagte er.

Dr. Payne zuckte mit den Schultern. »In einigen Bereichen ist das der Fall. Vor allem Gentherapien haben sich dank neuartiger Verfahren endlich durchgesetzt. Die notwendigen Apparate findet man mittlerweile in jedem Krankenhaus.« Sie verzog das Gesicht. »In anderen Bereichen hat sich die Erde eher in die andere Richtung bewegt.«

»Die Erde ...« Russell ließ sich den Namen seines Geburtsplaneten auf der Zunge zergehen. Was mochte in der Zwischenzeit alles geschehen sein? »Ich weiß nichts über die Entwicklungen in den letzten zwanzig Jahren.«

»Da haben Sie nicht allzu viel verpasst.«

»Ich habe fast Angst davor, zu fragen.«

Die Medizinerin ging zu ihrem Schreibtisch, hob eine durchsichtige, buchgroße Plastikscheibe auf, die sich nach einem Knopfdruck dunkel verfärbte. Weiße Schrift und Bilder tauchten auf der Platte auf. Sie reichte Russell das Gerät, das eine Weiterentwicklung der früheren Tabletcomputer zu sein schien. »Die Schlagzeilen von gestern«, kommentierte die Ärztin trocken.

Russell überflog die Seite. Die Hauptschlagzeile berichtete von Kampfhandlungen in Nordspanien. Im Artikel ging es um den Vormarsch von Regierungstruppen auf Barcelona. Mit dem Montserrat sei ein strategisch wichtiger Berg besetzt worden, wobei die Einheiten zahlreiche Massaker an der katalanischen Zivilbevölkerung verübt hatten.

Russell blickte erschüttert auf. »Krieg in Europa?«

»Europa ist schon seit fast fünfzehn Jahren Geschichte. Im Zuge der Weltfinanzkrise von 2021 zerbrach zunächst die Europäische Union, dann machten separatistische Bestrebungen selbst vor den Landesgrenzen nicht halt.«

»Amerika?«, fragte Russell.

»Eine Abspaltung der Zentralstaaten konnte mit Waffengewalt verhindert werden, nachdem ein Anschlag den republikanischen Präsidenten in Oakland vor zehn Jahren in tausend Fetzen sprengte. Die anhaltende Wirtschaftskrise macht die Lage auch nicht einfacher.«

»Mein Gott! Ich glaube, mehr will ich gar nicht wissen.« Russell schwieg lange und betrachtete den Infusionsbeutel, während sich seine Augen mit Tränen füllten.

Dr. Payne sah Russell mitleidig an, ging zu ihrem Schreibtisch und fischte die Whiskyflasche unter den Papieren hervor. Sie goss etwas davon in zwei Gläser und hielt ihm eines unter die Nase.

»Sie sollten in Ihrem Zustand zwar keinen Alkohol trinken, aber ich lasse mich trotz meiner erschreckenden Leberwerte ja auch nicht davon abhalten.«

Russell nahm das Glas und wog es unsicher in der Hand. Dann kippte er den Inhalt in einem Zug herunter.

»Anders ist die ganze Scheiße ja sowieso nicht zu ertragen«, schob die Ärztin nach, nachdem sie ihr eigenes Glas wieder auf den Tisch gestellt hatte.

»Wie kommt es, dass es uns so schlecht geht, aber die USA offensichtlich das Geld haben, ein so gewaltiges Projekt wie eine Basis auf der Venus zu finanzieren?«

Payne hatte sich noch einen Schluck aus der Flasche gegönnt und machte sich an dem Infusionsbeutel zu schaffen, der sich inzwischen geleert hatte. Sie nahm Russell die Nadel aus dem Arm und klebte ein Pflaster auf die kleine Wunde.

»Die Regierung hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, unbedingt an den Transporter zu gelangen. Ein Geheimnis war es seit langem sowieso nicht mehr und man wollte nicht das Risiko eingehen, dass die Chinesen oder Russen plötzlich zur Venus aufbrechen.«

Die Behandlung war beendet und Russell wurde wieder in seine Zelle gebracht. Er wartete darauf, irgendetwas von der Medizin zu merken, die ihm Payne verabreicht hatte. Schmerzen, Übelkeit oder eine der anderen Nebenwirkungen, die er immer mit einer Krebstherapie in Verbindung gebracht hatte. Aber da kam nichts.

In den nächsten beiden Tagen wurde er mehrmals untersucht. Er musste Blutproben abgeben und sich in eine Tomografieröhre legen. Die Untersuchungen wurden von einem Assistenten gemacht und erst nach drei Tagen bekam er die Ärztin wieder zu Gesicht.

Sie trat in seine Zelle und wartete darauf, dass der hinter ihr stehende Soldat die Tür von außen schloss. Dann setzte sie sich auf die kahle Pritsche. »Glückwunsch, Russell. Die Behandlung hat problemlos angeschlagen. Ihre Blutwerte sehen gut aus, es sind keine Krebsmarker mehr zu erkennen. Sie sind geheilt.«

Russell ließ sich auf die Klobrille nieder und blickte Payne teilnahmslos an. Geheilt ... Die Angst vor dem Krebstod hatte sein Leben in den vergangenen Wochen bestimmt. Er hatte es zunächst nicht wahrhaben wollen, als Dr. Lindwall ihm die Diagnose mitgeteilt hatte. Dann hatten sich für einige Tage Selbstmitleid und Wut in schneller Folge abgewechselt. Zuletzt hatte er resigniert und mit seinem Leben abgeschlossen. Und jetzt kam diese Ärztin und erklärte ihm, dass sein bevorstehendes Ende durch die Krankheit nach einer einfachen Infusion abgewendet war. Aber was hatte er denn davon? Ein Todesurteil war durch ein anderes ersetzt worden. »Was hätte ich vor einigen Tagen noch für eine solche Nachricht gegeben«, flüsterte er.

Dr. Payne nickte. »Ich weiß. Es ist nur ein Aufschub, bis Ihnen der Prozess gemacht wird. Wie der ausgeht, steht jetzt schon fest.«

»Wahrscheinlich habe ich es wohl verdient«, antwortete er.

Die Medizinerin schüttelte energisch den Kopf. Sie hatte den Sarkasmus in seiner Stimme entweder nicht bemerkt oder ignorierte ihn einfach. »Ich war mein ganzes Leben lang gegen die Todesstrafe. Ich bin damals Ärztin geworden, weil ich Leben retten wollte. Was für ein Mediziner wäre ich, wenn ich die mutwillige Vernichtung von Leben gutheißen würde? Jemanden zu heilen, nur um ihn dann hinrichten zu können, ist eine der größten Perversitäten unseres Systems. Wenn ich es richtig verstanden habe, wollten Sie die Menschheit vor Schaden bewahren. Soll ich Sie dafür jetzt etwa verurteilen?« Sie blickte zu Boden. »Dann müsste ich mich zunächst einmal selber verurteilen«, sagte sie tonlos.

Russell blickte auf. »Was ist geschehen?«

Dr. Payne schüttelte den Kopf. »Das geht Sie nichts an.«

»Sie sind nicht freiwillig hier«, stellte Russell fest.

»Was meinen Sie?«

»Auf der Venus, meine ich.«

Ihre Lippen kräuselten sich zu einem angedeuteten Lächeln. »Niemand ist freiwillig hier, so viel steht fest. Hier hat jeder Scheiße gebaut und büßt nun seine Strafe ab. Da gibt es zwischen den Söldnern und der Besatzung keinen Unterschied. Wer will schon aus freien Stücken auf solch einen Höllenplaneten!»

»Wie lange sind Sie schon hier?«

»Sechs Monate. Und ich habe immer noch keine Ahnung, ob ich jemals wieder nach Hause komme.« Sie lachte.

»Haben Sie Familie auf der Erde?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Hatte nie Zeit dafür.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Eigentlich frage ich mich, warum ich überhaupt auf die Erde zurückwill. Um ehrlich zu sein, kotzt mich der Planet an, oder vielmehr die Menschen, die darauf leben. Aber immerhin kann man dort den Himmel sehen.«

»Auf New California haben wir auch einen wunderschönen blauen Himmel«, sagte Russell.

Die Ärztin runzelte die Stirn. »Wo?« Dann nickte sie. »Ach ja, der Planet, auf den Sie damals geflohen sind.«

»Ja, und es gibt sauberes Wasser und genug zu essen.«

»Ich hoffe nur, Ihre Angehörigen dort begehen nicht eines Tages dieselben Fehler wie die Menschen auf der Erde und verwandeln ihren Planeten in einen Haufen Scheiße.« Bei den Worten verzog sie das Gesicht und stand auf. »Obwohl der Krebs besiegt wurde, verfügen Sie nur noch über siebzig Prozent Ihrer Lungenkapazität. Das kanzerogene Gewebe ist als Folge der Therapie vernarbt und wird sich nie wieder erholen. Überanstrengen Sie sich also nicht.«

Was für eine Aufforderung an einen Mann, der den Rest seines kurzen Lebens in einer Zelle verbringen würde! Trotzdem nickte er. »Ich danke Ihnen.«

Dr. Payne öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, entschloss sich dann aber offenbar anders. »Ich bin fertig!«, sagte sie laut und der Wachhabende entließ sie aus der Zelle. Die Tür fiel ins Schloss und Russell war wieder alleine.

4.

 

»Pst!«

Marlene drehte sich in ihrem Bett herum und seufzte. Sie hatte den ganzen Abend auf Albert gewartet und sich schließlich schlafen gelegt. Ein Anflug von Zorn stieg in ihr auf, als sie ihn nun neben der Schlafzimmertür stehen sah. Aber er grinste schelmisch, was es ihr unmöglich machte, auf ihn böse zu sein.

»Ich habe nicht mehr mit dir gerechnet«, sagte sie leise.

Er trat näher und zog sich dabei das Hemd aus. Seine Augen zeigten nur zu deutlich, was er jetzt vorhatte. Trotz seines Alters sah Albert immer noch fantastisch aus. Von der Arbeit in der Werkstatt gestählte Muskeln zuckten unter seiner braungebrannten Haut. Er hatte sowieso eine muskulöse Statur, der die Lebensweise auf New California nicht geschadet hatte. Bewegung bekam man genug und die Nahrungsmittel, die sie von den Feldern gewannen, waren nicht wirklich dazu geeignet, sich einen Wohlstandsbauch anzufuttern. Und die Energie, die Albert den ganzen Tag in seiner Werkstatt antrieb, reichte völlig aus, um Marlene abends im Bett auch noch etwas Bewegung zu verschaffen.

Seine Finger strichen über ihre Brüste, aber sie spürte nicht einmal ein Prickeln. »Ich glaube, ich bin jetzt zu müde dazu.«

Albert warf seine Hose in die Ecke und kroch unter ihre Bettdecke. Seine warmen Hände krabbelten unter ihr Shirt. »Ich habe da eine hervorragende Idee, dich wieder aufzuwecken«, sagte er mit einer Stimme, die an Lüsternheit kaum zu überbieten war.

Sie schüttelte den Kopf und zog seine Hände unter ihrem Hemd hervor. »Nein, heute nicht mehr. Da hättest du früher Feierabend machen müssen.«

Er blickte sie einige Sekunden lang prüfend an, erkannte aber offenbar, dass er sie heute nicht mehr umstimmen würde. Also zog er eine übertrieben enttäuschte Grimasse, woraufhin Marlene ihm die Zunge herausstreckte. Albert lachte wieder und legte sich neben ihr auf den Rücken. »Na schön, morgen ist ja auch noch ein Tag.«

»Was hat dich denn so lange aufgehalten?«

»Probleme an einem der Jeeps.«

»Einem von uns?«, fragte Marlene.

Albert schüttelte den Kopf. »Einer von denen.«

Eigentlich sind es alles unsere! »Toll, erst nehmen sie uns bis auf zwei Stück alle weg und dann bringen sie sie zu dir, um sie reparieren zu lassen.«

»Und die zwei, die sie uns gelassen haben, dürfen wir auch nur für die Feldarbeit einsetzen.«

Sie schmiegte sich eng an ihm. Es tat so gut, seine Wärme zu fühlen.

»Wie läuft es eigentlich mit Major Palmer?«, fragte Albert.

Marlene stöhnte. Sie wollte sich über dieses Thema jetzt eigentlich gar nicht unterhalten. »Er ist ein Arschloch. Bei jedem Treffen lässt er mich deutlich spüren, an welcher Position der Rangliste er mich sieht. Mit Morrow war es deutlich einfacher, aber der hat sich seit über zwei Wochen nicht mehr blicken lassen.«

»Hast du ihn schon wegen der Ersatzteile gefragt?«

»Nein, dazu hatte ich noch keine Gelegenheit. Aber lass uns jetzt bitte das Thema wechseln, ja?«

»Wie Sie wünschen, Frau Präsidentin.«

Marlene verpasste Albert eine leichte Ohrfeige, was ihn aber nicht daran hinderte, zu grinsen. »Du weißt genau, wie sehr ich es hasse, wenn du mich so nennst. Also lass das bitte, du Klempner!«

»Ist ja schon gut. Ich entschuldige mich aus tiefsten Herzen.« Er kroch wieder näher und ließ seine Finger in ihren Slip gleiten. »Ich werde es wiedergutmachen.«

Langsam übertrieb er es mit seinem Übermut. Marlene stützte sich auf den rechten Ellbogen und funkelte ihn an. »Ich sagte doch, ich bin zu müde dazu.«

Er zog die Hand zurück und zuckte mit den Schultern. »Auch gut. Aber sag morgen nicht, ich hätte es dir nicht angeboten.« Er rückte ein Stück von ihr weg und stützte nun seinen Kopf auf seinen Ellbogen. Plötzlich wurde sein Gesicht ernst. »Hast du eigentlich nochmal nachgedacht?«

»Worüber?«

Er schien enttäuscht zu sein, aber Marlene kam nicht drauf, was er meinte. Sie war einfach zu müde und ihr Hirn arbeitete nur mit halber Kapazität.

»Worüber wir uns vorgestern Abend unterhalten haben.«

Vorgestern? Was war vorgestern?

Albert öffnete schon den Mund, da fiel es ihr wieder ein. Sie nickte. »Entschuldige, ich war seitdem mit den Gedanken einfach bei anderen Problemen. Lass uns erstmal alles so lassen, wie es ist, okay?«

»So, wie es jetzt ist, läuft es schon seit Jahren. Ich finde, wir könnten langsam mit der Heimlichtuerei aufhören. Im Grunde weiß es doch sowieso schon jeder.«

Im Prinzip hatte Albert recht. Sie wusste gar nicht mehr, wie lange sie nun diese merkwürdige On-Off-Beziehung führten. Wenn sie Muße hatten, kam Albert vorbei oder sie ging zu ihm und sie machten sich gemeinsam eine schöne Nacht. Für mehr war einfach nie genug Zeit. Die Organisation der Kolonie auf New California forderte ihre ganze Aufmerksamkeit und Marlene wollte nicht auch noch damit anfangen, eine Beziehung zu managen. Er hatte ihr gegeben, was sie brauchte, und damit war sie zufrieden. Außerdem war sie ihr ganzes Leben alleine gewesen und sie war sich nicht sicher, ob sie es ertragen konnte, Albert permanent um sich zu haben. Aber vor allem wollte sie nicht jetzt, mitten in der Nacht, darüber nachdenken.

»Bitte, lass uns darüber ein andermal reden, einverstanden?«

Albert machte ein enttäuschtes Gesicht und diesmal konnte sie genau erkennen, dass es nicht geschauspielert war.

»Ist nicht böse gemeint, wirklich nicht. Du weißt, dass ich dich gerne habe. Das weißt du, ja?«

Seine Gesichtszüge entspannten sich allmählich. »Klar weiß ich das. Ich werde dich damit nicht mehr nerven.«

»Du nervst mich nicht, keine Angst«, flüsterte Marlene.

Er leckte sich über die Lippen. »Das ist gut zu wissen.« Und wieder spürte sie seine Finger in ihren Slip gleiten.

»Du lässt heute aber auch gar nicht locker«, sagte sie und gab sich alle Mühe, dass es nicht gereizt klang.

»Nein.«

Sein Zeigefinger berührte eine Stelle, von der er ganz genau wusste, wie empfindlich sie dort war.

Was soll’s? Jetzt bin ich eh wieder wach.

Sie rollte herum, bis sie auf ihm lag und begann langsam, ihre Hüfte zu bewegen. Sie blickte in seine Augen und küsste ihm das Grinsen aus dem Gesicht.

 

»Das war es schon. Der Splitter ist draußen.« Dr. Lindwall legte die Pinzette beiseite.

Marlene strich sich über den Handrücken und zuckte zusammen. »Es tut immer noch ziemlich weh.«

Am Morgen hatten sie und Albert einige Möbelstücke herumgerückt. Sie war mit ihrer Hand an der Wand entlanggeschrammt und musste sich dabei einen Splitter eingezogen haben, ohne dass sie es richtig mitbekommen hatte. Weder sie noch Albert hatten eine Pinzette im Haus, also war ihr nichts anderes übriggeblieben, als zu Doc Lindwalls Krankenstation herüberzugehen.

»Ich werde ein leichtes Analgetikum auftragen«, sagte der Mediziner. Er griff in eine Schublade und holte eine kleine Tube hinaus.

Marlene zuckte zusammen, als die Tür der Krankenstation aufgestoßen wurde und gegen ein Regal prallte. Einige durchsichtige Plastikbehälter fielen polternd um. Sie drehte sich um und sah Rhonda Fiedler in der Tür stehen. Die stämmige Blondine mit der spitzen Nase atmete schwer. Ihr Gesicht war gerötet.

»Sie haben alles mitgenommen. Das ganze Lager ist leer.«

Marlene stand auf und ging einen Schritt auf Rhonda zu. »Immer mit der Ruhe. Was meinst du damit?«

»Die Soldaten. Sie müssen das ganze Lager leergeräumt haben. Alle Nahrungsmittel sind weg. Ich habe mit William Brote gebacken und wollte sie einlagern. Sie haben mir den Korb aus der Hand gerissen und gemeint, wir hätten keinen Zugang mehr zum Lager. Ich konnte aber durch die offene Tür erkennen, dass die Regale leer waren. Auch das eingekochte Gemüse, das wir gestern reingebracht hatten, war nicht mehr da.«

»Diese verdammten ...«, flüsterte Dr. Lindwall.

Marlene stieß pfeifend Luft aus. Sie griff Rhonda am Arm und zog sie nach draußen. »Komm! Wir reden mit Major Palmer.«

Die vergangenen beiden Wochen waren ungemütlich gewesen. Hatte Marlene nach dem ersten Gespräch mit Morrow noch gehofft, dass sie einen Weg finden würden, miteinander ausgekommen, hatte sich bald darauf gezeigt, dass die Soldaten kein Interesse an einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Kooperation hatten. Immer wieder war es zu Zusammenstößen gekommen und den Kerlen schien es Freude zu bereiten, die Menschen in Eridu zu schikanieren. Immer wieder drangen sie ohne Ankündigung in die Hütten der Kolonisten ein, um sie nach Waffen zu durchsuchen. Allison Hadcroft hatten sie beinahe den Arm gebrochen, als ein Soldat sie aus ihrer Hütte zerrte.

Stephen Grass war vor einigen Tagen erst nach Sonnenuntergang von seiner Arbeit auf den Feldern zurückgekehrt, weil ein Traktor einen Schaden hatte, und war stundenlang von Major Palmer verhört worden. Erst als Marlene eingegriffen hatte, hatten sie ihn laufen lassen. Sie kam sich allmählich wie in einem Kriegsgefangenenlager vor.

Marlene und Rhonda erreichten die kleine Baracke am Ortsrand, die Major Palmer als Büro diente, wenn er in Eridu war. Die Soldaten hatten ihre Baracken im Wald, gleich neben dem Transporter, der permanent bewacht wurde. Sogar Stacheldraht hatten sie rundherum gezogen.

Marlene klopfte an die Holztür, wartete aber keine Antwort ab und öffnete. Major Palmer stand mit einem Soldaten vor dem großen Tisch in der Mitte des Raumes. Offenbar hatten die beiden über einem Lageplan diskutiert, der dort ausgerollt war. Palmer starrte sie aus kühlen, blauen Augen an.

»Major, wir müssen reden«, sagte Marlene eindringlich.

Der bullige Mann hatte stoppelkurze Haare und überragte sie um eine ganze Kopflänge. Er nickte dem Soldaten knapp zu, der daraufhin das Gebäude verließ.

»Also gut, Ms. Wolfe. Was haben Sie auf dem Herzen?« Der herablassende Tonfall entging Marlene nicht.

»Sie haben uns nicht nur den Zugang zum Vorratslager verweigert, sondern auch sämtliche Nahrungsmittel mitgenommen.«

Der Major zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Wir brauchen sie auf der Venus. Eine Versorgungskapsel von der Erde ist beim Eintritt in die Atmosphäre verglüht.«

»Die Abmachung war, dass wir unsere Nahrungsmittel teilen«, sagte Marlene.

Palmer lachte wiehernd. »Abmachung? Es gibt keine Abmachung! Wir haben hier das Kommando und Sie erhalten die Befehle.«

»Und was sollen wir bitteschön essen?«, zischte Rhonda.

»Arbeiten Sie schneller auf den Feldern. Von der nächsten Fuhre wird Ihnen eine angemessene Menge zugeteilt.«

»Hören Sie, so funktioniert das nicht!«, sagte Marlene.

»Was funktioniert, entscheiden wir, Ms. Wolfe. Und kommen Sie nicht auf den Gedanken, Vorräte an uns vorbei zu schleusen und für sich selbst zu bunkern. Wenn ich herausfinde, dass das geschieht, werden Sie hart bestraft.«

»Major, wenn Sie den Leuten nichts zu essen übrig lassen, werden die Männer und Frauen sich bald weigern, überhaupt noch zu arbeiten.«

Palmer grinste. Auf eine derartige Bemerkung schien er nur gewartet zu haben. »Arbeitsverweigerung ist Befehlsverweigerung. Dann werde ich nicht umhinkommen, mir ein oder zwei Deserteure zu schnappen und ein Exempel zu statuieren. Sehen Sie lieber zu, dass Sie Ihre Leute im Griff haben, bevor ich mich entschließe, Ihre Dienste nicht länger zu benötigen, Ms. Wolfe.«

»Sie riskieren eine Meuterei, Major! Das kann doch nicht in Ihrem Sinne sein«, sagte Marlene.

»Überlassen Sie das ruhig mir.«

»Ich möchte mit General Morrow reden!«

»Ich habe hier das umfassende Kommando. Wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, reden Sie mit mir!«

Sinnlos! Ich erreiche hier gar nichts! Marlene schüttelte den Kopf und verließ mit Rhonda im Schlepptau das Gebäude.

»Was für ein Arschloch!«, sagte Rhonda, als sie einige Meter zurückgelegt hatten.

»Das kannst du wohl sagen. Ich ...« Sie stockte, als sie einen Schrei und ein Poltern hinter der naheliegenden Werkstatt hörte. Marlene lief mit Rhonda hinüber. Als sie um die Ecke des Gebäudes bogen, sah sie den siebzehnjährigen Cookie Shanker mit dem Bauch im Dreck liegen, hinter ihm ein Soldat, der sich die Faust rieb. Cookie rappelte sich stöhnend auf und hielt sich die Hand vor die Nase. Blut lief an seinem Kinn herab.

Marlene trat heran und legte dem Jungen sanft die Hand auf die Schulter. Mit einem Blick erkannte sie, dass der Soldat ihm die Nase gebrochen hatte.

»Was ist geschehen?«

»Er hat mich einfach geschlagen!«, nuschelte Cookie und zeigte mit seiner Linken auf den Soldaten.

»Ich habe dem Rotzlöffel schon einmal gesagt, er soll nicht an der Werkstatt herumschnüffeln«, brummte der Beschuldigte.

»Ich habe nur nach meinem Vater gesucht!«

»Private ...« Marlene warf einen Blick auf das Namensschild. »Private McIntosh. Der Vater des Jungen arbeitet hier in der Werkstatt. Sie ist für ihn mittlerweile ein zweites Zuhause.«

Der großgewachsene Soldat mit dem breiten Kreuz verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Marlene abschätzig an. »Die Anweisung von Major Palmer lautet, dass sich keine Unbefugten der Werkstatt und den Geländewagen zu nähern haben.«

»Aber Sie können doch nicht einfach dem Jungen die Nase brechen!«, sagte Marlene.

»Ich muss mich vor Ihnen nicht rechtfertigen, Ms. Wolfe. Ich habe meine Befehle. Wenn Sie sich beschweren wollen, gehen Sie bitte zu Major Palmer.«

Das wäre wohl verschenkte Zeit! Sie griff den Jungen an der Schulter und brachte ihn zur Krankenstation.

Es wird langsam Zeit, etwas zu unternehmen!

5.

 

»Ich lasse mir das nicht länger gefallen!«, sagte Lee Shanker. »Die können nicht einfach hingehen und meinen Sohn verprügeln. Die gebrochene Nase wird man ihm den Rest seines Lebens ansehen. Wir müssen endlich etwas unternehmen.«

»Darum sind wir ja hier, um darüber zu diskutieren», sagte Marlene. »Beruhige dich endlich!«.

»Ich will mich aber nicht beruhigen!«, sagte Lee. Seine Stimme bebte.

Marlene hatte ihn zu sich gerufen, um einer Kurzschlussreaktion vorzubeugen. Außerdem hatten sich Ernie Lawrence, Travis Richard, Dr. Dressel und Chris Holbrook eingefunden. Die inoffizielle Versammlung fand in ihrem Privathaus statt, da die Verwaltungshütte unter ständiger Beobachtung der Soldaten stand. Der Vorfall mit Cookie hatte sich schnell herumgesprochen, ebenso wie die Plünderung des Lagers. Die Ernte lief erstaunlich gut, sodass niemand würde hungern müssen, aber das beruhigte in der Kolonie niemanden. Was fiel Morrows Schergen als Nächstes ein?

»Wir müssen uns wehren!«, pflichtete Travis Lee bei.

»Ja, aber die haben Waffen und wir haben keine. Sie haben uns alle abgenommen«, gab Chris Holbrook zu bedenken.

»Richtig, eine offene Auseinandersetzung macht keinen Sinn. Wir haben nichts in der Hand«, sagte Marlene.

»Was wollen wir überhaupt erreichen?«, fragte Dressel. Der Wissenschaftler hatte tiefe Ringe unter den Augen, sein Blick wirkte glasig. Als hätte er seit Wochen nicht mehr geschlafen. Marlene wusste, dass er den ganzen Tag in seinem Labor saß und nur die Wand anstarrte. Der Tod seines Sohnes Ryan machte ihn fertig.

Marlene blickte zu Holbrook hinüber. Der ehemalige Astronaut hatte auch einen Sohn bei den Kämpfen am Canyon verloren, aber ihm war davon nichts anzumerken. Sie kannte ihn allerdings gut genug, um zu wissen, dass er nicht weniger darunter litt.

»Die sollen verschwinden und uns in Ruhe lassen!«, sagte Lee.

»Dazu haben wir im Moment keine Handhabe«, antwortete Marlene.

»Und außerdem hat es auch Vorteile, wieder eine Verbindung zur Erde zu haben«, warf der Physiker ein.

»Was haben wir denn bisher davon gehabt?«, fragte Richards mit bitterer Stimme. »Noch nicht einmal Medikamente haben sie uns gegeben, obwohl Dr. Lindwall darum gebeten hat. Die sind nur hier, um uns auszuplündern. Ich frage mich, mit welchem Recht.«

Marlene griff nach dem Becher mit Tee, der dampfend vor ihr stand. »Sie betrachten die Kolonie als ihr Eigentum und ich kann es bis zu einem gewissen Grad auch verstehen. Wir waren selber Soldaten, als wir nach Eridu gekommen sind. Und wir haben es mit Material und Ausrüstung der Army aufgebaut. Es war unsere Aufgabe, einen Stützpunkt zu errichten, selbst wenn wir ihn schon vor langer Zeit von Russells Planet nach New California verlegt haben. Jetzt haben sie einfach wieder die Kontrolle über ihren Stützpunkt übernommen. Und sie brauchen ihn, um ihre Basis auf der Venus zu unterstützen.«

»Das gibt ihnen nicht das Recht, uns wie Dreck zu behandeln«, schrie Lee. Marlene forderte ihn mit einer Handbewegung auf, die Lautstärke zu senken. »Und schon gar nicht, unsere Kinder zu schlagen«, ergänzte er mit etwas leiserer Stimme.

Marlene nickte. »Ich hätte von Morrow erwartet, dass er unser Verhältnis mehr als Kooperation aufbaut.«

»Der General ist nicht da. Er hat sich seit zwei Wochen nicht blicken lassen. Stattdessen hat er uns dieses Arschloch dagelassen«, fluchte Lee.

»Ich kenne Major Palmer nicht und ich kann ihn nur sehr schwer einschätzen. Mag sein, dass er nur Befehle befolgt.«

»Blödsinn! Dem Dreckskerl macht es Spaß, uns zu schikanieren. Außerdem sollte man eines bedenken: Die Leute, die sie auf die Venus geschickt haben, haben keine Rückfahrkarte, wenn sie die Technik des Transporters nicht entschlüsseln. Und wer wird auf so eine Mission geschickt, von der es kein sicheres Zurück mehr gibt? Nur Leute, die man bestrafen will. Wer weiß schon, was Palmer und seine Schergen ausgefressen haben, um diese Strafmission zu verdienen.«

Marlene lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Über den Aspekt hatte sie auch schon nachgedacht. Für Morrow war der Fall klar: Er wollte ganz sicher den Verlust des Transporters wieder gutmachen, den er vor zwanzig Jahren durch seine Fahrlässigkeit zu verantworten gehabt hatte. Was die anderen Soldaten - Palmer eingeschlossen - anging, hatte sie keine Ahnung. Außerdem musste es auf der Venus auch noch Wissenschaftler geben, die den Transporter untersuchten. Sie wussten viel zu wenig, um jetzt schon irgendwelche Aktionen gegen ihre Besatzer zu unternehmen. Aber die Stimmung in der Kolonie war so weit gesunken, dass es garantiert nicht mehr lange dauerte, bis es zu einzelnen Aufständen kam. Es war besser, dem durch einen Plan vorzubeugen. Aber wie konnte der aussehen?

»Wir müssen auf jeden Fall Morrow und Palmer klarmachen, dass die Zusammenarbeit so nicht läuft«, sagte sie. »Sie müssen selbst einsehen, dass es besser ist, auf eine Kooperation zu setzen, statt uns Druck zu machen.«

»Können wir nicht einfach streiken?«, fragte Richards.

Marlene zuckte mit den Schultern. »Sie würden uns mit Waffengewalt zwingen, mit der Ernte fortzufahren. Außerdem hätten wir dann selbst nichts mehr zu essen.«

»Wir könnten versuchen, die Nahrungsmittel an Palmer vorbei zu schleusen und ein verstecktes Lager aufbauen«, sagte Lee.

Marlene schüttelte den Kopf. »Sie würden es merken und uns bestrafen. Palmer hat mir bereits angedroht, ein Exempel zu statuieren, wenn wir ihren Befehlen nicht nachkommen. Ich habe keine Zweifel, dass er seine Drohungen wahrmacht.«

»Dann haben wir doch überhaupt keine Handhabe«, sagte Lee.

»Was ist, wenn wir nach Guerillamethode vorgehen?«, fragte Richards. »Sabotage und ähnliche Aktionen aus dem Verborgenen. Sie können niemanden bestrafen, wenn sie nicht wissen, wer es war.«

Marlene wog unschlüssig den Kopf. »Ich weiß nicht, wie sie dann reagieren. Außerdem: Was sollen wir denn sabotieren?«

»Die Geländewagen, zum Beispiel.«

»Das sind doch unsere«, sagte Dressel.

»Jetzt nicht mehr«, sagte Lee. »Sie haben sie konfisziert und benutzen sie selber, um zwischen Eridu und ihrem Stützpunkt hin und her zu pendeln.

»Sie stellen sie uns aber für die Ernte zur Verfügung.«

Lee schnaubte. »Um uns die Nahrungsmittel dann gleich wieder wegzunehmen. Ich sage, wir müssen ihnen schaden. Und zwar so, dass es wehtut.«

Marlene schüttelte den Kopf. »Wir müssten uns wehren können. Und dazu brauchen wir Waffen.«

»Dann müssen wir sie uns halt wiederbeschaffen«, sagte Lee.

»Wir wissen noch nicht einmal, wo sie sie hingebracht haben. Möglicherweise durch den Transporter zur Venus.«

»Verdammt nochmal!«, fluchte Lee. »Können wir denn überhaupt nichts tun?«

Dr. Dressel räusperte sich. »Wir haben noch Waffen. Wir müssten sie uns nur holen.«

Marlene wandte den Kopf. »Was meinst du damit?«

»Das Depot in der Tiefebene. Morrow und Palmer wissen nichts davon.«

Marlene winkte ab. »Die Baracke ist mit der Flut sicher fortgespült worden. Da gibt es nichts mehr zu holen.«

Dr. Dressel schüttelte den Kopf. »Nein. Das Gelände rund um die Wetterspitze liegt auf einem Hügel. Das Depot sollte von der Flut verschont worden und intakt sein.«

Marlene strich sich durch die Haare. Wenn das stimmte und sie würde eine Expedition dorthin schicken, dann hätten sie genügend Waffen und Munition, um sich im Notfall gegen die Eindringlinge zur Wehr setzen zu können. Aber sie wollte keinen Krieg in der Kolonie, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.

»Lass uns die Waffen holen«, sagte Richards.

»Ich bin unbedingt dafür«, stimmte Ernie, der bisher noch kein Wort gesagt hatte, mit ruhiger Stimme zu. Der bullige Ex-Soldat litt unter dem Tod seiner Frau, die beim letzten Angriff der Wotans und Snipers ihr Leben in der Hölle eines versagenden Flammenwerfers gelassen hatte. Er war seitdem nicht wiederzuerkennen. All die Energie, die ihn immer ausgemacht hatte, schien erloschen zu sein.

»Und dann?«, fragte Marlene. »Wollen wir es wirklich auf eine bewaffnete Konfrontation ankommen lassen? Wir wissen noch nicht einmal, wie viele Soldaten Morrow noch auf der Venus hat. Die Verluste könnten für uns deutlich höher sein als beim Kampf gegen die Monster. Ich möchte es nicht riskieren, wenn es nicht unbedingt sein muss.«

»Wir könnten die Waffen holen und in der Nähe verstecken. Dann stehen wir zumindest nicht mit leeren Händen da und hätten eine Chance, wenn es zum Äußersten kommt«, sagte Ernie.

Marlene nickte. Sie musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ihnen keine andere Möglichkeit blieb, um sich gegen die Eindringlinge zu wehren. »Also schön. Wir werden zum Depot gehen und die Waffen holen. Aber nur für den Notfall. Ich möchte einstweilen weiter versuchen, die Spannungen zu deeskalieren. Und ich möchte mit Morrow reden. Er scheint mir zugänglicher zu sein als Major Palmer.«

»Ich melde mich freiwillig für die Expedition zum Depot«, sagte Richards.

»In Ordnung!«, stimmte Marlene zu. Sie wandte sich an Ernie. »Willst du mitgehen?« Er brauchte dringend eine Aufgabe.

»Sicher«, sagte Ernie ohne jede Begeisterung. »Wir sollten noch einen Dritten mitnehmen, damit wir genug Ausrüstung zurücktragen können.«

»Einverstanden.«

»Wann sollen wir loslegen?«, fragte Richards.

Marlene dachte nach. Am besten so bald wie möglich. »Ihr startet direkt morgen früh. Ihr lasst euch von einem der Feldtrupps mit dem Jeep bis zum Canyon fahren. Wenn ihr zügig lauft, solltet ihr morgen Abend am Depot sein. Dort übernachtet ihr und kommt am nächsten Tag mit so vielen Waffen und Ausrüstung wieder, wie ihr tragen könnt. Das Zeug deponiert ihr in der Höhle am Eingang des gesprengten Canyons. Dort können wir es uns holen, wenn wir es brauchen.«

»Wird es den Soldaten nicht auffallen, wenn drei Mann fehlen? Was ist, wenn sie wieder durchzählen lassen?«, fragte Dr. Dressel.

»Dann haben wir ein Problem», sagte Marlene. »Wir müssen das Risiko wohl eingehen. Ich lasse mir eine Alibigeschichte einfallen, wenn es dazu kommt.«

»In Ordnung«, sagte Ernie.

»Und seid vorsichtig. Wir wissen nicht, wie es in der Tiefebene nach der Flut aussieht.«

»Wäre es möglich, dass sich doch noch irgendwo Wotans oder Sniper herumtreiben?«, fragte Lee. »Ich meine, wenn das Gebiet um die Wetterspitze nicht überflutet wurde, könnte es doch sein, dass einige der Monster überlebt haben.«

Marlene stand auf und ging in eine Ecke des Raumes. Sie kniete sich nieder und löste eine der Bodendielen. Nach wenigen Sekunden fand sie, wonach sie gesucht hatte. Sie drückte Ernie die Waffe in die Hand.

»Eine Pistole und ein Magazin«, sagte sie. »Mehr habe ich leider nicht. Gegen eine Gruppe Wotans wird das wohl nicht viel helfen.«

»Es wird reichen«, sagte Ernie tonlos. »Es muss reichen.«

6.

 

»Ich kann den Gestank allmählich nicht mehr ertragen«, sagte Manuel Sargent. Der Siebzehnjährige hielt sich die Hand vor das Gesicht.

»Kopf hoch«, sagte Ernie. »Es ist jetzt nicht mehr weit.« Er blickte sich um. Überall lagen umgestürzte Bäume. Darunter und darüber tote Wotans. Ihre Körper waren vom Wasser aufgedunsen. Der Verwesungsprozess hatte vor Längerem begonnen und an den süßlichen, schweren Geruch konnte man sich einfach nicht gewöhnen. Ernie hatte Kopfschmerzen.

Sie waren früh im Schutz der Dunkelheit aufgebrochen, ohne dass die Soldaten es bemerkt hatten. Julia Stetson hatte sie später hinter dem Waldrand mit einem Jeep aufgelesen und die drei Männer zum Eingang des Canyons gebracht. Von dort aus waren sie zu Fuß weiter marschiert. Nachdem sie mühsam mit Seilen über die Steilwand geklettert waren, in die die Atombombe den Fels verwandelt hatte, waren sie zügig in den Dschungel der Tiefebene gelangt. Der Marsch war beschwerlich, aber damit hatten sie gerechnet. Von der alten Piste war nichts mehr zu erkennen. Die Flut hatte sie mit Matsch und Geröll überschwemmt. Ernie hatte sich gewundert, dass trotzdem noch so viele Bäume aufrecht standen. Die Stämme, die umgefallen waren, genügten jedoch, ihr Vorankommen zu verlangsamen. Für die vierzig Kilometer bis zur Wetterspitze hatten sie fast den ganzen Tag gebraucht, und schon näherte sich die Sonne im Westen allmählich dem Horizont. Als sie das ansteigende Gelände der Wetterspitze erreicht hatten, fanden sie überall Kadaver, und je weiter sie hinaufkamen, desto schlimmer wurde der Gestank.

»Die müssen alle versucht haben, auf den Hügel zu kommen«, sagte Richards. Er hatte sein Halstuch über Mund und Nase gezogen, aber Ernie bezweifelte, dass das viel nützte.

»Allerdings umsonst. Als die Flut kam, muss es verdammt schnell gegangen sein. Wie bei einem Tsunami.«

»Ich hoffe, Dressel hatte recht damit, dass das Depot über dem Wasserspiegel liegt«, meinte Richards. »Wie weit ist es eigentlich noch?«

»Schwer zu sagen. Ich erkenne hier nichts wieder. Wir sind aber immer noch im Dschungel. Das Depot lag knapp über der Baumgrenze. Es können höchstens noch ein oder zwei Kilometer sein.«

Sie kämpften sich weiter über umgestürzte Baumstämme. Manuel fluchte, als er mit seinen Schuhen an einem Ast hängenblieb und der Länge nach zu Boden stürzte. Wenigstens hatte das sonnige Wetter der vergangenen zwei Wochen den Boden wieder getrocknet. Ernie mochte sich gar nicht vorstellen, wie beschwerlich der Marsch gewesen wäre, wenn sie sich durch matschiges Sumpfgebiet hätten vorarbeiten müssen.

»Dort vorne!«, rief Richards. »Es wird heller. Die Baumgrenze muss unmittelbar vor uns sein.«

Ernie kletterte einen Stamm empor und sprang auf der anderen Seite wieder hinunter. Richards hatte recht. Zwischen den Bäumen war das saftige Grün der mit Gras bewachsenen Hügelkette sichtbar.

»Höher kann die Flut nicht gestiegen sein«, sagte er. »Die Bäume am Waldrand stehen alle noch.«

Richards blickte ihn an. »Wenn sich einige der Biester auf den Hügel haben retten können ...«, begann er.

Ernie nickte. Er holte Marlenes Pistole aus dem Halfter und kontrollierte das Magazin. »... dann könnten sie noch am Leben sein«, vollendete er den Satz seines Kameraden.

Die schroffen Felsen der Wetterspitze reckten sich einige Kilometer vor ihnen in den blauen Himmel. Dünne Wolkenfetzen bildeten sich in den aufsteigenden Winden, lösten sich aber schnell wieder auf.

Da bemerkte Ernie die Wotans. Oder besser gesagt, was von ihnen übrig war. Dutzende lagen am Hang. Ineinander verkeilt, die meisten mit hässlichen Wunden. Viele der Leichen hatten keine Gliedmaßen mehr. Direkt vor ihm lag ein Kadaver, von dem die ganze hintere Hälfte fehlte.

Ernie steckte die Pistole wieder ein. »Ich glaube, wir haben nichts mehr zu befürchten. Die sind alle tot.«

»Aber warum?«, fragte Manuel leise. »Was ist mit denen geschehen?«

»Vielleicht hatten sie Hunger und haben versucht, sich gegenseitig zu fressen. Oder die Flut hat Panik ausgelöst. Jedenfalls haben sie sich alle gegenseitig umgebracht«, sagte Richards.

Ernie bekam eine Gänsehaut, als er an mehreren übel zugerichteten Kadavern vorbeiging. Er versuchte, sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn sie den Canyon nicht verschlossen hätten. Kein Mensch auf New California wäre dann mehr am Leben.

Und Andrea ist trotzdem tot!

Ein tiefer Schmerz jagte durch seine Brust. Die Erinnerung an ihr Lächeln war noch zu frisch. Es war leicht, sich vorzustellen, dass sie zu Hause auf ihn wartete, wenn er von seiner Mission zurückkehrte. Sie würden sich küssen, dann im Schlafzimmer verschwinden und ...

Niemals wieder. Niemals nie.

Wenigstens war Carrie jetzt fast erwachsen. Sie hatte einen Freund. Robert machte ihr die Trauer etwas leichter. Ernie hatte sich immer als harten Kerl gesehen, der vor nichts Angst hatte und Probleme frontal anging. Aber wenn er an seine Zukunft ohne Andrea dachte, dann überkam ihn tiefe Verzweiflung.

Und wofür das alles? Um sich jetzt von diesem verdammten Major Palmer herumschikanieren zu lassen? Ihr Leben hatten sie behalten, aber ihre Kolonie war ihnen doch noch weggenommen worden. Nun, sie würden sie sich wiederholen. Aber dazu brauchten sie die Waffen. Wo war nur das verdammte Depot?

Schweigend gingen sie am Südrand der Wetterspitze entlang, vorbei an unzähligen toten Tieren.

»Dort drüben!«, schrie Manuel. Er zeigte nach Südosten. Ernies Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Jungen.

Tatsächlich!

Sie waren etwas zu weit den Hügel hinaufgegangen. Das Depot befand sich einige hundert Meter hangabwärts. Ernie stellte erleichtert fest, dass die Holzbaracke unbeschädigt war, und zielstrebig legten sie die letzten Meter zurück. Verwundert trat er auf verbranntes Gras. Dann erinnerte er sich daran, dass Russell damals bei seiner Flucht vor den Tieren mehrere Brandbomben geworfen hatte.

Ernie entriegelte die Tür, riss sie auf und trat ein. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Licht fiel nur aus einem winzigen Fenster herein.

»Alles noch am Platz«, stellte Richards fest.

Ernie nickte. Zwei Dutzend Schnellfeuergewehre lagen in einem Regal. Zusammen mit etlichen Handfeuerwaffen, Granaten und genügend Munition, um eine ganze Herde Wotans zu erledigen. Vor Jahren hatten sie vorgehabt, hier ein kleines Fort zu errichten, um es als Stützpunkt für weitere Expeditionen zum Meer zu nutzen. Aber sie waren nie dazu gekommen, weil es in Eridu genug zu tun gab. Und trotzdem hatte sich die Mühe gelohnt.

Richards trat vor, nahm eines der Gewehre auf und grinste Ernie an. »Jetzt zeigen wir es diesen Bastarden!«

7.

 

Marlene erwachte aus einem unruhigen Schlaf, als es an der Tür klopfte. Die Nacht war noch jung. Etwa Mitternacht, schätzte Marlene. Auf ihre innere Uhr hatte sie sich immer verlassen können.

»Marlene, Marlene!«

Sie erkannte die hohe Stimme von Sarah Deming. Irgendetwas musste geschehen sein. Ernie und sein Trupp kam ihr in den Sinn, die heute zur Wetterspitze aufgebrochen waren. Hatte Palmer das Fehlen der Männer bemerkt? Sofort war Marlene hellwach und sprang aus dem Bett. Sie bückte sich und hob die Klamotten von gestern auf, die sie achtlos neben das Bett geworfen hatte. Als sie sich anzog, klopfte es wieder.

»Augenblick. Ich komme sofort.« Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und stapfte mit steifen Beinen zum Eingang, schob den Riegel zurück und öffnete die Tür.

Sarah konnte auch noch nicht lange wach sein. Ihre Haare fielen ihr ungeordnet über die Stirn, ihre Klamotten waren zerknittert, als hätte sie wahllos in den Wäschebeutel gegriffen.

»Was ist passiert?«, fragte Marlene.

»Es hat einen Zwischenfall gegeben. Cookie hat einen Soldaten niedergeschlagen.«

Oh mein Gott! Nicht das jetzt! Cookie hatte sich für die gebrochene Nase rächen wollen, ganz sicher! Marlene zog sich die Schuhe an, die neben ihrer Eingangstür lagen. »Wo ist er jetzt?«

»Ein anderer Soldat hat ihn geschnappt. Sie sind vor der Hütte des Majors. Es laufen immer mehr Leute zusammen.«

»Und der Soldat?«

»Ich habe keine Ahnung!«

Marlene lief los, Sarah folgte ihr. Nach wenigen Sekunden hatten sie die Baracke von Major Palmer erreicht, der mit einem halben Dutzend Soldaten vor dem Gebäude stand. Ein Scheinwerfer erhellte den Platz. Der Motor eines Geländewagens jaulte auf und ruckend setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Auf dem Rücksitz erkannte Marlene den jungen Shanker, flankiert von einem Soldaten. Dr. Lindwall, der den Wagen aufhalten wollte, sprang im letzten Moment zur Seite. Eliot Sargent hielt Lee fest, der dem Major mit der Faust drohte und Schimpfworte brüllte. Daneben standen Sammy Yang und seine Frau Katrina, die in einer der nächsten Hütten lebten, sowie Marianna Waits, die ebenfalls die Soldaten anschrie. »Wo bringt ihr den Jungen hin? Ihr könnt doch nicht ...«

»Immer mit der Ruhe!«, rief Marlene.

»Verdammtes Schweinepack!«, schrie Lee.

»Lee! Beruhige dich!« Sie packte den Ingenieur an der Schulter.

»Sie haben meinen Jungen mitgenommen, die verdammten ...«

»Ruhe jetzt!«

Lee verstummte.

Marlene wandte sich an den Major. »Was ist geschehen?«

Palmer stand ruhig vor ihr, flankiert von seinen Soldaten, die ihre Waffen im Anschlag hielten. Marlene zweifelte nicht daran, dass sie ihre Gewehre einsetzen würden, wenn einer der Kolonisten auf den Major losging.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135336
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
science-fiction Sci-Fi SF SciFi Hard-SF SpaceOpera Military Roman Abenteuer

Autor

  • Phillip P. Peterson (Autor:in)

Phillip P. Peterson arbeitete als Ingenieur an zukünftigen Trägerraketenkonzepten und im Management von Satellitenprogrammen. "Transport" war sein erster Roman, der zum Bestseller wurde. Mit "Paradox" gelang ihm schließlich ein Astronautenthriller, der 2015 den Kindle Storyteller-Award gewann und 2016 den 3. Platz des deutschen Science-Fiction-Preises erlangte. Zu seinen literarischen Vorbildern gehören die Hard-SF-Autoren Stephen Baxter, Arthur C. Clarke und Larry Niven.
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Titel: Transport 3: Todeszone