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Der vergessene Tod

Thriller

von B. M. Ackermann (Autor:in)
400 Seiten

Zusammenfassung

***Ein Mann ohne Erinnerungen an das schrecklichste Erlebnis seiner Kindheit. Ein unbekannter Feind, der dieses Geheimnis für seine mörderischen Pläne benötigt. Ein gefährliches Spiel beginnt. Die Frage: Wer wird am Ende als Sieger hervorgehen?*** Nach einer Messerattacke verliert der dreizehnjährige Nicolas alle Erinnerungen an sein bisheriges Leben. Auch 21 Jahre später kann Nicolas alias Nick Holsten sich weder an seine Kindheit erinnern, noch daran, was an jenem schicksalhaften Tag geschehen ist. Im Pausenhof einer Stuttgarter Schule findet er das Skelett eines Mädchens, das Zweite von Dreien, die vor über zwanzig Jahren ermordet wurden. Ein geheimnisvoller Mann beauftragt Nick, jemanden zu finden, der vor über zwei Jahrzehnten im Alter von dreizehn Jahren verschwand. Eine Frau tritt in Nicks Leben – Alexandra. Sie behauptet, ihn von früher zu kennen, verdreht ihm den Kopf, doch auch sie hütet ein Geheimnis. Bald sieht Nick sich in ein gefährliches Spiel verstrickt. Und er hat nur eine Chance, heil aus der Sache herauszukommen, er muss sich erinnern.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Titel

 

B. M. Ackermann

 

 

 

 

Der vergessene Tod

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thriller

 

Inhaltsübersicht

Titel

Hinweis:

Prolog - Oktober 1991

… 21 Jahre später …

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Fünfzig

Einundfünfzig

Zweiundfünfzig

Dreiundfünfzig

Vierundfünfzig

Fünfundfünfzig

Sechsundfünfzig

Siebenundfünfzig

Achtundfünfzig

Neunundfünfzig

Sechzig

Einundsechzig

Zweiundsechzig

Dreiundsechzig

Vierundsechzig

Fünfundsechzig

Sechsundsechzig

Siebenundsechzig

Achtundsechzig

Neunundsechzig

Siebzig

Einundsiebzig

Epilog

Weitere Werke

 

 

 

Prolog - Oktober 1991

Ich hetzte durch einen schmalen Gang. An der Decke hingen Lampen, deren Licht den Weg vor mir kaum erhellten. Die Wände waren mit Moos überwuchert, sie schienen immer näher zusammenzurücken. Hinter mir hallten Schritte. Schnelle Schritte. Jemand war mir dicht auf den Fersen. Ich sah mich um, da war niemand.

Die Schmerzen in meinem Brustkorb pochten stärker. Mein Herz klopfte mit ihnen um die Wette. Ich versuchte die feuchte Luft einzuatmen, meine Lungen brannten, ich hustete. Kraftlos schleppte ich mich vorwärts, stolperte mehr, als dass ich ging. Als meine Beine mich nicht mehr tragen konnten, lehnte ich mich gegen die Wand und glitt an ihr entlang langsam zu Boden.

Eine Gestalt kam auf mich zu. Ich blickte auf den hochgewachsenen Mann. Sein Körper war in eine knöchellange, schwarze Kutte gehüllt und auf dem Kopf trug er eine Kapuze. Er sah auf mich herab, und obwohl ich sein Gesicht in dem schummrigen Licht nicht richtig sehen konnte, hatte ich den Eindruck, dass er weinte.

Er ging neben mir in die Hocke. »Was hast du getan, Junge?«, fragte er mit bebender Stimme.

Ich wusste nicht, was ich getan hatte. Mein Blick fiel auf das Messer in meiner Brust. Auch dafür hatte ich keine Erklärung. Schweigend, den Kopf voller Schmerz und Fragen, blickte ich den Mann an.

Er murmelte unverständliche Worte, die sich wie ein Gebet anhörten. Ich schnappte nach Luft, als er seine langen Finger nach mir ausstreckte und den Griff des Messers packte.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, bitte nicht!«

Mein Jammern half nichts. Mit einem kurzen Ruck riss er die Klinge aus meinem Brustkorb. Vor Schmerzen schreiend bäumte ich mich auf. Meine Hände suchten Halt am Kittel des Mannes, rutschten ab. Ich fiel auf den Rücken, mein Kopf krachte ungebremst auf harten Stein.

»Dies ist deine von den heiligen Engeln gewählte Strafe«, hörte ich die Stimme des Mannes wie aus weiter Ferne. Ich sah ihn über mir, er blickte auf mich herab. »Nun stirb in Demut.« Dann drehte er sich um und ging fort. Blut tropfte von dem Messer in seiner Hand.

Mein Brustkorb schmerzte mit jedem Atemzug, also atmete ich möglichst flach. Meine Hände tasteten nach der Wunde. Warmes Blut rann durch meine Finger. Ich fühlte mich verloren, ich fürchtete mich, und ich fragte mich, was ich getan hatte. Aber ich konnte mich nicht erinnern. Da war nur Leere in meinem Kopf. Ich lauschte, doch außer dem Rauschen in meinen Ohren, das an einen tosenden Wasserfall erinnerte, hörte ich gar nichts.

Die Lichter über mir erloschen, es wurde stockdunkel. Der Korridor begann sich zu drehen, der Boden schwankte. Unter mir tat sich ein Loch auf. Ich fiel tiefer und tiefer hinab in ein schwarzes Nichts, das mich gefangen nahm.

***

Ich weiß nicht, wie lange ich mich in diesem Zustand befand. Ich erinnere mich aber, dass ich einige Zeit später ein dumpfes Pochen hörte. Ein helles Licht legte sich über meine Augen, die ich zaghaft öffnete. Ich sah mich um. Der finstere Korridor war einem hell erleuchteten Zimmer gewichen, und ich lag nicht mehr auf dem harten Boden, sondern in einem weichen Bett mit weißer Wäsche. Der Geruch nach Desinfektionsmittel drang mir in die Nase.

Ich blickte auf meine Brust. Sie war bandagiert. In meinem Arm steckte eine Nadel mit einem Schlauch daran, der in einen Plastikbeutel führte. Neben mir stand ein Mann im weißen Kittel.

»Wo bin ich?«, fragte ich mit belegter Stimme und räusperte mich. »Wer sind Sie?«

Der Mann setzte sich auf die Bettkante. »Mach dir keine Sorgen. Du bist in Sicherheit. Ich bin Arzt.« Er lächelte. »Weißt du, was mit dir passiert ist? Wer hat dir das angetan?«

Ich grübelte und berichtete über das Wenige, das mir einfiel. »Da war dieses Messer … in meiner Brust, … ein dunkler Raum. Ein Mann.« Ansonsten herrschte in meinem Kopf nur ein dunkles Nichts. »Ich kann mich nicht erinnern. An gar nichts.« Tränen stiegen in mir auf, ich zitterte am ganzen Körper.

»Auch nicht daran, wie du heißt?«, fragte der Arzt.

Ich starrte ihn eine Weile an. Ein Name kam mir in den Sinn, der mir vertraut erschien, und ich sagte: »Nicolas.«

 

 

… 21 Jahre später …

 

Eins

Ich blickte durch den Sucher meiner Kamera auf die junge Blondine, die sich splitternackt auf dem roten Laken ihres Bettes rekelte. »Komm schon, zeig mir alles«, heizte ich sie an. »Wow! Großartig.«

In meinem Unterleib breitete sich ein wohliges Kribbeln aus, und während mein Finger schon beinahe automatisch den Auslöser betätigte, stellte ich mir vor, wie es sich anfühlen würde, diese Schönheit zu berühren, sie zu küssen, sie zu …

»Sind Sie bald fertig?«, unterbrach eine männliche Stimme meine Träumereien und holte mich zurück auf den Boden der Tatsachen.

»Nur, wenn Sie mich in Ruhe meine Arbeit machen lassen.« Ich blickte den Mann neben mir an. Er war nicht ganz so groß wie ich, etwa einen halben Kopf kleiner. Und er war alt. Viel zu alt für diese junge Schönheit mit ihren perfekten Rundungen.

»Sie sind jetzt fertig«, sagte er zu mir und wandte sich lüstern grinsend an die junge Schönheit. »Liebes. Bleib einfach so, bis ich wieder da bin. Ich bringe nur schnell unseren Gast nach unten.«

»Beeil dich«, erwiderte sie lächelnd, zwinkerte mir zu und zog die Bettdecke über ihren Körper.

Ich unterdrückte ein Seufzen, verstaute meine Kamera und das Stativ in meiner Tasche und folgte meinem Kunden die Treppe hinunter ins Foyer der Villa. Solange er mein Honorar abzählte, betrachtete ich die Drucke von Dali, Picasso und Dix, die zahlreich an den Wänden hingen. Die mussten ein Vermögen wert sein. Ich war beeindruckt.

»Sechshundert Euro?«, fragte mein Kunde, als er mir mit einem Bündel Fünfziger in der Hand entgegentrat. »Ich hoffe, die Fotos sind ihr Geld wert.«

»Aktfotografie hat ihren Preis. Genau wie ich.« Grinsend nahm ich die Scheine entgegen und steckte sie zu meiner Nikon in die Kameratasche.

»Ich verlasse mich darauf, dass außer Ihnen und uns niemand diese Fotos zu sehen bekommt«, fügte der Mann hinzu. »Ich hätte Sie nicht ausgewählt, wären Sie mir nicht wegen Ihrer Diskretion und ihres besonderen Talents empfohlen worden.«

»Selbstverständlich behandle ich alle meine Aufträge diskret. Diese speziellen Hausbesuche sowieso. Wie ausgemacht bekommen Sie alle Abzüge und die Speicherkarte.« Wir schüttelten zum Abschied die Hände.

Nachdem ich das Haus verlassen hatte, ließ ich von der gekiesten Auffahrt aus meinen Blick über die hell erleuchtete Kulisse Stuttgarts schweifen. Der Abend war spät und am wolkenlosen, nächtlichen Himmel glitzerten unendlich viele Sterne. Eine kühle Brise strich über mein Gesicht. Ich klappte den Kragen meiner Jacke hoch und machte mich auf den Weg zu meinem Auto.

Zufrieden mit dem überaus erfolgreichen Abend setzte ich mich hinters Lenkrad meines in die Jahre gekommen Volvo. Schon seit Wochen spielte ich mit dem Gedanken, mir endlich einen neuen Wagen zuzulegen. Doch immer wieder kam etwas dazwischen, und irgendwie hing ich auch an dieser alten Karre.

Ich wollte gerade den Motor anlassen, als mein Handy klingelte. Ohne aufs Display zu schauen, meldete ich mich. »Nick Holsten.«

»Ich hörte, Sie übernehmen gerne außergewöhnliche Aufträge«, sagte eine männliche Stimme.

Ein außergewöhnlicher Auftrag? Das klang verlockend. »Schon möglich. Worum geht’s?«

»Ein Fotoshooting. Es wird sich für Sie lohnen.«

»Ein Fotoshooting?« Da brauchte ich nicht lange nachzudenken. »Wann und wo?«

»Um Mitternacht«, sagte die Stimme. »Kelterstraße 52.«

»In Ordnung, ich werde da sein«, sagte ich und beendete das Gespräch.

***

Um Mitternacht fuhr ich die Kelterstraße entlang. Sie endete in einer abgelegenen Sackgasse vor einem mehrstöckigen Gebäude. Im Mondlicht konnte ich in einem Innenhof zwei Tischtennisplatten erkennen.

Ich nahm meinen Fotoapparat aus der Tasche, stieg aus und betrachtete die hohen Birken, die den Eingang zum Hof zu bewachen schienen. Der Wind fuhr durch ihre Äste und brachte das Laub zum Rascheln. Abgestorbene Blätter regneten auf mich herab. Von einem Holzschild, das an einem Pfosten befestigt war, las ich einen Namen ab: Vogelsang-Grundschule.

Ich trat zwischen den Birken und dem Schild hindurch in den Schulhof. Ganz in der Nähe des Schulgebäudes sah ich auf vier dürren, hohen Beinen ein Klettergerüst stehen. Ein Netz aus Seilen spannte sich von der Spitze des Turmes bis zum Boden hinab. Dahinter schimmerte ein orangefarbenes Licht, das meine Neugier weckte. Also ging ich auf den Kletterturm zu und kaum hatte ich ihn umrundet, sah ich eine lodernde Fackel.

Sie steckte in der Erde eines niedrigen Blumentroges, der nur spärlich mit Unkräutern bewachsen war, und beleuchtete Etwas von der Seite, das mich sofort in seinen Bann zog. Sämtliche Härchen an meinem Körper stellten sich auf, in meinem Leib breitete sich ein lange verdrängtes Gefühl aus.

In diesem Augenblick dachte ich daran, die Flucht zu ergreifen oder die Polizei zu rufen oder beides. Ich konnte nicht. Das Kribbeln in mir wurde stärker, der Drang größer, dieses mager beleuchtete Etwas genauer zu betrachten.

Ich löste die Abdeckung vom Objektiv meiner Kamera und richtete es auf das menschliche Skelett, das mir zu Füßen lag. Ich fotografierte die knochigen Hände, die gefaltet auf dem Brustkorb ruhten, die leeren Augenhöhlen und das dunkelrote Pentagramm auf der hohen Stirn des Totenkopfs.

Ein kratzendes Geräusch schreckte mich aus meiner Konzentration. Gleichzeitig fühlte ich einen warmen Luftzug im Nacken und wirbelte herum. Ein Schlagstock sauste auf mich zu, ich konnte nicht mehr ausweichen. Ein greller Schmerz raste durch meinen Kopf, ich taumelte und ging neben dem Skelett zu Boden.

Eine vermummte Gestalt beugte sich über mich. Von der Statur her ein Mann. Die Flamme der nahestehenden Fackel spiegelte sich in zwei hellgrauen Augen.

»Was willst du?« Ich stemmte mich hoch und erstarrte in der Bewegung, als der Bursche eine Pistole auf mein Gesicht richtete. Ich hielt den Atem an, mein Herz hämmerte von innen gegen meine Rippen.

Der Kerl ist verrückt. Er wird mich abknallen, ich bin tot!, rasten die Gedanken wild durch meinen Kopf.

Ganz sicher würde ich mich schon bald in einem dunklen Grab wiederfinden, aus dem es keine Rückkehr gab. Da kam mir ein vollkommen absurder Gedanke: Welches Geburtsdatum würden sie eigentlich auf meinen Grabstein schreiben? Nicht einmal mir war es bekannt. Nun, zumindest der Tag meines Todes war dann ja eindeutig, das war doch besser als nichts.

Neben mir lag der Totenkopf, ich berührte ihn beinahe. Jene Nacht vor einundzwanzig Jahren kam mir in den Sinn. Ich schloss die Augen und sah den Korridor und den Mann vor mir. Ich spürte wieder die Klinge des Messers in meiner Brust und die Leere in meinem Kopf. Lange Zeit hatte ich die beklemmenden Gefühle verdrängt, die mich immer wieder heimsuchten. Die Hilflosigkeit, die Verzweiflung, die Trauer und die Angst. Ich hatte gelernt, sie zu kontrollieren und mit ihnen zu leben. Doch jetzt, im Angesicht des Todes, drohten sie, mich zu erdrücken.

Ich spürte den Stahl der Pistole auf meiner Stirn, riss die Augen weit auf und sah, wie der Finger des maskierten Mannes sich um den Abzug krümmte. Ich erwartete einen Schuss, doch ich hörte nur ein heiseres Lachen. Der Kerl richtete sich auf, steckte den Revolver hinter seinen Gürtel und ging zügig davon.

Auf einmal fühlte ich, wie etwas Nasses, Warmes über mein Gesicht rann, das neben mir auf den Boden tropfte. Das war es dann auch, was mich endgültig zur Besinnung brachte und aus der Starre löste. Ich griff meinen Fotoapparat, sprang auf die Füße und rannte zu meinem Wagen. Zitternd steckte ich den Schlüssel ins Zündschloss, startete den Motor und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

 

Zwei

Der Tag brach gerade an, die Morgendämmerung tauchte die Umgebung in ein mattgraues Licht, als Kriminalkommissar Eddy Krieger mit gefurchter Stirn von Weitem auf den mysteriösen Fund blickte.

»Muss so was immer so früh am Morgen gefunden werden?«, murrte Krieger und blies Dunstschwaden aus dem Mund. Vor vierzig Minuten hatten sie ihn aus dem Bett gerufen, nicht einmal Zeit für eine Tasse Kaffee war gewesen. Nun stand er in der Kälte, mit klammen Fingern und einem Koffein-Defizit, während er die in weiße Overalls gehüllten Kollegen der Spurensicherung beobachtete, die wie Gespenster durch die Gegend huschten.

Inmitten des Pausenhofs einer Grundschule im westlichen Stadtbezirk von Stuttgart befand sich dieses menschliche Skelett zwischen einem Klettergerüst und einem Blumentrog. Die Schule blieb heute geschlossen, der Pausenhof war mit gelben Bändern abgeriegelt, was die Schaulustigen außerhalb des Sperrgebietes jedoch nicht abhielt, neugierige Blicke auf den grausigen Fund zu werfen.

Eddys Blick fiel auf Roland Bachmann. Der junge Tatortfotograf machte gerade Fotos von dem Totenschädel, als er über seine eigenen Füße stolperte. Er geriet ins Wanken, taumelte und trat mit seinem vollen Gewicht auf den linken Schienbeinknochen des Skeletts. Lautes Knirschen begleitete das Missgeschick.

Eddy zuckte zusammen. Verärgert ging er auf Bachmann zu. Mit seiner stattlichen Größe von knapp zwei Metern überragte er den Fotografen um einiges. Der wich ängstlich zurück.

»Kannst du nicht aufpassen?«, fuhr Eddy ihn an.

»Entschuldigung«, murmelte Bachmann, packte seine Kamera ein und trollte sich.

»Was für ein Idiot«, knurrte Krieger, streifte Einmalhandschuhe über seine kalten Hände, beugte sich über die Knochen und betrachtete sie genauer.

Das Skelett war perfekt erhalten, jeder einzelne Knochen lag an der richtigen Stelle – abgesehen von dem jetzt gebrochenen Schienbein. Auf dem Brustkorb lagen die knochigen Hände wie zum Gebet gefaltet. Sie hielten ein goldenes, mit schwarzen Symbolen verziertes Kreuz, um das sich von oben nach unten eine schwarze Schlange wand. In der Mitte des Kreuzes befand sich ein fünfzackiger Stern, in dessen Mitte zwei Zeichen – X und I. Die Stirn des Totenkopfs zierte ein blutrotes Pentagramm, dessen eine Spitze zum Nasenrücken zeigte. Außerdem waren die Gebeine des Skeletts nicht sehr lang. Eddy vermutete, dass es sich bei den Überresten um ein Kind handelte.

»Und? Was meinst du, Eddy?«, fragte Tom Bauer, Eddys jüngerer Kollege. »Hat sich hier jemand einen dummen Scherz erlaubt?«

»Vielleicht, oder wir haben es mit etwas Religiösem zu tun, wenn ich mir das Kreuz so ansehe und das Pentagramm. Schau dir an, mit welcher Genauigkeit die Knochen angeordnet worden sind. Für einen Scherz ein wenig zu genau. Da war ein Perfektionist am Werk.«

Bauer nickte zustimmend. »Ich werde mal abklären, ob die Verdächtigen der Satansszene in letzter Zeit aktiv geworden sind.«

»Meinst du, die spielen mit alten Knochen herum?«, fragte Eddy. »Ich weiß nicht. Aber überprüf das ruhig. Und finde heraus, ob auf irgendeinem Friedhof ein altes Grab geplündert wurde.«

»Mach ich.« Bauer zückte sein Handy und ging davon.

Eddys Blick fiel auf den rotbraunen Fleck, der sich dicht neben dem Skelett auf dem helleren Boden abzeichnete. Er winkte einen Kollegen von der Spurensicherung heran. »Nehmen Sie davon bitte eine Probe. Ich glaube, das ist eingetrocknetes Blut.«

Er trat zur Seite, blickte umher und hoffte insgeheim, dass es sich nur um einen makabren Scherz handelte.

***

Außerhalb des großzügig abgesperrten Fundorts des Skeletts hatten sich mittlerweile zahlreiche Schaulustige eingefunden. Eltern und Schüler. Sie tuschelten miteinander. Manche Gesichter waren kreidebleich und bestürzt. Andere wiederum scherzten und lachten, doch es klang eher nach Verlegenheit.

Zwischen all den Leuten stand regungslos ein mittelgroßer Mann, der das Treiben der Polizisten auf dem Schulhof genauestens verfolgte. Über seiner dunklen Jeans trug er eine schwarze Jacke mit einer Kapuze, die sein darunterliegendes Gesicht gut verbarg. Er atmete die frische Luft des Morgens in seine Lungen und blies sie langsam wieder aus. Beim Gedanken an die Knochen machte sich ein wohliges Gefühl in ihm breit. Es war sein Skelett, und er dachte freudig an vergangene Nacht zurück. Diesem Nick Holsten hatte er einen tüchtigen Schrecken eingejagt. Er hatte noch zugesehen, wie dieser Idiot sich Hals über Kopf in seinen Wagen gestürzt hatte und davongerast war.

Der Mann dachte darüber nach, wie er zurückgekehrt war, um dem Skelett das wertvolle Kreuz auf die Rippen zu legen. Die ganze Nacht und den frühen Morgen hatte er den Schulhof beobachtet, damit niemand die Ruhe der heiligen Knochen störte. Dann hatte er von dem ganz in der Nähe stehenden Münzfernsprecher die Polizei angerufen und den Fund gemeldet.

Sein gutes Gefühl wich schlagartig einer unbändigen Wut, als dieser Trottel von Fotograf nahe an ihm vorüberging. Der hatte dem Skelett doch tatsächlich das Bein gebrochen. Die hellen Augen unter der Kapuze verengten sich, während er dem Fotografen bis zu dessen Auto folgte, das ein gutes Stück entfernt in einer Querstraße parkte. Hier herrschte Stille, kein Mensch war unterwegs, niemand beobachte die Gegend. Und gerade eben, als der Fotograf den Kofferraum seines BMW öffnete, zog der Verfolger seine Kapuze noch tiefer ins Gesicht und näherte sich dem jungen Beamten von hinten. Ein gezielter Schlag in den Nacken, der Fotograf stürzte kopfüber in den Kofferraum seines eigenen Wagens. Der in schwarz gekleidete Mann schloss rasch den Deckel, hob die Autoschlüssel auf, die zu Boden gefallen waren, und sah sich nochmals um. Kein Mensch beachtete ihn. Er setzte sich hinters Lenkrad, startete den Motor des Autos und fuhr zufrieden davon.

 

Drei

An diesem Mittwochmorgen war gar nichts los in meinem Fotoatelier. Ich saß auf einem Stuhl an meinem Schreibtisch und kritzelte mit einem Bleistift die Kästchen eines karierten Blattes nach, bis ich so etwas Ähnliches wie den Fernsehturm vor mir sah. Ich zerknüllte das Papier und warf es in den Mülleimer unter dem Tisch.

Die Zeit schlich weiter dahin. Immer wieder warf ich einen Blick auf die riesige Uhr, die über der Eingangstür hing. Sie hatte einen Sprung im Glas über dem Ziffernblatt, da sie vor Kurzem beim Staubwischen auf den Laminatboden gefallen war. Aber sie lief noch.

Der kleine Zeiger stand auf der Elf, der große knapp darunter, der Sekundenzeiger schleppte sich aufwärts in Richtung der Zwölf und noch immer hatte kein Kunde den Weg in meinen Laden gefunden. Es war wie verhext. Für gewöhnlich hatte ich ausreichend Laufkundschaft, da mein Laden in einer Querstraße zur gut besuchten Königstraße in Stuttgart lag. Doch heute schien auch das nichts zu nützen.

Genervt blickte ich auf meine Kamera, die am Rand des Tisches lag. Durch den Sturz hatte die Nikon einige Kratzer am Gehäuse abbekommen und ein Riss teilte den Bildschirm in zwei Hälften. Zudem ließ sie sich nicht mehr einschalten.

Ich zog die Speicherkarte aus der Nikon. Tausend Gedanken rotierten in meinem Kopf, während ich das kleine, flache Ding anstarrte. Die halbe Nacht hatte ich mit Grübeln zugebracht. Ich hatte hin und herüberlegt, was dieses Skelett und der Überfall zu bedeuten hatten. Allerdings war ich zu keinem Ergebnis gekommen. Vielleicht hatte mir jemand einen üblen Streich spielen wollen. Wäre möglich. Andererseits, wer zeigte sich so geschmacklos und legte zum Spaß ein Skelett in einen Schulhof?

Ich steckte die Speicherkarte in den Slot meines Computers und öffnete die Bilder. Zuerst betrachtete ich den beinahe perfekten Frauenkörper, der sich mir vom Bildschirm aus entgegenreckte. Nun ja, ein paar Korrekturen sollte ich noch vornehmen, um manche Formen etwas besser hervorzuheben, andere sollte ich kaschieren. Das wollte ich später tun. Ich schloss den Ordner und klickte den nächsten an.

Nun sah ich das Skelett vor mir. Mir fiel auf, dass die Gebeine sehr kurz waren – ein Kind? Ich begann am ganzen Körper zu zittern, mein Puls beschleunigte. Mein Bürostuhl knarrte, als ich mich ruckartig erhob. Ich begann im Raum hin und her zu gehen, versuchte, den Blick nicht wieder auf den Bildschirm zu richten. Doch er zog mich magisch an.

Ich setzte mich zurück auf meinen Stuhl, den Blick starr auf die Knochen gerichtet. Meine Hand griff nach der Maus. Der Zeiger auf dem Bildschirm fuhr über das Skelett hinweg, vom kleinen Zeh über das Knie, den Oberschenkelknochen und weiter nach oben. Auf dem Totenkopf ließ ich den Pfeil liegen und klickte die linke Taste der Maus. Einen winzigen Augenblick später füllte der Schädel den ganzen Monitor aus. Das Pentagramm darauf schimmerte in einem dunklen Rot. Die Farbe erinnerte mich an Blut. In vier der fünf Zacken des Pentagramms standen Ziffern:

19 89 3 13.

Die Stimme der Nachrichtensprecherin, die aus dem Lautsprecher des Radios tönte, ließ mich aufhorchen. »Wie die Polizei berichtet, wurde heute Morgen im Pausenhof einer Stuttgarter Grundschule ein menschliches Skelett gefunden, vermutlich handelt es sich um die Überreste eines Kindes. Hinweise nimmt die Kripo Stuttgart entgegen. Und nun zum Wetter …«

Also doch ein Kind. In meinem Unterleib kribbelte es unangenehm. Dasselbe Gefühl hatte ich häufig verspürt, als ich noch für die Kripo Tatorte fotografiert und Spuren gesichert hatte. Mit jeder neuen Leiche war dieses Prickeln in meinem Leib unerträglicher geworden. Deswegen hatte ich der Polizeiarbeit vor über zwei Jahren den Rücken gekehrt. Unter dem Vorwand einer Depression hatte ich vier Wochen in einer psychiatrischen Anstalt verbracht, im Anschluss daran die Therapie ambulant fortgeführt und erfolgreich beendet.

Im Grunde stand einer Rückkehr in den Polizeidienst nichts im Wege. Meine Arbeit beim kriminaltechnischen Institut fehlte mir sehr oft. Andererseits wollte ich meine Nachtschwärmereien mit dem Fotoapparat auch nicht missen. Die waren immer wieder spannend und der Verdienst war wesentlich besser als der eines Kripobeamten. Beides konnte ich aber vermutlich nicht unter einen Hut bringen. Also verwarf ich den Gedanken.

Sachte rieb ich mit dem Finger über das Pflaster, das ich über die Platzwunde an meiner Stirn geklebt hatte. Mein Blut war auf den Boden neben das Skelett getropft. Meine ehemaligen Kollegen würden ganz schnell meine DNA entschlüsseln. Um mir Ärger zu ersparen, sollte ich den Vorfall nachträglich zur Anzeige bringen, also nahm ich mir vor, das später zu tun.

Ich schaltete meinen Computer aus und streckte meinen verspannten Rücken durch. Um meine durcheinandergeratenen Gefühle unter Kontrolle zu bringen, atmete ich tief ein, ballte meine Hände zu Fäusten und atmete wieder aus, während ich meine Finger streckte. Diese Technik hatte ich in der Klinik gelernt und tatsächlich kam ich zur Ruhe.

Voller Stolz betrachtete ich kurz darauf meine Malereien, die ich an den Wänden des Ateliers ausstellte. Freilich nur diejenigen, die ich auch einem breiten Publikum zumuten konnte. All die anderen düsteren und unheimlichen Werke – die vermutlich dem Teil meiner Seele entsprungen waren, die sich mir seit über zwei Jahrzehnten verschloss – hütete ich in meiner privaten Sammlung, die noch kaum ein Mensch gesehen hatte. Die Malerei hatte mir dabei geholfen, mein traumatisches Erlebnis einigermaßen zu bewältigen. Zumindest konnte ich mittlerweile sehr gut damit umgehen.

Das Knarren der Ladentür riss mich aus meinen Gedanken. Ein junger Mann im dunkelgrauen Anzug betrat mein Atelier. Sein blondes Haar trug er ordentlich nach hinten gekämmt, sein Teint war auffallend blass und der Blick aus seinen dunkelbraunen Augen durchdringend.

»Nick Holsten?«, fragte er mit einem leichten amerikanischen Akzent.

»Ja, der bin ich. Was kann ich für Sie tun?«

Ohne mir eine Antwort zu geben, stolzierte der Bursche durch den Laden und betrachtete interessiert meine Gemälde.

»Wollen Sie Passfotos machen lassen oder vielleicht ein Bild kaufen?«, fragte ich.

»Weder noch. Ich hörte, Sie übernehmen gerne ungewöhnliche Aufträge?«

»Kommt drauf an. Reden wir zuerst über meinen Preis.«

»Okay.« Er fasste in die Innentasche seines Jacketts und zog einige Scheine heraus, die er mir vor die Nase hielt. »Das sind fünfhundert Euro als kleine Anzahlung. Weitere eintausend bekommen Sie, wenn Sie etwas für mich herausfinden.«

»Ich soll Detektiv für Sie spielen?« Oh, das war mal etwas Neues.

»Waren Sie früher nicht für die Polizei tätig?« Sein Tonfall klang eine Spur herablassend.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe meine Quellen.«

»Tatsächlich?« Das fand ich irgendwie verdächtig. Dennoch interessierte es mich, was er von mir wollte. »Erzählen Sie erst einmal, worum es geht, dann werde ich entscheiden, ob ich den Auftrag annehme. Fangen wir mit Ihrem Namen an.«

Der junge Mann zögerte einen Augenblick und willigte dann ein. »Nennen Sie mich Marc, das muss genügen. Wie gesagt, der Auftrag ist ein wenig ungewöhnlich.« Marc räusperte sich. »Ich suche jemanden, der vor langer Zeit verschwunden ist.« Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb auf dem Porträt eines Jungen haften, das ich erst vor Kurzem gezeichnet hatte. »Ist das Ihr Sohn?«

»Ja«, bestätigte ich. »Aber sollten wir nicht bei der Sache bleiben?«

Doch Marc ließ sich nicht beirren. »Sieht Ihnen sehr ähnlich, ein hübscher Junge, hat Ihre Augen. Wie alt ist er?«

»Zwölf. Können wir jetzt fortfahren?« Ich wurde ungeduldig.

»Natürlich.« Marc reichte mir ein altes, vergilbtes Foto. »Dieser Junge ist vor einundzwanzig Jahren verschwunden.«

Ich betrachtete es. Das Gesicht des Knaben kam mir bekannt vor. Meine Hand begann zu zittern.

»Am 19. Oktober 1991«, sagte Marc.

Ich erstarrte. An diesem Tag war ich beinahe gestorben. An diesem Tag hatte ich meine Erinnerungen verloren. Die Narbe auf meiner Brust begann zu jucken.

»Er war dreizehn Jahre alt«, erzählte Marc weiter. »Er ist heute also vierunddreißig.«

Genau wie ich! Das konnte kein Zufall mehr sein. Ich dachte daran, als ich in einem Stuttgarter Krankenhaus ohne jegliche Erinnerungen an mein früheres Leben oder die beinahe tödliche Messerattacke erwacht war. Keiner hatte mir sagen können, woher ich gekommen war. Alles, was sie über mich gewusst hatten, war mein Alter: dreizehn. Und mein Name: Nicolas. Und der Arzt, mit dem ich nach meinem Aufwachen gesprochen hatte, war ebenfalls niemandem bekannt gewesen.

Grübelnd blickte ich auf das Foto. Ob ich selbst dieser Junge war? Wusste dieser Marc etwas über mich oder war dessen Eindringen in mein Leben nur eine Fügung des Schicksals? Ich überlegte, ob ich ihn darauf ansprechen sollte, ließ es dann aber sein.

»Warum suchen Sie ihn?«, fragte ich stattdessen. Meine Stimme zitterte und mein Puls begann zu rasen. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Ein Tropfen rann über meine Schläfe abwärts. Ich wischte ihn weg. Möglichst unauffällig atmete ich tief ein und wieder aus, um mich zu beruhigen, was mir kaum gelang.

Marc grinste mich abfällig an. »Der Junge hat etwas gestohlen.« Er zog zwei Blätter aus seinem Jackett, faltete sie auseinander und reichte sie mir. »Der Eigentümer will dies hier zurückhaben.«

»Der Eigentümer?« Ich kniff die Augen zusammen. »Sie haben also auch noch einen Auftraggeber?«

»Genau«, erwiderte Marc. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken, ging im Atelier umher und betrachtete erneut die Gemälde an der Wand.

Das gab mir erst einmal die Gelegenheit, mir den Schweiß von der Stirn zu wischen und mich zu sammeln. Ich riskierte einen Blick auf die Zeichnungen. Eine davon zeigte ein mittelalterliches Kreuz, das mit schwarzen Symbolen verziert war und im obersten Teil den Kopf eines Vogels trug. In der Mitte lag ein fünfzackiger Stern, in den das römische Zahlzeichen XIII gemalt war. Eine Schlange wand sich vom oberen Teil um das Kreuz nach unten. Seitlich an ihrem Kopf befanden sich zwei hypnotisierende Augen, die in der ansonsten schwarz-weißen Zeichnung knallrot hervorstachen.

Mir war, als hätte ich dieses Kreuz schon einmal gesehen, konnte aber nicht sagen, wo. Ich schüttelte den Kopf und betrachtete die zweite Skizze. Ein Dolch, den ebenfalls schwarze Symbole schmückten. Hier schlängelte sich das schwarze Reptil um die Messerscheide, und der Vogelkopf auf dem Schaft war derselbe, wie der auf dem Kreuz.

»Sind das Antiquitäten?«, fragte ich, während ich von dem Kreuz auf das Messer und wieder zurückblickte. Nicht nur, dass ich mir einbildete, die beiden Gegenstände zu kennen, schlich sich auch noch das Skelett mit dem Pentagramm auf der Stirn in meine Gedanken.

»So was in der Art«, erwiderte er. »Werden Sie mir helfen, den Jungen zu finden?«

Ich runzelte die Stirn und nickte »Was wissen Sie noch über ihn? Wie ist sein Name?«

»Er heißt Benjamin, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Marc warf einen Blick auf die protzige Uhr an seinem Handgelenk. »Oh. Schon so spät.« Er wandte sich zur Tür.

»Moment«, hielt ich ihn zurück. »Wie kann ich Sie erreichen, falls ich noch Fragen habe?«

Der junge Mann befand sich schon auf dem Weg nach draußen, sah sich aber noch einmal um. »Sie hören von mir. Und noch etwas, zu Ihrem eigenen Wohl, sollten Sie die Sache für sich behalten. Wir verstehen uns?« Er drehte sich grinsend zur Tür und verließ meinen Laden.

Und ob ich ihn verstanden hatte. Mir wurde abwechselnd kalt und heiß. Beunruhigt ging ich hin und her, wie ein Tier, das viel zu lange in einen viel zu engen Käfig gesperrt ist. Ein schmerzhaftes Pochen breitete sich hinter meiner Stirn aus. Da suchte ich ein Leben lang nach Antworten auf die Frage nach meiner Herkunft. Nun sah ich mich damit konfrontiert und war mir nicht mehr sicher, ob ich die Wahrheit überhaupt erfahren wollte.

 

Vier

Nachdem ich mindestens eine Stunde lang damit beschäftig gewesen war, mir eine neue Kamera zu kaufen, hatte ich mir in einem türkischen Lokal einen Döner Kebap und eine große Cola einverleibt. Mittlerweile war ich in mein Atelier zurückgekehrt und beschloss, meinen Laden für den Rest des Tages zu schließen.

Nun scannte ich erst einmal Benjamins Foto in den PC ein und betrachtete gleich darauf das unscharfe Gesicht auf dem Bildschirm. Die Qualität des Fotos zu verbessern war einfach, und so erkannte ich bald die hellblauen Augen des Jungen sowie dessen dunkelbraunes Haar.

Mein Blick fiel auf das Porträt meines Sohnes. Moritz hatte ebenfalls dichtes braunes Haar und hellblaue Augen, beides hatte ich ihm vererbt. Die Ähnlichkeit verblüffte, doch er war es nicht. Dafür fiel der allerletzte Zweifel von mir ab. Nur ich konnte dieser Junge sein.

Ich schloss die Augen, durchforstete mein Innerstes und fand wie immer nichts. Was hatte ich denn erwartet? Dass ich mich jetzt sofort an alles erinnerte? Wie sollte das denn funktionieren? Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und dachte nach. Was sollte ich als Nächstes tun? Zuerst schickte ich Benjamins digitalisiertes Foto an mein Handy, das gleich darauf klingelte.

»Ja?«, meldete ich mich.

»Krieger hier«, brummte eine tiefe Stimme aus dem Lautsprecher. »Du weißt, warum ich anrufe?«

»Nein. Aber du wirst es mir sicher gleich sagen.«

Eddy Krieger war ein Freund von mir und Kripobeamter. Früher hatten wir oft zusammengearbeitet. Zudem war Eddy der Neffe meiner ehemaligen Pflegemutter Helen Holsten, deshalb kannten wir uns schon ewig.

»Du weißt aber, was heute Morgen in einem Schulhof gefunden wurde?«, fuhr Eddy mit seinem Ratespiel fort.

»Ja, das hab ich mitbekommen. Ein Kinderskelett?«

»So sieht’s aus. Du weißt nicht zufällig mehr darüber?«

Ich nahm mir kurz Bedenkzeit, ehe ich fragte: »Sollte ich mehr darüber wissen?«

»Schluss damit«, fuhr Krieger mich an. »Beweg deinen Hintern in mein Büro, wir haben etwas zu besprechen. Sofort!« Dann legte er auf.

Ich konnte es nicht fassen. Wie hatte er so schnell herausgefunden, dass ich etwas über dieses Skelett wusste? Mir war gar nicht wohl bei der Sache. Allerdings hatte ich keine Wahl, also machte ich mich mit einem unangenehmen Grummeln im Magen auf den Weg.

***

Irgendwie fühlte ich mich auf dem Polizeipräsidium fehl am Platz. Obwohl ich in diesem Gebäude, jedenfalls teilweise, viele Jahre meines Arbeitslebens verbracht hatte, verspürte ich keine Vertrautheit. In der Eingangshalle fristeten noch immer die unterschiedlichen Zimmerpflanzen ihr Dasein in diesen viereckigen Hydrokulturbehältern. Und hinter einer schusssicheren Plexiglasscheibe entdeckte ich das bekannte Gesicht der Empfangsdame.

»Herr Holsten«, sagte sie erfreut. Sie lächelte. »Kommissar Krieger erwartet Sie bereits.«

»Danke.« Ich lächelte zurück und ging an ihr vorbei zum Fahrstuhl, der mich rasch ins vierte Stockwerk beförderte. Um zu Eddys Büro zu gelangen, musste ich allerdings durch einen größeren Raum, in dem mehrere Beamte an vielen Tischen arbeiteten. Einige grüßten mich freundlich, andere weniger.

Die Tür zu Eddys Büro stand offen. Ich klopfte gegen den Türrahmen.

»Komm rein«, rief er hinter seinem Schreibtisch hervor und betrachtete mich mit ernster Miene.

»Kein Hallo, wie geht’s dir denn?«, scherzte ich, darum bemüht, locker zu wirken.

»Setz dich!«, sagte er grimmig. Er ließ mich nicht aus den Augen, während ich mich ihm gegenüber auf dem Stuhl niederließ.

»Hattest du ne Schlägerei?« Sein Blick haftete auf meiner Stirn.

»Nicht direkt.« Meine Finger trommelten auf meinen Oberschenkel.

»Ein eifersüchtiger Ehemann, der dich verdroschen hat?« Eddy schmunzelte.

»Sehr witzig.«

»Ja, finde ich auch.« Eddy stützte sich mit den Ellbogen auf den Schreibtisch und beugte sich nach vorn. »Was hattest du letzte Nacht in der Kelterstraße zu suchen?«

»Wieso?«

»Nick.« Seine Augenbrauen rückten immer näher zusammen. Dazwischen bildete sich eine tiefe Falte. »Was hast du ausgefressen?«

Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. »Nichts. Aber ich gebe zu, dass ich dort war. Woher weißt du das?«

Er schmunzelte. »Ein anonymer Anrufer hat den Fund gemeldet. Und dabei hat er das Kennzeichen deines Autos genannt.« Das Schmunzeln verschwand aus seinem Gesicht. »Ich habe Blut gefunden, neben dem Skelett. Ich gehe davon aus, dass es von dir stammt?«

»Okay«, lenkte ich ein. »Ich war dort wegen eines Auftrags, hab mich auf dem Schulhof umgesehen und das Skelett entdeckt. Danach hat mir jemand eins übergebraten.«

»Hast du diesen Jemand gesehen?«

Ich dachte kurz nach. Sollte ich Eddy einweihen? Ich entschied mich dagegen. Solange ich nicht wusste, in welche Sache ich da hineingeraten war, würde ich schweigen. »Nein, habe ich nicht.« Vermutlich glaubte er mir nicht, so zweifelnd, wie er mich ansah.

»Du hältst mich für ziemlich blöd, was?«, stellte er fest.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

Krieger musterte mich mit einem durchdringenden Blick aus seinen dunklen Augen.

Ich hielt ihm stand. »Hör zu, ich habe mit diesem Skelett nichts zu tun. Ich bin nur aus Versehen darüber gestolpert. Können wir es bitte dabei belassen? Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort. Klar?«

»Wie du meinst«, brummte er. »Dann nehme ich deine Zeugenaussage so in meinen Bericht auf. Sollte dir doch noch was einfallen, weißt du, wie du mich erreichst.«

Solange Eddy seinen Bericht schrieb, sah ich mich im Raum um. Er war kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Aber immerhin genoss mein Kumpel den Luxus eines eigenen Büros. Auf seinem Schreibtisch türmten sich die Aktenordner in schwindelnde Höhen. Eddy war noch nie ein besonders gut organisierter Kommissar gewesen, aber er machte seine Arbeit trotz allem gewissenhaft, und er löste die meisten seiner Fälle.

Der Drucker ratterte. Kaum war der Zeugenbericht ausgedruckt, setzte ich meine Unterschrift darunter und erhob mich.

»Moment«, hielt Eddy mich zurück. Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern, als fürchtete er, jemand könne uns belauschen. »Hast du es fotografiert?«

Ich sank zurück auf den Stuhl. »Was soll ich fotografiert haben?«

Er stand auf, ging um den Tisch herum und baute sich in voller Größe vor mir auf. »Nick. Ich kenne dich. Du hast überall deinen Fotoapparat dabei. Falls du also Fotos von diesem Skelett gemacht hast, will ich sie sehen. Der Fotograf aus der Spurensicherung ist verschwunden.«

»Bachmann?« Ich kannte ihn.

»Ja. Bachmann. Seit heute früh hat ihn keiner mehr gesehen. Er hat den Schulhof verlassen, nachdem er die Fotos gemacht hatte. Ich bin davon ausgegangen, dass er gleich in die Gerichtsmedizin fährt. Doch da ist er nicht angekommen, und er hat sich auch nicht krank gemeldet oder so.«

»Das klingt gar nicht gut«, stellte ich fest. »Und deshalb fehlen jetzt auch die Fotos?«

Eddy nickte. »Genau.«

»Und was bekomme ich dafür, sollte ich irgendwelche Fotos haben?«, fragte ich.

»Wie wär’s mit einem Bier? Heute Abend?«, schlug er vor.

»Okay. Treffen wir uns um acht im Zapfen

Er nickte, und ich verließ gleich darauf sein Büro.

Auf dem Parkplatz vor der Polizeidirektion kam mir eine Frau entgegen, die mir auf Anhieb gefiel. Ihr hellbraunes, lockiges Haar reichte ihr bis zu den Schultern, einige Strähnen fielen ihr in die Stirn. Ihre braunen Augen besaßen eine geheimnisvolle Tiefe und sahen mich abschätzend an. Ich blieb stehen.

»Hi«, sagte ich lächelnd. Mein Blick wanderte über ihren Körper, der in schwarzen Jeans und aufgeknöpftem Blazer steckte. Darunter trug sie ein enges T-Shirt, was ihre weiblichen Kurven perfekt zur Geltung brachte. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Arbeiten Sie hier?«

»Oh nein, um Himmels willen.« Ich hob abwehrend die Hände nach oben. »Ich kenne hier nur ein paar Leute. Suchen Sie jemanden?«

Sie schien beunruhigt, ihr Blick haftete auf meinen Augen. »Ich glaube, das hat sich gerade erledigt«, antwortete sie. »Verraten Sie mir Ihren Namen?«

»Nick.« Mein Grinsen wurde breiter. »Nick Holsten. Verraten Sie mir auch Ihren?«

»Nein.« Sie drehte sich um und ging davon.

Ich runzelte die Stirn und beobachtete, wie sie in einen silberfarbenen VW-Golf stieg, ausparkte und davonfuhr. Normalerweise hätte ich mir ihr Kennzeichen gemerkt, um etwas über sie herauszufinden, aber ich war so verdattert, dass ich es leider vergaß.

 

Fünf

Der Zapfen war meine und Eddys Stammkneipe. Zudem ein gemütliches Lokal im östlichen Stadtbezirk und ein Geheimtipp. Nicht nur wegen des Bieres, das unten im Keller gebraut wurde, sondern auch wegen der leckeren Speisen, die sich zwar auf Kleinigkeiten wie Maultaschen oder Käsespatzen beschränkten, aber allesamt großartig schmeckten. Außerdem war die Wirtin für ihren ausgesuchten Musikgeschmack bekannt. So spielte auch in dem Moment, nachdem ich es mir in einer Ecke des Raumes mit meinem ersten Bier gemütlich gemacht hatte, Rockmusik in einer angenehmen Lautstärke.

Ich beobachtete die Leute um mich herum. Sie lachten, diskutierten und manche stritten, zwar leise, aber unmissverständlich. In der anderen Ecke des Raumes, in einer lauschigen Nische, sah ich eine Frau und einen Mann, die sich gerade stürmisch küssten. Ich ließ meinen Blick weiterwandern und entdeckte an der Bar eine mir bekannte Frau. Zumindest erinnerte ich mich sehr gut an die Nächte mit ihr. Sie sah mich ebenfalls, winkte mir zu, erhob sich und kam mit einem frechen Grinsen im Gesicht schnurstracks auf mich zu.

»Hi Nick«, begrüßte sie mich und setzte sich unaufgefordert an meinen Tisch. »Hab‘ dich schon lang nicht mehr gesehen. Wo hast du dich rumgetrieben?«

»Mal hier, mal dort«, erwiderte ich lächelnd. »Und was treibst du so, Tanja?«

»Leider nichts.« Sie zuckte mit den Achseln und wickelte eine lange Haarsträhne um ihren Finger. »Vielleicht hast du Lust, dich mal wieder mit mir zu treffen?«

Ob ich Lust hatte? Was für eine dumme Frage. Vielleicht war das ja die Gelegenheit, heute Abend nicht alleine nach Hause zu gehen. Ihre Hand lag bereits auf meinem Oberschenkel.

»Von mir aus noch heute.« Mein Lächeln wurde breiter.

Ihre Augen fixierten mich, ihre Hand wanderte aufwärts. Ich genoss die wohlige Wärme, die sich in meinem Unterleib ausbreitete. Bis ich eine imposante Gestalt durch den Raum auf mich zukommen sah. Groß, breitschultrig, mürrisches Gesicht. Eddy. Er warf mir einen missbilligenden Blick zu.

»Nick ist leider schon verabredet«, sagte er.

Tanja nahm ihre Hand von meinem Oberschenkel und erhob sich. »Schade. Vielleicht ein ander mal.« Sie zwinkerte mir zu und ging mit schwingenden Hüften davon.

»Na, schönen Dank auch«, sagte ich, während Eddy sich mir gegenüber auf einen Stuhl setzte und ein Bier bestellte.

»Gern geschehen.« Er grinste. »Und? Hast du die Fotos?«

»Was denkst du wohl?« Ich war sauer, reichte ihm aber dennoch einen USB-Stick, auf den ich die Fotos gespeichert hatte.

Er nahm ihn mir aus der Hand und steckte ihn in seine Hosentasche. »Danke. Ich wollte dir dein Techtelmechtel nicht verderben, aber du solltest endlich mal deinen Frauengeschmack überdenken.«

Ich wechselte das Thema. »Und dein Fotograf ist immer noch verschollen?«

»Ja. Und das gefällt mir ganz und gar nicht. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.« Eddy nahm einen Schluck aus seinem Bierglas, das die Bedienung ihm gerade in die Hand gedrückt hatte. »Hast du mal drüber nachgedacht, wieder für die Kripo zu arbeiten? Wir brauchen fähige Leute wie dich. Ganz unabhängig davon, ob Bachmann wieder auftaucht.«

»Du wirst dich wundern, erst heute Morgen habe ich darüber nachgedacht. Aber ob die mich noch haben wollen?«, gab ich zu bedenken.

»Sicher wollen die. Erst heute Mittag hat sich dein ehemaliger Chef nach dir erkundigt. Er scheint dich zu vermissen.«

»Wer? Der alte Edwin Nägele? Dieses Fossil? Der ist noch im Dienst? Der muss doch mindestens siebzig sein.« Ich verzog ungläubig das Gesicht.

Eddy schüttelte den Kopf und lachte. »Nein, der ist erst sechzig geworden. Und ob der jemals in Rente geht?«

»Wahrscheinlich nicht.« Ich grinste bei dem Gedanken an meinen ehemaligen Vorgesetzten. Immer hatte er diese braunen Strickpullunder getragen, auch im Sommer. Und ja, ich musste mir eingestehen, dass ich Nägeles schrullige Art vermisste. »Reizen würde mich mein alter Job auf jeden Fall. Ich weiß nicht.«

»Im Moment wäre eine Rückkehr ganz sicher möglich. Und gib deine extravaganten Aufträge auf. Die bringen dich irgendwann in Teufels Küche.«

»Meinst du?«

»Du bist über ein Skelett gestolpert.«

»Das stimmt. Ich denk drüber nach, okay?«

»Gut!« Eddy packte seine Geldbörse aus und legte einen Zwanzigeuroschein auf den Tisch. »Gönn dir noch ein Bier. Ich muss jetzt nach Hause. Marita wird mir ohnehin die Hölle heißmachen, weil ich sie mit dem Essen versetzt habe.«

»Grüße sie von mir, ja?« Ich lächelte beim Gedanken an seine Ehefrau. Sie hasste Unpünktlichkeit, und ich stellte mir vor, wie sie Kochlöffel schwingend hinter der Wohnungstür lauerte.

»Mach ich«, meinte Eddy und ging davon.

Ich sah mich um, doch Tanja konnte ich nirgendwo mehr entdecken, so ein Pech. Dafür erblickte ich eine Frau mit hellbraunen Locken, und ich erinnerte mich, dass ihre Augen tiefbraun waren. Sie saß alleine an einem kleinen Tisch in der Nähe der Eingangstür. Unsere Blicke trafen sich. Sie lächelte mich an, hob ihr Smartphone in die Höhe und schien ein Foto von mir zu knipsen. Eilig stand ich auf und ging schmunzelnd zu ihr.

»Verraten Sie mir jetzt Ihren Namen?«, fragte ich.

»Kommt drauf an.« Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr.

»Und worauf?«

Sie schwieg, musterte mich aber von oben bis unten.

Ein angenehmes Kribbeln breitete sich in mir aus. »Darf ich mich wenigstens setzen und Ihnen einen Drink ausgeben?«

Sie nickte, ich setzte mich. Wir bestellten zwei Martinis.

»Haben Sie da eben ein Foto von mir gemacht?«, wollte ich von ihr wissen.

»Nicht nur eins. Haben Sie etwas dagegen?« Sie sah mir tief in die Augen. »Ich fotografiere alles, was mir gefällt.«

»Ach so, ich gefalle Ihnen also.« Na, wenn das kein guter Start war. Ich rückte meinen Stuhl näher an ihren und warf einen Blick auf das Display ihres Handys. Unsere Schultern berührten sich, was sich sehr gut anfühlte.

»Nun ja. Sie haben beeindruckende Augen. Dazu der Dreitagebart, wie verwegen.« Sie lächelte verschmitzt und errötete ein wenig. »Und die Schramme auf der Stirn macht Sie außerordentlich interessant. Wo haben Sie die denn her?«

»Ach die, das war ein kleines Missgeschick.«

Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und betrachtete mich aus dem Augenwinkel.

»Wollen Sie mir nicht endlich Ihren Namen verraten?«, forderte ich sie auf. »Sie kommen mir bekannt vor. Aber ich komme nicht drauf, woher.«

»Hattest du schon so viele Frauen, dass du dich nicht mehr an alle erinnerst?« Sie schmunzelte.

Das war offensichtlich eine Fangfrage. Würde ich ihr offenbaren, dass ich lockere Beziehungen bevorzugte, würde sie vermutlich gleich die Flucht ergreifen. Aber sie duzte mich plötzlich. Ich bildete mir ein, dass dies etwas zu bedeuten hatte. »So viele waren es nicht. Aber an dich würde ich mich sicher erinnern.«

Wieder sah sie mir tief in die Augen. Dabei wurde sie ernst. »Anscheinend nicht«, seufzte sie.

Ihre Hand zitterte. »Ich muss jetzt gehen.« Sie erhob sich. »Danke für den Drink.«

So schnell konnte ich gar nicht reagieren, da war sie schon durch die Tür. Hastig bezahlte ich meine Rechnung und hetzte nach draußen. Zu spät, von der jungen Frau war nichts mehr zu sehen. So ein Mist.

Enttäuscht klappte ich den Kragen meiner Jacke hoch, vergrub die Hände tief in den Taschen meiner Jeans und machte mich auf den Weg nach Hause. So sehr ich es auch versuchte, diese Frau aus meinen Gedanken zu drängen, es gelang mir nicht. Ich sah ihr Gesicht und ihre Augen vor mir, hörte ihre Stimme. Sie hatte mich sehr beeindruckt.

Erst als ich nach zwanzig Minuten die abgelegene Seitenstraße erreichte, in der meine Wohnung lag, kam ich auf andere Gedanken. Sofort fiel mir auf, dass im Wohnzimmer in der ersten Etage Licht brannte. Ganz leise öffnete ich die Eingangstür und schlich in den ebenerdig liegenden Ausstellungsraum der ehemaligen Kunstgalerie. Nachdem ich diesen durchquert hatte, verharrte ich am unteren Absatz der Wendeltreppe. Ich lauschte den Stimmen, den Geräuschen und der dramatischen Musik, die von oben zu mir herunter drangen.

Ich eilte die Stufen hinauf. Mich traf beinahe der Schlag, als ich die Wohnzimmertür öffnete. Der Fernseher lief. Aus den Boxen dröhnten laute Geräusche. Auf dem schwarzen Ledersofa gegenüber lümmelte mein Sohn. In der einen Hand hielt er eine Tüte, mit der anderen steckte er sich gerade mehrere Chips in den Mund. Er sah mich an. Seine Augen waren gerötet, sein Haar so sehr zerzaust, als wäre er gerade erst aus dem Bett geklettert.

»Moritz? Wie kommst du hier rein?«, fragte ich verwundert. »Warum bist du nicht zu Hause bei deiner Mutter?«

Er setzte sich auf und blickte mich wütend an. »Erstens, du hast mir für den Notfall einen Schlüssel gegeben, hast du das vergessen? Und zweitens, Mama will mich nicht mehr.«

»So ein Quatsch«, widersprach ich. Nachdem ich meine Jacke über einen Stuhl geworfen und meine Schuhe ausgezogen hatte, ließ ich mich neben Moritz auf dem Sofa nieder. »Warum sollte sie dich nicht mehr wollen?«

»Weil das so ist«, stellte er schmollend fest.

»Ist ihr Freund da?« Tröstend legte ich meine Hand auf den Arm meines Sohnes, der mit jedem neuen Freund seiner Mutter ein Problem hatte. Sie hatte sich oft genug bei mir über meinen Sprössling beschwert. Natürlich war er immer mein Sohn, wenn er sich unmöglich benahm.

»Michael«, sagte Moritz in einem verächtlichen Tonfall und verzog angewidert das Gesicht. »Er kann mich nicht leiden. Und ich ihn auch nicht.«

In dem Augenblick vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche. Der Refrain von Bon Jovis Runaway ertönte.

»Ja?«, meldete ich mich.

»Katharina hier«, tönte die aufgeregte Stimme meiner Ex an mein Ohr. »Ist Mo bei dir?«

»Ja, er ist hier«, antwortete ich. »Und er sieht sehr unglücklich aus. Was hast du mit ihm gemacht?«

»Was ich mit ihm gemacht habe? Frag ihn, was er mit mir macht. Seit Wochen ist er aufsässig, er hört nicht mehr auf mich. Vielleicht willst du ihn mal für eine Weile?«

Mit einem Satz sprang Moritz auf die Füße, die Chips flogen in hohem Bogen durch den Raum und regneten auf das dunkel gebeizte Holzparkett. Er hatte jedes Wort mit angehört, da ich dummerweise den Lautsprecher des Telefons auf Mithören gestellt hatte.

»Von mir aus gerne«, brüllte er.

»Kati, hör doch einfach mal zu«, beschwichtigte ich. Meinem Sohn warf ich einen maßregelnden Blick zu. »Ich habe keine Ahnung, was mit euch beiden los ist. Wie wäre es, wenn du herkommst, und wir in Ruhe besprechen, was passiert ist?«

»Ja. Ich komme.« Und schon legte sie auf.

»Setz dich«, wies ich Moritz an, der sich sofort zurück aufs Sofa fallen ließ. »Du hast zwanzig Minuten Zeit, mir zu erklären, was vorgefallen ist, bevor sie hier ankommt.«

In seinen Augen lag eine unbändige Wut und tiefe Trauer. »Sie versteht mich einfach nicht. Und ihr neuer Macker mischt sich in alles ein.«

»Dann bist du also eifersüchtig?«

»Worauf? Weil sie keine Zeit mehr für mich hat, und nur noch mit diesem Penner rumhängt?« Wieder zog er eine Grimasse. »Ich will zu dir zieh‘n.«

»Das geht aber nicht!«, widersprach ich.

»Warum seid ihr Erwachsenen bloß so kompliziert? Warum ziehst du nicht einfach zu uns? Für dich wird sie den Idioten sicher abservieren.«

»Wie kommst du denn auf so einen Quatsch?«

»Sie schaut sich andauernd eure alten Fotos an. Dabei sieht sie immer so traurig aus.«

»Du hast Ideen.«

Ich stand auf, ging im Zimmer auf und ab und dachte nach. Meine Beziehung zu Katharina war schon immer schwierig gewesen. Als sie schwanger gewesen war, hatte ich darüber nachgedacht, sie zu heiraten, doch sie hatte es ebenso wenig gewollt wie ich. Sie hatte schnell begriffen, dass ich für eine lebenslange Verbindung nicht geschaffen war. Ich konnte ihr das nicht geben, was sie erwartete, obwohl wir einige Jahre lang zusammenlebten. Schließlich brach unsere Beziehung entzwei, da war Moritz gerade fünf Jahre alt. Auch danach gingen wir noch hin und wieder aus und landeten jedes Mal in meinem Bett. Mittlerweile gehörten aber auch diese Treffen der Vergangenheit an, denn Katharina wollte eine feste Beziehung. Ohne mich.

»Also, wann kann ich hier einziehen?«, unterbrach Moritz meine Gedanken.

»Gar nicht, weil ich selten zu Hause bin. Und du gehörst nun mal zu deiner Mutter.«

»Mama ist auch kaum mehr zu Hause. Ich kann mittlerweile selbst auf mich aufpassen. Ich bin alt genug.«

»Du bist zwölf!« Ich raufte mir die Haare. Der Junge hatte unverkennbar meinen Dickkopf geerbt.

»Fast dreizehn«, kam prompt seine Antwort. »Euch ist es doch eh egal, was aus mir wird.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte in den Fernseher.

»Das ist nicht fair, was du da sagst«, stellte ich fest.

Durch das Fenster warf ich einen Blick auf die Straße und hoffte, dass Katharina bald hier sein würde. Diese Sache wuchs mir über den Kopf. Zweifellos liebte ich meinen Sohn, doch zum Erziehungsberechtigten taugte ich definitiv nicht.

Zum Glück parkte Katharina keine zehn Minuten später ihr Auto am Straßenrand und stieg gleich darauf die Treppe zu meiner Wohnung empor. Zuerst warf sie mir, danach Moritz gereizte Blicke zu.

»Junger Mann«, fuhr sie ihn an. »Du kannst nicht einfach abhauen, ohne mir Bescheid zu geben.«

»Ach nein?«, fauchte Moritz zurück. »Aber du darfst das, ja?«

Sie blickte ihn zornig an. Doch in ihrem Blick lag auch eine Spur Trauer.

»Wie wäre es mit einem Gespräch? Was zu trinken?«, ging ich dazwischen. »Wir setzen uns in die Küche und unterhalten uns wie zivilisierte Menschen.«

»Du und ich!«, herrschte sie mich an. »Moritz. Du wartest im Auto. Ich habe mit deinem Vater zu reden.«

Das klang gar nicht gut. Warum hatte ich plötzlich das Gefühl, etwas ausgefressen zu haben? Das gefiel mir ganz und gar nicht.

Moritz gab den Widerstand auf. »Wie du willst, ich habe ja doch keine andere Wahl.«

Zornig verließ er die Wohnung und stampfte über die Wendeltreppe nach unten. Ich hörte, wie die Eingangstür krachend ins Schloss fiel. Durchs Fenster beobachtete ich, wie Moritz sich in Katharinas Auto setzte. Anschließend wandte ich mich an meine Ex. »Willst du was zu trinken?«

Kati nickte und folgte mir in die Küche. Sie ließ sich auf einen Stuhl nieder und nahm dankbar ein Glas Wasser entgegen. Ich beobachtete sie dabei, wie sie in kleinen Schlucken trank. Dabei zuckte ihr Kehlkopf auf und ab. Sie hatte einen kleinen Kropf, den man kaum sehen konnte. Oft genug hatte ich ihren Hals gestreichelt und kannte ihren Körper in und auswendig. Manchmal vermisste ich sie.

»Was ist mit euch passiert?«, fragte ich. »Ihr hattet früher nie Probleme miteinander.«

»Ich weiß es nicht. Seit Wochen benimmt er sich unmöglich. Ich komm nicht mehr an ihn heran.« Sie atmete tief durch. »Er prügelt sich in der Schule mit anderen Jungs.« Ihr Blick wanderte zu meiner Stirn. »Hattest du auch eine Schlägerei?«

»Nein. Nicht direkt.«

»Na schön, was auch immer.« Sie zog einige Blätter aus ihrer Handtasche und breitete sie auf dem Küchentisch aus. »Die habe ich in Moritz‘ Schulranzen gefunden.«

Ich betrachtete die Zeichnungen und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Er hat Talent.«

»Von mir hat er das nicht.« Sie seufzte. »Mehr fällt dir nicht dazu ein?«

»Na ja, was soll ich sonst sagen?« Erneut betrachtete ich die Bilder. »Na schön. Die Zeichnungen sind ein bisschen schräg, aber sonst? Absolut genial. Sieh dir nur diese Details an.« Da war ein Friedhof mit Grabsteinen, Kreuzen und blätterlosen Bäumen. Auf einem anderen Blatt ein Monster mit Hörnern und funkelnden Augen. Das dritte Bild zeigte ein Skelett. »Nun, das ist mehr als schräg. Vielleicht hat er von dem Fund gehört.«

»Die Zeichnung habe ich schon vor Tagen gefunden. Und das hier,«, sie zog ein letztes Blatt aus ihrer Tasche, »macht mir am meisten Sorgen.«

Ich blickte auf die Zeichnung und schauderte. Moritz hatte einen Mann mit einem Messer im Rücken gemalt. Dunkelrotes Blut lief über seinen Körper und ergoss sich auf den Boden, wo es sich in einer Pfütze sammelte. Das war nun wirklich heftig.

»Wen will er denn tot sehen?«, fragte ich.

»Hoffentlich niemanden. Aber er treibt sich auf zwielichtigen Internetplattformen herum.« Katharina wischte sich mit der Hand über die Augen und erhob sich. »Ich glaube, die unterhalten sich da über Tod und Teufel. Was soll ich tun? Sind Jungs in dem Alter so?«

Ob Jungs in dem Alter so waren? Das fragte sie ausgerechnet mich. Mein Leben hatte begonnen, da war ich dreizehn, etwas älter als Moritz, gewesen.

»Dabei kann ich dir leider nicht helfen«, sagte ich.

»Du hast recht, entschuldige.« Sie zögerte kurz. »Nimm dir zumindest mehr Zeit für ihn. Er braucht dich. Kann er Samstag bei dir übernachten?«

»Na, ich weiß nicht.« Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig.

»Er ist auch dein Sohn!« Ihr Blick drohte mich zu durchbohren.

»Habe ich eine Wahl?«

»Nein, hast du nicht.« Sie lächelte. »Ich verlass mich drauf, dass es klappt, Nick.« Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange. Ich brachte sie zur Tür, sah zu, wie sie in ihr Auto stieg und davonfuhr.

Grübelnd blickte ich durch den Raum. Die vielen Scheinwerfer an der Decke tauchten die Ausstellungsfläche in gleißendes Licht. Hier stellte ich meine düstersten Bilder aus, meine geheimsten Gedanken und Visionen. Von einer Düsterkeit überschattet jagten mir meine eigenen Gemälde und Skulpturen einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Nur eines erfüllte mich mit Freude. Das Abbild eines Mädchens mit lockigen Haaren und dunklen Augen, das ich nun genauestens betrachtete. War dieses Mädchen die Frau, die ich heute kennengelernt hatte, die mir aber so vertraut erschien? Ich blinzelte, rieb mir über die Augen und wandte mich ab. Allmählich konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Ich schritt weiter durch den Raum und verweilte vor einem meiner besten Bilder im hintersten Winkel der Galerie. Rechts und links auf der Kohlezeichnung sah ich eine Ansammlung von Bäumen, deren kahle Kronen eng aneinander standen. Darüber ragte ein Felsen auf, dessen Gipfel die Überreste einer mittelalterlichen Burgruine trug. Auf den Mauern saßen Krähen, deren Schnäbel geöffnet waren. Neben der Ruine stand eine Person, ganz in Schwarz. Dunkle Wolken schwebten bedrohlich über die Szene hinweg. Ich konnte mich nicht daran erinnern, diesen Ort jemals besucht zu haben. Auch hatte ich diese Ruine trotz intensiver Recherchen in keinem Buch und auch nicht im Internet gefunden. Keine Ahnung, ob sie überhaupt existierte.

Vertieft in meine Gedanken verließ ich den Raum und stieg die Wendeltreppe nach oben. In der Küche lagen noch Moritz‘ Bilder. Ich betrachtete das von ihm gezeichnete Skelett. Mein Sohn hatte kein Detail ausgelassen und – was mir erst jetzt auffiel – auf den Rippen lag ein Kreuz, das mir doch sehr bekannt vorkam.

 

Sechs

Mitten in der Nacht trug ein Mann einen schwarzen Leinensack durch den Wald. Für einen kurzen Moment huschten die silbernen Strahlen des Mondes über den Waldboden, ehe die vorüberziehenden Wolken den Himmel verdunkelten. Kein Licht war mehr am Himmel, als der Mann den Sack vor einem hölzernen Spielhaus vorsichtig ablegte, sich niederkniete und das Bündel vor sich ausbreitete. Der Strahl seiner Taschenlampe beleuchtete die Knochen, den Totenschädel, ein vollständiges, perfektes Skelett. Der Bursche zog mehrere Vogelfedern aus seiner Jackentasche und steckte sie gebündelt zwischen die knochigen Finger, die bereits gefaltet auf dem Brustkorb lagen.

Er öffnete eine Plastikdose, tauchte seinen Finger in eine dunkelrote Flüssigkeit, malte einen fünfzackigen Stern auf die hohe Stirn des Totenkopfes und schrieb mit dem Stiel einer schwarzen Feder mehrere Ziffern in die Zacken des Pentagramms.

Er kniete auf dem feuchten Waldboden. Sein Blick wanderte prüfend über das Skelett. Seine Kopfhaut kribbelte. Es fühlte sich an, als ob dort ein Ameisenvolk sein Unwesen trieb. Die Insekten machten sich auf den Weg über seinen Nacken, sein Gesicht und immer weiter abwärts. Sie krochen durch seinen Leib, seine Beine und verließen seinen Körper an den Zehenspitzen. Der Mann stöhnte auf. Er murmelte ein Gebet und zwang seinen Körper zur Ruhe. Das Kribbeln verschwand, er richtete sich auf.

Er nahm den schwarzen Leinensack, faltete ihn sorgfältig zusammen und machte sich auf den Weg zu seinem Auto, das er in einiger Entfernung am Wegesrand abgestellt hatte. Er öffnete den Kofferraum, legte den Sack hinein, schloss den Deckel und setzte sich hinters Steuer. Er hatte noch etwas zu erledigen. Voller Vorfreude auf das, was er geplant hatte, ließ er den Motor an und fuhr langsam davon.

***

Roland Bachmann erwachte mit pochenden Kopfschmerzen. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Finsternis, in die er blickte. Er versuchte, sich aufzurichten. Seine Glieder gehorchten ihm nicht. Seine Hände waren mit einem Strick so fest auf seinem Rücken zusammengebunden, dass er seine Arme nicht bewegen konnte. In seinem Mund steckte ein Knebel, der ihm das Atmen erschwerte. Er würgte.

Ruhig bleiben, dachte er und sah sich um. Die Umgebung war ihm vertraut. Ohne Zweifel befand er sich in dem Wochenendhaus, das er erst vergangenes Frühjahr für sich und seine Verlobte gekauft hatte. Viele Wochenenden hatten sie im Sommer hier verbracht, in lauen Nächten hatten sie auf der Terrasse gesessen und dem Geräusch zirpender Grillen gelauscht. Aber wie war er hierher gekommen? Er erinnerte sich an ein Krachen in seinem Kopf, an seinen Kofferraum, Dunkelheit. Wie lange war das her? Egal. Er musste etwas tun, ehe derjenige, der ihn gefesselt und hergebracht hatte, zurückkehren würde.

So schnell es ihm möglich war, schob er sich in Richtung Küche. Endlos lange Minuten vergingen, ehe er sein Ziel endlich erreichte. Sein Haar klebte nass auf seiner Stirn. Mehrere Strähnen hingen ihm in die Augen. Er konnte kaum atmen. Doch er musste sich zusammenreißen. So lehnte er sich mit dem Rücken gegen einen Küchenschrank, streckte die Beine durch und stand. Die erste Hürde war genommen. Nun zog er mit seinen tauben Fingern die Schublade auf, griff hinein und bekam den Griff eines Messers zu fassen. Diesen klemmte er zwischen Schublade und Arbeitsplatte. Das Messer steckte so fest, dass Bachmann die Fesseln an der Klinge reiben konnte.

Er hörte einen Motor. Ein Auto? Es wurde still. Bachmann hörte, wie eine Autotür zugeschlagen wurde. Schritte! Der Kies auf dem Weg knirschte unter den Schuhen von wem auch immer. Sie kamen näher. Hielten auf die Tür zu.

Verdammter Mist! Er rieb die Fesseln fester über die scharfe Kante der Klinge. Immer wieder rutschte er ab. Das Messer schnitt in sein Fleisch. Er spürte keinen Schmerz. Schweiß rann über seinen Körper.

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss der Eingangstür, Bachmann hielt den Atem an. Hektisch rieb er weiter. Die Stricke lockerten sich. Die Tür fiel ins Schloss – ein letzter Schnitt. Seine Hände waren frei. Er riss den Knebel aus seinem Mund, atmete mehrmals tief durch und betrachtete bestürzt seine blutenden Hände.

Er lauschte den Schritten. Sie kamen auf die Küche zu. Bachmann schleppte sich zur Wand hinter der Tür. Sein Blick fiel auf das Messer, das noch immer in der Schublade klemmte. Er musste es holen, sofort, doch er zögerte. Die Tür schnellte auf ihn zu, prallte gegen sein Gesicht. Der Schmerz raste von seiner Nase über sein Jochbein in seinen Kopf. Funkelnde Sterne tanzten um ihn herum. Sie nahmen ihm die Sicht. Er blinzelte sie fort, griff nach seiner Nase, überall war Blut. Er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel.

Er hörte hektisches Atmen, sah einen Mann vor sich. In der Hand hielt er einen Gegenstand. Bachmann versuchte noch, sich zu ducken. Es war zu spät. Er spürte, wie ein spitzer Gegenstand seitlich in seinen Hals eindrang. Ein Brennen folgte. Es breitete sich in seinem Muskel aus. Bachmann stürzte nach vorn. Seine Finger griffen nach der Maske, die der Angreifer über dem Gesicht trug, und rissen sie herunter. Bachmanns Fingernägel gruben sich tief in die Haut am Hals des Mannes. Dann verließ ihn die Kraft, und er sackte einfach so zusammen.

»Warum tust du das?«, fragte er verzweifelt. Langsam glitt er zu Boden.

»Du hättest besser aufpassen und dem Skelett nicht das Bein brechen sollen«, knurrte der Kerl. »Sie war ein Engel!«

Was sollte das nun? Wie irre war dieser Kerl?

Bachmann versuchte, sich aufzubäumen, seine Muskeln streikten. Das Knie des Mannes drückte ihn fest gegen den Boden. Ein Messer schwebte durch die Luft. Bewegungsunfähig starrte Bachmann an die Decke und bemerkte, wie ihm sämtliche Kleider vom Leib geschnitten wurden.

Entsetzen packte ihn, eine grässliche Kälte ergriff von ihm Besitz. In der Gewissheit, dass er sterben würde, bat er im Stillen um rasche Erlösung. Er wurde erhört. Die Klinge des Messers sauste herab. Bachmann schloss die Augen, um sie nie wieder zu öffnen.

 

Sieben

Ich flüchtete durch einen finsteren Korridor, hinter mir erklangen Schritte. Als ich einen Blick über die Schulter warf, erkannte ich weiß polierte Knochen und einen Totenkopf. Er grinste. Auf seiner Stirn leuchtete ein dunkelrotes Pentagramm. Ich rannte schneller. Vor mir erschien das Gesicht eines Mädchens, das von hellbraunen Locken umrahmt war. Ein Engel, dachte ich, was sonst? Hinter mir klapperten die Knochen, lauter, immer lauter. Das Mädchen vor mir breitete die Arme aus. Ich erreichte sie nicht. Knochige Finger legten sich um meinen Hals, rissen mich zurück. Ich stürzte. Mein Kopf krachte auf den blanken Fels. Die Wände neben mir lösten sich auf. Nur noch der Totenkopf schwebte über mir. Sein Kiefer klappte auf.

Er beugte sich herab und wollte mich gerade verschlingen, als ich die Musik hörte. Mein Lieblingssong: Runaway von Bon Jovi. Der Totenkopf verschwand. Ich riss die Augen auf und fand mich in meinem Bett wieder. Durch die Ritzen der Jalousie drang frühes Tageslicht ins Innere, ich atmete auf. Was für ein Albtraum.

Meine Finger griffen nach dem Handy, das neben mir auf dem Nachttisch vibrierte und unentwegt diesen einen Song spielte. Ich meldete mich. »Ja?«

»Eddy hier.«

»Was willst du so früh am Morgen?« Ich blickte auf meinen Wecker. Es war kurz nach neun Uhr. So spät schon?

»Liegst du etwa noch im Bett?«, fragte Eddy.

»Ich hab wohl vergessen, den Wecker zu stellen«, murmelte ich. »Also, was willst du?«

»Ich brauche einen Fotografen«, klärte Eddy mich auf. Er klang sehr mürrisch. »Bachmann ist immer noch verschollen, und ich brauche hier sofort einen, der ordentliche Bilder macht.«

»Für ein Verbrechen?« Sofort war ich hellwach.

»Was denn sonst?«

Oh oh, er war sehr schlecht gelaunt.

»Und da hast du an mich gedacht?«

»Du bist doch Fotograf, oder?«

»Bist du sicher, dass du einfach so einen externen Fotografen beauftragen darfst?«, gab ich zu bedenken. »Hast du niemanden unter deinen Leuten, der Bilder machen kann?«

»Nein, hab ich nicht. Und ja, ich beauftrage dich hiermit, Fotos zu machen. Du bist ja kein Fremder.«

»Ähm, das nicht, aber …«

»Du kennst den Waldspielplatz im Westen der Stadt? Dort findest du uns«, fiel er mir ins Wort.

»Na schön, aber du übernimmst die Verantwortung dafür.«

»Ja, ja. Beeil dich. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Er legte auf.

Und ich sah zu, dass ich so schnell wie möglich aus dem Haus kam.

***

Eine halbe Stunde später fuhr ich auf den Waldspielplatz zu, parkte meinen Wagen und stieg aus. Ich beobachtete, wie weiße Nebelschwaden über den mit Laub übersäten Waldboden krochen. Der Wind strich eiskalt über mein Gesicht. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke nach oben, klappte den Kragen hoch und setzte mich in Bewegung.

Während ich an den am Straßenrand geparkten Streifenwagen vorüberging, packte mich ein vertrautes Gefühl. Ich fragte mich, ob es gut für mich war, hier zu sein, konnte den Gedanken aber nicht zu Ende führen, als ein Polizist sich mir in den Weg stellte.

»Sie haben hier nichts zu suchen. Hier laufen polizeiliche Ermittlungen«, knurrte der Beamte.

Ich kannte ihn schon länger. Der Name des Mannes war Bruno Schmidt. Ich mochte ihn nicht besonders. Er mich auch nicht.

»Was treibt dich hier raus, Holsten, um diese Uhrzeit im Wald? Hast du nichts anderes zu tun, als die Polizei bei der Arbeit zu stören?« Schmidt spielte sich ganz schön auf.

»Genau, sonst habe ich nichts zu tun«, konterte ich. »Darf ich jetzt trotzdem durch?«

»Werd bloß nicht frech«, zischte er und drängte auf mich zu.

Ich wich einen Schritt zurück und verzog angewidert das Gesicht, als mir eine Knoblauchfahne in die Nase drang.

»Hey, ich will keinen Ärger«, sagte ich. »Kommissar Krieger wartet auf mich, ich soll hier Fotos machen.« Zur Bekräftigung meiner Worte hob ich meine Kamera in die Höhe. Zum Glück kam Eddy gerade aus dem Nebel heraus auf uns zu.

»Das wurde auch Zeit!«, meckerte er mich an, und dann zu Schmidt: »Wir warten auf den Mann, also halten Sie ihn nicht auf.«

Während ich hinter Eddy herging und die in weiße Overalls gehüllten Beamten von der Spurensicherung beobachtete, ergriff schnell ein lästiges Kribbeln Besitz von mir. Sämtliche Härchen auf meinem Körper stellten sich auf, das Herz in meiner Brust schlug immer schneller und lauter. Ich fürchtete, selbst Eddy könne es hören. Also blieb ich stehen und packte ihn am Arm.

»Was ist?«, fragte Eddy und drehte sich genervt zu mir um.

»Was soll ich hier überhaupt fotografieren?«, fragte ich. Mir war gar nicht mehr wohl bei der Sache.

»Hatte ich das nicht erwähnt am Telefon?«

»Nein, hast du nicht.«

»Oh. Na dann. Ein Skelett, es liegt dort drüben.« Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, sicher«, log ich und ging zögernd weiter. Da sah ich es schon von Weitem auf dem dunklen Boden liegen. Ein ehemaliger Kollege reichte mir einen weißen Overall. Ich schlüpfte hinein und stand gleich darauf vor dem Skelett. Der Anblick erinnerte mich an vorletzte Nacht. Allerdings hielten die knochigen Finger ein Bündel schwarzer Federn.

Das nervöse Kribbeln in meinem Bauch schwoll an und breitete sich allmählich über meinen ganzen Körper aus. Nicht mehr lange, und aus dem Kribbeln würden unerträgliche Schmerzen werden, das passierte nicht zum ersten Mal. Ich musste das in den Griff bekommen. Deshalb atmete ich die kalte Luft tief in meine Lungen, ballte meine Hände zu Fäusten. Langsam blies ich die Luft wieder aus und schloss für einen Moment die Augen. Das unbehagliche Gefühl verzog sich.

Erleichtert machte ich mich an die Arbeit. Zunächst fotografierte ich die Umgebung, anschließend die Knochen. Als ich eine Großaufnahme des Schädels machte, fielen mir innerhalb des Pentagramms die Ziffern auf. Mit bloßem Auge konnte ich sie jedoch nicht erkennen. Also zoomte ich sie heran, machte mehrere Fotos und traute meinen Augen kaum.

Ich blinzelte mehrmals und blickte erneut durch den Sucher meiner Kamera. Die Zahlen standen noch immer da: 19 91 10 19.

Ich stöhnte leise auf, als das quälende Kribbeln in meinen Leib zurückkehrte. Mein Blick haftete auf dem Totenkopf, den Gebeinen und den schwarzen Federn. Was hatte das alles zu bedeuten?

Ich fühlte eine Hand auf meiner Schulter, wirbelte herum, meine Augen weit aufgerissen.

»Nick? Hast du ein Gespenst gesehen?«, fragte Eddy besorgt.

»So was Ähnliches«, murmelte ich, darum bemüht, normal zu klingen, was mir nicht annähernd gelang. »Ich bin hier fertig. Ist sonst noch was?«

»Hast du alles fotografiert?«

»Hab ich.« Ich ging davon, trat hinter die Absperrung, schlüpfte aus dem Overall und presste die Hand gegen meinen Bauch, der sich mehr und mehr verkrampfte.

»Geht’s dir nicht gut?«, erkundigte Eddy sich. »Du siehst blass aus.«

»Hab wohl etwas Falsches gegessen«, erwiderte ich und wandte mich zum Gehen.

Doch Eddy hielt mich zurück. »Moment. Ich brauche die Speicherkarte. Ich kann es mir nicht erlauben, noch mehr Fotos zu verlieren.«

»Natürlich.« Während ich mit zitternden Fingern einen Knopf an meiner Kamera drückte, um die Dateien aus dem internen Speicher auf die Speicherkarte zu kopieren, trat ein junger Mann neben Eddy. »Wir haben alles abgesucht, aber kein goldenes Kreuz gefunden, wie bei dem anderen Skelett gestern.«

Ich horchte auf. Was für ein goldenes Kreuz? Das andere Skelett hatte doch kein Kreuz!

»Wie viele Skelette gibt es eigentlich?«, fragte ich leise. Beinahe wäre mir die Kamera aus meiner zitternden Hand gefallen, als ich die Speicherkarte herauszog.

Eddy zog die Augenbrauen zusammen. »Nur zwei, warum?«

»Das Skelett, das ich gefunden habe, hatte kein Kreuz. Hast du dir die Fotos noch nicht angesehen?«

»Nein, bin noch nicht dazu gekommen. Aber es hatte ein Kreuz auf den Rippen.«

»Mit einer Schlange?«

»Ich dachte, du hättest es nicht gesehen? Was weißt du darüber?«

»Nichts.« Ich reichte ihm die Speicherkarte. »Tut mir leid, Eddy, aber ich muss hier weg.«

»Kannst du nachher bei mir im Büro vorbeikommen und ein Formular unterschreiben?«

»Ja, sicher.« Ich verließ im Laufschritt den Spielplatz, als wäre der leibhaftige Teufel hinter mir her. Vermutlich hielt Eddy mich für verrückt, so wie er mich angesehen hatte, aber das war mir vollkommen egal.

Außer Atem und mit einem schmerzhaften Grollen im Bauch, erreichte ich meinen Wagen, kletterte hinters Lenkrad, startete den Motor und fuhr los. Als ich den Volvo über die schmale Straße den Berg hinunter lenkte, bekam ich meine Gefühle einigermaßen unter Kontrolle. Jedoch hatte ich das dringende Bedürfnis mit jemandem über all das zu reden, das mich gerade beschäftigte.

 

Acht

Es war niemals einfach für mich gewesen, ohne eine einzige Erinnerung an meine Kindheit heranzuwachsen. Doch meine Psychotherapeutin und Pflegemutter Helen Holsten brachte mir bei, damit umzugehen. Nach dem frühen Tod ihres Ehemannes fand sie ihre Berufung darin, mir ein normales Leben zu ermöglichen. Sie nahm mich an wie ihren eigenen Sohn. Eigene Kinder waren ihr nicht vergönnt gewesen.

Helen rettete mich, ihr verdankte ich mein einigermaßen geregeltes Leben. Sie klärte mich auch darüber auf, dass meine Eltern wie vom Erdboden verschluckt waren. Später zog ich alle Möglichkeiten in Betracht, warum meine Eltern nicht nach mir suchten. Vielleicht waren sie tot. Oder ich wurde entführt, der Entführer hatte die Nase voll von mir und wollte mich entsorgen. Manches Mal dachte ich sogar daran, dass meine Eltern mich töten wollten.

Nun kam mir eine neue Idee in den Sinn. Waren meine Eltern Diebe gewesen, die mich dazu gezwungen hatten, etwas zu stehlen? War das der Grund dafür, weshalb ich mit einem Messer in der Brust durch diesen düsteren Korridor flüchtete? Ließen sie mich einfach so zurück, nachdem ich erwischt wurde? Doch was bedeuteten diese Skelette, das Kreuz und das Messer?

Kopfschmerzen hämmerten von innen gegen meine Stirn. Zu viele Gedanken jagten im Kreis herum durch meinen Kopf. Ich brauchte jemanden, der mir zurück in die Spur verhalf. Deswegen drückte ich jetzt den Klingelknopf neben Helens Haustür.

Sie öffnete die Tür, umarmte mich herzlich und lachte vor lauter Freude. »Nick! Wie schön, dass du mich mal wieder besuchen kommst.«

»Wie geht‘s dir?«, fragte ich lächelnd, als wir ins Innere des Hauses traten. Hier sah es aus wie immer. Und es roch sogar wie früher, nach einer Mischung aus Rosenblüten und Vanille, Helens Lieblingsdüfte. Sie erinnerten mich an meine Jugend, nun, zumindest an den späteren Teil.

»Seitdem ich in Rente bin, geht es mir von Tag zu Tag besser«, antwortete sie. »Aber du siehst blass aus um die Nase. Komm in die Küche. Möchtest du einen Kaffee? Ich habe mir endlich einen von diesen modernen Automaten angeschafft. Der Kaffee daraus ist einfach himmlisch.« Sie sah sehr glücklich aus.

»Dann sollte ich den wohl probieren«, erwiderte ich. Auf einem Stuhl vor dem Küchentisch ließ ich mich nieder.

»Was liegt dir auf dem Herzen?«, wollte sie wissen. Sie stellte eine Tasse mit frisch gebrühtem Kaffee vor mir ab.

»Ich war eben auf dem Spielplatz, oben im Wald. Ich habe für die Kripo ein …« Ich räusperte mich. »Skelett fotografiert, und da ist es passiert.«

»Was ist passiert?«, fragte sie und sah mich aufmunternd an.

»Diese Gefühle waren wieder da, zuerst das Kribbeln, dann die Schmerzen.« Ich zog eine Schnute. »Genau wie vor ein paar Jahren, bevor ich die Therapie begonnen habe.« Meine zitternde Hand umklammerte die Tasse fester, die vor mir stand.

»Deshalb hast du deinen Job bei der Kripo gekündigt. Damit du nicht mehr mit Leichen und Blut konfrontiert wirst. Und nun machst du doch wieder Fotos für die?« Verwundert sah sie mich an. »Das war ziemlich dumm von dir.«

»Okay. Es war ein Fehler, das weiß ich jetzt auch. Aber es war ja nicht mal eine Leiche, nur ein Skelett.«

Aber das Skelett eines Kindes, mahnte mich eine innere Stimme. Nicht alle Leichen bereiteten mir diese Höllenqualen, sondern vor allem tote Kinder – und deren Gebeine. »Meinst du, ich bin verrückt?«

Sie wich meiner Frage aus. »Ich kenne einen guten Therapeuten. Nick, du wurdest beinahe getötet, als du noch ein Kind warst. Du hast Schreckliches durchgemacht, jemand hat dir ein Unrecht angetan …«

»Oder auch nicht«, unterbrach ich sie. »Vielleicht habe ich auch etwas ausgefressen und hatte deshalb ein Messer in meiner Brust. Ich muss endlich die Wahrheit herausfinden.« Ich besann mich. »Dein Bruder war Polizist, er hat mir im Krankenhaus Fragen gestellt, daran kann ich mich noch erinnern. Hat er etwas herausgefunden, das du mir bislang verschwiegen hast? Oder habe ich doch etwas erzählt, das ich wieder vergessen habe?«

Sie senkte den Blick. Ich glaubte, dass sie etwas vor mir verbarg.

»Du solltest die Vergangenheit ruhen lassen«, meinte sie.

»Das kann ich nicht. Gestern hat mich ein junger Mann im Atelier aufgesucht. Ich soll jemanden für ihn finden, der am 19. Oktober 1991 verschwunden ist.«

Sie zuckte zusammen, starrte auf ihre Hände und schwieg.

Ich zog mein Handy aus der Jackentasche und zeigte ihr das Foto des Jungen. »Das ist er. Sein Name ist anscheinend Benjamin. Er ist so alt wie ich. Und sieht auch noch so aus wie ich, findest du nicht?«

Helen betrachtete das Foto, zog die Stirn in Falten und seufzte. »Ich bin mir nicht sicher.«

Das konnte sie mir nicht weismachen. Ganz sicher hatte sie den Jungen ebenfalls in mir erkannt.

»Ich muss los. Eddy erwartet mich im Präsidium«, sagte ich. »Sollte dir noch etwas einfallen, melde dich bei mir.« Unzufrieden stand ich auf und ging vor Helen durch den Flur zur Haustür.

»Lass die Vergangenheit ruhen, schau in die Zukunft.« Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Und richte meinem Neffen einen schönen Gruß aus. Ich habe ewig nichts von Eddy gehört.«

Ich verließ das Haus mit der Gewissheit, dass sie mehr wusste, als sie preisgab. Warum sagte sie mir nicht einfach die Wahrheit? Enttäuscht stieg ich hinter das Lenkrad meines Autos, ließ es an und machte mich auf den Weg zur Kripo.

***

Als ich in der Abteilung für Kapitalverbrechen bei der Kriminalpolizei eintraf, fand ich die gesamte Etage wie ausgestorben vor. Die Tür zu Eddys Büro stand offen, doch der Raum war leer. Unentschlossen trat ich von einem Fuß auf den anderen. Ich überlegte mir gerade, später wiederzukommen, als mein Blick auf Eddys Schreibtisch fiel.

Dort lag eine Aktenmappe, nun, das war ja nichts Besonderes, aber das Foto, das oben auflag, machte mich neugierig. Also betrat ich das Büro. Auf dem Bild sah ich ein mit einem goldenen Schlangenkreuz geschmücktes Skelett. Es lag auf einem Seziertisch. War dies dasselbe Skelett, mit dem ich persönlich Bekanntschaft gemacht hatte? Sicher war ich mir nicht. Ich zog mein Smartphone aus der Jacke und machte mehrere Aufnahmen des Fotos. Anschließend öffnete ich den Aktenordner und überflog Eddys Notizen. Dort hatte er ein Datum aufgeschrieben:

19.10.1991.

Also hatte Eddy die Zahlen auf der Stirn des Totenkopfs genauso interpretiert wie ich. Und das Skelett von heute Morgen hatte dreizehn schwarze Rabenfedern in den Händen gehalten. Warum das denn?

Ich fand noch einen Bericht. Bei den Überresten des Skeletts, das ich gefunden hatte, handelte es sich um ein Mädchen, das im Alter von ungefähr zehn Jahren gestorben war. Das Kreuz, das sie bei den Knochen gefunden hatten, war aus reinstem Gold. Das Pentagramm auf dem Schädel bestand aus roter Farbe, die einen großen Anteil menschlichen Blutes enthielt. So etwas hatte ich mir schon gedacht.

Außerdem fand ich in der Mappe ein Fax der Polizei Freiburg. Dort war vor über zwei Wochen ebenfalls ein Skelett gefunden worden. Es handelte sich um die Überreste eines zehnjährigen Mädchens. Eine Melissa Gruber. Auf ihrem Brustkorb war ein Kreuz gefunden worden, das kurz nach der Obduktion der Knochen spurlos verschwunden war. Auch diesen Bericht fotografierte ich und legte ihn dann wieder zurück in die Mappe.

Von draußen wurden allmählich Stimmen laut. Ich warf einen Blick durch den Türspalt. Die Beamten kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück. Hastig klappte ich die Mappe zu und legte das Foto des Skeletts obenauf.

»Was machst du hier?«, polterte Eddys tiefe Stimme hinter mir.

Ich fuhr herum. »Du hast mich hergebeten. Ich soll ein Formular unterschreiben, und ich soll dich von deiner Tante Helen grüßen«, erklärte ich und trat zur Seite.

»Ach ja, das Formular, das muss ich noch ausfüllen«, erwiderte Eddy. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und starrte mich an. »Du hast hier drin nichts verloren, wenn ich nicht da bin.«

»Entschuldigung. Hattet ihr eine Besprechung?«, fragte ich.

Eddy nickte. »Mein Chef war begeistert von deinen Fotos. Er lässt fragen, ob du nicht zur Kripo willst.«

»Nein danke.« Nicht mehr nach diesem Erlebnis heute Morgen.

»Denk noch mal drüber nach.« Eddy klappte seine Aktenmappe auf. »Und? Hast du das Datum erkannt?«

»Welches Datum?«

»Hör auf damit. Ich hasse es, wenn du dich so dumm stellst. Der 19. Oktober 1991.«

»Natürlich habe ich es erkannt«, gab ich zu. »Das Skelett hatte Federn in der Hand. Warum kein Kreuz?« Ich deutete auf das Foto, das Eddy unter seiner Hand versteckte. »Aber dieses hatte eines. Und das in Freiburg!«

»Wenn du noch einmal meine Akten durchwühlst, lasse ich dich einsperren«, zischte Eddy. »Meine Unterlagen gehen dich nichts an, das solltest du eigentlich wissen. Warst du nicht mal bei der Polizei?«

»Eddy. Ich brauche deine Hilfe.«

Er sah mich besorgt an. »Nick, du bist kreidebleich. Was ist los mit dir?«

Ich schloss die Tür des Büros und hielt Eddy das Display meines Handys vor die Nase. »Sieh dir dieses Gesicht an.«

»Ist das ein Sohn von dir?« Eddy schmunzelte. »Bist du deshalb so nervös?«

»Wie kommst du darauf?«, fragte ich erbost. »Nein, ich habe nur einen Sohn, Moritz. Und dieses Foto ist schon einundzwanzig Jahre alt.«

»Trotzdem sieht der Junge dir sehr ähnlich, vor allem die Augenpartie«, stellte Eddy fest.

»Ja. Das habe ich auch schon bemerkt«, stimmte ich ihm zu. Meine Mundwinkel zuckten nervös. »Er wird von jemandem gesucht. Allerdings ist er 1991 verschwunden. Er müsste in meinem Alter sein. Sein Name ist Benjamin.«

»Tatsächlich? Der Name passt gar nicht zu dem Jungen. Du willst mich hoffentlich nicht veralbern.«

»Nein, danach ist mir gerade nicht zumute.« Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Kannst du es checken?«

»Du willst, dass ich das Foto durch die Datenbanken abgleichen lasse, obwohl du davon ausgehst, dass du dieser Junge bist?«

»Ich will nur Gewissheit haben.« Ich dachte einen Moment nach und schickte das Foto an Eddys PC. »Du behältst die Sache aber bitte für dich.«

»Natürlich«, versprach er. Dann holte er endlich das Formular. Nachdem ich es unterschrieben hatte, verließ ich sein Büro und hoffte, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, ihn in die Sache einzuweihen.

 

Neun

Am Himmel zogen dunkle Wolken heran, der Wind wirbelte trockenes Laub auf und der Geruch nach Regen drang durch das gekippte Fenster ins Innere meines Ateliers. Die Wettervorhersage aus dem Radio prophezeite heftige Gewitter über Baden-Württemberg. Das Wetter spielte eindeutig verrückt. Genau wie meine Gedanken, die nicht zur Ruhe kommen wollten.

Ich saß an meinem Zeichentisch auf einem Hocker, vor mir lag ein leeres Blatt Zeichenpapier, auf dem ich gerade einen Bleistift ansetzte und zu malen begann. Nach kurzer Zeit sah ich schon die Konturen eines Gesichtes vor mir. Ich malte die ordentlich nach hinten gekämmten Haare, die Nase und die Augenbrauen mit den darunter liegenden, markanten braunen Augen. Nachdem ich noch ein paar Einzelheiten ergänzt hatte, betrachtete ich zufrieden das Phantombild meines Auftraggebers.

Ich breitete ein weiteres Blatt Papier vor mir auf dem Tisch aus und skizzierte zwei hellgraue Augen und die darüber liegenden Brauen in einem ansonsten maskierten Gesicht. Mir fiel auf, dass die Augenpartien der beiden Männer sich glichen. Nur die Farbe der Iris unterschied sich gravierend. Allerdings ergab es überhaupt keinen Sinn, warum der Kerl mich nachts zu einem Skelett locken und mir am nächsten Tag fünfhundert Euro für einen Auftrag in die Hand drücken sollte. Ein absurder Gedanke, fand ich, und deshalb verwarf ich ihn schnell wieder.

Im Anschluss daran verglich ich das Kreuz des Skeletts, mit dem auf der mir überlassenen Zeichnung. Es gab einen Unterschied: die römische Ziffer. Das fotografierte Kreuz trug die XI, das skizzierte die XIII. Welche Zahl wohl auf dem Kreuz des Freiburger Fundes gestanden hatte? In dem Fax fehlte ausgerechnet diese Information. Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer des zuständigen Beamten bei der Kripo ind Freiburg. Der meldete sich auf Anhieb.

»Guten Tag«, sagte ich mit möglichst tiefer Stimme. »Kripo Stuttgart. Ich bin für die Skelettfunde zuständig und habe Ihr Fax vorliegen.«

Der Beamte am anderen Ende der Leitung klang ein wenig skeptisch. »Haben Sie auch einen Namen?«

»Krieger«, log ich. »Ich würde gerne wissen, ob das Kreuz, das bei dem Skelett gefunden wurde, auch eine Zahl hatte.«

Ein stiller Moment folgte, dann das Knistern von Papier, ehe der Mann bereitwillig Auskunft gab. »Die römische Zahl XII.«

»Und haben Sie auch Zahlen auf dem Totenkopf gefunden?«, hakte ich nach.

»Ja, genau. 19 90 6 16. Wahrscheinlich ein Datum. Würden Sie bitte daran denken, uns Ihren Bericht zu schicken?«

»Das werde ich, sobald ich ihn fertig geschrieben habe. Vielen Dank.« Ich beendete das Gespräch und kritzelte die Zahlen nebeneinander auf ein Blatt Papier: 1989, die XI. 1990, die XII. 1991, kein Kreuz. Warum? Vielleicht, weil es jemand gestohlen hatte? Dafür dreizehn Federn. Ein Sinnbild? Aber wofür? Ich begann zu zittern. Doch es gelang mir, die aufkeimende Angst erneut zurückzudrängen.

Ich erhob mich von meinem Stuhl, ging zum Fenster und blickte hinaus. Erste Blitze durchzuckten den wolkenverhangenen Himmel. Ich hörte das Grollen des noch weit entfernten Donners. Durch das gekippte Fenster drang Luft herein. Sie roch nach Regen. Und sie kühlte mein erhitztes Gesicht. Abermals suchte ich in in meinem Innersten nach Antworten auf die Fragen, die ich mir schon ein Leben lang stellte. Doch wie immer fand ich sie nicht. In mir herrschte absolute Stille.

***

In der Gaststätte war an diesem Abend noch weniger los als gestern. Ich blickte müde auf das zur Hälfte leer getrunkene Glas Bier, das ich zwischen meinen Handflächen hin und her drehte. Seit Tagen hatte ich nicht mehr richtig geschlafen. Ich sehnte mich nach meinem Bett, doch Eddy hatte darauf bestanden, sich mit mir zu treffen. Und schon kam er durch den Raum gehetzt. Er hängte seinen Mantel über die Lehne eines Stuhles und ließ sich gleich auf Selbigem nieder.

»Endlich kommst du, war auch Zeit«, meckerte ich.

»Bin ich zu spät?« Eddy warf einen Blick auf seine Uhr. »Tut mir leid.«

»Was willst du?«, knurrte ich. »Hast du etwas über den Jungen herausgefunden? Oder über mich?«

Eddy runzelte die Stirn. »Vielleicht habe ich das.«

»Vielleicht? Was soll das nun wieder heißen?« Meine Nerven waren gespannt wie Drahtseile. Hoffentlich waren sie stark genug.

»Nun ja. Es gibt da noch etwas zu klären.« Eddy senkte den Blick.

»Kannst du mir nichts sagen, oder willst du nicht?«

»Schwer zu sagen.« Er zögerte. »Sobald ich sicher bin, werde ich dich aufklären, okay?«

Nein, nichts war okay. »Um mir das zu sagen, hast du mich herbestellt? Hätten wir das nicht am Telefon klären können?«

Eddy sagte nichts. Aber er machte einen sehr nervösen Eindruck, und ich hatte das Gefühl, dass er mir etwas verschwieg. Vermutlich hatte er etwas herausgefunden, worüber er aber nicht mit mir reden wollte. Genau wie Helen. In meinem Kopf entwickelten sich die übelsten Verschwörungstheorien. Ich hasste diese Gedanken, doch auch die waren Teil meines Lebens. Es war ja schon besser geworden. Mittlerweile gab es vier Menschen in meinem Leben, denen ich nicht mehr misstraute. Zwei davon hatten sich gegen mich verschworen. Ich kniff die Augen zusammen.

»Nick, was ist los mit dir?«, unterbrach Eddy meine Gedanken. »Du wirkst ein wenig beunruhigt.«

Beunruhigt? Wenn der wüsste, dachte ich und sagte: »Kann schon sein.«

»Willst du darüber reden?«

Ich dachte kurz nach und nickte dann. »Ich glaube, ich werde verfolgt.«

»Das glaubst du? Und wie kommst du darauf?«

»Gestern Nachmittag habe ich auf dem Parkplatz des Präsidiums eine Frau kennengelernt. Abends habe ich sie hier getroffen. Wir haben geplaudert, kamen uns näher.« Ich runzelte die Stirn. »Doch dann ist sie ganz schnell verschwunden.«

»Sie hat dir einen Korb gegeben?«, fragte Eddy. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen.

»Ja leider«, erwiderte ich. »Die war so was von scharf.«

»So was von scharf?« Eddy hob eine Augenbraue. »Und sie verfolgt dich also.« Sein Grinsen wurde so breit, ich konnte seine Goldkronen ganz hinten links glitzern sehen.

»Machst du dich über mich lustig? Ich finde das nicht witzig.«

»Ich schon.« Eddy lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Ich finde, du solltest Anzeige erstatten.«

»Wegen was? Weil mich eine Frau verfolgt?«

»Nein, nicht deshalb. Das ist ja nichts Neues.«

»Was soll das nun wieder? Bist du neidisch?« Nun grinste ich.

»Worauf?«, blaffte Eddy. »Auf deine schönen Augen, die jede Frau dahinschmelzen lassen, oder deinen natürlichen Charme? Wie kommst du darauf?« Er schnaubte. »Aber ich bin zumindest verheiratet und habe zwei Söhne.«

»Hey, ich habe auch einen Sohn. Und ich bin nur nicht verheirate, weil ich meine Freiheit schätze, das weißt du ganz genau.«

»Oder weil du manchmal ein Ekel bist. Oder nicht genug von Frauen bekommen kannst. Wie viele hast du diesen Monat denn schon flach gelegt?«

»Du bist neidisch, oder?« Ich nahm einen kräftigen Schluck aus meinem Bierglas.

Eddy runzelte die Stirn. »Neidisch? Ich bin jetzt lieber ruhig.«

»Gute Idee!«

Ich blickte durch den Raum und entdeckte die Fremde. Sie sah mich herausfordernd an. Ein süßes Kribbeln breitete sich in mir aus.

»Da ist sie.«

Eddy drehte sich um und folgte meinem Blick. »Das ist die Frau, die dich verfolgt?«, fragte er.

»Ja, das ist sie.«

»Verdammt«, fluchte Eddy. »Warum werde ich nie von solchen Frauen verfolgt?«

»Tja, vielleicht liegt es an deinem umwerfenden Charme«, sagte ich grinsend und erhob mich. »Bin gleich wieder da.«

Ich ging durch den Raum auf sie zu. Auf dem Stuhl, der ihr am nächsten stand, ließ ich mich nieder. »Du warst ziemlich schnell weg gestern. Verrätst du mir heute deinen Namen?«

Sie lächelte. »Alexandra. Nenn mich Alex.«

Nun ging sie aber forsch zur Sache. Das gefiel mir.

»Alex«, wiederholte ich ihren Namen. »Du bist aber ganz zufällig hier, oder?«

Sie blickte mir tief in die Augen. »Nein, eigentlich nicht. Ich wollte mit dir reden.« Sie besann sich kurz. »Ich glaube, wir kennen uns von früher.«

»Von früher?«

»Ja. Von der Schule, in Freiburg, 1991«, fuhr sie fort.

Von der Schule in Freiburg? 1991? Sollte mich schon wieder meine Vergangenheit einholen? Einen kurzen Moment lang dachte ich darüber nach, die Flucht zu ergreifen. Doch der intensive Blick aus ihren dunklen Augen bannte mich an Ort und Stelle. Also rang ich mich dazu durch, mit ihr zu reden. Vielleicht würden wir uns besser kennenlernen oder so, dachte ich mir.

»Und?«, sagte sie. »Stimmt es, dass du aus Freiburg stammst?«

»Leider kann ich mich nicht daran erinnern, ob ich jemals in Freiburg zur Schule gegangen bin«, klärte ich sie auf.

»Was meinst du damit, du kannst dich nicht daran erinnern?«

»Ich hatte einen Unfall, seitdem leide ich unter einer lang anhaltenden Amnesie. So definiert das zumindest meine Therapeutin.«

»Oh. Das tut mir leid.« Sie legte ihre Hand auf meinen Arm und rückte ihren Stuhl ganz nahe an meinen. Unsere Knie berührten sich. »Deshalb erinnerst du dich nicht an mich?«

»Glaub mir, ich würde mich gerne an dich erinnern.«

Sie war mir so nahe, dass mein Blut in Wallung geriet. »Warum erzählst du mir nicht etwas über dich?«

Sie nickte. »Warum nicht? Mein voller Name ist Alexandra Hertzog, ich bin Journalistin und schreibe gerade an einer Story über seltene Artefakte.«

»Eine Story über Artefakte?«, wiederholte ich.

Ganz beiläufig legte ich meinen Arm über die Rückenlehne ihres Stuhls. Ich ließ sie nicht aus den Augen.

»Das ist es auch. Und über rituelle Opferungen und ihre Bedeutung in der heutigen Zeit«, erklärte sie.

»So etwas interessiert dich?«, fragte ich verwundert.

»Und ob. Ich bin wegen der Kreuze hier. Und wegen der Skelette.« Sie sah mir tief in die Augen.

»Wegen der Skelette?« Meine Haut begann zu kribbeln. Aber nicht nur wegen des Skeletts.

»Ja, das passt zu meiner Story«, erklärte sie.

Sachte legte ich meine Hand auf ihren Rücken, sie schien nichts dagegen zu haben.

»Tatsächlich? Weißt du etwas über diese Knochengerippe?«, fragte ich.

»Nein. Und du?«

»Ich weiß gar nichts darüber.«

Ich hatte jetzt keine Lust mehr, über diese Angelegenheit zu reden. Mir stand der Sinn nach anderem. Meine Hand glitt zärtlich über Alex‘ Rücken. Sie wand sich unter meinen Fingern. Ihr Oberschenkel drückte fest gegen Meinen. Sie schien sich auf meinen Annäherungsversuch einzulassen. Der Blick aus ihren tiefgründigen Augen ließ mein Herz noch schneller schlagen, erregte mich. Ein Gefühl durchströmte meinen Körper, das ich so nicht kannte. Normalerweise trieb mich das Verlangen nach Sex in die Arme der Frauen, nicht so bei ihr, jedenfalls nicht ausschließlich. Ich mochte sie. Nein, es war mehr als das. Sie war gerade dabei, mir komplett den Kopf zu verdrehen.

»Ich sollte jetzt gehen«, murmelte sie.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst. Du willst tatsächlich gehen?«, fragte ich. »Jetzt? Wir könnten …«

»Ich bin keine Frau für eine Nacht!«, unterbrach sie mich.

Deutliche Worte, die wie eine kalte Dusche auf mich niederprasselten.

Sie zog einen kleinen Gegenstand aus ihrer Hosentasche und gab ihn mir in die Hand. »Dieser Schlüssel passt in ein Schließfach am Bahnhof. Vielleicht hilft dir das, was du darin findest, dich zu erinnern. Dann reden wir weiter.« Danach stand sie auf, beugte sich noch einmal zu mir herab und flüsterte in mahnendem Ton: »Pass auf dich auf. Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt.« Zügig verließ sie das Lokal.

Verwirrt von ihren Worten und enttäuscht darüber, dass sie mich hier alleine sitzen gelassen hatte, kehrte ich an meinen Tisch zurück. Den Schlüssel schob ich in die Tasche meiner Jeans.

»Sie hat dir schon wieder einen Korb gegeben«, stellte Eddy fest.

»Ja, leider«, erwiderte ich.

»Und? Was wollte sie?«, fragte er.

»Sie behauptet, ihr Name ist Alexandra Hertzog, und dass sie mich von früher kennt. Aus Freiburg.« Doch ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals in Freiburg gewesen zu sein. »Und jetzt will ich nach Hause.«

***

Während Eddy ein Stück die Straße hinunter musste, wo sein Auto parkte, ging ich in die andere Richtung und zu Fuß nach Hause. Ich dachte über Alex nach. Sie gefiel mir außerordentlich gut. Ich war sehr enttäuscht, dass sie so schnell verschwunden war. Und was sollte das Gerede über rituelle Opferungen und die Kreuze? Sicher wusste sie mehr darüber, als sie mir verraten hatte.

Ich hörte ein Scharren hinter mir. Verfolgte mich jemand? Unwillkürlich sah ich zwei silbergraue Augen im Geiste vor mir. In meinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Mein Brustkorb hob und senkte sich im Takt meines aufgeregten Herzens.

Wieder ein Kratzen! Ich blieb stehen und sah mich um. Ein Scheppern! Mein Puls beschleunigte. Aus der Dunkelheit blickten mich zwei leuchtende Augen an. Ich hörte ein Fauchen und wich zurück.

Die Augen kamen näher, blickten mich an. Ein mit langen Zotteln behaarter Körper folgte und schmiegte sich an meine Wade. Das war nur die Katze meines Nachbarn.

Ich beugte mich zu ihr hinab und kraulte sie am Nacken. Ihr leises Schnurren beruhigte mich etwas.

»Du hast mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt«, murmelte ich.

Sie miaute, rannte davon, und ich machte mich auf den Weg nach Hause.

 

Zehn

Am Straßenrand vor meiner Wohnung parkte ein schwarzer Lieferwagen mit einem riesigen Stern auf dem Kühlergrill. Ich wunderte mich noch über das gelbe Nummernschild mit den schwarzen Ziffern darauf, als ich neben mir eine Bewegung bemerkte.

Jemand sprang auf mich zu. Über mir blitzte die Klinge eines Messers. Schützend hob ich die Arme über meinen Kopf. Die Klinge kam bedrohlich nahe. Ich hielt den Atem an, wich zurück und wurde ausgebremst. Ein kräftiger Arm legte sich von hinten um meinen Hals und hielt mich fest. Vor mir sah ich zwei eisgraue Augen, die mir aus einem maskierten Gesicht entgegenstarrten. Ich spürte die Spitze des Messers, die gegen meine Brust drückte. Mir blieb beinahe das Herz stehen.

»Du hast etwas, das mir gehört!«, sagte eine raue Stimme mit amerikanischem Akzent, der mir sehr bekannt vorkam.

»Was immer es ist, ich habe es nicht.«

Ich bekam kaum mehr Luft. Als der Kerl hinter mir mein Handgelenk packte und auf den Rücken drehte, knackten meine Gelenke bedrohlich. Ich stöhnte vor Schmerzen auf. Mit meiner freien Hand packte ich den Unterarm meines Gegners. Der gab keinen Millimeter nach.

»Tatsächlich?«, fragte mein Gegenüber. »Aber du weißt, wo es ist.«

»Nein«, widersprach ich. »Ich weiß es nicht, wirklich! Ich …«

»Halt die Klappe!«

Ich hörte das Dröhnen eines Motors. Sie zogen mich hinter den Lieferwagen, als ein Auto in die Straße einbog. Die Klinge des Messers schwebte vor meinem Gesicht. Ich rührte mich nicht, atmete nicht, die Angst hatte mich voll im Griff.

Das Auto fuhr vorbei und verschwand um die nächste Ecke.

»Ich gebe dir sechs Tage.« Der Maskierte steckte das Messer in eine Scheide an seinem Gürtel. Er zog ein Etui aus seiner Jacke und klappte es auf. Zum Vorschein kam eine Spritze, gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. »Das wird deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.«

Ich schüttelte heftig den Kopf. Was hatte der Mistkerl vor? Meine Muskeln erwachten zu neuem Leben. Ich bäumte mich auf, trat nach hinten. Keine Chance, der Griff um meinen Hals wurde nur noch enger, schnürte mir die Luft ab.

Der Maskierte gab seinem Gehilfen einen Wink. Der gab meinen Hals frei, packte dafür meinen anderen Arm und drehte auch diesen auf den Rücken.

»Halt still!«, zischte es hinter der Maske.

Die Spritze kam auf mich zu. Ich schloss die Augen, spürte, wie die Nadel in meinen Nacken eindrang und die unbekannte Substanz langsam und brennend in meinen Körper strömte.

»Ich wünsche dir schöne Träume. Und kein Wort zur Polizei! Oder du bist tot.« Er zog die Spritze aus meinem Hals und drehte sich um.

Ich wurde nach vorn gestoßen, verlor das Gleichgewicht, drehte mich noch auf die Seite, konnte mich aber nicht abfangen. Mein Kopf krachte ungebremst auf den Asphalt. Vor meinen Augen tanzten glitzernde Punkte auf und ab, hin und her. Mein Pulsschlag wurde langsamer. Ich fürchtete, mein Herz könnte einfach so stehen bleiben. Kälte breitete sich in mir aus. Ich zitterte, versuchte mich hochzustemmen. Meine Muskeln gehorchten mir nicht mehr. Zwei grelle Lichter kamen auf mich zu. Sie brannten in meinen Augen.

Ich sah noch, wie der schwarze Lieferwagen sich in Bewegung setzte. Ein anderes Auto kam neben mir zum Stehen. Die Fahrertür schwang auf. Jemand kniete sich neben mich und rief meinen Namen. Ich kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit. Zwecklos. Die Kraft verließ mich endgültig. Mein Kampf gegen die Finsternis war verloren, als sie mich erbarmungslos verschlang ...

***

... als ich die Augen öffnete, war es dunkel. Unter meinen Händen fühlte ich rauen Stein. Ich sah nach oben. Dort flackerte eine Fackel. Links und rechts von mir erhoben sich felsige Wände. Zwischen meinen Fingern spürte ich Wasser, das in einem Rinnsal neben mir durch den Gang plätscherte. Erschrocken zog ich die Hand zurück.

Wo zum Teufel war ich? Im Vorhof zur Hölle?

Ich stand auf. Dabei stützte ich mich an der Mauer ab. Sie fühlte sich feucht und kalt an. Stolpernd ging ich durch den Korridor. Noch mehr Fackeln beleuchteten den Weg vor mir. Ich wurde schneller, wollte nur weg von diesem Ort, raus aus der Dunkelheit. Wie aus dem Nichts tauchte eine Treppe vor mir auf, die ich hastig und wieder stolpernd emporstieg. Oben endeten die Stufen in einer Sackgasse. Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg, doch ich fand keinen.

Hinter mir erklangen Schritte, ich wirbelte herum. Aus der Dunkelheit kam ein Schatten auf mich zu, eine Hand streckte sich nach mir aus. Funkelnde Augen starrten mich aus einem konturenlosen Gesicht bösartig an. Ich wankte rückwärts, stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Der Schatten kam näher, immer näher.

Ehe er mich erreichte, durchschnitt ein schrilles Pfeifen die Stille, das sich in ein unregelmäßiges Klopfen verwandelte. Es hörte sich an wie das Schlagen eines – nein, meines – Herzens, das mich zurück ins Leben rief. Erneut wurde es finster, danach erstrahlte ein grelles Licht und …

***

… als ich ins Leben zurückgekehrt die Augen einen Spaltbreit öffnete, nahm der Notarzt mir gerade die Sauerstoffmaske vom Gesicht.

»Oh Mann, Nick«, erklang die brummige Stimme meines einzigen Freundes von der Seite. »Ich dachte schon, du schaffst es nicht.«

»Was ist passiert, wo bin ich?« Meine Worte waren nur ein Wispern.

Eddy beugte sich ein wenig zu mir herab. »Du wurdest überfallen. Wir sind auf dem Weg ins Krankenhaus. Keine Sorge, du wirst schon wieder.«

»Wie du meinst«, murmelte ich und wurde erneut bewusstlos ...

***

… ein Zittern schüttelte meinen Körper, bevor ich mit einem Ruck die Augen aufschlug. Ich lag auf einer Liege, mein Hemd war aufgerissen, meine Arme brannten, mein Kopf dröhnte. Darauf bedacht, keine ruckartige Bewegung zu machen, richtete ich mich ein wenig auf, sah mich um und erkannte die Notaufnahme des Krankenhauses. Ganz in der Nähe unterhielt Eddy sich mit einem Polizisten. Er sah zu mir herüber.

»Nick. Du bist wach«, stellte er fest, als er neben mich trat. »Gott sei Dank ist nichts Schlimmeres passiert.«

»Es war schlimm genug. Du hast leicht reden, dir tut ja auch nichts weh«, knurrte ich. Leidend verzog ich mein Gesicht.

»So habe ich das nicht gemeint«, stellte Eddy klar. »Du wirst wieder, es stehen nur noch ein paar Untersuchungen an. Heute Nacht wirst du hier bleiben müssen.«

»Das glaubst du ja selbst nicht. Mir geht’s bestens, ich will nach Hause. Du weißt genau, wie sehr ich Krankenhäuser hasse.«

»Das ist mir bekannt. Trotzdem wirst du hier bleiben. Notfalls lasse ich dich an dein Bett ketten. Und das ist keine leere Drohung.«

»Na schön, dann habe ich wohl keine Wahl«, gab ich den Widerstand auf. Ich konnte mich ohnehin kaum bewegen. »Wie lange war ich bewusstlos?«

»Drei Stunden. Ein Kollege von der Polizei wird dir ein paar Fragen stellen.« Eddy winkte den uniformierten Polizisten heran.

Kein Wort zur Polizei! Oder du bist tot!, klangen mir die Worte noch in den Ohren. Diese Männer waren zu allem fähig, ich würde ganz sicher meinen Mund halten.

Der Uniformierte zückte seinen Notizblock. »Erzählen Sie mal, was passiert ist. Haben Sie die Angreifer gesehen?«

Zwei silbergraue Augen, eine eisige Stimme, amerikanischer Akzent, ganz bestimmt heißt er Marc, aber der hat braune Augen, vielleicht trug er Kontaktlinsen?, rasten die Gedanken unkontrolliert durch meinen Kopf.

»Ich kann mich nicht erinnern. Einer hat mich niedergeschlagen.« Ich fasste an die Beule über meinem Ohr und zuckte zusammen. »Tut mir leid, ich weiß nichts.«

»Konnten Sie das Kennzeichen des Lieferwagens erkennen?«, fuhr der Beamte ungerührt mit seiner Befragung fort.

»Welcher Lieferwagen?« Ich sah das schwarze Auto gestochen scharf vor meinem geistigen Auge. Ein Mercedes. Der Stern vorne auf dem Kühlergrill war mir sofort aufgefallen. Und der Transporter hatte kein deutsches Kennzeichen gehabt. Eventuell handelte es sich um ein Fahrzeug aus Frankreich. Doch ich verschwieg auch das.

»Sie haben ihn wirklich nicht gesehen?«, fragte der Polizist, der mit einem Mal vor meinen Augen verschwamm. Die ganze Welt schien sich in Luft aufzulösen, alles drehte sich wie wahnsinnig im Kreis. Die Stimmen verklangen im Nichts, und ich fiel zurück in die Dunkelheit …

***

… wo ich plötzlich ausgestreckt auf dem kalten Boden eines finsteren Raumes lag. Durch ein schmales, vergittertes Fenster in der Tür drang nur schwaches Licht herein, wodurch der kleine Raum aber kaum erhellt wurde. Ich rührte mich nicht, als von der Seite etwas Pelziges auf mich zuhuschte, an mir schnupperte, um dann gleich wieder in einer schmalen Spalte in der Wand zu verschwinden. Die Hände unter dem Kopf verschränkt, starrte ich unentwegt an die Decke …

***

… so auch jetzt, als ich meinem Traum entfloh und die Augen aufschlug. Zu meiner Erleichterung war die Decke über mir weiß, die Wände ebenfalls. Durch das Fenster drang Tageslicht in das Krankenzimmer, dennoch fürchtete ich mich davor, immer noch in einem Traum zu stecken. Das alles erinnerte mich viel zu sehr an jenen Tag vor einundzwanzig Jahren.

Ich sah an mir hinab und stellte fest, dass ich außer meinen Boxershorts nichts am Leibe trug. Einige Meter von meinem entfernt, stand ein weiteres Bett, in dem ein alter Mann leise vor sich hin schnarchte.

Es klopfte. Ich starrte alles erwartend auf die sich öffnende Tür und atmete auf, als Eddy durch den Türrahmen trat. In der Hand hielt er eine Sporttasche, die er aufs Ende des Bettes fallen ließ.

»Schön, dass es dir besser geht, mein Freund.« Er blickte auf mich herab und runzelte die Stirn. »Der Arzt meint, du hast nur eine leichte Gehirnerschütterung. Was für ein Glück, dass der Notarzt dich wiederbeleben konnte, nachdem du ganze zwei Minuten lang im Jenseits warst.«

Ich hob die Augenbrauen. »Willst du damit sagen, ich war tot? Schon wieder?«

»Ja, allerdings. Erinnerst du dich mittlerweile an die Täter?«, fragte Eddy. Schweißperlen rannen über seine Stirn, die er hektisch fortwischte.

Kein Wort zur Polizei! Oder du bist tot!

»Nicht wirklich.« Solange ich nicht wusste, in was ich da verstrickt war, würde ich nicht einmal Eddy etwas über die Sache erzählen. Immerhin war mein bester Freund ein Bulle.

»Du verschweigst mir etwas«, stellte Eddy fest.

»Warum sollte ich?«

»Wäre nicht das erste Mal. Ich hab dir frische Sachen zum Anziehen mitgebracht. Deine anderen Klamotten sind bei der Spurensicherung. Allerdings haben die gerade viel zu tun. Hier habe ich deine sämtlichen Schlüssel, Geldbörse, und was ich sonst so in deinen Klamotten gefunden habe.« Eddy legte die Gegenstände in die Schublade des Nachttischs, öffnete die Sporttasche und reichte mir ein T-Shirt, das ich überzog.

»Ich muss mal kurz aufs Klo«, murmelte ich. Das Aufstehen gestaltete sich allerdings schwierig. Immer wieder gaben meine Beine nach. Eddy musste mich die wenigen Meter zum Badezimmer stützen. Auch der Weg zurück glich einem Marathonlauf, und ich war froh, wieder ins Bett liegen zu dürfen.

»Du bist kreidebleich«, stellte Eddy fest. »Liegt wahrscheinlich an dem Narkosemittel, das dir gespritzt wurde.«

»Was haben die mir gespritzt?« Ich zitterte und zog die Bettdecke über meinen Körper. Warm wurde mir allerdings nicht. »Warum warst du eigentlich auf einmal da?«

»Zufall. Ich war schon auf dem Weg nach Hause, aber ich wollte noch dringend mit dir reden. Du bist nicht an dein Handy gegangen, also bin ich zu dir gefahren. Ich schätze, ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen«, erklärte er.

»Worüber wolltest du mit mir reden?«, hakte ich nach. Schon wieder fielen mir die Augen zu.

»Ich wollte doch mit dir über den Jungen reden«, erzählte Eddy.

»Und?«, fragte ich, bemerkte aber schon, wie ich wegdämmerte.

»Ich habe herausgefunden, dass …« Sein Mobiltelefon unterbrach ihn mit einem schrillen Ton mitten im Satz. »Was?«, schrie er ins Telefon. »Ja, ja. Ich bin schon unterwegs.«

Er sagte noch etwas, das ich aber nicht mehr verstehen konnte, dann verklang seine Stimme in dem dunklen Nebel, der mich einhüllte.

***

… erneut wanderte ich durch das steinerne Labyrinth, eine Treppe hinunter und gelangte an eine Tür. Nachdem ich diese geöffnet hatte, schlüpfte ich hindurch und betrat einen weiteren Flur, aus dem mehrere fest verschlossene Türen in finstere Räume führten. Durch ein vergittertes, schmales Fenster spähte ich in eine der Zellen. Im Inneren erkannte ich schemenhaft eine Gestalt. Schritte hallten durch den Flur. Sie kamen auf mich zu. Aus dem Funken Angst, der in mir zu lodern begann, wurde rasch eine Panik, die mich zur Flucht antrieb.

Ich rannte zurück, durch die Tür, die Treppe hinauf und immer weiter. Schließlich erreichte ich vollkommen außer Atem und mit wild hämmerndem Herzen eine Kreuzung und musste erst einmal überlegen, welchen Weg ich gekommen war …

***

… ein Geräusch, das sich anhörte, als würde jemand neben mir ersticken, holte mich zurück in die Gegenwart. Ich drehte den Kopf ein wenig und sah zu dem alten Mann hinüber, der jetzt aufrecht in seinem Bett saß. Seine Augen waren weit geöffnet und erweckten den Anschein, als starrten sie in die Unendlichkeit. Dabei streckte er seine Arme weit nach vorn. Er lachte, zunächst, dann wandelte sich das Geräusch aus seiner Kehle in ein Glucksen, das beängstigend klang.

Ich wollte aufstehen, doch meine Muskeln gehorchten mir nicht. Es fühlte sich an, als wenn ich gar nicht in meinem Körper stecken würde. Als ich die Augen schloss, kehrte ich zurück in das düstere Labyrinth, als ich sie öffnete, erblickte ich wieder den alten Mann, der in sein Kissen zurückfiel. Seine Gesichtszüge erschlafften, aus seinen halb geöffneten Augen wich das letzte bisschen Leben. Noch einmal atmete er geräuschvoll die Luft ein und langsam aus. Danach wurde es still im Zimmer.

Erneut wollte ich aufstehen, dem Alten helfen, schaffte es nicht. Ich wollte nach dem Notrufknopf neben meinem Bett greifen. Auch das gelang mir nicht. Stattdessen zog mich ein Strudel fort, zurück in die dunklen Gänge, aus denen ich keinen Ausweg fand.

 

Elf

Ein dumpfes Grollen und das Prasseln von Regentropfen gegen die Fensterscheibe weckten mich aus dem Schlaf. Noch leicht benommen setzte ich mich auf. Ich blickte zur Seite. Das Bett neben meinem war nicht mehr da. Wo war der alte Mann geblieben? War er tatsächlich gestorben? Ganz sicher war er das. Zumindest bildete ich mir ein, dass der Geruch des Todes noch in der Luft hing.

Ich betrachtete meine zitternden Hände, erhob mich und ging schwankend zur Toilette. Danach blickte ich in den Spiegel. Meine Augen waren blutunterlaufen, mein Gesicht aschfahl und seitlich an meinem Hals hatte sich eine kleine Schwellung gebildet. In der Mitte konnte ich deutlich ein kleines Loch erkennen, das rötlich entzündet aussah. Ein Zittern fuhr durch meinen ganzen Körper, als ich an den Überfall zurückdachte.

Ich öffnete den Wasserhahn am Waschbecken, füllte meine Hand mit Wasser und spritzte es in mein Gesicht. Das half zumindest, meinen Kopf freizubekommen. Als ich das Badezimmer verließ, hatte ich nur noch einen Gedanken. Ich musste hier raus, und zwar so schnell wie möglich.

Also schlüpfte ich in Jeans, Schuhe und Pullover, zog meine Regenjacke darüber und verstaute meine Wertsachen in meinen Jackentaschen. Die Sporttasche hängte ich über meine Schulter. Ich betrat den langen Korridor. Über mir leuchteten Neonlampen. Sie surrten. Aus den anderen Zimmern, deren Türen offen standen, drang Gemurmel in den Flur.

Ich hatte das Gefühl, auf der Flucht zu sein. Ständig sah ich über meine Schulter, da war niemand. Wer sollte mich auch verfolgen? Unbehelligt erreichte ich den Fahrstuhl und stieg ein. Die Türen wollten sich gerade schließen, als sich eine Hand dazwischen schob. Sie öffneten sich wieder, und ein Mann im Arztkittel drängte ins Innere.

»Was für ein Glück«, seufzte er. »Die Aufzüge hier brauchen immer ewig, bis sie wiederkommen.« Der ältere Herr musterte mich genauestens und nickte. »Ich kenne Sie. Mit Ihnen wollte ich reden.«

»Das ist sicher eine Verwechslung«, erwiderte ich, glaubte aber, den Arzt ebenfalls zu kennen.

»Nein, nein«, sagte der Doktor schnell. »Sie sind Nicolas Holsten. Ich kenne Sie von früher. Gerade eben habe ich erfahren, dass sie hier im Krankenhaus sind. Dürfen Sie denn schon nach Hause?«

»Ja«, antwortete ich knapp. Auf meiner Stirn sammelten sich Schweißperlen, die mir über Stirn und Wange kullerten. Ich starrte auf die Anzeige des Lifts. Noch eine Etage, dann wären wir unten.

»Ich kenne Ihre Pflegemutter Helen. Sie ist eine tolle Frau.« Der Arzt rückte die Brille auf seiner Nase zurecht. »Ich bin Doktor Lothar Fisch, erinnern Sie sich wirklich nicht an mich?«

»Schon möglich, aber …« Ein lauter Knall unterbrach mich. Das Licht flackerte, der Lift kam ins Stocken und blieb stecken. Das Licht ging aus, kurz darauf schaltete sich die Notbeleuchtung ein, die Fischs schmales Gesicht blass und seltsam knöchern erscheinen ließ.

Ich starrte ihn an. »Was war das?«

»Stromausfall«, gab der Arzt gelassen zurück. »Das ist ein fürchterliches Gewitter da draußen. Bestimmt hat irgendwo ein Blitz eingeschlagen. Der Strom kommt sicher gleich zurück.« Er schien überhaupt nicht beunruhigt. »So haben wir doch noch Gelegenheit, uns zu unterhalten.«

»Was wollen Sie von mir?« Ich wich zurück und presste meinen Rücken gegen das kühle Blech des Lifts. Diese Aufzüge waren mir ein Gräuel, und noch mehr fürchtete ich sie, wenn ich darin gefangen war.

»Ich habe Ihre Akte gelesen. Sie wurden überfallen? Jemand hat Ihnen ein Narkosemittel gespritzt, deshalb hatten Sie einen Herzstillstand.« Der Arzt durchbohrte mich regelrecht mit seinen Blicken.

»Erzählen Sie mir was Neues«, erwiderte ich.

»Und nicht zum ersten Mal. Haben Sie Ihre Erinnerungen eigentlich wieder gefunden?«, bohrte Fisch weiter in meinen Wunden.

»Was geht Sie das an?«

»Reine Neugier«, antwortete der Arzt. »Und?«

»Nein, ich habe sie nicht wieder gefunden.«

»Hatten Sie seltsame Träume nach Ihrem Erlebnis gestern?«

Der Arzt wollte mich offenbar aushorchen, über meine Erfahrung mit dem Tod. Nun, ich hatte nichts zu verheimlichen. »Was wollen Sie wissen, Dr. Fisch? Ob ich ein Licht gesehen habe, meine Eltern, die mich endlich freudig in die Arme schließen, oder einen Engel mit weißen Flügeln? Ich muss sie leider enttäuschen. Alles, was ich gesehen habe, war ein dunkler Korridor, aus dem es kein Entrinnen gab.«

Endlich ging das Licht wieder an, der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, gleich darauf öffneten sich die Türen. Erleichtert trat ich in die hell erleuchtete Empfangshalle des Hospitals und war schon beinahe am Ausgang, als eine Hand meinen Arm packte und festhielt.

Dieser Arzt ließ nicht locker. »Hören Sie, junger Mann. Ich wollte Sie nicht belästigen, aber ich würde Ihnen gerne helfen.«

»Helfen! Tatsächlich?«, brummte ich. »Wozu? Ich brauche keine Hilfe.«

»Hier ist meine Karte«, sagte er. »Wenn Sie es sich anders überlegen, rufen Sie mich an. Jederzeit, Tag und Nacht.« Er drückte mir die Karte in die Hand und verschwand kurz darauf wieder im Fahrstuhl.

Dr. Lothar Fisch, Psychologe, Spezialgebiete: Therapie bei Traumata; Hypnose, stand auf der Visitenkarte. Außerdem eine Telefonnummer und eine E-Mail-Adresse.

Genervt ließ ich die Karte in meiner Jackentasche verschwinden und trat durch die Tür nach draußen, wo ich mich in einem tosenden Gewitter wiederfand. Der Wind peitschte mir dicke Regentropfen ins Gesicht. Ich rannte auf die Haltestelle der Stadtbahn zu und drängte mich zu den vielen anderen Menschen unter das schützende Dach.

Wenige Minuten später kam der Zug, und ich stieg in den Waggon. Natürlich gab es keine Sitzgelegenheit mehr, also lehnte ich mich gegen eine der Trennwände vor den Türen. Kaum hatte der Zug sich in Bewegung gesetzt, wurde mir schwindlig, grelle Punkte tanzten vor meinen Augen auf und ab. Die Stimmen um mich herum entfernten sich von mir, bis ich sie kaum noch vernahm. Unter mir tat sich ein schwarzes Loch auf. Ich klammerte mich an den Griff neben der Tür und hatte trotzdem das Gefühl zu fallen.

Das ruckartige Bremsen der Stadtbahn verhalf mir zurück an die Oberfläche. Das Loch unter mir verschwand. Die Türen der U-Bahn wurden geöffnet, eine Menschenwelle setzte sich in Bewegung und spülte mich nach draußen. Ich verharrte auf dem Bahnsteig, um erst einmal zu mir zu kommen. Zumindest das Gewitter hatte sich verzogen und der Himmel wurde heller. Ich machte mich auf den Weg nach Hause.

Als ich meine Galerie betrat, fühlte ich mich unbehaglich. Die aus Ton geformten Skulpturen schienen verändert, wirkten beinahe lebendig auf mich. Die gemalten Gesichter auf den Leinwänden starrten mich fragend an. Ich starrte kurz zurück, wandte den Blick ab und ging die Treppe hinauf ins Wohnzimmer. Mir knurrte der Magen, mein Mund war ausgetrocknet. Ich ging in die Küche und fand im Kühlschrank eine Flasche Mineralwasser, die ich in einem Zug leer trank. Ich riss die Großpackung Würstchen auf und machte mich gierig über sie her, als hätte ich seit Tagen nichts gegessen.

Später legte ich mich im Wohnzimmer auf mein Sofa, faltete die Hände auf meinem Bauch und beobachtete, wie eine Spinne die Wand emporkletterte und auf ihr Netz zusteuerte. Dort hatte sich eine kleine Fliege verfangen, die wie verrückt strampelte, um wieder freizukommen. Doch die Spinne war schneller und spann ihre Fäden um ihr Opfer, wickelte es solange ein, bis es nicht mehr zappeln konnte. Danach gab sie ihm den Rest und schaute zu, wie es starb.

Zweimal hatte ich dem Tod ins Auge gesehen und war ihm beide Male von der Schippe gesprungen. Hatte ich einen Schutzengel oder sieben Leben wie eine Katze? Die Träume machten mir Angst. Wo befanden sich diese düsteren Tunnel? Waren es nur Hirngespinste oder existierte dieses Labyrinth tatsächlich? Ich wollte es herausfinden, musste die Geheimnisse endlich lüften, die aus den Tiefen meiner Seele ans Licht drängten.

 

Zwölf

Eddy blickte bestürzt auf den Telefonhörer in seiner Hand, nachdem er das Gespräch mit einem Kollegen von der Fahndung beendet hatte. Es war einfach unglaublich, was in der sonst so ruhigen Landeshauptstadt vor sich ging. Die beiden Skelette. Der vermisste Kollege Bachmann. Der Überfall auf Nick. Es ging drunter und drüber.

Und jetzt wurde auch noch ein zehnjähriges Mädchen vermisst. Ihre Eltern hatten die Polizei informiert, da ihre Tochter, Stefanie Huber, nicht von der Schule nach Hause gekommen war.

»Das ist doch nicht zu fassen«, murmelte Eddy.

Ihm gegenüber saß sein Kollege. Bauer nickte. »Da hast du recht. Und es gibt noch mehr Neuigkeiten.«

»Und was?«

»Ich habe mit Kommissar Greiner in Freiburg telefoniert. Es war ein interessantes Gespräch«, erklärte Bauer. Er strich mit der Hand über seine kurz geschorenen Haare.

»Haben die auch noch mehr Knochen gefunden?«, hakte Eddy nach.

»Nein, das nicht, dafür ist bei denen auch ein zehnjähriges Mädchen verschwunden. Ihr Name ist Vanessa Kowalski. Und sie haben eine Leiche gefunden.«

»Eine Leiche?«, brummte Eddy. »Hoffentlich kein Mädchen.«

»Nein, kein Mädchen. Aber den Chefarzt einer Privatklinik, die nur sehr gut zahlende psychisch kranke Patienten aufnimmt. Jedenfalls wurde er vor zwei Tagen gefunden, war aber schon länger tot, mindestens drei Wochen«, klärte Bauer ihn auf.

»Und was hat das mit unserem Fall zu tun?«, fragte Eddy. Er nahm seine Kaffeetasse in die Hand, blickte hinein und wunderte sich, warum sie schon wieder leer war.

»Der Mann wurde wohl mit Ketamin betäubt. In seinem Nacken haben die eine Spritze gefunden, in der noch Reste des Mittels waren. Und er wurde mit einem Messer getötet.« Bauer legte eine Akte auf den Tisch.

Eddy nahm sie an sich und las den Namen: »Nick Holsten? Was soll das jetzt? Was hat der mit der Sache zu tun?«

»Lies!« Bauer schlug die Beine übereinander und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

Neugierig öffnete Eddy die Akte und las zuerst den Bericht des Polizisten. Dort stand allerdings nichts, worüber er nicht schon Bescheid wusste. Also nahm er sich den Bericht des Krankenhauses vor. Abgesehen von einer leichten Gehirnerschütterung, hatte Nick nur eine große Beule am Kopf und leichte Zerrungen an Schulter und Ellbogen davongetragen. Außerdem hatte das Labor des Krankenhauses neben Alkohol eine weitere Substanz analysiert, die sich in seinem Blut befunden hatte.

Eddy sah auf. »Nick hatte Ketamin im Blut, wie der ermordete Arzt? Hast du deswegen mit Greiner telefoniert?«

»Nein, natürlich nicht. Er hat angerufen wegen der Skelette, da haben wir geplaudert. Er erzählte von dem Mord und dem Ketamin, da ist mir Holstens Akte eingefallen, die ich gelesen hatte.«

»Du hast seine Akte gelesen? Warum eigentlich?«

»Ich war neugierig. Er ist ein ehemaliger Kollege von uns. Und er hat das erste Skelett gefunden. Findest du das nicht merkwürdig?«

»Nein, finde ich nicht«, stellte Eddy klar. »Nick war dort, das hat er mir bestätigt. Er wurde niedergeschlagen, das ist kein Geheimnis.«

»Von mir aus«, entgegnete Bauer und erzählte weiter. »Greiner hat mir berichtet, dass der Arzt ein rotes Pentagramm auf die Stirn gemalt hatte, genau wie die Skelette. Und der Mann hatte kein Herz mehr.«

»Kein Herz mehr?«, echote Eddy.

»Genau. Zwischen den Fällen gibt es eine Verbindung, das glaubt auch Greiner.«

»Dann hängt der Überfall auf Nick also auch mit dem Mord in Freiburg und den Skeletten zusammen«, setzte Eddy die Gedankengänge seines Kollegen fort. »Ob ihn jemand töten wollte?«

»Wir sollten das in Betracht ziehen.« Tom Bauer hob die Augenbrauen und sah Eddy eindringlich an. »Und noch etwas. Bachmanns Auto wurde aus dem Neckar gefischt, irgendwo in der Nähe des Hafens.«

»Saß er drin?« Eddy hatte das Gefühl, als ob sein Magen einen Purzelbaum schlug.

»Nein, Gott sei Dank nicht. Aber ich finde, das sieht nicht gut aus.« Bauer seufzte.

Eddys Telefon klingelte. Eine Assistentin aus der Gerichtsmedizin meldete sich. »Hallo, Herr Krieger, sind Sie für den Skelettfall zuständig?«

»Ja. Bin ich.«

»Dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir ein Beweisstück verloren haben.«

»Wie bitte?«, brüllte Eddy. »Was haben Sie denn verloren?«

»Sie brauchen nicht zu schreien, ich höre sie gut«, wies sie ihn zurecht. »Das Schlangenkreuz ist weg. Haben Sie es ausgeliehen und vergessen zurückzubringen?«

Das war ja allerhand. Zuletzt hatte er das Ding auf dem Brustkorb des Skeletts gesehen, im Pausenhof der Grundschule. »Wollen Sie mir etwas unterstellen?«

»Nein, war nur eine Frage. Dann werden wir uns mal auf die Suche machen.«

»Ich hab die Schnauze voll«, knurrte Eddy, nachdem er aufgelegt hatte. »Nun ist auch noch das Kreuz verschwunden. Mannomann.«

»Vielleicht taucht es ja wieder auf«, meinte Bauer. »Ich mach mich dann mal wieder an die Arbeit.«

»Gute Idee. Das werde ich auch tun.« Eddy sah zu, wie sein Kollege das Büro verließ, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grübelte.

Die Fäden seines Falles spannen sich zwischen Stuttgart und Freiburg. Dort war ein Skelett gefunden worden, in Stuttgart waren es zwei. In Freiburg hatte es einen Mord gegeben, hier war ein Kollege verschwunden. Allmählich gab Eddy die Hoffnung auf, den Fotografen lebend wiederzusehen.

Er betrachtete Nicks Akte, danach seinen Notizblock. Dort stand ein Name: Benjamin. Auch was er über diesen Jungen herausgefunden hatte, stimmte ihn nachdenklich. Sein Computer behauptete, dass der Name des Jungen nicht Benjamin, sondern Nicolas Rabenstein lautete. Der Vorname passte also zu Nick. Allerdings war dieser Nicolas Rabenstein bereits verstorben. Nur der Zeitpunkt seines Todes war Eddy noch nicht bekannt.

All diese Umstände mussten zusammenhängen, aber wie? Vielleicht würde es ihm helfen, wenn er etwas über die Frau in Erfahrung bringen könnte, die mit Nick geredet hatte. Sie stammte angeblich aus Freiburg. Auch das war sicher kein Zufall. Wie war doch gleich ihr Name? Andrea? Nein. Sandra? Nein, das passte auch nicht. Und dann fiel es Eddy wie Schuppen von den Augen, Alexandra. Ihr Nachname war Hertzog.

Im Computer fand er ihren Lebenslauf. Vor zweiunddreißig Jahren war sie in Freiburg geboren worden. Nach einer gewöhnlichen Schullaufbahn mit Abitur hatte sie Germanistik studiert und mit besten Noten abgeschlossen. Seitdem schrieb sie für eine Freiburger Tageszeitung und veröffentlichte noch weitere Artikel in seriösen Zeitschriften.

Außerdem gab es eine Akte im Archiv der Freiburger Kripo. Worum es dabei ging, konnte Eddy jedoch nicht herausfinden.

»Gehen Sie Spuren nach?«, erklang die ruhige, aber schroffe Stimme seines Vorgesetzten.

Eddy sah auf. »Selbstverständlich.«

»Ich erwarte Sie in zehn Minuten in meinem Büro.« Gutbrodt machte auf dem Absatz kehrt und entschwand durch den Flur.

Zehn Minuten später saßen Eddy und Tom Bauer im Büro ihres Chefs. Wie sie erfuhren, lief die Suche nach Bachmann auf Hochtouren, noch immer war er wie vom Erdboden verschluckt. Genau wie das Schlangenkreuz, das aus der Gerichtsmedizin verschwunden war. Auch davon hatte Gutbrodt schon erfahren und war ganz und gar nicht glücklich darüber.

Er drängte auf Ergebnisse, die Eddys Team nicht liefern konnte. Die Gerichtsmedizin arbeitete träge an diesem Fall. Alle Spuren, die den Skelett-Fall betrafen, verliefen sich immer wieder im Sand. Unglücklicherweise hatte die Presse gleich zu Anfang Wind von der Sache bekommen und wartete ebenfalls auf Erklärungen. Doch solange es keinerlei Hinweise auf die Herkunft der Knochen gab, konnte die Polizei auch keine sinnvolle Presseerklärung abgeben. Folglich wurde von allen Seiten spekuliert.

Auf der Titelseite eines Revolverblatts stand die Schlagzeile:

Skelette steigen aus ihrer Gruft – wurden die Kinder von einem wahnsinnigen Serienkiller umgebracht oder vom Satan höchstpersönlich? Wird er wieder zuschlagen? Schützt eure Kinder!

Der Artikel darunter bestand aus wilden Vermutungen, woher die Knochen wohl stammten. Das Pentagramm auf der Stirn der Opfer war detailliert beschrieben. Eddy las kurz darüber und warf die Zeitung dann verächtlich zurück auf den Tisch. »Die haben doch keine Ahnung.«

»In Freiburg ist ein Mord passiert«, übernahm Bauer das Wort.

Er legte einen Aktenordner auf den Tisch, in dem er sämtliche Fakten zusammengetragen hatte. »Es gibt sicher eine Verbindung zwischen dem ermordeten Arzt und den Skeletten. Es ist eindeutig das gleiche Pentagramm. Auch mit Blut und Farbe aufgemalt. Und es enthält Ziffern.«

Genau wie Eddy sah Gutbrodt sich die Fotos an. Sie zeigten einen Mann, dessen Körper mit blutigen Messerstichen und seltsamen Symbolen übersät war. Angewidert wandte Eddy den Blick ab.

»Ich vermute, Nick Holsten wurde von denselben Männern überfallen. In seinem Blut wurde Ketamin gefunden und bei dem ermordeten Arzt auch«, erklärte Tom. »Das Labor hat Hautschuppen und Wimpern auf Holstens Kleidung gefunden. Doch es wird noch Tage dauern, bis die Analysen abgeschlossen sind. So viel Zeit haben wir nicht. Vielleicht kann Holsten uns doch etwas über die Täter verraten.«

»Wir wissen nicht sicher, ob die Fälle zusammenhängen, es ist nur ein vager Verdacht«, gab Eddy zu bedenken. »Nick kann sich nicht an Details erinnern.«

»Helfen Sie seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Reden Sie mit ihm, Herr Krieger. Sie sind doch befreundet? Vielleicht bekommen Sie etwas aus ihm heraus«, sagte Gutbrodt.

»Ich werde es versuchen«, erwiderte Eddy.

Nachdem er an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war, wählte er die Telefonnummer des Krankenhauses.

»Was soll das heißen, er ist verschwunden?«, fragte er, nachdem er darum gebeten hatte, mit Nick verbunden zu werden.

»So wie ich es gesagt habe«, sagte die Krankenschwester. »Herr Holsten hat das Krankenhaus verlassen, ohne sich abzumelden.«

 

Dreizehn

Das Hotelzimmer war nicht das, was Alexandra Hertzog sonst so gewohnt war, doch besser, als gar keine Bleibe. Die blassgelben Wände waren speckig, der Parkettboden abgewetzt. An einer Wand stand ein Bett, zumindest war es mit frischer Bettwäsche bezogen. Gegenüber unter dem Fenster befand sich ein mickriger Tisch.

Der Stuhl davor ächzte altersschwach, als Alex unruhig darauf herumrutschte. Seit Minuten starrte sie auf den Bildschirm ihres Smartphones und grübelte.

Vergangenen Mittwoch war sie spontan von Freiburg nach Stuttgart gefahren, sofort, nachdem die Nachricht des Skelettfundes sie erreicht hatte. Die Meldung hatte sich in der Presse verbreitet wie ein Buschbrand und deswegen auch rasch zu ihr in die Redaktion gefunden. Sie hatte ihre Sachen gepackt, sich auf den Weg in die Landeshauptstadt gemacht und im erstbesten Hotel eingecheckt.

Danach fuhr sie zum Polizeipräsidium, um mit dem zuständigen Kommissar zu sprechen. Und das hätte sie auch getan, wäre ihr nicht dieser Mann auf dem Parkplatz begegnet.

Alex strich sachte mit ihrem Finger über das Display des Handys, von dem ihr das Gesicht jenes Menschen entgegenlachte, den sie ihr halbes Leben lang gesucht hatte. Und wie so oft, wenn man etwas Verlorenes sucht, die Hoffnung bereits aufgegeben hat, es jemals wieder zu finden, taucht es auf einmal wieder auf. So wie er. Ausgerechnet auf dem Parkplatz der Polizei in Stuttgart hatte er plötzlich vor ihr gestanden. Seine Augen hatten ihn verraten, diese so wunderbar hellblau strahlenden Augen, die sie schon damals verzaubert hatten, als sie noch ein unschuldiges Kind gewesen war.

Betrübt schaltete sie das Handy aus. Es war nicht geplant gewesen, ihn zu verfolgen. Eine völlig neue, unbekannte Seite an ihr war zum Vorschein gekommen, die sie dazu zwang, diesem Mann seit zwei Tagen auf Schritt und Tritt zu folgen. Vieles hatte sie über ihn herausgefunden.

Sein Name war Nick Holsten, er arbeitete als Fotograf und hatte ein eigenes Atelier. Selbst wo er wohnte, war kein Geheimnis mehr, genauso wenig wie seine Handynummer. Zunächst hatte sie sich gescheut, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Zuerst hatte sie herausfinden wollen, was für ein Mensch dieser Nick Holsten war. Und eines war ihr gleich aufgefallen. Er übte eine extreme Anziehungskraft auf Frauen aus, und sie vermutete, dass er das schamlos ausnutzte. Sie kannte solche Männer. So einen Typen hatte sie vor einem Jahr in den Wind geschossen, nachdem der sie mit ihrer besten Freundin betrogen und noch nicht einmal ein Geheimnis daraus gemacht hatte. Sei’s drum, es war vorbei, sie hatte die Nase gestrichen voll von Männern.

Dennoch, dieser Nick Holsten hatte es ihr angetan. Seine Ausstrahlung und sein Auftreten machten es ihr nicht leicht, auf Abstand zu bleiben. Allein der Gedanke an ihn ließ Schmetterlinge durch ihren Bauch fliegen wie noch nie. Gestern Abend hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich auf ihn einzulassen. Die Sehnsucht nach Nähe und Zuneigung verzehrte sie in mancher einsamer Nacht. Und allein die Berührung seiner Hand auf ihrem Rücken hatte ein lange vermisstes und auch heißes Kribbeln in ihr ausgelöst. Viel hatte nicht gefehlt, und sie hätte ihn in ihr Hotelzimmer eingeladen. Letztendlich hatte ihre Vernunft gesiegt.

Und jetzt wollte sie am liebsten nur noch nach Hause fahren, die beiden Skelette und die Schlangenkreuze vergessen. Viel zu sehr erinnerten sie diese Dinge an jenen Tag, der ihr ganzes Leben verändert hatte. Sie wollte flüchten vor ihrer Vergangenheit, die ihr an den Fersen heftete.

Doch dummerweise hatte sie Nick Holsten den Schlüssel zu diesem Schließfach anvertraut, und ohne den Inhalt konnte und wollte sie nicht von dannen ziehen. Den halben Tag hatte sie im Bahnhofsgebäude auf Nick gewartet, hatte sich von irgendwelchen Idioten belästigen lassen, aber er war nicht aufgetaucht. An sein Handy ging er auch nicht. Sie war davon ausgegangen, dass er etwas über seine Vergangenheit erfahren wollte, wo er doch angeblich gar nichts mehr von seiner Kindheit und diesem verfluchten Tag im Oktober 1991 wusste. Oder täuschte sie sich doch, und er war gar nicht derjenige, für den sie ihn hielt?

Alex stand auf und ging grübelnd im Zimmer auf und ab. Dann nahm sie ihr Handy und wählte eine Nummer.

***

Bon Jovis Runaway, der Klingelton meines Handys, weckte mich aus einem oberflächlichen Schlaf. Abgesehen von dem hell leuchtenden Displays des Mobiltelefons, beherrschte eine bedrückende Dunkelheit mein Wohnzimmer. Ich schaltete erst einmal die Stehlampe neben mir ein und hob anschließend das Telefon ans Ohr.

»Holsten«, meldete ich mich mit belegter Stimme. Mein Mund war so ausgetrocknet, dass meine Zunge beinahe am Gaumen kleben blieb.

»Hi, ich bin‘s«, hörte ich eine wohlklingende Frauenstimme. »Wir müssen uns unbedingt treffen.«

Ich war sofort hellwach. »Alex?«

»Ja, hier ist Alex«, entgegnete sie. »Seit heute Vormittag versuche ich, dich zu erreichen.«

»Es gab einen kleinen Zwischenfall.«

Es folgte eine kurze Pause, ehe sie fragte: »Ist dir etwas passiert?«

Ich wurde beinahe eingeschläfert, dachte ich und brummte: »Ich wurde überfallen.«

»Hatte ich nicht gesagt, du sollst auf dich aufpassen? Alles in Ordnung?«

»Ja, es geht mir bestens«, sagte ich. Unbewusst fuhr ich mit dem Zeigefinger über die Schwellung an meinem Hals, die meine Berührung mit einem heftigen Brennen quittierte.

»Dann bin ich ja beruhigt. Deshalb hast du noch nicht in das Schließfach gesehen?«

»Ja. Genau.« Allerdings hatte ich auch nicht mehr daran gedacht.

»Ich warte am Hauptbahnhof, in einer Stunde. Und bring den Schlüssel mit, ich will ihn zurückhaben.« Die Verbindung wurde unterbrochen.

Verwirrt starrte ich auf das Telefon in meiner Hand. Zuerst gab sie mir diesen Schlüssel und nun wollte sie ihn wieder haben? Warum wussten die Frauen eigentlich nie, was sie wollten? Aber gut, sie gefiel mir, wir waren uns schon ein Stück näher gekommen. Klar wollte ich sie treffen, nichts lieber als das.

***

Wesentlich später als geplant erreichte ich den Bahnhof. Zuerst hatte ich noch eine Dusche genommen und mein Gesicht von den lästigen Bartstoppeln befreit. Dann wollte mein Wagen nicht sofort anspringen. Letztlich war ich ewig um den Block gekreist, bis ich endlich einen Parkplatz in einem Parkhaus gefunden hatte.

Nun bahnte ich mir den Weg zwischen den Menschen hindurch, die zu den S-Bahnen und Zügen strömten. Ein rasches Vorankommen war kaum möglich. Trotzdem stand ich gleich darauf inmitten des alten Bahnhofsgebäudes, dessen Tage wegen der Großbaustelle Stuttgart-21 bereits gezählt waren.

Ich sah mich um, betrachtete die Läden und Imbissstände, überlegte gerade, ob ich mir einen Kaffee kaufen sollte, als eine Hand meine Schulter berührte. Ich fuhr herum und blickte in zwei zornig funkelnde, braune Augen.

»Ich dachte schon, du würdest nicht kommen«, sagte Alex aufgebracht.

Ich zuckte die Achseln. »Hier bin ich.«

»Hast du den Schlüssel dabei?«

»Na klar.« Ich zog ihn aus der Hosentasche.

»Danke.« Sie griff nach dem Schlüssel.

Ich packte ihr Handgelenk und hielt es fest. »Ich muss zuerst wissen, was das alles zu bedeuten hat. Sonst hätte ich den Abend lieber zu Hause auf dem Sofa verbracht. Was ist in dem Schließfach?«

Sie versuchte, sich aus meinem Griff zu winden. »Lass mich los, du tust mir weh.« Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte.

Einige Passanten schauten schon neugierig zu uns herüber. Ich löste meinen Griff. Alex wich einen Schritt zurück.

»Gib mir den Schlüssel, bitte«, sagte sie.

»Nein! Du hast ihn mir gegeben, jetzt will ich wissen, warum.«

»Kann ich dir denn überhaupt vertrauen?«, fragte sie.

Ich runzelte die Stirn. »Machst du Witze? Du behauptest, du kennst mich von früher und gibst mir diesen Schlüssel, damit ich etwas über mich herausfinde. Jetzt willst du ihn zurückhaben. Dann verschwindest du wieder? Einfach so?«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Ihre Stimme zitterte.

»Zeig mir, was in diesem Schließfach ist.«

»Na schön. Gib mir den Schlüssel«, seufzte sie.

Ich reichte in ihr. Sie schob ihn in ihre Hosentasche, nahm meine Hand und zog mich hinter sich her. Als wir die große Schalterhalle betraten und auf die Schließfächer zugingen, blieb Alex plötzlich wie angewurzelt stehen.

»Oh, Mist«, sagte sie.

»Was ist los?« Dann sah auch ich die beiden Männer in den schwarzen Kapuzenjacken. Mir wurde mulmig.

»Nichts wie weg«, sagte Alex.

»Hast du mit denen auch schon Bekanntschaft gemacht?«, fragte ich sie überrascht.

»Nicht persönlich. Aber ich habe sie schon mal gesehen.«

Und sie hatten uns gesehen, da sie jetzt schnell auf uns zukamen.

Wir rannten los, durch das alte Bahnhofsgebäude und die Treppe hinunter zur U-Bahn. Unsere Verfolger blieben uns dicht auf den Fersen. Und mir ging allmählich die Puste aus. Ich fiel immer weiter hinter Alex zurück. Sie jagte bereits die Stufen auf der anderen Seite der Haltestelle hinauf und erreichte schon den oberen Treppenabsatz, während ich noch mit der unteren Hälfte der Treppe kämpfte.

»Pass auf, hinter dir«, rief sie.

Ich blickte über meine Schulter. Einer der Männer wollte mich packen. Ich stolperte über eine Stufe und fiel nach vorne. Geistesgegenwärtig drehte ich mich auf den Rücken, trat mit dem Fuß nach oben, in das Gesicht des Mannes. Er geriet ins Straucheln und stürzte rückwärts die Treppe hinunter. Dort blieb er mit blutender Nase reglos liegen. Sein Kumpan rannte an ihm vorbei, auf mich zu.

Ich quälte mich auf die Füße, hastete die Stufen nach oben und erreichte Alex. Wir flüchteten weiter, eine Rolltreppe hinunter. In der unterirdischen Haltestelle stand eine abfahrbereite Stadtbahn.

»Bitte zurückbleiben!«, dröhnte die Durchsage blechern und abgehackt durch den hohen Raum. Gleichzeitig sprangen Alex und ich in den Waggon. Die Türen schlossen sich hinter uns, der Zug setzte sich in Bewegung.

Ich ließ mich neben Alex auf eine freie Bank fallen und rang nach Atem. Über mein Gesicht floss Schweiß, den ich mit dem Handrücken fortwischte. Dabei rutschte der Ärmel meiner Jacke ein Stück nach oben und erlaubte mir einen Blick auf die längst verblasste Narbe oberhalb meines Handgelenks. Ich spürte, wie mir schwindlig wurde. Tausend helle Sterne tanzten vor meinen Augen auf und ab, hin und her.

»Wir sollten an der nächsten Haltestelle aussteigen«, hörte ich Alex sagen. Ich fühlte ihre Hand auf meinem Arm. »Nick? Ist alles in Ordnung?«

Ihre Stimme verklang an der Oberfläche, als ich innerhalb weniger Sekunden in den dunklen Abgrund fiel …

***

…. wo war ich nun wieder gelandet? Jedenfalls nicht in dem dunklen Korridor. Stattdessen saß ich im Schneidersitz auf einem Holzboden und blickte in einen Spiegel. Ich sah mich selbst als kleinen Jungen mit braunem Haarschopf und blassem Gesicht. Mein Blick war traurig, meine Augen gerötet. Dicke Tränen kullerten über meine Wangen. Sie glänzten im Licht der Sonne, die ihre Strahlen durch mehrere schmale Luken in den Dachboden schickte.

In meiner Hand hielt ich ein aufgeklapptes Taschenmesser, das ich unentwegt auf und ab führte, als ob ich gegen einen unsichtbaren Feind kämpfen würde.

Eine Stimme drang von unten zu mir herauf: »Schatz, wo bist du?«

Ich lauschte, antwortete aber nicht.

»Dein Vater erwartet, dass du mit ihm ausgehst.« Es war eine weibliche, sanfte Stimme, die nun aber energischer wurde. »Komm jetzt. Du weißt doch, dass er wütend wird, wenn er warten muss.«

Ich reagierte nicht auf die Rufe. Stattdessen legte ich die scharfe Klinge auf meinen Unterarm und drückte sie fest in meine Haut. Ruckartig zog ich am Schaft des Messers. Die Haut klaffte auseinander, Blut floss aus der Wunde und tropfte neben mir auf den Boden. Rasch sammelte es sich zu einer Pfütze. Ich begann zu schreien, als der Schmerz brennend in mein Bewusstsein drang und der Schreck durch meine Glieder brauste. Das Messer fiel polternd zu Boden. Ich hörte das Knarren der Holztreppe, eilige Schritte, die lauter wurden. Die Tür öffnete sich, ich sah eine hochgewachsene Gestalt auf mich zukommen, ehe ich wieder in der Dunkelheit versank …

***

... jemand rüttelte und zerrte an meinen Schultern. Ich öffnete langsam die Augen und blickte in das Gesicht eines Engels, das umrahmt von hellbraunen Locken direkt über mir schwebte.

»Komm zu dir!«, hörte ich Alex‘ Stimme.

Tief sog ich die stickige Luft des Waggons in meine Lungen und hustete den Mief wieder aus. Ich blickte auf meinen Unterarm. Dort war die verblasste Narbe, kein Blut, keine klaffende Wunde. Dafür pochte mein Kopf so heftig, dass ich fürchtete, er könnte gleich explodieren. Mehrere Leute in der Bahn hatten die Köpfe hochgereckt und sahen zu mir herüber.

»Was gibt es hier zu glotzen?«, rief Alex ihnen zu. Dann sah sie mich an. Sie wirkte sehr besorgt. »Hast du öfter solche Aussetzer?«

»Seit dem Überfall«, klärte ich sie auf. »Ich bin noch nicht so richtig fit.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen. Du warst bestimmt zwei Minuten weggetreten.«

Die Stadtbahn verlangsamte die Fahrt.

»Kannst du aufstehen?«, fragte Alex.

»Ja. Sicher.« Ich erhob mich und folgte ihr auf wackeligen Beinen. Kaum hatte der Zug gestoppt und die Türen geöffnet, verließen wir den Waggon, gingen die Haltestelle entlang und mehrere Stufen hinunter. Alex überquerte die Straße. Ich blieb am Straßenrand stehen und sah mich um.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783847625896
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (August)
Schlagworte
Mord Geheimnis Familiendrama geheimnisvoll Thriller Killer Messer Amnesie Psychothriller Krimi Ermittler

Autor

  • B. M. Ackermann (Autor:in)

B. M. Ackermann lebt mit Familie und zwei Schäferhunden in der Nähe von Stuttgart. Bereits im Teenageralter begann der Autor sich Geschichten auszudenken und auf Papier zu bringen. Doch erst 2013 wurde es ernst, und der erste Thriller "Der vergessene Tod" wurde veröffentlicht. Im Januar 2015 folgte der zweite Thriller "Todesrauschen". Im Januar 2016 erschien "Die letzte Prüfung".
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Titel: Der vergessene Tod