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Todesrauschen

Thriller

von B. M. Ackermann (Autor:in)
370 Seiten

Zusammenfassung

»Ich weiß jetzt, was damals passiert ist. Bitte ruf mich an, bevor es zu spät ist!«, sind die letzten Worte, die Edward MacCarty an seinen Sohn Matt richtet. Danach bringt er sich um ... Doch Matt glaubt nicht an einen Selbstmord, denn sein Vater war etwas auf der Spur. Etwas tödlichem, etwas geheimnisvollem, etwas, das ihn womöglich das Leben gekostet hat. Aber was ist damals passiert? Hat es mit den blutigen Bildern zu tun, mit dem Mord, an den Matt sich zwar erinnert, den er sich selbst gegenüber jedoch leugnet und immer wieder verdrängt? Und was ist mit seinem Freund Paul passiert? Matt muss die Geheimnisse lüften und folgt den Spuren seines Vaters. Doch er hat nicht viel Zeit, denn der unbekannte Mörder könnte noch immer auf der Suche sein, auf der Suche nach neuen Opfern in den Wäldern über der amerikanischen Kleinstadt Coldmont.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Titel

 

B. M. Ackermann

 

 

 

 

Todesrauschen

 

 

 

 

 

 

Thriller

 

Hinweis

Handlung und Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt. Manche Städte und Orte in diesem Buch existieren tatsächlich, aber die Kleinstadt Coldmont ist der Fantasie des Autors entsprungen und sollte auf keiner Landkarte zu finden sein. Aber wer weiß ...

 

EINS

 

Ich stand an der Kante eines Daches und starrte in die Tiefe. Vierzehn Stockwerke unter mir blinkten blaue und rote Lichter wild durcheinander. Die hell erleuchtete Skyline von Pittsburgh ragte steil in den dunkelblauen Himmel, und zwischen den Wolkenkratzern schwebte der Vollmond, der an diesem Abend aussah wie ein Kürbiskopf an Halloween. Sein Grinsen entblößte schiefe Zähne mit Lücken dazwischen, und seine schräg stehenden Augen blickten vorwurfsvoll auf mich herab. Sie passten nicht zu der Knollennase, die sein Gesicht dominierte und doch erinnerte mich diese Fratze an jemanden aus meiner Vergangenheit. Oder bildete ich mir das nur ein?

»Matt, es ist nicht deine Schuld«, riss eine tiefe Stimme mich aus meinen Gedanken. Sie gehörte meinem väterlichen Freund und Boss Robert Stone, der plötzlich hinter mir stand. »Mach dir bitte keine Vorwürfe.«

Ich sagte nichts, fragte mich stattdessen, wie es sich wohl anfühlte, in diese Tiefe zu fallen. Spürte man den Schmerz, wenn man unten aufschlug?

»Hey, Matt, hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Robert. »Du kannst nicht alle retten, das weißt du doch, oder?«

Natürlich wusste ich das, konnte mich aber trotzdem nicht damit abfinden. Als Sozialarbeiter schlug ich mich tagtäglich mit Jugendlichen herum, die auf der Straße lebten und Drogen konsumierten. Ihnen zu helfen war eine große Herausforderung, und normalerweise war ich gut in meinem Job. Dieses Mal allerdings hatte ich kläglich versagt.

Vor nicht einmal dreißig Minuten war einer meiner Schützlinge von diesem Dach gesprungen, weil er keinen anderen Ausweg sah. Nach einem heftigen Streit mit seinem Vater war der sechzehnjährige Junge von Zuhause ausgerissen, hatte ein paar Monate auf der Straße gelebt und mit Drogen herumexperimentiert. Ich führte lange Gespräche mit ihm, und er gab mir zu verstehen, dass er aus der Szene raus und wieder nach Hause wollte. Sein Vater jedoch schlug ihm die Tür vor der Nase zu, als der Junge ihn um Verzeihung bat. Ich fragte mich, ob der Mann sein Verhalten bereuen würde, wenn er seinen Sohn zu Grabe trug.

Wie auch immer. Der Junge war etwas Besonderes gewesen. In ihm hatte ich mich selbst wiedererkannt, weil ich in meiner Jugend Ähnliches durchgemacht hatte. Wäre Robert Stone nicht gewesen, würde ich heute nicht mehr leben. Robert hatte mir zu einem neuen Leben verholfen, ich diesem Jungen nicht. Und genau dieser Gedanke machte mir zu schaffen.

»Du solltest jetzt endlich von diesem Dach runter. Über die Treppe natürlich«, sagte Robert. »Sonst kriegst du Ärger mit den Cops. Oder meinst du, die wollen noch wen vom Bürgersteig kratzen?«

Seine Worte klangen härter als er sie normalerweise wählte, aber ich wusste, was er damit bezweckte. Sie sollten mich wachrütteln, verfehlten jedoch zunächst ihre Wirkung. Erst, als mir kurz schwindelig wurde, ich ins Wanken geriet und beinahe mit dem Kopf voran über die Brüstung stürzte, kam ich zur Besinnung.

Zum Glück reagierte Robert sofort. Er packte meinen Arm und zog mich vom Rand des Daches weg.

»Verdammte Scheiße, das war knapp«, fluchte er lautstark. »Bist du denn total übergeschnappt? Oder vielleicht lebensmüde?«

Ich gab ihm keine Antwort.

»Jetzt rede doch endlich mit mir, Matt. Oder führe ich hier Selbstgespräche? Komm zu dir, es ist vorbei, du kannst es nicht mehr ändern. Der Junge ist tot.«

Das saß. Endlich fand ich meine Sprache wieder. »Es tut mir leid, Rob. Ich habe versagt.«

Robert schüttelte den Kopf. »Nein, Matt, du hast nicht versagt, du hast dein Bestes gegeben, konntest dem Jungen aber nicht helfen. Er hat die Entscheidung getroffen, ganz egal, ob sie richtig war oder nicht. Verstehst du mich?«

Ich verstand ihn, abfinden konnte ich mich mit dem Selbstmord meines Schützlings aber trotzdem nicht.

»Komm schon, Matt, lass uns gehen, bevor die Cops das Dach stürmen und dich festnehmen«, drängte Robert. »Und das nur, weil du sie geärgert hast.«

Ich gab mich geschlagen und verließ von Robert gefolgt das Dach.

Nachdem der Lift uns nach unten gefahren, und wir ihn verlassen hatten, kamen uns im Erdgeschoss zwei Polizisten entgegen. Einer davon stellte mir ein paar Fragen, die ich ihm beantwortete, so gut es ging. Dann ließen sie mich gehen.

Als ich hinter Robert ins Freie trat, fuhr gerade der Leichenwagen davon. Die Polizei packte zusammen, die letzten Schaulustigen zogen ihrer Wege und gaben die Sicht frei auf eine dunkelrote Pfütze, die sich auf dem ansonsten trockenen Bürgersteig abzeichnete. Ich fühlte, wie mein Herz sich verkrampfte, und konnte den Blick kaum von der Stelle abwenden. Doch Robert packte meinen Arm und zerrte mich in die andere Richtung zu seinem Wagen, in den ich widerwillig einstieg.

Nach zwanzig Minuten Fahrt, in der wir kaum miteinander geredet hatten, parkte Robert sein Auto in zweiter Reihe vor einem vierstöckigen Backsteingebäude, das genauso aussah, wie alle anderen in diesem Wohnviertel, irgendwie abgewohnt und unpersönlich. Meine Wohnung befand sich in der dritten Etage, die einzige, in der noch kein Licht brannte.

Ein schrilles Hupen ließ mich aufschrecken, und ein Wagen raste mit quietschenden Reifen an uns vorbei. Der Fahrer streckte den Mittelfinger in die Höhe, doch Robert beachtete ihn nicht weiter und wandte sich stattdessen mir zu.

»Und mit dir ist soweit alles in Ordnung?«, fragte er mit besorgtem Gesichtsausdruck. »Du kommst klar mit dem Ganzen?«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ja, denke schon. Du brauchst dir jedenfalls keine Sorgen um mich zu machen.«

Er bedachte mich mit einem letzten prüfenden Blick und nickte dann. »Na schön. Dann mal raus mit dir, ich muss weiter. Wir sehen uns Morgen.«

Ich nickte ihm zu, stieg aus und blickte seinem Wagen solange nachdenklich hinterher, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Danach betrat ich das Haus und öffnete meinen Briefkasten. Dabei fiel mir die gesamte Post vor die Füße. Genervt hob ich die Briefe auf und sah sie durch. Die meisten davon waren uninteressant. Werbebriefe, Rechnungen und Mahnungen. Ein Brief jedoch lag dazwischen, der mich stutzen ließ. Nein, nicht nur das. Hatte ich vorhin auf dem Dach noch geglaubt, mein Tag könnte nicht schlimmer werden, wurde ich jetzt eines Besseren belehrt.

Fassungslos starrte ich auf den Poststempel und begann am ganzen Körper zu zittern. Mein Herz hämmerte so kräftig gegen meine Rippen, dass sie zu brechen drohten. Ich rieb mir über die Augen und blickte noch einmal auf den Umschlag. Nichts hatte sich geändert. Der Brief war in Coldmont, meiner Geburtsstadt, abgestempelt worden. Auf der Rückseite stand der Absender: Edward MacCarty.

Das war der Name des Mannes, von dem ich seit sechzehn Jahren nicht ein Sterbenswort gehört hatte, der mich von sich stieß, als ich ihn am meisten brauchte. Diesen Mann hatte ich so sehr geliebt und bewundert, dass es schmerzte. Was zur Hölle wollte mein Vater von mir? Wollte ich das überhaupt wissen? Ich dachte ernsthaft darüber nach, den Brief ungeöffnet zu verbrennen oder die Toilette hinunterzuspülen.

Kurz darauf stand ich in meinem Wohnzimmer. Ich hatte weder mitbekommen, wie ich in mein Apartment gelangt war, noch, wie ich den Umschlag aufgerissen und das Blatt Papier herausgezogen hatte. Aber egal. Ich starrte auf die Handschrift, die eindeutig meinem Vater gehörte, und las, was dort geschrieben stand. Ich traute meinen Augen nicht. Deshalb las ich noch einmal, und danach ein drittes Mal, ehe die Worte endlich meinen Verstand erreichten.

Lieber Matt, mein Sohn. Alles, was geschehen ist, tut mir so entsetzlich leid. Ich weiß jetzt, was damals passiert ist, und muss mit dir darüber reden. Es ist sehr wichtig. Bitte ruf mich an, bevor es zu spät ist. Dein Dad.

Ich konnte es nicht fassen. Er wusste jetzt also, was damals passiert war. Was meinte er damit? Den Unfall oder was? Er wollte also, dass ich ihn anrufe. Einfach so, als ob nichts passiert wäre. Und was sollte ich ihm sagen?

Super, Dad, dass du nach sechzehn Jahren mal was von dir hören lässt. Ach ja, und bevor ich es vergesse, du hast mir das Herz gebrochen. Scher dich zum Teufel!

Ich hielt inne und blickte zum Fenster. In der Scheibe erkannte ich mein eigenes Spiegelbild, das mich sehr an meinen Vater erinnerte. Wir hatten dieselbe Statur, groß und schlank. Nein, eher schlaksig. Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Dieselbe Geste kannte ich von ihm.

Überhaupt waren wir uns sehr ähnlich, glaubte ich zumindest, und wir hatten uns während meiner Kindheit und Jugend prächtig verstanden. Ich schlug öfter mal über die Stränge, rauchte verbotenes Zeug und prügelte mich mit anderen Jungs. Auch beim Ladendiebstahl wurde ich erwischt. Nicht nur einmal. Mein Vater boxte mich immer wieder raus. Und dann veränderte sich von einem Moment auf den anderen einfach alles. Er ließ mich im Stich, als ich ihn am dringendsten brauchte.

Noch einmal las ich seinen Brief und schüttelte den Kopf. Sechzehn Jahre, mein halbes Leben. Ich ließ mich aufs Sofa fallen, schloss die Augen und dachte an den Autounfall zurück, der mein Leben aus der Bahn geworfen hatte.

***

Ich saß in einem nagelneuen Ford Mustang auf dem Beifahrersitz und betrachtete meinen besten Freund Steve Spyro von der Seite. Sein blondes Haar fiel strähnig in sein viel zu blasses Gesicht. Seine hellen Augen glänzten, sein Blick haftete auf der Straße und seine Hände umklammerten das Lenkrad, während er sein Auto mit viel zu hoher Geschwindigkeit über einen der Feldwege außerhalb der Stadt jagte.

»Steve«, sagte ich, »fahr langsamer oder willst du uns umbringen?«

»Mich nicht.« Er kniff die Augen zusammen, seine Mundwinkel zuckten nach unten. »Aber dich.«

»Hey, Mann, was hast du für ein Problem?«

»Das fragst du noch? Du hast den Schwur gebrochen und unser Geheimnis verraten.«

»Wie kommst du auf den Mist? Ich hab‘s niemandem gesagt«, war ich mir sicher.

»Du bist so ein verdammter Wichser!«, schrie er und schlug mit der Hand auf das Lenkrad ein, als wäre es sein ärgster Feind. Steve starrte mich an und achtete nicht mehr auf den Weg vor uns. »Weißt du eigentlich, was du angerichtet hast? Jetzt ist alles aus.«

Wie recht er hatte, wurde mir bewusst, als ich meinen Blick nach vorne richtete und die Frau entdeckte, die mit ihrem Fahrrad unseren Weg kreuzte.

»Pass auf!«, brüllte ich.

Steve trat mit voller Wucht auf die Bremse und riss das Lenkrad herum.

Zu spät! Der Kotflügel erwischte das Fahrrad, und die Frau flog in hohem Bogen durch die Luft. Steves Wagen schlingerte und ächzte, als versuchte er mit letzter Kraft, seine Räder auf dem Boden zu halten. Das gelang ihm nicht. Alles um mich herum drehte sich. Meine Stirn krachte gegen etwas Hartes, und dann gingen die Lichter aus.

Als ich zu mir kam, stand der Wagen still, in meinem Kopf jedoch wütete ein Sturm. Etwas Warmes, Nasses strömte über mein Gesicht. Ich fasste mir an die Stirn und öffnete blinzelnd die Augen. Blut! An meinen Fingern und überall auf mir war Blut. Dann entdeckte ich das Lenkrad vor und den Schalthebel rechts von mir. Die Fahrertür des Mustangs stand offen. Aber wo war Steve? Hatte er sich etwa aus dem Staub gemacht? Und wie war ich auf den Fahrersitz gekommen?

Plötzlich spürte ich jemanden neben mir, und ich drehte den Kopf dorthin. Aus einem verschwommenen Gesicht starrten mich zwei funkelnde Augen ausdruckslos an. War das der Tod, der mich holen wollte? Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und fiel zurück in die Dunkelheit.

***

Der Tod hatte mich nicht geholt, trotzdem war ein Teil von mir in dieser Finsternis zurückgeblieben. Ich erinnerte mich noch an den Streit zwischen Steve und mir, nicht aber an den Schwur oder das Geheimnis. In meinem Kopf klaffte eine tiefe Lücke, die ich nicht schließen konnte, so sehr ich es auch versuchte.

Stattdessen erinnerte ich mich viel zu gut an die Zeit nach dem Autounfall. Keiner glaubte mir, dass nicht ich den Unfall verursacht hatte, sondern Steve. Doch mein damals bester Freund war nicht am Unfallort gewesen. Anstatt Steve hatte ich auf dem Fahrersitz gesessen, an meiner Schuld gab es keine Zweifel. Die Frau mit dem Fahrrad hatte zum Glück überlebt, dennoch wurde ich wegen Körperverletzung und Autodiebstahl zu fünfzehn Monaten Jugendgefängnis verurteilt. Im Nachhinein betrachtet war das keine ungewöhnlich hohe Strafe. Damals sah ich das allerdings anders.

Ein Räuspern holte mich zurück in die Gegenwart. Ich öffnete die Augen und erblickte die schönste Frau, die Gott jemals erschaffen hatte. Nun ja, falls es diesen Gott geben sollte, wäre Amy Rogers sein Meisterwerk gewesen.

Ihre gut proportionierten Beine steckten in engen Jeans. Darüber trug sie ein Shirt, unter dem sich ihre Brüste dezent abzeichneten. Ihr beinahe schwarzes Haar fiel glatt über ihre Schultern. Sie lächelte, wobei sich Grübchen in ihren Wangen bildeten. Und das Beste daran war: Sie gehörte mir, mit Haut und Haaren. Und ich gehörte ihr.

Vor zehn Monaten waren wir auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung sozusagen aufeinandergeprallt. Besser gesagt hatte ich sie beinahe über den Haufen gerannt. Sie war ziemlich wütend gewesen, ich aber verliebte mich sofort in sie. Zur Wiedergutmachung hatte ich sie zum Essen eingeladen. Dabei hatte es zwischen uns so richtig gefunkt, und seit ein paar Wochen lebten wir zusammen in dieser Wohnung.

»Alles klar bei dir?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nicht wirklich. Ich hatte einen Scheißtag.«

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine tiefe Falte. Sie setzte sich zu mir aufs Sofa und wollte wissen, was passiert sei. Ich erzählte ihr von dem Selbstmord des Jungen.

»Tut mir leid. Ich weiß, wie wichtig er dir war«, sagte sie. »Ich hoffe, du kommst drüber weg.«

»Ja, irgendwann wahrscheinlich schon. Aber das ist noch nicht alles.« Ich reichte ihr den Brief meines Vaters, bat sie, ihn zu lesen und wartete gespannt darauf, was sie dazu sagen würde.

»Dein Vater hat dir geschrieben?«, fragte sie verblüfft.

»So sieht's aus.«

»Rufst du ihn an?« Amy musterte mich erwartungsvoll und wickelte eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. Das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war.

»Keine Ahnung. Was würdest du tun?«

»Da fragst du noch? Ich würde meinen Vater sofort anrufen, wenn ich noch einen hätte.«

Deutliche Worte. Amys Eltern waren vor sechzehn Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Da war sie elf Jahre alt gewesen. Ihr Onkel, der Bruder ihrer Mutter, hatte sie danach bei sich aufgenommen und groß gezogen. Es war nicht einfach für Amy gewesen, damit klarzukommen, zumal die Leichen ihrer Eltern nie gefunden wurden. So hatte sie niemals einen Schlussstrich ziehen können. Trotz allem war aus ihr eine starke Frau geworden, die ganz genau wusste, was sie wollte, und die sich, im Gegensatz zu mir, nur selten hängen ließ.

»Du hast doch nichts zu verlieren, oder?«, fügte sie hinzu.

Ich nickte, zog mein Handy aus der Hosentasche, zögerte kurz und wählte dann die Telefonnummer, die mein Vater auf dem Brief vermerkt hatte.

Doch anstatt meines Dads meldete sich eine weibliche Stimme mit einem zaghaften »Hallo?«

»Mom? Hier spricht Matt.«

»Matt?« Sie klang mehr als überrascht. »Bist du das wirklich?«

»Ja.« Ich hatte lange nicht mit ihr gesprochen und mir fehlten die Worte, obwohl ich ihr so viel zu sagen hatte.

»Was willst du, Matt?«

Ich sammelte mich einen Moment, dachte daran, wieder aufzulegen und riss mich zusammen. »Dad hat mir geschrieben, dass ich ihn anrufen soll. Kann ich ihn sprechen?«

Einen Moment lang herrschte Stille, die lediglich durch ein leises Rauschen im Telefon unterbrochen wurde. Ein Schluchzen folgte, und ich verstand gar nichts mehr. Entweder war meine Mutter so glücklich über meinen Anruf, dass sie weinen musste, oder es war ein Schock für sie.

»Dein Vater … ist … tot«, sagte sie langsam, als müsste sie über jedes einzelne Wort zuerst nachdenken.

»Was?« Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an. Ich richtete mich auf. »Was ist passiert?«

Sie sagte nichts, ich hörte nur ihr Schluchzen.

»Mom, was ist passiert?«

»Dein Vater hat sich erschossen.«

»Was?« Ich dachte, ich hätte mich verhört, weil sie so leise redete. »Erschossen?« Mein Puls beschleunigte. Mein Vater sollte Selbstmord begangen haben? Das konnte ich mir nicht vorstellen. »Wann?«

»Vor zwei Tagen.«

Ich starrte auf Dads Schrift, die vor meinen Augen verschwamm. »Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?«

»Hätte es dich denn interessiert?«

»Keine Ahnung, vielleicht. Und wann ist die Beerdigung?«

»Freitag, zehn Uhr.«

»Übermorgen schon?« So schnell wollten sie ihn unter die Erde bringen? Dann gab es offenbar keinen Zweifel an seinem Selbstmord.

»Ja, genau. Willst du etwa herkommen?«

»Ich denk drüber nach. Mom, es tut mir wirklich leid. Ich melde mich wieder, okay?«

»Ja, ist gut, mir tut es auch leid.«

Sie legte auf, und ich starrte wieder auf den Brief und versuchte, das eben Gehörte zu verdauen, doch es lag in meinem Magen so schwer wie ein Stein.

Amy nahm meine Hand und streichelte sie. »Habe ich richtig gehört? Dein Vater hat sich umgebracht?«

»Das hat meine Mutter zumindest gesagt.« Glauben konnte ich es trotzdem nicht.

»Und was hast du jetzt vor? Willst du zur Beerdigung fahren?«

»Ich weiß es nicht.« Nachdenklich rieb ich mit dem Zeigefinger über die alte Narbe über meiner rechten Augenbraue, las noch einmal Dads Nachricht und betrachtete den Poststempel auf dem Briefumschlag. Er hatte den Brief am Tag seines Todes verschickt. Das ergab einfach keinen Sinn.

Amy küsste mich auf die Wange und legte ihre Stirn an meine Schläfe. Ihr warmer Atem kitzelte auf meiner Haut. Ich legte meine Arme um sie, zog sie an mich und küsste sie, zuerst sachte, dann leidenschaftlich, weil ich nicht mehr denken wollte.

Später lag ich neben Amy im Bett und konnte nicht einschlafen, zu viele Gedanken jagten durch meinen Kopf. Mein Vater war tot, und ich wusste nicht, was ich fühlte. Trauer, Wut oder Hass? Vielleicht von allem ein bisschen.

Ich weiß jetzt, was damals passiert ist.

Was hatte er damit gemeint? Den Autounfall oder das Geheimnis, an das ich mich nicht erinnerte, das aber über mir schwebte wie eine graue Wolke, die mich zu ersticken drohte.

Dann kam mir noch etwas anderes in den Sinn. Oder besser gesagt jemand anderes. Paul, ebenfalls ein Jugendfreund von mir, verschwand kurz vor dem Autounfall spurlos und tauchte nie wieder auf. Was, wenn Pauls Verschwinden mit der Lücke in meinem Kopf zu tun hatte und mit dem Geheimnis, das ich mit Steve teilte? Ich wusste es nicht, doch während ich in die Dunkelheit meines Schlafzimmers blickte, fraß dieser Gedanke sich durch mein Gehirn wie ein Wurm durch einen Apfel und biss sich fest.

Und ich fasste einen Entschluss.

 

ZWEI

 

Am nächsten Morgen erzählte ich Amy, dass ich mich dazu entschlossen hätte, zur Beerdigung meines Vaters nach Coldmont zu fahren.

Sie sah mich skeptisch an. »Willst du das wirklich tun?«

»Ja. Wieso?«

»Ich frage mich, was du dir davon versprichst.« Sie strich Erdnussbutter aufs Brot, so dick wie Pappe und biss genüsslich hinein. Dabei ließ sie mich nicht aus den Augen.

»Ich verspreche mir gar nichts davon«, sagte ich. »Ich will es einfach tun. Würdest du es denn nicht tun wollen, wenn es dein Vater wäre?«

Sie warf mir einen gekränkten Blick zu, ließ ihr Brot auf den Teller fallen und stand ruckartig auf. »Das war jetzt nicht fair.« Sie drehte sich um und stapfte davon.

Sie hatte recht, das war alles andere als fair gewesen. Ich folgte ihr ins Schlafzimmer. »Tut mir leid. Manchmal bin ich ein Vollidiot.«

Sie drehte sich zu mir um und bedachte mich mit einem grimmigen Blick. »Nicht nur manchmal.«

»Gut, dass wir das geklärt haben.« Ich lächelte. »Und warum kommst du nicht einfach mit?«

Sie entspannte sich ein wenig und erwiderte mein Lächeln. »Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich habe heute Nachmittag einen wichtigen Termin vor Gericht. Sonst wäre ich liebend gerne mitgefahren.« Sie gab mir einen Kuss auf den Mund und verschwand im Badezimmer.

Ich seufzte. Amy war Rechtsanwältin und der Fall, an dem sie gerade arbeitete, war kurz vor dem Abschluss. Den Gerichtstermin durfte sie nicht verpassen. Das verstand ich, trotzdem hätte ich sie gerne dabei gehabt.

Wenig später verließen wir gemeinsam das Haus. Ich begleitete sie noch zur nächsten U-Bahn-Station wie jeden Morgen. Pendler strömten an uns vorbei, nahmen aber keinerlei Notiz von uns, als ich Amy mitten im Getümmel umarmte und küsste.

Minuten später löste sie sich zaghaft aus meiner Umklammerung und sah mich eine Weile an. Dann sagte sie: »Und du willst das wirklich durchziehen, Matt?«

»Ob ich es will? Weiß nicht. Ich muss es einfach tun. Wir haben das doch jetzt lange genug durchgekaut.« Ich musterte ihr Gesicht, blickte tief in ihre dunklen Augen, die mich sorgenvoll ansahen, und lächelte. »Du musst dir keine Sorgen machen. Außerdem komme ich so schnell wie möglich zurück. Du hast mich ruckzuck wieder an der Backe.«

Sie kaute auf ihrer Unterlippe, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Pass gut auf dich auf, ja?« Dann küsste sie mich, wand sich endgültig aus meinen Armen und ging winkend davon.

Ich sah ihr grübelnd nach und fragte mich, wie ich es die nächsten Tage ohne sie aushalten sollte, und warum sie so extrem besorgt war. Obwohl das vermutlich gar nichts zu bedeuten hatte. Wir benahmen uns manchmal wie Teenager, die das erste Mal verliebt waren. Die Schmetterlinge im Bauch wollten einfach keine Ruhe geben. Sie flogen auf und ab, immer wenn Amy in meiner Nähe war. Die Liebe zu ihr überwältigte mich jeden Tag aufs Neue.

Seufzend drehte ich mich um und machte mich auf den Weg zu meinem dunkelblauen Honda Civic. Der Wagen war beinahe zehn Jahre alt, hatte ein paar größere Kratzer, war aber ansonsten gut in Schuss. Ich stieg ein, ließ den Motor an und fuhr los.

***

Eine halbe Stunde später erreichte ich das Jugendwohnheim, das Robert Stone seit Jahren leitete, und betrat sein Büro. Ich zeigte ihm den Brief meines Vaters und erzählte ihm von dem Selbstmord. Daraufhin versank Robert noch tiefer in seinem Bürosessel als gewöhnlich. Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Er rieb sich über die Augen und senkte den Blick.

Ich saß ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtisches und wunderte mich über seine heftige Reaktion. »Alles in Ordnung mit dir, Rob?«

Er sah auf. »Dein Vater ist tot? Das ist ja furchtbar.«

»Allerdings. Du wirst ein paar Tage auf mich verzichten müssen. Die Beerdigung ist Morgen, und ich will dabei sein.«

»Du willst nach Coldmont? Bist du verrückt?«, fuhr Robert mich an.

»Ja, ich will nach Coldmont. Und nein, ich bin nicht verrückt.« Ich besann mich einen Moment. »Ich weiß, dass ich geschworen habe, nie wieder in meine Heimat zurückzukehren. Aber da wusste ich ja noch nicht, dass mein Vater sich bei mir melden würde. Jetzt habe ich das Bedürfnis, mich von ihm zu verabschieden. Verstehst du das nicht?«

Robert beugte sich vor und sagte etwas ruhiger: »Es tut mir sehr leid, dass dein Vater gestorben ist, Matt. Und natürlich verstehe ich, dass du zu seiner Beerdigung willst.« Kurze Pause. »Und wie fühlst du dich jetzt?«

Ich zuckte die Achseln. »Es ist irgendwie seltsam. Ich habe meinen Vater in den letzten Jahren oft vermisst. Jetzt ist er tot, und ich fühle irgendwie gar nichts. Jedenfalls keine Trauer oder so. Ich bin eher schockiert darüber, dass er mir geschrieben hat. Meinst du, das ist normal? Hätte ich mich nicht darüber freuen sollen? Also, dass er mir schreibt, nicht, dass er tot ist.«

Seine Mundwinkel hoben sich ein wenig. »Du bist völlig normal, Matt, mach dir deswegen mal keine Sorgen. Was dein Vater getan hat, war nicht normal. Aber ich denke, er hatte seine Gründe.« Er erhob sich und blickte von oben auf mich herab. »Glaub mir, Väter tun manchmal die verrücktesten Dinge für ihre Kinder.«

Grübelnd stand ich auf und beobachtete Robert dabei, wie er seine Jacke vom Garderobenständer nahm und anzog. »Was willst du mir damit sagen, Rob? Dass es in Ordnung war, mich zu hassen?«

»Nein, um Himmels willen. Er hat dich bestimmt nicht gehasst, das kann ich mir nicht vorstellen.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ihn dazu getrieben hat, nicht mehr mit dir zu reden. Vielleicht findest du die Antwort auf diese Frage in deiner Heimat, schon möglich. So wie ich seinen Brief deute, war es ihm sehr wichtig, dass du Kontakt mit ihm aufnimmst.«

»Genau so sehe ich das auch.«

»Du solltest gut auf dich aufpassen, wenn du in Coldmont angekommen bist«, fügte er hinzu.

»Machst du dir Sorgen um mich?«

Er kam auf mich zu und legte seine Hände auf meine Schultern.

»Ich sorge mich um alle meine Schützlinge. Um dich jedoch besonders. Du warst ein harter Brocken. Eine echte Herausforderung. Erinnerst du dich?«

»Oh ja, jeden Tag.«

Ich dachte daran, wie ich ihn kennenlernte. Weil mein Vater nichts mehr von mir wissen wollte, konnte ich nicht nach Hause zurück, bekam aber wenigstens diesen Platz in Roberts Wohnheim. Rob half mir dabei, meine inneren Dämonen zu bekämpfen und zu besiegen.

Er lächelte. »Und weil du schon ganz unten warst, kannst du mit den Kids besser umgehen als alle anderen hier. Du verstehst sie einfach. Und deswegen will ich dich auf gar keinen Fall verlieren. Weder als Mitarbeiter noch als Freund.«

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.

Robert sah mich mit ernster Miene an. »Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst.«

»Versprechen kann ich dir das nicht, aber ich kann es zumindest versuchen.«

Damit gab er sich zufrieden.

Wir verließen das Gebäude und traten in einen sonnigen Frühlingstag ohne eine einzige Wolke am Himmel. Nur der übliche Smog trübte die Luft. Das Wohnheim lag direkt an einer stark befahrenen Hauptstraße, die in die Innenstadt führte, und wie jeden Morgen war ein langer Stau vor der nächsten Ampel. Die Autoschlange setzte sich gerade in Bewegung, die Motoren dröhnten, Auspuffe qualmten, irgendwo krachte ein Getriebe. Nach all den Jahren hätte ich mich längst daran gewöhnt haben sollen, und doch vermisste ich hin und wieder die Ruhe auf dem Land. Und die sehr viel reinere Luft in den Wäldern meiner Heimat.

Als Robert mich zum Abschied in die Arme nahm und an sich drückte, wurde mir schwer ums Herz.

»Komm gesund zurück«, murmelte er, sah mich einen Moment lang an und wandte sich schließlich ab.

Ich sah zu, wie er mit hängenden Schultern davonging, und fragte mich, ob ich wirklich das Richtige tat. Einen Moment zweifelte ich an meinem Entschluss, dann machte ich mich aber doch auf den Weg nach Coldmont.

***

Am späten Nachmittag befand ich mich zweihundertachtzig Meilen nordöstlich von Pittsburgh und auf feindlichem Gebiet. Zumindest kam mir der Gedanke, als ich nur noch dreißig Meilen von meinem Ziel entfernt über die Route 6 im Norden Pennsylvanias fuhr. Irgendwo rechts von mir strömte der Pine Creek. Ich konnte den Fluss von der Straße aus zwar nicht sehen, wusste aber, dass er sich demnächst mit dem Marsh Creek vereinigen und eine Rechtskurve gen Süden einschlagen würde. Die Kleinstadt Coldmont allerdings lag nördlich von hier.

Ich verließ den Highway, fuhr durch Greensbury, die fünfzehn Meilen südlich gelegene Nachbarstadt von Coldmont, und anschließend auf einer Nebenstraße weiter, die sich über mehrere Kehren aufwärts durch den Wald schlängelte. Bevor sie sich wieder abwärts neigte, konnte ich in der Ferne bereits einzelne Häuser meines Geburtsortes erspähen, was mir ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend bescherte. Ich war noch nicht bereit, musste mich noch einen Augenblick sammeln, ehe ich den Schritt über die Stadtgrenze riskieren würde.

Ich lenkte meinen Wagen an den Straßenrand, stieg aus und sah mich um. Pure Wildnis. Die hohen Fichten wuchsen so dicht, dass nur wenige Sonnenstrahlen den Boden erreichten. Die Luft jedoch war so frisch, es fühlte sich einfach nur großartig an, sie einzuatmen. Und diese Stille. Kein Großstadtlärm. Nur das Gezwitscher der Vögel zwischen den Bäumen.

Mein Blick fiel auf einen Trampelpfad, der zwischen einigen wild wuchernden Sträuchern und Felsbrocken hindurch aufwärts führte. Ich wusste, wohin der Weg führte und folgte ihm kurz entschlossen zu jenem Ort, der mich schon in meiner Jugend fasziniert hatte.

Nach zehn Minuten Aufstieg lag er vor mir, der tödliche Schlund. Ich gab ihm diesen Namen, als Steve – ja genau, mein ehemals bester Freund Steve, der Verräter – behauptete, dieser Schlund fresse Menschen, das sei aber ein Geheimnis, und deshalb dürfe ich niemandem davon erzählen. Ich hielt ihn für einen Spinner.

Die Felsspalte war von hohen Rottannen und schroffen Felsen umrahmt und hatte die Größe eines ausgewachsenen weißen Hais. Ich hörte das Rauschen von Wasser und erinnerte mich an den Wasserfall, der ganz in der Nähe über mehrere Stufen hinab in einen Bach stürzte. Ein lauer Wind streifte meine Wangen, der Geruch nach Nadelbäumen und Heimat hing in der Luft. Eine sehr verträumte, ja vertraute Gegend, beinahe entspannend.

Aber jetzt, während ich so in diesen Schlund blickte und an Steves Worte zurückdachte, begann mein Herz zu rasen, meine Hände wurden feucht. Ganz in der Nähe raschelte es in einem Gebüsch. Eine unerklärliche Panik packte mich. Ich sah mich um. Doch abgesehen von einem Grauhörnchen, das einen Baum hinaufhuschte, und mehreren Vögeln, die sich in die Lüfte erhoben, war ich hier ganz und gar alleine. Trotzdem machte ich mich eilig auf den Rückweg zu meinem Wagen und atmete auf, als ich den Honda unbehelligt erreichte.

Bevor ich einstieg, spähte ich noch einmal zurück in den Wald und erstarrte. Zwischen den Bäumen lauerte eine dunkle Gestalt oder ein Schatten, der sich ebenso schnell wieder in Luft auflöste, wie er mir erschienen war. Doch nur ein Hirngespinst, meine lebhafte Fantasie? Ich schüttelte den Kopf und stieg endgültig in mein Auto.

Ich kurvte die enge Straße hinab und passierte kurz darauf die Stadtgrenze von Coldmont. Die Main Street führte kerzengerade durch das Zentrum der Kleinstadt. Im Vorüberfahren betrachtete ich die Häuser, die rechts und links die Straße säumten. Ein Lebensmittelladen, ein Coffeeshop, das Diner an der Ecke und schräg gegenüber eine Burgerbude. Jedes der Gebäude war in einer anderen Farbe gestrichen. Sehr bunt, auf eine besondere Art einladend und sehr vertraut. Überhaupt nicht beängstigend, wie ich es eigentlich erwartet hatte.

Erst als das Polizeirevier in mein Blickfeld rückte, fing meine Haut an zu kribbeln. Ich hielt unbewusst die Luft an, gleichzeitig schlug mein Magen einen Purzelbaum. Der Polizei gegenüber stand das aus roten Ziegeln erbaute Rathaus mit dem nach oben spitz zulaufenden Dach, das alle anderen Häuser überragte. Ich weiß nicht warum, aber mein Blick heftete sich auf die über den Flügeltüren hängende Uhr mit den römischen Zahlen auf dem weißen Ziffernblatt. Ich bildete mir ein, sie ticken zu hören, obwohl sie vor ewigen Zeiten kaputt gegangen war. Offensichtlich war sie bis heute nicht repariert worden, beide Zeiger standen auf der Zwölf.

Ich fragte mich noch einmal, ob es wirklich die richtige Entscheidung gewesen war, hierher zu kommen und einen Trip in die Vergangenheit zu unternehmen. Die Frage beantwortete ich mir selbst mit einem zögernden Ja. Schließlich war mein Vater gestorben. Wenn ich ihm auch sonst nichts schuldete, hatte ich doch das Bedürfnis, mich von ihm zu verabschieden. Also riss ich mich zusammen, atmete tief ein und wieder aus, fuhr weiter und machte mich auf die Suche nach einer Unterkunft, die ich mir leisten konnte.

Am nördlichen Stadtrand fand ich ein Motel. Ein zweistöckiges Haus mit zehn Fenstern an der Vorderfront, von der schon der Verputz bröckelte, und einem Holzzaun drum herum, der aussah, als würde er jeden Augenblick auseinanderfallen. So wirklich vertrauenerweckend sah das Haus nicht aus, aber ich hatte auch keine Lust, ewig durch die Gegend zu kurven, und das Hotel in der Innenstadt überstieg mein Budget. Ich beschloss, zumindest mal reinzuschauen. Gehen konnte ich immer noch.

Skeptisch betrat ich das Gebäude und wurde angenehm überrascht. Der Empfangsraum war wohl erst vor Kurzem renoviert worden. An den weiß gestrichenen Wänden hingen farbige Landschaftsaufnahmen. Eine davon zeigte die Berge mit den Bäumen darauf und einem hellblauen Bilderbuchhimmel darüber. Nett.

Eine junge Blondine trat hinter die Theke. Sie begrüßte mich mit einem zauberhaften Lächeln in einem hübschen Gesicht. Ihre blauen Augen musterten mich von oben bis unten und wieder zurück.

»Hi. Wie kann ich Ihnen helfen?«, begrüßte sie mich mit einer zuckersüßen Stimme.

»Hi. Ich brauche ein Zimmer«, sagte ich. »Haben Sie was frei?«

»Klar.« Sie nahm einen Schlüssel von einem Haken und gab ihn mir. »Sie müssen die erste Nacht im Voraus bezahlen. Den Rest bei der Abreise. Wie lange wollen Sie denn bleiben?«

»Das weiß ich noch nicht.«

Ich reichte ihr meine Kreditkarte, die sie durch ihr Lesegerät zog. Ungläubig starrte sie auf das Display ihres Bildschirmes.

»Ist mit der Karte alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Sie sind Matt MacCarty?« Sie starrte mich an, als wäre ich ein berühmter Rockstar oder zumindest mal im Fernsehen gewesen.

»Wenn das da steht?«, antwortete ich. »Kennen wir uns?«

»Der Name kommt mir bekannt vor. Ach ja, jetzt fällt’s mir ein, der Autounfall«, antwortete sie und verfiel schlagartig in einen vertrauten Plauderton. »Was treibt dich denn in die Gegend?«

Der Autounfall. Man erinnerte sich also doch noch daran. Ich versuchte, das zu ignorieren. »Mein Vater ist gestorben.«

»Stimmt. Hab davon gehört.«

»Ah ja? So etwas spricht sich schnell herum, oder?«

»Nein, nein.« Sie winkte ab. »Mein Ex ist bei der Polizei. Er hat’s mir erzählt.«

»Dein Ex?«

»Ja, Victor Hedges. Kennst du ihn?«

Ja, ich erinnerte mich an Hedges. Wir waren in dieselbe Klasse gegangen, befreundet waren wir nicht gewesen.

»Und der ist bei den Cops gelandet? Interessant«, murmelte ich.

»Dann bist du wegen der Beerdigung hier. Dein Vater hat sich echt in den Kopf geschossen?«

»Anscheinend.« Ich versuchte, das Thema zu wechseln. »Hast du auch einen Namen?«

»Linda.« Sie musterte mich noch intensiver. »Stimmt es, dass du mit dem Auto eines Freundes eine Frau überfahren hast?«

»Nein, das stimmt so nicht.« Ich hatte keine Lust, mir ihr darüber zu reden. »Krieg ich jetzt meine Karte zurück?«

Linda zuckte die Achseln und reichte mir meine Kreditkarte. »Das Zimmer liegt im oberen Stockwerk, ganz hinten links. Frühstück gibt‘s ab sieben Uhr.« Sie zeigte auf eine Tür. »Da hinten.«

»Gut zu wissen.« Ich wandte mich ab und machte mich auf den Weg zu meinem Zimmer.

Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, sah ich mich erst einmal um. In dem Raum stand ein Doppelbett, unter dem Fenster ein kleiner Tisch mit einem Stuhl davor, und in einer Nische links davon ein Schrank. Neben dem Bett stand ein Korbsessel. Alle Möbel waren weiß, die Wände ebenfalls, selbst die Bettwäsche. Die Einrichtung erinnerte mich an die eines Hospitals. Fehlten nur noch die piependen, lebenserhaltenden Geräte.

Ich schüttelte den Kopf, der wieder einmal unselige Bilder aus meinem Unterbewusstsein heraufbeschwor. Dieses Mal sah ich deutlich das Krankenhauszimmer vor mir, in dem ich nach dem Unfall erwacht war. In meinem Kopf hatte Chaos geherrscht, jede Bewegung war mir schwergefallen.

Und was tat meine Mutter? Sie stand neben meinem Bett und schüttelte die ganze Zeit den Kopf. Sie machte mir Vorhaltungen, weil ich den Wagen meines besten Freundes gestohlen hätte, um damit eine Frau anzufahren. Nun, wenigstens besuchte sie mich, mein Vater kam nicht ein einziges Mal ins Krankenhaus, um nach mir zu sehen.

Ich ging zum Fenster und betrachtete die bewaldeten Hügel. Der Himmel darüber glühte im Schein der untergehenden Sonne und sah aus, als würde er in Flammen stehen. Faszinierend und bedrohlich zugleich. Genau wie der tödliche Schlund, der sich so unscheinbar zwischen den Bäumen verbarg. In mir begann etwas zu bröckeln, aber ich verstand absolut nicht, was das zu bedeuten hatte.

Ich weiß jetzt, was damals passiert ist.

Die letzten Worte meines Vaters ließen mich nicht los, und mir wurde bewusst, sie würden solange an mir haften, bis das Geheimnis, auf das ich angeblich geschworen hatte, gelüftet war.

 

DREI

 

»Oh Mann, Jason, wie lange sollen wir hier noch herumirren?«, fragte Corinne ihren frisch gebackenen Ehemann, der auf die glorreiche Idee gekommen war, mitten in der Nacht auf Schatzsuche zu gehen. »Mir reicht’s jetzt dann.«

Sie befanden sich im Wald über dem verschrobenen Ort Coldmont, der seinem Namen alle Ehre machte. So dachte zumindest Corinne, die sich in diesem dunklen und kalten Wald nicht wohlfühlte. Sie war der Ansicht, es wäre besser, die Suche abzubrechen, Jason jedoch wollte nicht auf sie hören.

Er leuchtete die Umgebung mit seiner Taschenlampe ab. »Ach komm schon, Baby, die Hinweise sind bestimmt ganz in der Nähe.«

Erst vor zwei Wochen hatten sie geheiratet. Die Reise in die Berge von Pennsylvania sollte ihre Hochzeitsreise werden, Corinne hatte sich das allerdings anders vorgestellt. Jason war ständig auf der Suche nach Abenteuern und nach diesen versteckten Schätzen, die nicht mehr enthielten als dummes Zeug.

Corinne mochte dieses Geocaching nicht, schon gar nicht mitten in der Nacht und ausgerechnet bei Vollmond. Aber so lauteten die Regeln. Es musste Vollmond sein und man durfte nicht vor Mitternacht in den Wald. Corinne hatte keine Ahnung, was das sollte. Nur ihrem Ehemann zuliebe machte sie diese Schatzsuche mit, bereute aber schon längst, dass sie sich darauf eingelassen hatte.

Jason nahm ihre Hand. »Wir finden das Ding, ganz sicher, okay?«

Sie seufzte und zwang sich zu einem Lächeln. »Hoffentlich hast du recht. Ich finde es ziemlich unheimlich hier.«

»Na klar ist es hier unheimlich. Das soll es doch auch sein.« Jason blickte auf das Display seines Smartphones, auf dem ein Punkt blinkte. »Siehst du, Baby, dort muss der Cache versteckt sein. Ist nicht mehr weit.« Wieder ließ er das Licht seiner Lampe langsam umherstreifen. Und dann endlich blitzte ein Reflektor auf, danach ein zweiter und ein dritter.

»Da geht’s lang«, sagte Jason und marschierte los.

Corinne runzelte die Stirn, als sie den Trampelpfad begutachtete, der zwischen dicht wachsenden Sträuchern und Bäumen hindurch steil nach oben führte. Die Äste sahen aus wie Knochenhände, die nur darauf warteten, ihre Finger auszustrecken und zuzupacken. »Bist du sicher? Der Weg sieht gruselig aus und scheint im Nichts zu enden.«

Jason kicherte. »Oh ja, sehr gruselig. Und ich bin schon sehr darauf gespannt, wie ein Nichts aussieht.«

»Sehr witzig«, erwiderte Corinne und rollte mit den Augen. »Na dann, laufen wir eben ins Nichts.« Oder in unser Verderben, fügte sie in Gedanken hinzu.

Der Aufstieg war anstrengend, Corinne geriet außer Puste, was auch an ihrer inneren Anspannung liegen mochte. Dann, wenige Minuten später, erreichten sie das obere Ende des Weges und gelangten an eine Lichtung. Das Licht des Vollmonds kämpfte sich durch den schwachen Dunst, der in der feuchtkalten Luft schwebte. Die Wipfel der Tannen erhoben sich dunkel vor dem Nachthimmel. Inmitten dieser Lichtung klaffte ein schwarzes, leicht geöffnetes Maul, das von mehreren hohen und niedrigen Felsbrocken umrahmt war.

Irgendwo raschelte es im Gebüsch, Corinne zuckte zusammen und bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper. Ihre Furcht wurde größer, und trotzdem war sie fasziniert von diesem irgendwie gruseligen Anblick.

»Wow«, flüsterte Jason. »Das ist wahnsinnig spannend.« Er klang jetzt nicht mehr ganz so gelassen wie vorhin, ehe sie den Weg nach oben angetreten hatten. Aber er wollte weiter, das spürte Corinne deutlich. So war er nun einmal, nichts konnte ihn von seinen Plänen abbringen. Ein Sturkopf, dennoch oder gerade deswegen liebte sie ihn.

Wieder glitt der Schein der Taschenlampe durch die Nacht. Ein weiterer Reflektor, nur ein kleiner Punkt an einem Felsen, blinkte auf, als das Licht ihn streifte.

»Das muss es sein. Wir haben’s geschafft«, stellte Jason fest. Seine Zähne leuchteten weiß in der Dunkelheit, seine Augen glänzten vor Glück.

»Ja, toll, lass uns nachsehen, was dort ist, und dann hauen wir ab, okay?« Corinne wäre lieber sofort gegangen, behielt das aber für sich, um Jason nicht zu enttäuschen. »Es ist gruselig hier.«

»Da gebe ich dir ausnahmsweise einmal recht. Wir beeilen uns lieber.« Jason setzte sich in Bewegung und zog Corinne hinter sich her.

Außer dem Knirschen ihrer Schritte auf dem von kleinen Ästen und Laub übersäten Boden war es ruhig, beinahe zu ruhig. Corinne fühlte sich beobachtet, schob den Gedanken aber rasch beiseite. Wer sollte sich hier schon mitten in der Nacht herumtreiben? Vielleicht wilde Tiere, die nur auf ihre Chance warteten, ihre Opfer in der Luft zu zerreißen. Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand diese nächtliche Schatzsuche ausschrieb, obwohl es hier gefährlich war. Genau, warum also machte sie sich diese Sorgen? Sie würden sich das Zeug schnappen, den Weg zurückgehen, in ihr Auto steigen und ins Motel fahren. Sie freute sich schon darauf, sich in Jasons Arme zu kuscheln.

Schließlich standen sie vor dem Felsen, den Jason als Zielobjekt auserkoren hatte, und Corinne fühlte sich schon etwas besser. Zumindest solange, bis sie das Knacken der Äste hörte, das die Stille der Nacht zerschnitt, und sie zusammenfahren ließ.

»Oh mein Gott, Jason, hast du das auch gehört?«, fragte sie leise.

Jason lauschte, schüttelte dann den Kopf. »Was denn?«

»Ich glaube, hier treibt sich jemand herum.« Wieder hörte sie etwas. Ein Rascheln, ein Knirschen. »Vielleicht werden wir beobachtet. Bitte, Jason, lass uns gehen.« Sie stellte fest, dass der Nebel sich verzogen hatte, und der Mond jetzt so hell herunter schien, dass die Tannen bizarre Schatten auf den feucht glänzenden Boden warfen.

Corinne sah sich nervös um. War dort nicht gerade eben etwas umhergehuscht? Angst kroch durch Corinnes Körper und ließ sie erzittern.

»Ich hab’s gleich«, erwiderte Jason. Er ließ seine Hand in dem Felsen verschwinden, der offenbar innen hohl war. »Uh, ich hab was gefunden. Sieh dir das an.« Er zog eine schmale Schachtel heraus, die er gleich darauf vorsichtig öffnete.

Corinne schlug die Hand vor den Mund, um den Schrei zu unterdrücken, der sich aus ihrer Kehle nach oben bahnte, während sie fassungslos auf die Tarotkarte starrte. Ein grinsendes Skelett, das in der knochigen Hand eine Sense hielt.

»Das ist ein saublöder Witz«, stellte Jason fest.

»Oder auch nicht«, zischte eine Stimme direkt hinter ihnen.

Corinne machte einen Satz zur Seite, drehte sich um und sah, wie eine vermummte Gestalt auf Jason zustürzte und zu Boden warf. Er rollte sich auf den Rücken und versuchte, sich wieder aufzurichten.

Zu spät!

Ein Schlagstock sauste auf ihn herab und traf ihn seitlich am Kopf. Jason fiel zurück auf den Boden, wo er benommen liegen blieb. Doch das genügte dem Maskierten nicht. Er verpasste Jason noch weitere Schläge gegen die Arme, Hände und den Nacken. Laut stöhnend blieb er regungslos, aber bei Bewusstsein liegen.

Corinne löste sich endlich aus ihrer Starre und wollte weglaufen, kam aber nicht mehr dazu. Ein kräftiger Arm umfasste sie von hinten und hielt sie fest. Der Versuch, sich dem Griff zu entwinden, misslang. Auch ihre Tritte nach hinten blieben wirkungslos. Eine Schlinge legte sich um ihren Hals. Corinne wand sich, drehte den Kopf ein wenig und blickte in zwei schief zueinanderstehende Augen über einer riesigen Nase. Mehr konnte sie von dem Gesicht nicht erkennen, es erinnerte sie aber an eine Figur aus einem Zeichentrickfilm, den sie als Kind gesehen hatte.

Quasimodo, der Glöckner von Notre Dame.

Nur war dieser Mann keine Figur aus einem Film, sondern real, riesengroß und Furcht einflößend.

Corinne begann zu frösteln, als die Schlinge um ihren Hals enger wurde. Mit den Fingern versuchte sie, den Strick zu lockern. Keine Chance. Tränen schossen ihr in die Augen, sie schnappte nach Luft, versuchte zu schreien, doch nur ein jämmerliches Krächzen drang aus ihrer Kehle.

»Worauf wartest du noch, Wächter?«, hörte sie die eiskalte Stimme des maskierten Mannes. »Bring sie zum Schweigen.«

»Ja …, Meister«, antwortete Corinnes Peiniger.

Wächter, Meister?, dachte sie. Was treiben die beiden hier für ein krankes Spiel? Nein, ein tödliches Spiel.

Sie blinzelte die Tränen weg und riss die Augen auf. Keine zwei Meter von ihr entfernt versuchte Jason, sich mit den Händen nach oben zu stemmen, doch fehlte ihm offensichtlich die Kraft. Der Meister baute sich über ihm auf, packte sein Haar und riss Jasons Kopf nach hinten. In seiner freien Hand hielt der Mann ein Messer, die Klinge blitzte im Mondlicht auf.

Jason sah Corinne voller Angst an. Seine Lippen bewegten sich, als wollte er ihr etwas sagen. Vielleicht ein Abschiedsgruß, ein letztes »Ich liebe dich«, weil er wusste, sie waren verloren.

Ihre Augen blickten tief in die Augen ihres Ehemannes und seine in ihre, als der Maskierte das Messer über Jasons Kehle zog. Corinne schloss die Augen. Das Seil um ihren Hals wurde enger, zum Glück schwanden ihr jetzt schnell die Sinne. Dichter, schwarzer Nebel sank auf sie herab, der sie gleich darauf gnädig verschlang.

 

VIER

 

… blutüberströmt sackte der Mann auf den felsigen Boden. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, aber aus seiner Kehle drang nur noch ein heißeres Gurgeln. Er starrte mich an. Und dann …

… riss ich die Augen auf.

Mein Atem rasselte, als ich die Luft hektisch in meine Lungen pumpte. Mein Herz raste so schnell, als wollte es einen Hundertmeterlauf gewinnen. Nicht nur im Traum hatte ich die Luft angehalten, sondern auch im Schlaf.

Ich setzte mich auf und sah mich um. Das trübe Licht des Morgens kämpfte sich durch die zugezogenen Vorhänge ins Innere des Raums. Ich erkannte die Silhouette eines Bettes, in dem ich saß, und die eines Tisches unter dem Fenster. In einer Ecke stand ein Kleiderschrank. Ich befand mich in einem Motelzimmer. Natürlich, wo denn sonst?

»Es war nur ein Traum«, redete ich mir gut zu und vergrub mein Gesicht in den Händen. »Ein Traum, verdammt, nur ein Traum.« Mein Herz und meine Atmung beruhigten sich, die Bilder in meinem Kopf verblassten. Ich entspannte mich etwas und sank zurück in die Kissen.

Dieser Traum war mir nicht neu. Während meiner Zeit im Knast hatte er mich regelmäßig heimgesucht, später dann seltener und irgendwann überhaupt nicht mehr. Trotzdem erinnerte ich mich an das Blut, an die Augen des sterbenden Mannes und ganz verschwommen an eine Frau, die laut kreischte.

Woher diese Bilder stammten, wusste ich nicht. Vielleicht aus einem schlechten Film oder so etwas in der Art. Jahrelang hatte ich nicht mehr an diesen Traum gedacht, hatte mir keine Gedanken mehr darüber gemacht. Jetzt war ich in Coldmont und der Traum kehrte zurück. Ich rieb mir mit beiden Händen übers Gesicht, wischte die elenden Gedanken fort und verließ das Bett, um mich für die Beerdigung meines Vaters fertigzumachen.

***

Nach einer langen Dusche und einem knappen Frühstück machte ich mich auf den Weg zum Trauergottesdienst. Der Himmel war bedeckt, einzelne schwere Tropfen fielen aus dunklen Wolken herab und zerplatzten auf der Windschutzscheibe meines Wagens wie die Träume meiner Kindheit. Ich beobachtete, wie die Scheibenwischer die Überreste der Regentropfen fortwischten, und fragte mich zum wiederholten Male, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, hierher zu kommen. Und wieder redete ich mir ein, dass ich das Richtige tat.

Ich parkte am Straßenrand gegenüber der Kirche und stieg mit heftig pochendem Herzen aus. Zum Glück regnete es nicht mehr und am grauen Himmel zeigten sich einzelne, blaue Lücken, die Sonne aber noch nicht.

Als ich meine Mutter entdeckte, erfasste mich ein tiefes Gefühl der Trauer. Tränen stiegen mir in die Augen, als ich ihr Gesicht betrachtete, das sich abgesehen von einigen Falten mehr, kaum verändert hatte. Ich erinnerte mich an ihren strengen Blick, wenn ich nicht das tat, was sie von mir verlangte, oder wenn ich abends zu spät nach Hause kam, weil ich mich zu lange mit Freunden herumtrieb. Und ich dachte an ihr Lächeln, wenn sie stolz auf mich gewesen war.

Ich wischte mir über die Augen, sammelte mich einen Moment und ging entschlossen auf meine Mutter zu.

Sie sah mich erstaunt, oder eher zutiefst erschüttert an. »Matt? Du bist tatsächlich gekommen.«

»So sieht’s aus.« Ich lockerte den Knoten meiner Krawatte, weil ich kaum mehr atmen konnte. Meine Nervosität steigerte sich noch mehr, als ich die vielen Leute betrachtete, die um uns herum standen und mich anstarrten, als wäre ich ein Zombie, der gerade eben aus seinem Grab gestiegen war. Ich sah weg und entdeckte meinen Cousin Billy, der geradewegs auf mich zukam.

Er war zwei Jahre jünger, etwas kleiner und dünner als ich. Eine halbe Portion. Bevor der Autounfall mich aus meinem gewohnten Leben riss, waren Billy und ich wie Brüder gewesen. Genau wie ich, hatte auch er keine Geschwister. Vermutlich deswegen hatte er den Kontakt zu mir niemals ganz abgebrochen. Erst vor wenigen Monaten hatte er mich in Pittsburgh besucht, einfach so. Ihn selbst hatte es nie in die Großstadt gezogen. Nach dem College wollte er freiwillig zurück nach Coldmont, um an der hiesigen Highschool Lehrer zu werden. In dem Punkt hatte er meinem Vater nachgeeifert, der ebenfalls Lehrer gewesen war.

»Mit dir habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Hättest du nicht wenigstens anrufen und Bescheid geben können?«, fuhr Billy mich an. Er schob seine in Richtung Nasenspitze verrutschte Brille zurück an ihren Platz, direkt vor die blauen Augen.

»Hätte ich tun können, habe aber nicht daran gedacht«, gab ich ebenso barsch zurück. »Und warum hast du mich nicht angerufen?«

Er betrachtete meine Mom, die sich eilig davonmachte, weil sie angeblich dringend zum Priester musste, um etwas mit ihm zu klären. Ich sah ihr nach und fragte mich, ob sie es Billy untersagt hatte, mich wegen meines Vaters anzurufen.

»Ehrlich gesagt habe ich drüber nachgedacht«, sagte er. »Aber dann … Tut mir leid, Mann, ich hab’s nicht so gemeint. Ich freu mich, dass du da bist, auch wenn ein anderer Anlass mir lieber gewesen wäre.« Billy umarmte mich kurz und blickte mich dann freundlicher an. »Wie geht's Amy? Ist sie hier?«

»Amy geht's gut, und nein, sie ist nicht mitgekommen.« Ich musterte ihn. »Und was ist mit dir? Du siehst blass aus.«

»Kein Wunder, oder?« Seine Augen wurden feucht, er schüttelte den Kopf. »Gott, ich vermisse ihn jetzt schon.«

Ein tiefes Räuspern hinter mir unterbrach unser Gespräch. Ich drehte mich um und blickte in zwei stahlblaue Augen, die einem Mann gehörten, den ich nie zuvor gesehen hatte.

»Sie sind Matt MacCarty, stimmt’s?«, sagte er und musterte mich von oben bis unten.

»Sieht man mir das an?«, fragte ich skeptisch.

Seine Augen blieben auf meinem Gesicht haften, er lächelte. »Allerdings. Sie sehen Ihrem Vater sehr ähnlich.«

»Da könnten Sie recht haben. Und Sie sind?«

»Mein Name ist Kane, Jack Kane. Ich war ein Freund Ihres Vaters. Er hat mir viel von Ihnen erzählt.«

Er reichte mir seine Hand, in die ich einschlug. Sein Händedruck war extrem fest und sein bohrender Blick machte mich nervös. Er war einen halben Kopf größer als ich und wirkte unter seinem schwarzen Anzug sehr athletisch. Sein braunes Haar war kurz geschnitten und an den Schläfen leicht ergraut. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig, Anfang fünfzig.

»Sie sagten eben, mein Vater hat Ihnen von mir erzählt?« Das konnte ich kaum glauben.

»Ja, sehr oft«, behauptete er. »Es tut mir aufrichtig leid, was mit ihm geschehen ist.«

Was mit ihm geschehen ist?

»Er hat sich umgebracht«, stellte ich klar.

»Zumindest sagt man das so.«

»Zumindest sagt man das so?«, wiederholte ich. »Und was sagen Sie dazu?«

Bevor er mir antworten konnte, fingen die Kirchenglocken an zu läuten. Das Gemurmel um mich herum verstummte, die Leute setzten sich in Bewegung und strömten in die Kirche. Und mir wurde mulmig zumute. Einen Moment dachte ich darüber nach, die Flucht zu ergreifen, doch dann riss ich mich zusammen und machte mich auf den Weg, um meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen.

Als ich so ziemlich als Letzter ins Innere trat, hakte meine Mutter sich wider Erwarten bei mir unter. Vielleicht brauchte sie eine Stütze, vielleicht wollte sie aber auch nur so tun, als hätten wir uns mittlerweile versöhnt. Oder um die Form zu wahren. Das jedenfalls hätte zu ihr gepasst. Ich tat ihr den Gefallen und spielte mit.

Andächtig marschierten wir auf den Sarg zu. Der Deckel stand offen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wollte meinen Vater nicht sehen, nicht so … tot. Die Anspannung in mir wuchs. Die Hand meiner Mutter verkrampfte sich an meinem Arm. Ihre Fingernägel bohrten sich durch mein Jackett schmerzhaft in meine Haut.

Schließlich kamen wir am Sarg an. Ich riskierte einen Blick auf meinen toten Vater und atmete auf, was absolut nicht angemessen war. Aber ich war erleichtert, weil der Leichenbestatter ganze Arbeit geleistet hatte. Ich fand keine Anzeichen einer Schussverletzung. Meine Mutter zerrte an meinem Arm, doch ich konnte mich nicht von dem Anblick lösen. Dads Gesicht sah so friedlich und auch ein wenig fremd aus. Natürlich war er sehr viel älter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Seine Hände lagen gefaltet auf seinem Bauch. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte, als würde er auf eine festliche Veranstaltung gehen. Sein früher mal dunkelbraunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen und licht geworden.

Viele Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. All die Bilder meiner Kindheit und Jugend brachen über mich herein und machten mich bewegungsunfähig. In diesem Augenblick bedauerte ich zutiefst, dass ich nicht mehr mit meinem Vater reden und mit ihm ins Reine kommen konnte. Regungslos stand ich an seinem Sarg, blickte in sein totes Gesicht und vergab ihm.

Ich hoffte, dass er mir vor seinem Tod ebenfalls vergeben hatte, löste mich aus meiner Starre und verließ schweigend die Kirche. Die Blicke der Leute folgten mir und bohrten sich in meinen Rücken, doch ich konnte nicht länger bleiben. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen. Die Tränen, die ich vergoss, waren für meinen Dad und für mich, niemand sonst sollte sie mit uns teilen.

Draußen begrüßte mich eine kühle Brise. Vögel zwitscherten sich in den wunderbarsten Tonlagen Lieder zu, während sie zwischen den Bäumen und vor dem wolkenverhangenen Himmel auf und ab flogen. Ich setzte mich auf eine Bank unter einer stattlichen Eiche und kurz darauf ließ Billy sich neben mir nieder.

Ich betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er sah besorgt aus.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Du hättest nicht herkommen sollen.«

»Wieso? Wegen meiner Mutter? Oder den Leuten? Ah, ich weiß schon, die könnten sich über uns das Maul zerreißen.«

»Nein, darum geht’s nicht.« Billy sah sich nach allen Richtungen um. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, als er weiterredete. »Ich habe mich wirklich gefragt, warum du gekommen bist. Sechzehn Jahre lang habt ihr nicht mehr miteinander geredet, und jetzt plötzlich zieht es dich hierher?«

»Dad ist tot, ich wollte ihn noch einmal sehen«, sagte ich und blickte zur Kirche hinüber, wo mein Dad immer noch aufgebahrt war. Ich schauderte.

»Ach, nur deshalb?« Billy glaubte mir offenbar nicht. »Ich glaube, da steckt noch mehr dahinter. Deine Mom hat gesagt, er hätte dir geschrieben. Sie war außer sich, weil sie nichts davon wusste, bevor du angerufen hast.«

Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder und atmete tief durch.

»Was hat er dir denn überhaupt geschrieben, Matt?« Billy starrte mich eindringlich an.

»Nur, dass ich ihn anrufen soll. Und …« Ich stockte. »Als ich die Nummer angerufen habe, die in dem Brief stand, bin ich bei meiner Mom rausgekommen. Sie hat mir dann gesagt, was passiert ist. Und jetzt bin ich hier …, na ja, weil er mit mir reden wollte. Hast du eine Ahnung, worüber er mit mir reden wollte?«

»Keine Ahnung, das würde ich auch gerne wissen.« Billy stand laut seufzend auf und blickte auf mich herab. »Aber ganz egal, was er wollte, er ist tot und demnächst begraben. Du kannst also wieder nach Hause fahren.« Anschließend ging er zurück in die Kirche.

Ich blieb sitzen und grübelte. Vermutlich wäre es in der Tat das Beste gewesen, Coldmont zu verlassen, wäre Vaters Brief nicht gewesen, den ich nicht ignorieren konnte. Ich wollte, nein, ich musste einfach herausfinden, was dahintersteckte.

 

FÜNF

 

Als Letzter warf ich eine Handvoll Erde auf den Sarg meines Vaters, nachdem sie ihn in seinem Grab versenkt hatten. Ein Zittern durchfuhr mich, solange ich in das rechteckige Loch blickte und mir klar wurde, wie kostbar das Leben war, und dass es im Bruchteil einer Sekunde zu Ende sein konnte.

Der Friedhof befand sich außerhalb von Coldmont in nördlicher Richtung und bestand aus zwei Teilen. Im neueren, vorderen Teil befanden sich die Gräber der vergangenen zwanzig Jahre. Zwischen diesen und dem Wald lag der alte Teil, in dem sich auch die Gruften der ersten Siedler befanden, die vor über einhundert Jahren die Stadt Coldmont gründeten.

Vom Grab meines Vaters aus konnte ich einen Blick auf die uralte Kapelle werfen, die sich unter mehreren hohen Fichten zu verstecken versuchte, was mich nicht verwunderte, so vergammelt, wie die aussah. In einem Türmchen auf dem von Moos bewachsenen Dach hing die Glocke, die früher immer dann geläutet hatte, wenn ein Verstorbener zu Grabe getragen wurde. Das tat sie mittlerweile nicht mehr. Jedenfalls nicht an diesem Tag.

Die Trauergesellschaft löste sich langsam auf. Billy konnte ich nirgendwo mehr entdecken. Auch Jack Kane war bereits gegangen, nachdem er meiner Mutter und auch mir sein Beileid ausgesprochen hatte. Mom war ebenfalls verschwunden.

Ich machte mich auf die Suche nach ihr und fand sie schließlich auf einer Holzbank unter einer Buche. Sie sah mich nicht an, als ich mich neben sie setzte, aber ich bemerkte, wie sich ihre Mundwinkel ein klein wenig hoben.

Sie nahm meine Hand in ihre. »Ich kann mir vorstellen, dass es dir sehr schwer gefallen ist, herzukommen. Zuerst war ich entsetzt, aber jetzt bin ich doch froh, dass du es getan hast.«

Ich sagte nichts.

Sie ließ meine Hand los, damit sie ihre freihatte, um ihren schwarzen Rock glatt zu streichen. »Vielleicht wäre es damals doch besser gewesen, wenn du nach deiner Haftstrafe zurückgekommen wärst.«

»Darauf kommst du jetzt?«, fuhr ich sie an. »Kommt die Erkenntnis nicht etwas zu spät?«

»Würdest du bitte leiser reden?«, flüsterte sie und sah sich um, als hätte sie Angst davor, uns könnte jemand zuhören. So war sie schon immer gewesen. Bloß nicht auffallen. Ich wusste, dass sie an meiner angeblichen Schandtat zu knabbern hatte.

»Es ist nicht so, dass ich nicht wollte, und zum Glück hatte ich Robert Stone, als ich aus dem Jugendknast rauskam«, sagte ich. »Etwas Besseres hätte mir wahrscheinlich kaum passieren können.« Mal abgesehen davon, dass mein Dad auch nicht schlecht gewesen wäre, aber diesen Gedanken sprach ich lieber nicht laut aus.

Mom legte ihre Hand auf meinen Unterarm. »Dein Vater war sehr verbittert all die Jahre. Der Unfall und deine Verurteilung machten ihm zu schaffen. Und mir natürlich genauso. Trotzdem haben wir versucht, das Beste daraus zu machen.«

Das Beste daraus zu machen. War das ihr Ernst? Ich fand, sie redete sich nur etwas ein, aber wahrscheinlich war das ihre Art, mit der Situation umzugehen.

»Du hast am Telefon gesagt, dass er dir geschrieben hat«, wechselte meine Mutter das Thema. »Daran musste ich die ganze Zeit denken. Sagst du mir, was er von dir wollte?«

Ich klärte sie auf, doch auch sie konnte mir nichts dazu sagen. Offensichtlich hatte mein Dad sie nicht eingeweiht. Sehr merkwürdig, ich verstand immer weniger, was da vor sich ging.

»Wusstest du, dass ich Edward gefunden habe?«, fragte Mom unvermittelt.

Ich hatte das Gefühl, mein Herz wurde in einen Schraubstock geklemmt und langsam zusammengepresst, als ich mir vorstellte, was meine Mutter hatte durchmachen müssen. Mir fehlten die Worte, ich sagte nichts.

»In seinem Arbeitszimmer, als ich nach Hause kam«, fuhr sie fort. »Warum war ich nicht da, als er …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf.

»Mach dir deswegen keine Vorwürfe, Mom.« Ich zögerte, dann fügte ich hinzu: »Vielleicht hat er es ja gar nicht selbst getan.«

Mom zuckte zusammen und riss die Augen auf. »Wie kommst du darauf, Matt?«

»Weil es nicht zu ihm passt, und weil er mir diesen Brief geschrieben hat. Denk doch mal nach, Mom. Warum hätte er sich umbringen sollen, wenn er vorgehabt hatte, sich mit mir zu versöhnen? Das ergibt keinen Sinn.«

»Ach, jetzt verstehe ich, warum Edward den hier«, sie kramte in ihrer Handtasche herum und zog einen Schlüssel heraus, »nach sechzehn Jahren wieder in den Schlüsselkasten im Flur gehängt hat. Ich habe ihn dort entdeckt, nachdem sie deinen Vater weggebracht haben.«

Eine Träne rollte über ihre Wange, weitere folgten, und ich hielt meine eigenen mit aller Kraft in mir zurück. Rasch nahm ich den Schlüssel, der an einem Anhänger mit einer schwarzen Fledermaus auf gelbem Grund befestigt war. Batman, das größte Idol meiner Jugend.

»Das ist mein Schlüssel«, stellte ich fest. »Und Dad hat ihn erst vor ein paar Tagen wieder in den Schlüsselkasten gehängt?«

»Davon gehe ich aus, ja. Vielleicht hat dein Vater tatsächlich damit gerechnet, dass du nach Hause kommst. Wenn du willst, kannst du ins Haus, aber mich wirst du dort nicht antreffen, ich wohne für eine Weile bei deiner Tante.« Sie versuchte ein Lächeln, das ihr nicht so recht gelingen wollte. Schließlich erhob sie sich und sah auf mich herab. »Danke, dass du gekommen bist, Matt.« Danach wandte sie sich ab und ging davon.

Ich blickte ihr nach, dachte daran, ihr zu folgen, ließ es aber sein. Dann betrachtete ich den Schlüssel in meiner Hand und wusste, was ich zu tun hatte.

***

Als ich in meinem Wagen in die Straße einbog, in der ich früher gelebt hatte, wurde mir mulmig zumute. Langsam fuhr ich an den Häusern vorbei, die mir so vertraut und doch so fremd vorkamen. Ich fragte mich, ob noch immer dieselben Menschen darin wohnten wie früher, was aus deren Kindern geworden war, und ob die schon eigene Kinder hatten.

Schließlich erreichte ich mein altes Zuhause und hatte das Gefühl, niemals fortgewesen zu sein. Zögernd verließ ich mein Auto und ging langsam auf das Haus zu. Irgendwo schlug ein Holzladen gegen ein Fenster, und die Blätter der Efeuranken, die an der Fassade emporkletterten, raschelten im Wind. Vom Verandadach zwitscherte mir eine Spottdrossel leise etwas zu, gerade so, als wollte sie mir ein Geheimnis verraten. Leider verstand ich kein Wort.

Ich fragte mich, ob ich wirklich bereit war, eine Reise in meine eigene Vergangenheit zu unternehmen, sprach mir selbst Mut zu und stieg die drei Stufen zur Veranda empor. Das alte Holz ächzte unter meinen Schritten, ich fühlte mich wie ein Eindringling, doch dann riss ich mich zusammen und betrat das Haus.

Zuerst ging ich ins Wohnzimmer. An der hinteren Wand befand sich der Kamin, der uns in kalten Winternächten gewärmt hatte. In der Luft hing noch ein Hauch von verbranntem Holz. Ich stellte mir vor, wie meine Eltern einträchtig nebeneinander auf dem altmodischen mit Blümchen und Rüschen verzierten Sofa saßen. Sie hielten sich an den Händen, sie lächelten. Ich sah mich zwischen ihnen, lachend, weinend, streitend, aber glücklich.

Die Szene verdunkelte sich. Sie saßen dort ohne mich, älter, betrübt, mein Vater sah auf, in seinem Blick lagen Enttäuschung, Vorwürfe und Bitterkeit. Erschrocken und von Schuldgefühlen übermannt wich ich zurück, und das Bild löste sich auf.

Links von mir befand sich eine altmodische Anrichte aus dunklem Holz. Auf ihr standen die gerahmten, zum Teil schon verblichenen Familienfotos. Schwarz-Weiß-Bilder meiner Großeltern, ein Hochzeitsfoto meiner Eltern, weitere Schnappschüsse aus der Vergangenheit. Und zwischen all diesen Lebensmomenten entdeckte ich einen von mir.

Auf dem Foto war ich so um die sieben Jahre alt. Ich trug dunkelblaue Shorts und ein knallrotes T-Shirt, meine Füße waren eingegraben im Sand. Im Hintergrund erkannte ich das Meer mit Schaumkronen auf den Wellen und die Möwen, die zwischen der See und dem Himmel auf und ab flogen. Ich nahm das Foto in die Hand und betrachtete mein Gesicht darauf. Zwei der oberen Schneidezähne fehlten in meinem breit grinsenden Mund. Meine Nase war übersät mit Sommersprossen, und meine Augen strahlten in die Kamera. War ich das wirklich gewesen? Vielleicht in einem anderen Leben.

Kopfschüttelnd stellte ich die Aufnahme zurück an ihren Platz neben das Hochzeitsbild meiner Eltern und wandelte weiter durch meine Vergangenheit.

Ich betrat die Küche. Auch hier hatte sich kaum etwas verändert. Dieselben Küchenmöbel aus hellem Holz, derselbe rechteckige Tisch, dieselben Stühle mit den Kunststoffsitzen, die ich schon damals entsetzlich unbequem fand.

Für einen Moment schloss ich meine Augen und sah meinen Vater an der kürzeren Seite des Tisches sitzen, mit dem Rücken zum Fenster, in den Händen die Tageszeitung. Hoch konzentriert studierte er die Schlagzeilen aus aller Welt. Immer mal wieder blickte er mich über den Rand der Zeitung hinweg an. Meistens lächelte er. Ganz selten warf er mir auch grimmige Blicke zu.

Ich sehnte mich nach diesen Momenten, die mir Geborgenheit geschenkt hatten, und zugleich war mir bewusst, dass ich sie nicht zurückholen konnte.

Ich verließ die Küche, durchquerte den Flur und gelangte an die Tür zu Dads Arbeitszimmer. Zögernd öffnete ich sie und schielte durch einen schmalen Spalt in den Raum. Unter meinen Füßen knarrten die altersschwachen Dielen, als ich das Zimmer betrat. Der Geruch nach Möbelpolitur und Desinfektionsmittel hing in der Luft. Und noch etwas anderes, vielleicht ein Hauch Tod?

Mein Blick fiel auf die dunklen Flecken am Boden, vermutlich Dads Blut, das in die winzigen Risse des Holzfußbodens gesickert war. Mir zog sich der Magen zusammen, als ich mir vorstellte, wie er da gelegen hatte, eine Blutlache unter seinem Kopf.

Ich verdrängte die Bilder, machte einen großen Bogen um das eingetrocknete Blut und ließ mich auf der anderen Seite des aus dunklem Mahagoniholz gefertigten Schreibtischs in Dads Sessel nieder. Er ächzte laut unter meinem Gewicht, und ich sah mich erschrocken um. Nichts passierte.

Meine Finger glitten über das raue Leder an der Unterseite der Sitzfläche und fanden die Stelle, wo ich als Achtjähriger mit meinem nagelneuen Taschenmesser eine Kerbe hineingeschnitten hatte, um das Innenleben dieses Sessels zu erforschen. Dad schaute mich nur mürrisch an, als er meine Schandtat entdeckte, und nähte den Schnitt notdürftig zu. Mittlerweile klaffte er aber wieder auseinander. Ich zog meine Hand zurück.

Mein Blick fiel auf den Laptop, der auf dem Tisch lag. Ich klappte ihn auf und schaltete ihn ein. Während er startete, zog ich die Schubladen des Schreibtisches auf und spähte in jede Einzelne hinein. Darin befanden sich Locher, Tacker, Taschenrechner, Blöcke und jede Menge Stifte in allen erdenklichen Farben. Nichts von Bedeutung.

Genau wie auf dem Laptop, stellte ich nach einem Blick auf den Bildschirm fest, als das Betriebssystem vollständig hochgefahren war. Ich klickte mit der Maus auf das Start-Icon unten links. Es zeigten sich nur die Namen der Standardprogramme von Windows. Die Festplatte war formatiert worden. Vergangenen Montag Nachmittag. Am Tag des Selbstmords. Eigenartig.

Mein Blick fiel auf den Köcher, in dem noch mehr Stifte steckten. Doch was war das zwischen den Kugelschreibern? Ein Schlüssel. Ich zog ihn heraus und betrachtete ihn. Das war nicht irgendein Schlüssel, das war mein Zimmerschlüssel. Einer der wenigen, die in diesem Haus existierten. Als ich klein war, hatte meine Mom mich ab und zu in mein Zimmer eingeschlossen, wenn ich frech geworden war. Mein Dad hatte mich jedes Mal befreit, wenn er es mitbekommen hatte. Später benutzte ich den Schlüssel, um mich einzuschließen, wenn ich ungestört sein wollte.

Aber warum hatte er hier zwischen den Stiften gesteckt? Ich machte den Laptop aus und klappte ihn zu. Danach verließ ich das Arbeitszimmer und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock. Die Tür zu meinem alten Zimmer war abgeschlossen. Ich öffnete sie mit meinem Schlüssel, betrat den Raum und hatte das Gefühl, als wäre ich sechzehn Jahre in der Zeit zurückgereist.

An den Wänden hingen ausgebleichte Poster von Rockbands und von Motorrädern. Über dem Bett ausgebreitet lag noch die Patchwork-Tagesdecke, sauber und ordentlich zurechtgezogen.

In einem Regal neben der Tür stand zwischen Actionfiguren, Automodellen und anderem Kram ein großer Pokal, der mich an meine Schulzeit erinnerte. Mein Vater hatte die Basketballmannschaft trainiert, in der ich gespielt hatte. Einmal konnten wir sogar die Meisterschaft gewinnen und bekamen diesen Pokal überreicht. Nur konnte ich mich nicht daran erinnern, dass er jemals in diesem Regal zwischen meinen Sachen gestanden hatte.

Neugierig nahm ich ihn in die Hand, und als ich den Deckel abnahm, entdeckte ich im Inneren des Potts einen weiteren Schlüssel. Ich fischte ihn heraus und betrachtete ihn nachdenklich. Dann drehte ich den Pokal um und fand an der Unterseite prompt einen nagelneuen Aufkleber.

Darauf stand: »Für Matt. Glückwunsch, Dad.«

Was sollte das nun wieder? Glückwunsch? Wozu? Aber natürlich, er wollte, dass ich den Schlüssel finde. Mein Vater spielte eine Art Schnitzeljagd mit mir.

Ich setzte mich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch und öffnete alle Schubladen. Die meisten waren leer, nur in einer davon entdeckte ich ein Sparbuch, besser gesagt mein Sparbuch. Ich schlug es auf, blätterte darin herum und stellte fest, dass mein Vater das Konto erst vor wenigen Tagen aufgelöst hatte, und zwar an seinem Todestag. Immerhin hatten sich über zweihundert Dollar darauf befunden.

Ich blickte auf den Schlüssel, den ich im Pokal gefunden hatte, und mir ging ein Licht auf. Vielleicht passte er in ein Bankschließfach, gut möglich, dass mein Vater dort etwas für mich deponiert hatte. Ich zog den Aufkleber von dem Pokal ab, klebte ihn auf die letzte Seite meines Sparbuchs und klappte es zu. Den Schlüssel schob ich in meine Hosentasche.

Mein Blick fiel durchs Fenster auf die andere Straßenseite. Dort stand ein Mann. Er trug Turnschuhe, ausgebeulte Jeans und darüber eine dunkelgraue Sweatjacke mit einer Kapuze, die ihm weit ins Gesicht fiel. Ich fühlte seine Blicke auf mir, obwohl er eine Sonnenbrille vor den Augen hatte. Rasch duckte ich mich hinter den Schreibtisch, als wäre ich ein Einbrecher, der gerade auf frischer Tat ertappt worden war.

Zeit zu verschwinden. Ich stopfte das Sparbuch in die Tasche meines Jacketts, hastete die Treppe hinunter und verließ das Haus durch die Hintertür. Doch als ich um die Hausecke spähte, sah ich, dass der Mann weg war. Ich atmete auf und machte mich auf den Weg zur einzigen Bankfiliale in Coldmont, die sich im Stadtzentrum gegenüber des Rathauses befand.

Das Gebäude war aus rotem Backstein erbaut und sah so ähnlich aus wie das Rathaus, nur kleiner und bescheidener. Auf zwei weiße Säulen stützte sich ein schmales Vordach, das viel zu klein ausgefallen war und deswegen zum Rest nicht richtig passte.

Mein Herz pochte wie verrückt, als ich die fünf Stufen zwischen den Säulen hinauf auf den Eingang des Gebäudes zustürmte. Meine Euphorie wurde jedoch schlagartig ausgebremst, als ich die Öffnungszeiten entdeckte. Die Bank hatte Freitag nachmittags geschlossen und würde erst am Montag um neun Uhr wieder die Pforten öffnen.

So ein Mist. Das bedeutete, ich hing hier fest, in diesem verhassten Ort, in Coldmont. Sollte ich mir das tatsächlich antun? Ich war nicht sicher, wusste aber eines, ich wollte unbedingt wissen, was mein Vater in diesem Schließfach versteckt hatte.

 

SECHS

 

Ich fuhr ziellos in der Stadt herum, um die Zeit totzuschlagen, und fragte mich, ob mein Leben besser verlaufen wäre, hätte ich an jenem Abend vor sechzehn Jahren nicht in Steves Wagen gesessen. Und ich ging noch weiter zurück. Hätte Steves Weg meinen nicht gekreuzt, und wir wären uns niemals begegnet, was wäre dann aus mir geworden? Vielleicht ein Supersportler oder ein Computerfreak. Möglicherweise hätte ich jetzt und hier in Coldmont, irgendwo am Stadtrand, ein schmuckes Häuschen, eine fürsorgliche Frau und zwei Kinder, die im Garten tobten und mich abends lautstark begrüßten, wenn ich von einem langweiligen Schreibtischjob nach Hause kam.

Aber war es das, was ich wollte? Nein, eher nicht. Ich hatte mir in Pittsburgh ein Leben aufgebaut, in das ich hineinpasste. Niemals hätte ich die Freundschaft zu Robert Stone missen wollen. Nicht einmal die verruchten Kids, die in den Straßen der Großstadt ohne mich verloren gingen. Na ja, zumindest ein Teil davon respektierte mich. Und Amy? Ohne Steve, ohne den Unfall, und ohne meine Haftstrafe hätte ich diese wunderbare Frau höchstwahrscheinlich niemals kennengelernt. Allein der Gedanke an sie machte mich überglücklich. Und zugleich tat es weh, weil sie nicht bei mir war.

Als ich an meiner alten Schule vorbeifuhr, legte ich erst einmal eine Pause ein und blickte von meinem Wagen aus auf das alte Gebäude. Mir wurde schwer ums Herz. Ich hatte die zehnte Klasse noch nicht ganz hinter mir gehabt, als der Unfall mich aus meinem gewohnten Leben riss. Meinen Abschluss machte ich erst nach meinem Gefängnisaufenthalt. Zwar etwas verspätet, aber Robert bestand darauf, dass ich es tat. Es war ihm sehr wichtig, und mittlerweile war ich ihm deswegen dankbar.

Durch die geöffnete Fensterscheibe meines Wagens drang lautes Gelächter. Auf dem Schulhof trieben sich ein paar Jungs herum, die schätzungsweise vierzehn oder fünfzehn waren. Sie spielten Basketball, lachten miteinander und schubsten sich gegenseitig herum. Einer fiel nach einem heftigen Bodycheck zu Boden, der Angreifer streckte ihm die Hand entgegen und half ihm wieder auf. Die Jungs klopften einander auf die Schultern und führten ihr Spiel fort.

Ich seufzte, startete den Motor und warf einen Blick in den Rückspiegel. Dabei entdeckte ich einen blauen Ford Kuga, der gut dreißig Meter von mir entfernt am Straßenrand parkte. Im selben Moment, als ich losfuhr, setzte sich auch der Ford in Bewegung. Mir fiel ein, dass ich so einen Wagen vorhin in der Nähe meines Elternhauses gesehen hatte. Um herauszufinden, ob der Wagen sich an meinen hängen würde, fuhr ich kreuz und quer durch die Stadt. Und tatsächlich, der Kuga folgte mir in sicherem Abstand.

Erst als ich auf den Parkplatz des Motels einbog, scherte der Wagen aus, fuhr rasant an mir vorbei und davon. Ich blickte ihm noch hinterher, bis er um die nächste Kurve fuhr, und fragte mich, was das Ganze sollte. Schließlich verließ ich meinen Honda und betrat das Motel.

Linda telefonierte gerade, als ich an die Rezeption trat.

»Du kennst den Preis«, sagte sie ins Telefon und strahlte mich dabei an. »Dann sind wir uns ja einig.« Sie legte auf und gab mir meinen Schlüssel. »Hey, Matt. Wie lange hast du eigentlich noch vor zu bleiben?«

»Weiß ich noch nicht«, erwiderte ich. »Wieso?«

»Nur so. Ich muss doch wissen, wie lange das Zimmer noch belegt ist.«

Das war natürlich ein Argument, wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass die Zimmer hier so schnell knapp würden. Es waren nur wenige belegt. Doch bevor ich Linda eine Antwort geben konnte, klingelte ihr Telefon. Ich nutzte die Gelegenheit und verschwand rasch in mein Zimmer.

Dort befreite ich mich erst einmal von dem unbequemen Anzug, machte es mir auf dem Bett gemütlich und rief Amy an.

»Hey, mein Schatz«, meldete sie sich wie gewöhnlich.

»Hey, Baby«, sagte ich und lächelte, als ich mir vorstellte, wie sie ihre Haare um ihren Zeigefinger wickelte. »Wie geht‘s dir? Wie war die Verhandlung?«

»Alles glattgegangen, wir haben gewonnen«, antwortete Amy. »Und bei dir? Soweit alles gut?«

»Geht so.« Ich erzählte ihr von der Beerdigung und davon, was ich alles in meinem Elternhaus gefunden hatte.

»Oha, dein Vater legt Spuren aus und bringt sich danach um?«, sagte Amy skeptisch. »Seltsam, oder?«

»Mehr als seltsam. Ich muss das unbedingt klären.«

Amy sagte nichts darauf, aber ich hörte, wie sie atmete.

»Das verstehst du doch sicher?«, hakte ich nach.

»Ja, klar, wenn du das unbedingt willst.«

Sehr überzeugt klang sie nicht, aber sie wusste, ich würde meine Meinung nicht ändern.

Anschließend plauderten wir noch über alle möglichen anderen Dinge, dann fiel ihr plötzlich ein, dass sie dringend weg musste, weil sie mit einer Freundin verabredet war.

Nachdem ich das Gespräch mit Amy beendet hatte, klopfte es an der Tür. Ich schlüpfte in meine Jeans, zog mir ein Hemd über und öffnete. Draußen stand Linda.

»Was willst du?«, fragte ich.

»Ich hab ne Frage.« Sie zog die Augenbrauen hoch und lächelte.

»Worum geht’s?«

»Ich hab ein kleines Problem. Na ja, nicht direkt ich«, antwortete sie zögernd. »Das ist ziemlich kompliziert. Stimmt es, dass du Jugendlichen hilfst, die vom rechten Weg abkommen?«

»Die vom rechten Weg abkommen?«, wiederholte ich und fragte mich, woher sie das wusste. Aber egal, mein Beruf war kein Geheimnis. »So kann man das auch ausdrücken. Ja, zumindest versuche ich es.«

»Kann ich reinkommen?« Linda wartete meine Antwort nicht ab. Sie trat an mir vorbei ins Zimmer, ließ sich auf der Bettkante nieder und schlug die Beine übereinander. Dabei ließ sie mich nicht aus den Augen.

Ich fragte mich, was das jetzt sollte und wartete erst einmal ab.

»Es geht um meinen Neffen«, erklärte sie. »Er ist grade mal vierzehn und schon in ein Drogengeschäft verwickelt. Meine Schwester ist verzweifelt, seitdem sie‘s rausgefunden hat. Vielleicht kannst du ihm die Sache ausreden. Du kennst dich doch mit so was aus.«

»Es geht also um Drogen?« Mir zog sich der Magen zusammen. Ausgerechnet Drogen. »Ruf die Cops, wie wäre es denn mit deinem Ex? Oder am Besten gleich den Sheriff.«

»Ha! Du machst wohl Witze! Damit mein Neffe im Knast landet, so wie du?«

Autsch, der Seitenhieb saß, und ich ging beinahe in die Knie, weshalb ich mich in den Sessel gegenüber des Bettes fallen ließ. »Genau deshalb habe ich keinen Bock drauf, mich in schmutzige Geschäfte einzumischen.«

»Ach komm schon. Du sollst doch nur mit ihm reden. Bitte, Matt. Das wär echt lieb von dir.« Linda streckte ihre Hände aus und legte sie auf meine Knie. Ganz langsam wanderten ihre Finger meine Oberschenkel entlang aufwärts. Dabei lächelte sie sehr verführerisch, ihre blauen Augen sahen mich herausfordernd an, ihr Fußrücken berührte meine Wade.

»Gefällt dir das?«, säuselte sie, während ihre Hand sich allmählich meiner Gefahrenzone näherte.

Ob mir das gefiel? Natürlich gefiel mir, was sie da tat, und ich spürte auch bereits eine lustvolle Regung in mir. Höchstwahrscheinlich hätte ich die Situation auch sofort ausgenutzt, wäre Amy nicht gewesen, die ich über alles liebte und niemals hintergangen hätte.

Ich stand ruckartig auf und machte einen Schritt rückwärts von Linda weg. »Hör zu, Linda. Wenn du unbedingt meine Hilfe willst, dann rede ich mit deinem Neffen. Aber du brauchst deswegen nicht mit mir in die Kiste zu steigen.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Wie? Willst du das etwa nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin in festen Händen und da will ich auch bleiben.«

Linda erhob sich und trat so nahe an mich heran, dass ihr Atem meine Wange kitzelte. »Sie muss es doch nicht erfahren. Es ist ja nicht so, dass du mir nicht gefällst. Wir könnten eine Menge Spaß zusammen haben.«

»Vergiss es.« Ich ging zur Tür und öffnete sie. »Du solltest jetzt gehen.«

»Na schön.« Endlich hatte sie es kapiert. »Aber du redest mit meinem Neffen.«

»Ja. Ich rede mit ihm, wenn du mich jetzt in Ruhe lässt. Wo und wann?«

»Kennst du die verlassene Farm, wo am Wochenende die Partys stattfinden?«

»Nein.«

»Ich zeig sie dir. Wir treffen uns um halb neun an deinem Wagen.«

Ich versprach ihr, pünktlich zu sein. Dann endlich verließ sie mit schwingenden Hüften mein Zimmer, und ich nahm erst einmal eine kalte Dusche.

***

Kurz vor halb neun betrat ich den Parkplatz, öffnete den Kofferraum des Hondas und steckte mein Sparbuch in ein Seitenfach. Den Schließfachschlüssel legte ich zum Reserverad unter die Kofferraumabdeckung, wo er nicht so einfach zu finden wäre. Ich hatte diese beiden Gegenstände nicht in meinem Motelzimmer zurücklassen wollen, und fand, dass sie in meinem Auto ganz gut aufgehoben waren.

Zufrieden schloss ich den Kofferraumdeckel und wartete auf Linda. Sie kam pünktlich.

»Danke, dass du mir hilfst«, sagte sie lächelnd. »Und wegen vorhin, ähm, tut mir leid, dass ich zu weit gegangen bin. Aber ich mag dich irgendwie.«

Ich fühlte mich geschmeichelt, mehr aber auch nicht. Wir stiegen in den Wagen und fuhren los. Die Farm befand sich außerhalb und westlich von Coldmont zwischen weitläufigen Wiesen und dem Waldrand gelegen, und ich kannte sie doch. Paul, mein verschwundener Freund, war hier aufgewachsen. Ich erinnerte mich an die Pferde, die früher auf den weitläufigen Koppeln geweidet hatten. Jetzt war das alles Brachland. Die ehemals weiß gestrichenen Holzzäune waren zerbrochen oder umgekippt. Das sah irgendwie gespenstisch aus. Fehlten nur noch ein paar Steppenroller, die übers Land fegten.

Ich parkte mein Auto ein gutes Stück vom Haupthaus entfernt neben einem Holzschuppen, stieg aus und beobachtete von Weitem das bunte Treiben. Aus unzähligen Lautsprechern dröhnte laute Musik. Einige Jugendliche schlenderten an mir vorüber. In den Händen hielten sie Bierflaschen und vermutlich waren auch härtere Sachen dabei. Sie rauchten Zigaretten und lachten. Ich fragte mich, ob die Eltern darüber Bescheid wussten, was die Kids hier so trieben, und warum die Polizei das nicht unterband. Andererseits, sind wir nicht alle mal jung gewesen?

Als Linda sich neben mich stellte, fragte ich sie, seit wann die Farm leer stehe.

»Puh, so genau kann ich dir das auch nicht sagen. Seit knapp zwei Jahren oder so.« Sie winkte ab. »Hast du die Leute gekannt?«

»Paul Kennsington war ein Freund von mir.« Nein, er war nicht nur ein Freund gewesen, sondern ein sehr guter Freund. Wir kannten uns von klein auf, hingen ständig zusammen herum. Später erst kam Steve dazu. Danach zogen wir zu dritt um die Häuser und machten allerhand Dummheiten.

»Ehrlich? Paul war ein Freund von dir?«, unterbrach Linda meine Gedanken. »Du weißt aber schon, dass er vor einiger Zeit verschwunden ist?«

»Vor sechzehn Jahren«, murmelte ich und fragte Linda, ob sie mehr darüber wisse.

»Nein. Ich weiß nur, dass er abhandengekommen ist und von seinen Eltern vor ein paar Jahren für tot erklärt wurde.« Sie sah mich genervt an. »Aber deswegen sind wir jetzt nicht hier. Wir sollten nach meinem Neffen Ausschau halten.«

Ich nickte und folgte ihr am Haupthaus vorbei zu den hinteren Ställen. Es war etwas dunkler dort hinten, die Musik drang nur noch gedämpft herüber. Der optimale Ort für ein Drogengeschäft.

»Siehst du? Dort drüben ist er.« Sie zeigte auf einen schmächtigen Jungen, der neben einer alten Scheune stand und eine Zigarette rauchte. »Geh und rede mit ihm.«

»Kommst du nicht mit?«, fragte ich.

»Nein, ich warte lieber hier, sonst wird er noch misstrauisch.«

Das war ein Argument, also ging ich alleine auf den Jungen zu und sagte: »Hi.«

»Was willst du denn, Alter?« Er sah mich skeptisch an.

Alter? Ich versuchte es damit: »Hast du ne Kippe für mich?«

»Meinetwegen.«

Er zog eine Schachtel aus seiner Jacke und hielt sie mir hin.

»Und Feuer?«

»Sonst noch was?«, fragte er sarkastisch, entzündete aber dennoch ein Streichholz, an dem ich mir den Glimmstängel ansteckte.

Schon vor Jahren hatte ich mir das Rauchen abgewöhnt. Der erste tiefe Zug brannte in meinen Lungen. Ich unterdrückte den Hustenreiz. Der zweite Zug ging besser, der dritte schmeckte schon fast, weswegen ich die Zigarette zu Boden fallen ließ und austrat.

»Ich hab gehört, du hast auch anderen Stoff?«, fragte ich den Burschen.

»Und wer behauptet das?«

Der Junge wirkte ganz schön abgeklärt, doch davon ließ ich mich nicht beeindrucken. »Na ja. Das hat mir deine Tante erzählt.«

Er schüttelte den Kopf und lachte. »Sehr witzig. Ich hab gar keine Tante.«

Als ich mich umdrehte, um auf Linda zu zeigen, war sie nicht mehr da. Ein paar Männer kamen auf uns zu, und der Junge rannte weg, so schnell, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihm her.

»Matt MacCarty«, sagte einer der Männer mit schnippischem Tonfall, als er vor mir stand. »Nicht zu fassen, du bist tatsächlich hier.«

Mir blieb beinahe das Herz stehen, als ich in dem Mann meinen Erzfeind Steve Spyro erkannte, und ich wollte nur noch weg. Zu spät. Ich war bereits von drei weiteren Männern umzingelt, eine Flucht unmöglich.

Das Licht eines aufflammenden Streichholzes huschte über Steves Gesicht. Schräg über seine Wange verlief eine Narbe, die kurz vor seinem Kinn endete. Sein hellblondes Haar hing ihm strähnig in die Stirn, genau wie früher. Seine Augen funkelten bösartig.

»Jetzt verstehe ich. Du hast das Ganze hier eingefädelt«, stellte ich fest. »Du wolltest, dass Linda mich mit allen Mitteln überzeugt, hierher zu kommen.«

»Kluges Kerlchen. Linda tut so ziemlich alles für Geld.«

»Du hast sie dafür bezahlt?«

»Na klar, was denkst du denn? Du kannst dir aber trotzdem was drauf einbilden, sie treibt es nicht mit jedem. Selbst sie hat ihren Stolz.« Steve verzog den Mund zu einem Grinsen. »Sie war ein klein wenig enttäuscht, dass du nicht mir ihr vögeln wolltest. So eine Gelegenheit lässt du sausen? Bist du im Knast schwul geworden, oder was?«

Die Männer lachten.

»Was willst du?«, fragte ich. »Mich volllabern?«

»Volllabern? Nein, ich will dich fertigmachen.« Seine silbergrauen Augen funkelten im Mondlicht, es war ihm mehr als ernst. »Du hast mich verraten.«

Ich schluckte, mein Puls beschleunigte. »Redest du von dem Geheimnis und dem Schwur?«

»Von was?« Er wich zurück, seine Augen huschten in den Höhlen hin und her. Meine Frage hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Leider fing er sich schnell wieder. »Keine Ahnung, was du meinst. Du hast meinen Wagen geklaut und zu Schrott gefahren.«

»Dafür willst du Rache? Ich habe das nicht getan, Steve. Du bist selbst gefahren. Warum lügst du immer noch?«, sagte ich möglichst ruhig, was nicht ganz einfach war.

Er ging nicht auf meine Frage ein, gab seinen Kumpanen aber einen Wink. Zwei davon packten meine Arme. Ich versuchte, mich loszureißen. Keine Chance. Steve zog ein Klappmesser, ließ die Klinge herausspringen und drückte die Spitze gegen meine Stirn oberhalb meiner Augenbraue. Ich erstarrte.

»Hübsche Narbe. Von dem Unfall, stimmt's?«, sagte er.

»Stimmt. Aber woher weißt du das, Steve, wenn du nicht im Wagen warst?«

Seine Antwort kam nicht sofort. Ich sah, wie er blinzelte, doch seine Unsicherheit verflog rasch.

»Vermutlich habe ich davon gehört«, murmelte er und wandte sich an den breitschultrigen Hünen, der direkt hinter ihm stand. »Mach ihn fertig.«

Noch einmal versuchte ich, mich aus dem Griff der zwei anderen Männer zu winden. Sinnlos. Der Hüne baute sich vor mir auf und rammte seine Faust mit voller Wucht in meinen Bauch. Ich klappte zusammen und schnappte nach Luft. Meine Beine gaben nach, die Männer hielten mich aufrecht. Unwillkürlich dachte ich an den Jugendknast. Zu oft hatte ich im Dreck gelegen und Prügel eingesteckt. Damals schwor ich mir, es nie wieder so weit kommen zu lassen.

»Wehr dich«, flüsterte meine innere Stimme mir zu. »Wenn du es nicht tust, machen sie dich alle.«

Steves Handlanger holte erneut aus, doch bevor er zuschlagen konnte, trat ich mit dem Fuß kräftig nach oben und traf den Kerl in seine empfindlichste Stelle. Er stöhnte auf und krümmte sich zusammen. Ich nutzte die Verwirrung der beiden anderen Männer, bekam meine Arme frei und rannte los. Allerdings kam ich nicht weit, weil von der anderen Seite zwei weitere Schläger mir den Fluchtweg versperrten.

Sie stürzten sich auf mich und prügelten auf mich ein. Ich rollte mich am Boden zusammen, die Arme schützend über meinem Kopf, und hoffte nur noch, dass sie mich am Leben ließen.

 

SIEBEN

 

Sämtliche Knochen und Muskeln in meinem Körper taten mir weh, als ich eine Polizeisirene hörte, die sich zügig näherte und dann abrupt verstummte. Endlich ließen die Kerle von mir ab. Steve beugte sich zu mir herunter und steckte etwas in meine Jackentasche.

»Es ist noch nicht vorbei, MacCarty«, flüsterte er. »Du wirst es noch bereuen, mich jemals kennengelernt zu haben.«

»Das tue ich schon lange«, presste ich heraus.

»Was zur Hölle ist hier los?«, unterbrach eine weibliche Stimme unseren Disput.

Steve richtete sich auf. »MacCarty wollte den Jugendlichen Drogen verkaufen«, log er und grinste überheblich auf mich herab.

Verfluchter Mistkerl, dachte ich, als mir klar wurde, was er mir in die Jacke geschoben hatte. Das sah nicht gut für mich aus.

»Und deshalb hast du ihn verprügeln lassen?«, fragte die Frau.

Es gelang mir, mich aufzusetzen, obwohl jede Bewegung schmerzte. Ich schmeckte Blut in meinem Mund, das ich angewidert ausspuckte.

»Er wollte abhauen«, sagte Steve. »Wir haben ihn aufgehalten, dabei ist er leider gestürzt.«

»Und das soll ich dir glauben?«, erwiderte die Frauenstimme.

Ich kam auf die Beine, stützte mich mit den Händen auf den Knien ab und atmete tief durch. Langsam kehrte die Kraft in mich zurück, und ich sah auf. Vor mir stand eine Frau in Uniform, die ich noch von der Schule her kannte. Ihr Name war Christie Hawkins.

»Matt MacCarty«, sagte sie, musterte mich und runzelte die Stirn. »Kaum in der Stadt und schon wieder Ärger am Hals?«

Ich zuckte die Achseln und blickte mich um. Dabei fiel mir der Mann in der grauen Sweatjacke auf. Er lehnte an einem Ford Kuga, die Kapuze seiner Jacke hatte er tief in die Stirn gezogen, trotzdem fühlte ich seine Blicke auf mir, genau wie heute Nachmittag, als er mich durchs Fenster meines Zimmers angesehen hatte. Ich fragte mich, ob er einer von Steves Kumpanen war. Doch irgendwie passte er so gar nicht dazu.

Christie forderte mich auf, die Hände hinter dem Kopf zu verschränken und ihr Kollege, ein junger Officer, tastete mich von oben bis unten ab. War ja klar, was er in meiner Jackentasche finden würde.

»Was ist das?«, fragte Christie und hielt mir ein Päckchen unter die Nase. »Drogen?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Das gehört mir nicht.«

»Was macht es dann in deiner Jacke?«

»Weiß ich nicht, wirklich.«

»Du kommst jetzt erst mal mit aufs Revier«, beschloss Christie. Ihr Kollege legte mir Handschellen an. Dann führten sie mich ab.

***

Auf dem Revier stellten die beiden Cops mir jede Menge Fragen, ich berief mich jedoch auf meine Rechte und verweigerte die Aussage. Als Gegenleistung verweigerten sie mir das Recht zu telefonieren und sperrten mich in eine Arrestzelle im Untergeschoss des Polizeireviers.

Dort unten war es still, zu still nach meinem Geschmack. In der Luft hing der ekelhafte Geruch nach Urin und Erbrochenem, was ich zu ignorieren versuchte. Außerhalb der Zelle brannte in einer Ecke so eine Art Nachtlicht, das den Raum nur wenig heller machte. Zum Glück, denn so genau wollte ich meine Umgebung gar nicht sehen.

Ich saß auf der harten Pritsche und betrachtete die Gitterstäbe, die mich von meiner Freiheit trennten, und wurde wütend. Auf Steve und auch auf mich selbst, weil ich so dumm gewesen war, in seine Falle zu tappen. Einmal mehr dachte ich an die Zelle im Jugendknast, die ich mit verschiedenen Jungen teilen musste. Sie waren gekommen und gegangen, wie Besucher, nein, wie Suchende, die jeglichen Halt in ihrem Leben verloren hatten. Genau wie ich.

Ich erhob mich und ging hin und her. Noch einmal ließ ich die vergangenen Tage Revue passieren. Zuerst die Aufregung über den Brief meines Vaters, dann die ernüchternde Erkenntnis, dass er sich erschossen hatte. Ich dachte an sein friedliches, aber wächsernes Gesicht und an die Zeit, die wir gemeinsam verbracht hatten, die ich aber nicht zurückholen konnte.

Steve drängte sich in meine Gedanken. Schon immer war er unberechenbar gewesen. In der Schule machte er seinen Mitschülern das Leben zur Hölle. Nur mich ließ er seltsamerweise in Ruhe und einige Jahre später, wir waren zehn Jahre alt, entwickelte sich zwischen uns so etwas wie Freundschaft. Mit ihm zusammen war es mir möglich, meine Grenzen auszutesten, mich auszutoben, mich an ihm zu messen. Ich mochte ihn, und vielleicht war ich der einzige Mensch, dem er einen Blick in sein Herz gewährte. Darin fand ich sehr viel Gutes. Steve konnte freundlich und hilfsbereit sein, doch im nächsten Moment verwandelte er sich wieder in ein Monster.

Vermutlich kam er mit sich selbst nicht klar. Seine Mutter verschwand aus seinem Leben, da waren wir zwölf. Ob sie mit einem anderen Mann durchgebrannt, oder was sonst mit ihr geschehen war, hatte ich niemals erfahren, und Steve wohl auch nicht. Sein Vater packte ihn in Watte und steckte ihm selten Grenzen. Im Grunde konnte Steve tun und lassen, was er wollte, und ständig bekam er Geschenke.

Das Geräusch einer zuschlagenden Tür riss mich aus meinen Grübeleien. Ich hörte Schritte, sah jemanden durch den Raum huschen und wurde stocksteif. Doch als ich Christie Hawkins erkannte, entspannte ich mich wieder.

Sie musterte mich abschätzend und grinste dabei. »Matt MacCarty. Das ist echt ne Überraschung. Ich hätte nicht damit gerechnet, dich jemals wiederzusehen.«

Die gute, alte Christie. Na ja, sie war kaum älter als ich, höchstens ein Jahr. So genau wusste ich das nicht mehr. Aber ich erinnerte mich daran, wie direkt und forsch sie gewesen war. Einmal überfiel sie mich hinter der Schule, um mich zu küssen. Im Gegensatz zu mir wusste sie schon ganz genau, wie das mit dem Küssen funktionierte. Und, warum auch immer, sie verguckte sich in mich und wollte unbedingt mit mir gehen, wie man so schön sagte. Wir machten ein bisschen herum, aber ich merkte schnell, dass daraus nicht mehr als eine kurze Liebelei werden konnte, und beendete die Sache. Keine Ahnung, ob sie mir das übel genommen hatte.

»Christie Hawkins, du bist also ein Cop geworden«, sagte ich.

»Damit hast du wohl nicht gerechnet, was?«

»Nie im Leben. Du wolltest doch immer raus aus Coldmont.« Das hatte sie jedenfalls gesagt, als wir zusammen waren.

»Ja, das wollte ich«, bestätigte sie. »Aber wir bekommen nun mal nicht immer das, was wir wollen.«

»Da hast du recht. Und wie geht’s jetzt weiter mit uns?«

»Mit uns gar nicht«, erwiderte sie und rollte mit den Augen. »Die Chance hast du leider vergeigt.«

»Tut mir leid, aber wir haben einfach nicht zusammengepasst.«

»Stimmt auch wieder.« Sie seufzte laut. »Bist du mittlerweile verheiratet?«

»Noch nicht. Aber in festen Händen. Und du?«

Sie schüttelte den Kopf.

Wir schwiegen einen Moment. Ich musterte sie. Sie hatte sich kaum verändert in den letzten Jahren, ein wenig älter war sie geworden und reifer. Sie war einen halben Kopf kleiner als ich und mollig. Aber das war sie damals schon gewesen und ich fand, das passte zu ihr.

»Sag mal, Matt, warum bist du hier?«, fragte sie.

»Wegen meinem Dad.«

»Stimmt, hätte ich mir eigentlich denken können. Und was ist mit dem Zeug, das du bei dir hattest? War das für dich bestimmt?«

»Das glaubst du jetzt nicht im Ernst, oder? Ich rühre das Zeug schon ewig nicht mehr an. Ich habe meine Lektion gelernt.« Ich atmete tief durch. »Steve hat mich gelinkt, er hat’s mir untergeschoben. Ob du es glaubst oder nicht.«

»Oh, ich glaub dir, Steve ist ein Aas.« Sie zuckte die Achseln. »Morgen früh ist Chief Truman wieder da. Er wird sich um die Sache kümmern. Er ist der Boss.«

Chief Truman? Auch mit ihm hatte ich einige Male das Vergnügen gehabt.

»Weißt du, Matt, wegen dir muss ich jetzt hier Wache schieben. Ich geh dann mal wieder.« Sie wandte sich zur Treppe.

»Christie, warte«, rief ich sie zurück.

»Was ist noch?«

»Hast du meinen Vater gesehen, nachdem er sich, äh, du weißt schon … umgebracht hat?«, druckste ich herum.

Sie senkte den Blick. »Ja, hab ich.«

Ich wusste nicht warum, fragte sie aber nach den Einzelheiten. Vielleicht erhoffte ich mir, dadurch einen Schlussstrich ziehen zu können.

»Du willst das wirklich wissen?«, vergewisserte sie sich.

Ich nickte.

Christie schürzte die Lippen. »Nun, er hat sich in den Kopf geschossen. Peng.« Sie drückte ihren Zeigefinger gegen ihre Schläfe. »Man hat ihn auf dem Boden in seinem Arbeitszimmer gefunden, die Knarre noch in seiner Rechten. Unter seinem Schädel war eine Blutlache und …«

»Stopp!«, rief ich. Das reichte. Mir schlotterten bereits die Knie, ich hielt mich an den Gitterstäben fest, um nicht den Halt zu verlieren. Meine Fantasie schlug Purzelbäume, und ich konnte mir leider zu gut vorstellen, wie die Szene ausgesehen haben mochte. Ich dachte an die eingetrockneten Blutflecken in Dads Arbeitszimmer, schloss für einen Moment die Augen und dachte nach. Dann fiel mir etwas auf.

»Du hast gesagt, er hatte die Waffe in der rechten Hand? Bist du dir sicher?«

»Ja, absolut sicher, warum?« Sie kniff die Augen zusammen.

Ich winkte ab. »Ach, nur so.«

»Jetzt muss ich aber wirklich gehen, Matt«, sagte sie, machte auf dem Absatz kehrt und huschte davon.

Grübelnd legte ich mich auf die Pritsche, verschränkte die Hände unter meinem Kopf und blickte an die Decke. Mein Vater hatte sich also mit der rechten Hand erschossen. Das ergab keinen Sinn, war für mich aber der letzte Beweis, den ich noch gebraucht hatte, um endgültig nicht mehr an einen Selbstmord zu glauben. Mein Vater konnte nicht freiwillig gestorben sein, denn er war Linkshänder gewesen.

 

ACHT

 

Der Wächter starrte auf die hölzerne, mit rostigen Eisenbeschlägen besetzte Tür. Seit mindestens zehn Minuten stand er dort und dachte darüber nach, ob er sie öffnen sollte oder nicht. Er war nicht sicher, ob es richtig war, andererseits fragte er sich, ob er eine Wahl hatte.

Schon von draußen, im Wald, hatte er das Rufen gehört. Die Gefangene machte zu viel Krach. Was, wenn außer ihm noch jemand ihr Geschrei hören könnte? Der Wächter glaubte eher nicht, weil das Gefängnis sich im Keller eines Gebäudes mitten im Wald befand. Normalerweise kam hier nie jemand vorbei. Trotzdem sollte er die Frau umgehend zum Schweigen bringen, der Lärm machte ihn verrückt.

Nachdem er diese Frau vergangene Nacht eingefangen und solange mit seinem Seil gewürgt hatte, bis sie zusammengebrochen war, hatte er sie in diesen Raum verfrachtet. Nicht für sich, nein, sondern für seinen Meister, der sich um die Frauen kümmerte. Er, der Wächter, hatte andere Aufgaben. Zum Beispiel aufpassen, dass dem Schlund niemand zu nahe kam. Auch dieses Gebäude, in dem sich die Tür befand, die der Wächter anstarrte, musste er bewachen.

Wieder hörte er das Rufen. Der Wächter schnaubte genervt, er musste etwas tun. Also schob er den Riegel zur Seite und zog die Tür auf. Nachdem er den Raum betreten hatte, drückte er einen Schalter neben dem Türrahmen. Über ihm flammte eine schwache Glühlampe auf, die in einer schlichten Fassung steckte und von der hölzernen Decke baumelte.

Die Frau lag auf einem schmalen Bett, die Arme waren mit Handschellen an das Stahlrohrgestell des Kopfteils gefesselt, ihre Beine ans Fußteil, sodass es aussah, als würde sie in die Länge gezogen. Der Knebel, den der Wächter ihr verpasst hatte, hing um ihren Hals. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich davon zu befreien. Das war gar nicht gut.

Sie blickte ihn mit großen Augen an. »Was willst du von mir?«

Der Wächter schüttelte den Kopf. Er wollte gar nichts von ihr. Stumm betrachtete er sie.

»Was ist mit Jason?«, fragte sie weiter. »Was habt Ihr mit ihm gemacht?«

Der Wächter zog die Augenbrauen zusammen. »Jason?«

»Ja, Jason, mein Mann.« Ihre Stimme wurde weinerlich.

Der Wächter überlegte, was er ihr sagen sollte. Denken konnte er und handeln. Die richtigen Worte zu finden, fiel ihm schwer. Also sagte er nur: »Ist tot.«

Sie schüttelte den Kopf. »Oh Gott, nein, er … aber warum?«

Der Wächter zuckte die Achseln, neigte den Kopf und beobachtete die Tränen, die feucht glänzende Spuren auf den schmutzigen Wangen der Frau hinterließen. Sie begann zu schluchzen, und als er einen Schritt auf sie zumachte, kreischte sie los. Also blieb er stehen und blickte nachdenklich auf sie herab. Was sollte er mit ihr anstellen? Er wollte nicht, dass sie solchen Lärm machte, wagte sich aber nicht näher an sie heran.

In dem Augenblick spürte er einen kalten Luftzug im Rücken. Langsam drehte er sich um und blickte in das vermummte Gesicht des Meisters. Seine Augen funkelten, und vermutlich war er sehr wütend, da er seine Hände zu Fäusten ballte. Das machte der Wächter auch immer, wenn er sich ärgerte. Jetzt allerdings verspürte er eher so etwas wie Furcht. Er wich zurück und senkte demütig den Kopf.

»Du hast hier drin nichts verloren. Raus mit dir!«, befahl der Meister. »Sofort!«

Der Wächter verließ den Raum, sein Gebieter folgte ihm.

»Du sollst diesen Raum nicht ohne meine Erlaubnis betreten, wie oft habe ich dir das schon gesagt?«

Der Wächter blickte an die Decke, als suchte er dort nach einer Antwort, entdeckte aber nur eine größere Spinne, die sich auf ihren haarigen Beinen eilig davonmachte.

Der Meister seufzte. »Okay, schon gut. Vergiss es. Hast du den Toten aufgeräumt?«

Der Wächter nickte.

»Gut. Dann werde ich mich jetzt um unseren Gast kümmern.« Er wandte sich ab, ging in den Raum und zog die Tür schwungvoll hinter sich zu.

Der Wächter atmete auf, das war ja noch mal glimpflich für ihn ausgegangen. Anscheinend war der Meister milde gestimmt in dieser Nacht. Zum Glück. Langsam schritt der Wächter durch den schwach beleuchteten Vorraum. In einer Ecke surrte ein Stromgenerator leise vor sich hin. Der Wächter überprüfte, ob noch genügend Benzin im Tank war. Ja, alles bestens.

Durch die Tür des Zimmers drangen jetzt komische Geräusche. Der Wächter ging zurück, presste sein Ohr gegen das Holz und hörte zuerst ein Klatschen, wie das einer Ohrfeige, danach ein Wimmern und kurze, schmerzhafte Schreie. Denen folgte lautes Stöhnen, das schnell hektischer wurde.

Der Wächter hatte zwar keine Ahnung, was sein Meister dort drinnen trieb, aber eines wusste er, sehr bald schon würde es für ihn wieder etwas zum Aufräumen geben.

 

NEUN

 

Ein grelles Licht riss mich unsanft aus dem Schlaf. Ich öffnete die Augen und blinzelte in die flackernden Leuchtstoffröhren über mir. Bedauerlicherweise beleuchteten sie jetzt auch den ganzen undefinierbaren Dreck auf dem Boden, den Wänden und überall. Mir drehte sich beinahe der Magen um.

An der Zellentür machte sich ein Officer zu schaffen. Ich kannte ihn noch von der Schule, sein Name war Victor Hedges. Früher war er einer der kleinsten Jungs gewesen, und zumindest beim Basketball hatte er nie eine Chance gehabt, überhaupt in die Nähe des Korbs zu kommen. Mir fiel ein, dass er auch oft gehänselt worden war, weil er eine Brille tragen musste, die die Hälfte seines Gesichts bedeckte. Die trug er jetzt nicht mehr, und er war mittlerweile größer als ich. Zudem wirkte er sehr kräftig mit seinen breiten Schultern und den muskulösen Oberarmen, die kaum Platz in seiner Uniform fanden.

»Raus mit dir, der Boss will mit dir reden«, sagte er. »Mach bloß keinen Stress, klar? Sonst leg ich dir Handschellen an.«

»Schon gut, ich will keinen Ärger«, erwiderte ich und stand auf.

Hedges packte meinen Arm und schob mich die Treppe hinauf in einen langen Flur, aus dem jeweils zwei Türen in dahinter versteckte Räume führten. Ich spürte einen Druck auf meiner Blase und räusperte mich. »Kann ich vorher noch aufs Klo?«

»Hättest du das nicht in der Zelle erledigen können?«

»Äh, nein, dazu war keine Zeit. Du wolltest, dass ich aufstehe und mitkomme.«

»Auch wieder wahr. Na schön, warum auch nicht.« Er zerrte mich den Flur entlang zum Waschraum. Dort wartete er erstaunlich geduldig, bis ich fertig war. Während ich mir die Hände wusch, blickte ich in den Spiegel über dem Handwaschbecken. Zum Glück hatte ich durch die Prügelei nur wenige Schrammen abbekommen, die nicht weiter dramatisch aussahen. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht, zog ein paar Papiertücher aus dem Spender und trocknete mich damit ab.

»Hey, MacCarty, wir haben nicht ewig Zeit«, fing Hedges nun doch zu drängeln an.

Ich knüllte die Tücher zusammen und warf sie schwungvoll in den Mülleimer in der Ecke. Treffer. Dann wandte ich mich an Hedges.

»Ich habe heute noch nichts vor. Und du?«

»Willst du mich verarschen?« Der Officer blickte mich finster an.

»Nein, natürlich nicht. Tut mir leid, ich hatte eine schlechte Nacht.«

Sein Daumen wies zur Tür. »Raus jetzt, aber plötzlich.«

Victor führte mich in ein Büro. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann mit leicht zerzausten, rötlichen Haaren. Vor ihm auf dem Tisch lag eine Akte, die er konzentriert studierte. Er sah kurz auf, unsere Blicke begegneten sich, und obwohl sein Gesicht faltig und sein Bauch dicker geworden war, erkannte ich Chief Truman sofort.

»Brauchst du mich noch, Boss?«, fragte Victor.

»Nein, Victor. Ich glaube, mit Mr. MacCarty werde ich alleine fertig.« Truman sah zu, wie Hedges den Raum verließ, dann fiel sein Blick auf mich. »Wollen Sie sich nicht setzen?«

Ich ließ mich auf dem Holzstuhl gegenüber des Schreibtisches nieder und wartete.

»Einen Moment, junger Mann. Sie sind gleich dran«, sagte Truman und konzentrierte sich wieder auf den Bericht.

»Nur keine Eile.« Ich sah mich im Raum um und war verwundert darüber, dass sich kaum etwas verändert hatte, seitdem ich das letzte Mal hier gewesen war. Der Schreibtisch war derselbe wie damals. Immerhin, der Holzstuhl, auf dem ich saß, war neu, wackelte aber genauso wie der alte. Ich war noch keine dreizehn, da hatte ich zum allerersten Mal in diesem Büro gesessen.

Ich erinnerte mich daran, wie Chief Truman mich aus seinen runden, braunen Augen gemustert hatte. Die Falte zwischen seinen Brauen hatte ihm einen sehr strengen und tadelnden Gesichtsausdruck verliehen. Und dennoch hatte ich damals das Gefühl gehabt, einem gerechten Mann gegenüberzusitzen.

Ein Ladenbesitzer hatte mich beim Klauen erwischt. Im Grunde hatte ich es nie nötig gehabt zu stehlen. Mein Taschengeld reichte immer. Nein, es war der Nervenkitzel, der mich antrieb. Ich war süchtig nach dem Adrenalin, das durch meinen Körper pulsierte, wenn das Päckchen Kaugummi heimlich vom Regal in meine Hosentasche wanderte. Zum Glück wurden diese kleinen, na ja, wie soll ich sagen, Mutproben, nie wirklich geahndet. Mein Vater bezahlte den Kaugummi, und ich bekam Hausarrest. Im Grunde nur fair, oder?

Trumans Hüsteln holte mich aus meinen Kindheitserinnerungen zurück in die Gegenwart. Ich sah ihn an, da er mich aber noch immer nicht beachtete, ließ ich meinen Blick weiter durch den Raum schweifen.

Auf dem Fensterbrett stand eine Topfpflanze, die einst eine Zimmerpalme gewesen war, zumindest hatte sie noch ein wenig Ähnlichkeit mit so etwas. Ihre abgestorbenen, braunen Blätter standen in alle Richtungen ab. Warum, fragte ich mich, erlöste keiner dieses arme Ding?

»Mr. MacCarty«, riss Chief Truman mich jäh aus meinen absurden Gedanken. »Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, bevor ich entscheide, ob ich Sie übers Wochenende hier behalte oder nicht.«

»Was?« Noch eine Nacht in dieser Zelle? Nein danke. »Ich habe nichts verbrochen. Die Drogen wurden mir untergeschoben.«

Der Chief zog die Augenbrauen hoch. »Sie wollen jetzt also doch reden? Hier steht, Sie verweigern die Aussage.«

»Ich hab’s mir anders überlegt. Ich habe nicht vor, noch eine Nacht in diesem Drecksloch von Zelle zu verbringen.«

»Oho. Hätten wir gewusst, dass Sie uns besuchen kommen, hätten wir die Zelle natürlich renoviert und auf Hochglanz poliert. Nächstes Mal melden Sie sich bitte rechtzeitig an.«

Er runzelte die Stirn und wartete auf eine Reaktion, aber ich verkniff mir einen Kommentar.

Also fuhr er fort. »Mir liegen mehrere Aussagen vor, dass Sie Drogen verkaufen wollten.«

»Das hat Steve behauptet, oder?« Ich überlegte. »Hören Sie, Chief. Ich bin wegen der Beerdigung meines Vaters hergekommen. Wieso hätte ich Drogen verkaufen sollen? Glauben Sie allen Ernstes, dass ich so bescheuert bin? Ich habe fünfzehn Monate im Knast verbracht. Seitdem bin ich sauber geblieben. Nicht ein Strafzettel. Aber das haben Sie sicher schon gecheckt.«

Er musterte mich mit einem Blick, den ich nicht durchschauen konnte. »Natürlich habe ich das gecheckt. Nichtsdestotrotz haben Sie ein hübsches Vorstrafenregister.«

Das ich schon lange hätte löschen lassen sollen, dachte ich. Da ich von einem Jugendgericht verurteilt worden war, wäre das nur eine Formalität gewesen. Dazu hätte ich aber in meine Heimat reisen müssen, worauf ich bisher nicht sonderlich scharf gewesen war. Na toll. Ich nahm mir vor, die Löschung so schnell wie möglich zu beantragen, wenn ich schon in der Gegend war. Aber zuerst einmal musste ich heil aus dieser Drogensache herauskommen.

»Haben Sie Vorurteile, Chief Truman?«, ging ich zum Frontalangriff über und versuchte, trotz der aufsteigenden Unruhe, selbstbewusst zu klingen.

Truman räusperte sich und runzelte die Stirn. »Nein, junger Mann, das habe ich nicht. Trotzdem muss ich die Sache mit den Drogen prüfen.«

»Selbstverständlich.« Da fiel mir etwas ein. »Haben Sie meine Fingerabdrücke auf den Päckchen gefunden?«

Der eindringliche Blick des Chiefs haftete weiter auf mir, und ich wurde immer nervöser. Ich begann mit dem Fuß auf und ab zu wippen und rieb meine schweißnassen Hände an meiner Jeans ab.

»Möglicherweise habe ich auch das bereits prüfen lassen.« Er lehnte sich nach vorne, stützte sich mit den Ellbogen auf der Tischplatte ab und legte die Handflächen aufeinander. Mit den Zeigefingern fuhr er sich über seine rissigen Lippen.

»Und?«, fragte ich.

»Ihre Fingerabdrücke sind tatsächlich nicht auf den Päckchen, was aber nicht heißen soll, dass ich Sie jetzt laufen lasse.«

»Sie haben aber keinen weiteren Beweis dafür, dass ich Drogen verkauft habe oder verkaufen wollte.« Der Kerl machte mich langsam aber sicher wahnsinnig.

»Doch, die Aussagen von Steve Spyro und einem seiner Freunde.« Er schmunzelte, und ich fragte mich, was er so witzig fand.

Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um noch etwas nachzuschieben, als es an der Tür klopfte. Truman erhob sich und öffnete. Christie stand im Türrahmen und flüsterte ihrem Boss etwas zu, das ich nicht verstehen konnte. Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an und machte die Tür wieder zu.

»Heute ist Ihr Glückstag«, sagte er, als er zurückkam. »Ein Zeuge hat ihre Aussage bestätigt.«

»Ach.« Ich atmete auf. »Und wer ist dieser Zeuge?«

»Er will anonym bleiben.«

»Also ein Mann?«

»Sie sollen keine dummen Fragen stellen. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, fahren Sie nach Hause. Am besten sofort, bevor Sie mir noch mehr Scherereien machen.«

»Ich werde darüber nachdenken, hätte aber zuerst noch eine Frage«, sagte ich und rückte mich auf dem Stuhl zurecht.

Truman nahm meine Wertsachen aus einer Schublade und gab sie mir. »Was wollen Sie noch?« Sein Bürostuhl ächzte bedenklich, als er sich hineinfallen ließ.

»Haben Sie wegen des Selbstmords meines Vaters ermittelt?«

Seine Augenbrauen rückten so nahe zusammen, sie berührten sich beinahe. »Da gab es nicht viel zu ermitteln. Er hat sich erschossen.«

»Sie haben sich also nicht gefragt, ob er es selbst getan hat?«

Der Chief zögerte einen Moment.

»Hören Sie, Ihr Vater hatte die Waffe in der Hand. Es gab keine Hinweise auf Gewalt. Also, warum sollte er es nicht selbst getan haben?«

Ich zuckte die Achseln. »Weil er keinen Grund hatte, sich umzubringen?« Und weil er Linkshänder war, fügte ich in Gedanken hinzu, behielt das aber für mich.

Der Chief seufzte, stand auf und stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab. »Das mit Ihrem Vater ist eine furchtbare Sache. Ich bin sehr bestürzt. Er war ein guter Mensch und Lehrer. Alle haben ihn gemocht. Aber er ist tot und begraben. Sie können also wieder nach Hause fahren. Das wäre das Beste für Sie und für Coldmont. Klar jetzt?«

Ich dachte über seine Worte nach. Vielleicht sollte ich meine Zelte abbrechen und die Vergangenheit ruhen lassen. In Pittsburgh wartete Amy auf mich und eine Menge Kids, die meine Hilfe brauchten. Andererseits hatten die Geister meiner Vergangenheit mich fest im Griff. Sie ließen einfach nicht von mir ab.

»Gut, dann werde ich jetzt gehen«, sagte ich und stand auf.

»Großartige Idee. Und ich hoffe, ich sehe Sie nicht so schnell wieder«, erwiderte er und schloss hastig die Tür, nachdem ich sein Büro verlassen hatte.

Christie stand grinsend im Flur. »Da bist du ja glimpflich davongekommen, Matt.«

»Nun, ich habe ja auch nichts verbrochen.«

»Auch wieder wahr. Du fährst also nach Hause?«

»Irgendwann ganz sicher«, sagte ich grinsend und verließ das Revier.

Als ich draußen auf dem Gehweg stand und mich umsah, hatte ich keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Vielleicht zur Farm gehen und meinen Wagen holen? Gute Idee. Aber zuerst würde ich mir Verstärkung holen. Ich zog mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer meines Cousins. Er meldete sich nach dem dritten Läuten.

»Hey, Billy. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen«, kam ich gleich zur Sache.

»Was hast du ausgefressen?«, fragte er. »Ich habe schon gehört, dass du in der Zelle geschlafen hast.«

»Du hast schon davon gehört?«

»Ja klar, wir sind in Coldmont. Du weißt, wie schnell sich solche Sachen hier verbreiten.« Er klang wenig begeistert, trotzdem versprach er, sich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen.

 

ZEHN

 

Fünfzehn Minuten später fuhr mein Cousin einen zerbeulten Kleinwagen an den Straßenrand vor dem Coffeeshop, wo ich mir erst einmal einen Kaffee gegönnt hatte. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und bedankte mich für Billys Hilfe.

Während wir zur Farm fuhren, erzählte ich ihm, was zwischen Steve und mir vorgefallen war.

»Dieser Mistkerl hat dich also reingelegt«, stellte Billy fest.

Ich nickte. »Und ich war so bescheuert, drauf reinzufallen.«

»Mehr als bescheuert«, stimmte Billy zu. »Du solltest Steve besser aus dem Weg gehen.«

»Ach ja? Danke für den Rat, ich werd’s versuchen.«

Kurz darauf erreichten wir die Farm und meinen Wagen. Oder besser gesagt das, was von ihm übrig geblieben war. Ich sprang aus Billys Auto und starrte auf ein Wrack. Alle Reifen des Hondas waren zerstochen, die Scheiben ringsherum zersplittert und die Motorhaube sah aus, als hätte eine Herde Büffel Stepp darauf getanzt. Im Inneren sah es nicht besser aus. Die Sitze waren aufgeschlitzt, der Schaumstoff in kleinen Schnipseln überall im Innenraum verteilt.

Wutentbrannt kickte ich gegen den Kotflügel und hätte am liebsten laut losgeschrien.

»Dein Wagen sieht aber gar nicht gut aus«, stellte Billy fest. Er sah mich mitfühlend an. »Was glaubst du, wer das getan hat?«

»Steve, dieser verdammte Mistkerl. Wer denn sonst.«

Langsam ging ich um den Wagen herum und betrachtete das Heck. Zumindest dieses sah, von den zertrümmerten Rücklichtern mal abgesehen, intakt aus. Ich schloss den Kofferraumdeckel auf und klappte ihn nach oben.

Billy spähte über meine Schulter, während ich ein Fach öffnete und darin mein Sparbuch fand. Ich atmete aber erst auf, als ich auch den Schlüssel in Händen hielt, den ich unter dem Reserverad versteckt hatte.

»Was ist das denn?«, wollte Billy wissen.

»Wonach sieht’s denn aus?«

Er verzog das Gesicht und sah mich mürrisch an. »Ein Schlüssel und ein Sparbuch?«

»Gut erkannt, Cousin.« Ich steckte den Schlüssel in die vordere Tasche meiner Jeans, das Sparbuch in die Gesäßtasche, danach schlug ich den Kofferraumdeckel zu.

»Willst du das der Polizei melden?«, fragte Billy. »Ich kann dich zurück zum Revier fahren.«

Ich lehnte dankend ab. Zum einen hatte ich die Nase voll von denen, zum anderen wollte ich keinen unnötigen Ärger mit Steve heraufbeschwören. Mir war klar, ich würde den Kürzeren ziehen.

»Drüben in Greensbury gibt es eine Werkstatt«, sagte Billy. »Und einen Schrottplatz.«

»Okay, darum kümmere ich mich aber später «, murmelte ich und wandte mich von dem Wagen ab.

Mein Blick fiel auf den ganzen Müll, der mir vorhin gar nicht aufgefallen war. Leere Flaschen, vor allem Bier und Schnaps, Zigarettenschachteln, abgebrannte Kippen und Papiertüten lagen überall verstreut herum.

Ich fragte Billy, ob er über die Partys Bescheid wisse, die hier regelmäßig stattfanden.

»Ja, klar. Jeder weiß das.«

»Das ist aber nicht legal, Billy.«

»Schon möglich, das interessiert aber niemanden.«

»Ach so, und warum nicht? Das waren Minderjährige, vielleicht Schüler von dir. Die haben geraucht und Alkohol getrunken. Was ist mit deren Eltern? Finden die das in Ordnung?«

»Frag mich nicht, Matt. Keine Ahnung, was die Eltern dazu sagen, und es ist mir auch egal.«

»Es ist dir egal?«

»Nun ja, ich versuche, den Jugendlichen klar zu machen, was Alkohol und Drogen aus ihnen machen können.« Er legte den Kopf schief und sah mich herausfordernd an. »Du weißt ja, wie das ist.«

»Ja, eben. Gerade deswegen verstehe ich nicht, warum keiner was dagegen unternimmt.«

»Tja, Steve Spyro veranstaltet diese Partys und sein Vater ist nun mal der Bürgermeister von Coldmont und Eigentümer dieser Farm.« Billy hob die Schultern an und ließ sie wieder fallen. »Das hier ist kein öffentlicher Platz, sondern Privatbesitz. Verstehst du? Im Grunde können die hier tun und lassen, was sie wollen.«

»Partys feiern und Drogen verkaufen?«

»Und noch einiges mehr.« Billy blinzelte, nahm seine Brille ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann sah er mich an. »Steves Vater hat die Farm gekauft, als der alte Kennsington im Sterben lag. Mrs. Kennsington konnte von Spyros Geld die Einäscherung ihres Mannes bezahlen und danach wegziehen. Sie hat die Urne mitgenommen und ein Haus in einem Vorort von New York gekauft.«

»Ganz alleine für sich?«

»Nein. Für ihre Tochter, den Schwiegersohn und zwei Kinder ist auch noch genug Platz drin.«

Das hörte sich nach einem großen Haus an, das eine Stange Geld gekostet haben musste. Dass Pauls Mutter die Farm verkauft hatte und weggezogen war, fand ich verständlich, aber ich fragte mich, warum Steves Vater in eine alte Farm investierte, die er danach verkommen ließ? Nur als Spielplatz für seinen Sohn? Irgendwie passte das alles nicht so recht zusammen.

»Matt, wir sollten verschwinden«, riss Billy mich aus meinen Grübeleien. »Da kommt ein Wagen.«

Ich sah auf und entdeckte ein Auto, das über den Schotterweg auf die Farm zuraste und eine Staubwolke hinter sich herzog. Nein, das war nicht irgendein Auto, sondern ein Ford Mustang, Steves bevorzugte Marke. Das konnte nur mein ehemaliger Freund sein.

»Bitte, Matt«, drängelte Billy. »Du solltest ihm wirklich aus dem Weg gehen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt nicht.«

Jetzt wollte ich die Gelegenheit nutzen, ein paar Dinge mit Steve zu klären.

Der Mustang kam direkt neben mir zum Stehen. Steve stieg aus und kam auf mich zu. Als er unmittelbar vor mir stand, fixierte ich seine Augen und hoffte, darin etwas zu finden, das mich an früher erinnerte. Ich fand aber nichts.

»Was treibst du noch hier?«, fragte er. Eine Alkoholfahne stob aus seinem Mund und stieg mir unangenehm in die Nase.

»Eigentlich wollte ich nur meinen Wagen holen.«

Er betrachtete den Honda und grinste. »Oh oh, der hat gestern aber besser ausgesehen.«

»Warst du das?«

Er zuckte die Achseln. »Zumindest sind wir jetzt quitt. Jedenfalls, was das Auto angeht. Du hast meins zu Schrott gefahren, ich wollte mal sehen, was deins so aushält.«

Wut stieg in mir auf, aber ich wollte mich nicht von Steve provozieren lassen. Deswegen schluckte ich sie wieder hinunter.

»Ich habe dein Auto nicht zu Schrott gefahren, Steve«, sagte ich möglichst gelassen. »Das warst du selbst.«

Er sagte nichts.

»Du hast mich vor dem Unfall von zu Hause abgeholt«, fügte ich hinzu. »Wir haben etwas geraucht und sind danach über diesen Feldweg gerast. Warum streitest du es immer noch ab?«

In seinen Augen sah ich zunächst Wut, danach Unsicherheit und zuletzt noch etwas, das ich nicht so richtig deuten konnte. Vielleicht Entsetzen oder gar Wahnsinn?

»Wir haben uns gestritten, Steve, kurz bevor dieser Unfall passiert ist. Worum ging es dabei?«, fuhr ich fort.

Steve warf einen Blick auf Billy, der einige Meter entfernt auf der Fahrerseite seines Wagens wartete und schon große Ohren bekam.

»Das Geheimnis, Steve«, sagte ich mit gesenkter Stimme, damit Billy nicht alles mitbekam. »Was haben wir uns geschworen? Ich kann mich nicht erinnern. Und du?«

Steve senkte den Blick, schüttelte den Kopf und wankte rückwärts, bis er gegen seinen Wagen stieß.

Ich ging auf ihn zu. »Kannst du mir wenigstens sagen, was mit Paul passiert ist? Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«

Steve sah auf, seine Augen funkelten. »Nein, verdammt, er hat sich nicht in Luft aufgelöst. Der Wichser ist tot.«

»Was?« Mir zog sich der Magen zusammen. »Woher weißt du das, Steve?«

»Keine Ahnung, ist halt so. Und du, MacCarty, solltest dich von hier verpissen. Ist das klar?«

»Und was, wenn nicht?«

»Dann mach ich dich fertig«, erwiderte er. »Es war eine saublöde Idee von dir, nach Coldmont zurückzukommen.«

»Ah ja? Ich wäre auch nicht hier, wenn mein Vater nicht gestorben wäre«, sagte ich, obwohl ich mich Steve gegenüber gar nicht rechtfertigen wollte.

»Stimmt, dein Alter hat sich das Gehirn weggepustet.« Er seufzte theatralisch. »Aber weißt du, Matt, mich wundert das nicht. Er ist doch nie darüber hinweggekommen, was du angerichtet hast. Du hast mein Auto geklaut und eine Frau fast damit umgebracht. Dein Vater war danach nicht mehr derselbe. Er hatte schwer daran zu knabbern. Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis er sich den Rest gibt.«

Steves Worte versetzten mir einen schmerzhaften Stich, und falls er mir ein schlechtes Gewissen einreden wollte, war ihm das gelungen.

Billy trat neben mich. »Matt, lass uns fahren. Diesen Mist brauchst du dir nicht anzuhören.«

Steve blickte ihn zornig an. »Und mit dir habe ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen, Billy Carson.«

Billy ging nicht auf Steves Worte ein, packte stattdessen meinen Arm und schob mich zu seinem Wagen. Ich ließ mich auf den Beifahrersitz fallen, Billy schlug die Tür zu, hastete um den Wagen herum und warf sich auf den Fahrersitz. Billy startete den Motor, trat das Gaspedal seines Wagens durch, und wir brausten davon.

***

Während Billy sein Auto durch die Stadt lenkte, blickte ich schweigend auf die Häuser, die Bäume, die Frauen, die Männer und die lachenden Kinder, an denen wir vorüberfuhren, und dachte wieder und wieder über Steves Worte nach, die mir einfach nicht aus dem Kopf gehen wollten. Obwohl ich wusste, dass Steve nur meine Gefühle hatte verletzen wollen, steckte doch ein Funken Wahrheit in seiner Aussage. Ich fühlte mich schuldig am Tod meines Vaters, am Bruch mit meinen Eltern und am Bruch mit Steve, obwohl ich für all das nichts konnte.

»Du wirst dir das hoffentlich nicht zu Herzen nehmen, was Steve da von sich gegeben hat, oder? Er ist nur ein kranker Irrer«, unterbrach Billy meine Grübeleien. Er zog gerade die Handbremse seines Autos an. Der Motor ging aus. »Du hast deinen Vater nicht auf dem Gewissen, Matt.«

»Schon möglich, aber trotzdem habe ich Mist gebaut«, murmelte ich und sah mich um. Wir parkten vor dem Haus meiner Tante, Billys Mutter. Sein Vater war vor einigen Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.

»Du wohnst immer noch hier?«, fragte ich.

»Ja. Ich benutze die obere Etage, Mom die untere. Ein eigenes Haus kann ich mir nicht leisten, und eine Frau mit richtig viel Kohle, einer Villa im Grünen und einem Ferrari in der Garage habe ich in diesem Kaff noch nicht gefunden.« Er seufzte. »Außerdem braucht meine Mutter Gesellschaft. Sie leidet immer öfter an Depressionen. Warum also sollte ich ausziehen? Hast du ein Problem damit?«

Ich schüttelte den Kopf. Natürlich hatte ich kein Problem damit, dass er hier wohnte, nur wollte ich ungern meiner Mutter begegnen. Jedenfalls nicht im Moment. Doch Billy beruhigte mich. Meine Mom war mit seiner Mutter unterwegs. Bei irgend so einer Veranstaltung in der Kirche.

Ich folgte meinem Cousin ins Haus und die Treppe nach oben. Seine Bude bestand aus einem Wohnzimmer mit einem Sofa und zwei Sesseln, einer durch eine Theke abgetrennte Küchenzeile, in der sich das ungewaschene Geschirr in schwindelnde Höhen stapelte. Hinter einem Raumteiler befanden sich ein breites Bett und ein Schrank. Ich ließ meinen Blick über das zerwühlte Bettzeug und die Kleidungsstücke wandern, die auf dem Boden verteilt waren.

Billy zuckte die Achseln, als er meinen offensichtlich kritischen Gesichtsausdruck bemerkte. »Sorry, ich wusste nicht, dass ich Besuch bekomme. Stört’s dich?«

»Nein, nein, keine Sorge. Bevor ich Amy kennengelernt habe, hat es bei mir ähnlich ausgesehen.« Wenn auch nicht ganz so chaotisch, und mittlerweile wurde ich zur Ordnung gezwungen. Amy hasste es, wenn ich überall meine Sachen herumliegen ließ.

Billy öffnete ein Fenster – eine sehr gute Idee, die Luft war so dick, man hätte sie in Scheiben schneiden können – und bat mich, Platz zu nehmen. Ich setzte mich in einen der beiden Sessel und wartete, bis Billy zwei Tassen Kaffee auf den Tisch stelle und sich mir gegenüber auf dem Sofa niederließ.

»Was hast du jetzt vor? Schon eine Idee, wie du nach Pittsburgh kommst?«, fragte er mich, nachdem er an seiner Tasse genippt hatte.

»Ich habe nicht vor, so schnell abzureisen. Zuerst muss ich noch etwas klären.«

»Echt? Und worum geht‘s?« Er sah mich mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis an. »Hat es etwas mit deinem Dad zu tun?«

»Vermutlich. Weißt du, ob er Feinde hatte? Könnte es sein, dass ihn jemand tot sehen wollte?«

Billy riss die Augen auf. »Glaubst du, er wurde umgebracht?«

»Ich weiß es nicht.« Ich dachte darüber nach, Billy in alles einzuweihen, ließ es dann aber sein, weil ich ihn nicht unnötig in die Sache reinziehen wollte. Aber ich wollte etwas von ihm wissen. »Sag mal, Billy, kannst du mir etwas über diesen Jack Kane erzählen? Er hat behauptet, er wäre ein Freund meines Vaters.«

Billy nickte. »Kane ist letztes Jahr im Sommer nach Coldmont gekommen. Er hat ein altes Farmhaus gekauft und auf Vordermann gebracht. Weil er angeblich mal ein Basketballprofi war, hat er angeboten, die Schulmannschaft zu trainieren. Dein Vater hat das davor alleine gemacht und war dankbar, Unterstützung zu kriegen. Seitdem Kane da mitmischt, konnten die Jungs sogar ein paar Siege verbuchen. Kane ist wirklich gut, was Basketball angeht, trotzdem ist er mir nicht ganz geheuer.«

»Inwiefern?«

»Keine Ahnung, Mann. Ist nur so ein Gefühl.« Billy winkte ab. »Das muss nichts heißen.«

»Okay. Aber mit meinem Vater war er befreundet?«, wiederholte ich meine Frage von vorhin.

»Ja, ich glaube, sie haben sich ganz gut verstanden.« Billy runzelte die Stirn. »Aber kürzlich haben sie sich gewaltig in die Wolle gekriegt.«

»Echt jetzt? Was war?«

»Letzte Woche Sonntag, vor dem Spiel, waren dein Vater und Kane in der Kabine. Sie haben sich gestritten. Ich dachte zuerst, es ginge um die Mannschaft.«

»Und?«

»Darum ging es nicht.«

»Und worum ging es dann? Jetzt sag schon, Billy.« Ich wurde langsam ungeduldig.

Er zögerte kurz, nahm seine Brille ab, setzte sie wieder auf. Dann endlich rückte er mit der Sprache heraus. »Na ja, die Rede war von einem düsteren Geheimnis, und es ging um Paul und darum, was du mit dem Ganzen zu tun hast.«

 

ELF

 

Mit einem miesen Gefühl im Bauch verließ ich meinen Cousin. Er borgte mir sein Motorrad mit der Bitte, ich solle das nicht auch noch zu Schrott fahren. Das baute mich nicht wirklich auf, aber ich schaffte es ohne Zwischenfall zu meinem Motel.

Zum Glück empfing mich hinter der Theke nicht Linda, sondern ein älterer Mann mit grauen, glatt nach hinten frisierten Haaren, kantigen Wangenknochen und tiefen Runzeln auf der Stirn. Er musterte mich von oben bis unten, als ich meinen Zimmerschlüssel verlangte, händigte ihn mir aber ohne ein Wort von sich zu geben aus.

Nachdem ich geduscht und mich von den lästigen Bartstoppeln befreit hatte, lag ich auf dem Bett, den Brief meines Vaters so fest zwischen meinen Fingern, als fürchtete ich, die einzige Verbindung zu ihm könnte sich in Luft auflösen. Wieder und wieder las ich seine letzten Zeilen und grübelte.

Ich weiß jetzt, was damals passiert ist.

Mein Vater hatte also etwas über das Geheimnis und Paul herausgefunden. Worum es dabei ging, hatte Billy mir nicht sagen können. Auch nicht, warum mein Dad sechzehn Jahre nach Pauls Verschwinden damit begonnen hatte, in meiner Vergangenheit herumzuwühlen.

Und was hatte dieser Jack Kane mit dem Ganzen zu tun? Ich fragte mich, ob er etwas über die Sache wusste, und dachte daran, ihm einen Besuch abzustatten, um mit ihm zu reden. Die Idee gefiel mir, doch vorher musste ich erst einmal Amy anrufen. Ich wählte ihre Nummer, aber sie ging nicht an ihr Handy. Deswegen hinterließ ich ihr eine Nachricht mit der Bitte, sie solle mich so schnell wie möglich zurückrufen. Danach machte ich mich auf den Weg zu Kane.

Ich hatte vergessen, Billy zu fragen, wo genau Kane wohnte, aber außer der Kennsington-Farm gab es noch eine andere, an die ich mich erinnerte. Möglicherweise würde ich Kane dort finden.

Die Farm befand sich ziemlich weit außerhalb und südlich von Coldmont. Eine schmale, mit Schotter übersäte Straße führte scheinbar endlos zwischen ungemähten, frühlingshaft blühenden Wiesen hindurch, und ich fragte mich schon, ob ich mich verfahren hatte, als ich in der Ferne eine dunkelrot gestrichene Scheune mit Satteldach zwischen mehreren hohen Fichten erspähte. Als ich an dieser vorbei war, entdeckte ich zwei kleine Holzschuppen. Vor einem davon parkte ein olivgrüner Range Rover, an dessen Karosserie der Rost nicht nur nagte, sondern sich bereits durchgefressen hatte. Schließlich tauchte ein aus Holz erbautes Farmhaus vor mir auf, dessen Fassade hellgrau angestrichen war und sich unter einer gigantischen Roteiche zu verstecken schien. Ein schmaler Schotterweg führte von der Straße aus darauf zu. Dort parkte ich das Bike und stieg ab.

Als der Motor aus war, hörte ich nur noch das Rascheln des Laubes im Wind und das Knacken des abkühlenden Blechs, ansonsten herrschte hier eine Grabesstille. Ich fragte mich, wie jemand so weit draußen ganz alleine leben konnte. Ganz bestimmt nur ein Eigenbrötler. Wie auch immer, hier war ich richtig.

Jack Kane saß in einem Korbsessel auf der Veranda. Er trug ausgewaschene Jeans und darüber ein weißes Shirt, in dem er noch muskulöser aussah als einen Tag zuvor in dem schwarzen Anzug. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Aktenordner, den er zuklappte, sobald er mich kommen sah.

Er stand auf und lächelte mich freundlich an. »Mr. MacCarty? Was führt Sie hierher?«

»Sie haben gesagt, sie wären ein Freund meines Vaters gewesen. Stimmt das?«

»Ja, das stimmt. Wir haben uns ganz gut verstanden.« Er zögerte kurz, ehe er hinzufügte: »Üble Sache, dieser Selbstmord.«

»Allerdings. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er sich erschossen hat«, sagte ich.

»Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass er es selbst getan hat«, erwiderte er mit einer Direktheit, die mich ein wenig überrumpelte.

»Äh, und wie kommen Sie darauf?«, fragte ich.

»Er hat auf mich nicht den Eindruck gemacht, dass er nicht mehr leben wollte. Ganz im Gegenteil. Und was ist mit Ihnen? Sie glauben doch auch nicht an einen Selbstmord. Deswegen sind Sie noch in Coldmont. Richtig?«

Der Kerl durchschaute mich, und das gefiel mir ganz und gar nicht. Ich deutete mit dem Daumen auf das Motorrad. »Na ja, ich bin noch hier, weil ich mit diesem alten Klapperding nicht sehr weit komme. Mein Wagen ist leider Schrott.«

Kane wurde ernst. »Davon habe ich gehört. Sie sind Ihrem alten Freund Steve Spyro begegnet. Ich mag ihn nicht besonders.«

Jack kletterte auf meiner Sympathieskala um einige Punkte nach oben.

»In dem Punkt sind wir uns dann wohl einig«, stimmte ich ihm zu. »Darf ich Sie etwas fragen, Mr. Kane?«

»Na klar, nur zu.«

»Warum haben Sie sich mit meinem Vater gestritten?«, fragte ich jetzt sehr direkt.

Seine Augen weiteten sich. »Sie haben davon gehört?«

»In diesem Ort bleibt nichts lange geheim.« Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust. »Also?«

»Nun ja, ein paar Geheimnisse scheint es in diesem Ort aber doch zu geben.« Er sah mich durchdringend an. »Zumindest ging es bei dem Streit um eines davon. Und darum, was mit Paul passiert ist.«

Mir gefiel nicht, wie er das sagte, trotzdem fragte ich weiter. »Und was hat mein Dad Ihnen darüber erzählt?«

Jack hob die Schultern an und ließ sie wieder fallen. »Nichts.«

»Nichts? Aber mein Vater wusste etwas über Paul.«

»Anscheinend, aber er hat es mir nicht gesagt.« Jack kam näher, sein Blick wurde frostig, seine Stimme ebenfalls. »Und er wollte auch nicht mit mir über dieses andere Geheimnis reden. Besser gesagt, über Ihr Geheimnis. Obwohl er angeblich herausgefunden hatte, was damals im Wald passiert ist. Wollen Sie darüber reden?«

Was damals im Wald passiert ist!

Mir wurde eiskalt, als wäre die Temperatur auf den Nullpunkt gesunken. Die blutigen Bilder, von denen ich sonst nur träumte, standen mir plötzlich vor Augen, und ich bereute es, hierher gekommen zu sein. Hatte ich tatsächlich Antworten von einem mir vollkommen fremden Mann erwartet? Mein Vater hatte ihm offensichtlich auch nicht vertraut. Sonst hätte er Kane doch erzählt, was er herausgefunden hatte. Da stimmte etwas nicht.

Ich überlegte fieberhaft, was ich jetzt tun sollte. Schließlich schüttelte ich den Kopf und machte mich auf den Weg zu Billys Motorrad. Kane folgte mir und packte mich am Arm.

»Warten Sie! Wir sind noch nicht fertig«, sagte er.

»Doch, ich bin fertig, ich hätte nicht herkommen sollen. Das war eine dumme Idee. Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe.«

»Sie stören nicht, ich habe nichts weiter vor. Warum unterhalten wir uns nicht noch ein bisschen?«, fragte er bemüht freundlich. Sein Blick aber sagte etwas ganz anderes. Und mein Gefühl sagte: Trau ihm nicht.

»Vielleicht ein ander Mal«, sagte ich. »Ich muss jetzt gehen.«

»Wovor haben Sie Angst, Matt? Hoffentlich nicht vor mir.«

»Nein, vor Ihnen nicht.« Und falls doch, hätte ich es niemals zugegeben.

»Aber Sie haben Angst davor, Ihr Geheimnis könnte gelüftet werden. Oder dass herauskommt, was mit Paul passiert ist. Haben Sie etwas mit seinem Verschwinden zu tun?«

Ohne etwas zu sagen, kletterte ich auf Billys Motorrad und trat den Starter durch. Der Motor sprang sofort an, heulte kurz auf und senkte sich dann zu einem gleichmäßigen Knattern.

Jack versuchte nicht noch einmal, mich aufzuhalten, aber im Rückspiegel sah ich, dass er mir hinterherblickte. Erst als ich so weit von der Farm entfernt war, dass er mich nicht mehr sehen konnte, lenkte ich das Motorrad an den Straßenrand, zog mein Handy aus der Hosentasche und wählte Amys Nummer. Ich brauchte jetzt unbedingt jemanden zum Reden.

Sie ging sofort dran. »Hey, mein Schatz. Ich wollte dich gerade eben zurückrufen.«

Im Hintergrund hörte ich Stimmen und ein lautes Brummen. »Wo steckst du, Amy? Es ist ziemlich laut bei dir.«

»Ich bin am Flughafen«, antwortete sie. »Was gibt’s, Matt? Alles klar bei dir?«

»Na ja, nicht ganz.« Ich erzählte ihr zuerst von meinem Ärger mit Steve und der Nacht im Gefängnis.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783738012736
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Mord Geheimnisse Schuld Thriller Verrat Krimi Spannung Selbstmord Killer Vertrauen Ermittler Psychothriller Cosy Crime Whodunnit

Autor

  • B. M. Ackermann (Autor:in)

B. M. Ackermann lebt mit Familie und zwei Schäferhunden in der Nähe von Stuttgart. Bereits im Teenageralter begann der Autor, sich Geschichten auszudenken und auf Papier zu bringen. Schließlich wurde Im Jahr 2013 der erste Thriller "Der vergessene Tod" veröffentlicht. Mit "Todesrauschen" erschien im Januar 2015 der zweite Thriller. Im Januar 2016 folgte "Die letzte Prüfung" mit Co-Autor Jay S. Weitere Infos finden Sie auf meiner Autorenseite: bmackermann-thriller.jimdo dot com
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Titel: Todesrauschen