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Manchmal Tau

Lyrik und Haiku

von Volker Friebel (Autor:in)
156 Seiten

Zusammenfassung

Je nach Temperatur kann Luft unterschiedlich viel Wasserdampf aufnehmen. Sinkt die Lufttemperatur in der Nacht – ein klarer Himmel unterstützt diese Abkühlung –, muss die abkühlende Luft Wasserdampf abgeben: Der Taupunkt ist erreicht. Wasserdampf kondensiert nun an Gräsern und Blättern. Die Temperatur der Luft liegt gegen Morgen am niedrigsten, deshalb vollzieht sich diese Kondensation vor allem als Morgentau. Ist die Lufttemperatur tief genug, erfolgt die Verwandlung des Wasserdampfs nicht in flüssiges Wasser, sondern in Eis – das ist der Raureif. „Manchmal Tau“ besteht aus einer Lyrik-Sammlung, vier Lyrik-Sequenzen sowie einer Auswahl aus den Liedern der Bäume. Zwischen diesen Teilen stehen Haiku und Schwarz-Weiß-Fotografien. „Dichter in dürftiger Zeit“ heißt eine der Sequenzen. Dies war der Arbeitstitel des Buchs und sein Kern. Jede Zeit ist die dürftige Zeit, ist eines seiner Ergebnisse. Und jeden Tag kann sich etwas ereignen, das Himmel und Erde unversehens verändert, das etwas kippen lässt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Zurück geblieben

 

 

1 

 

Wie lange saß ich im Wald, 

sah in die Ewigkeit? Eine Stunde? 

Einen Tag? Anderthalb Leben? Wie lange saß 

dieser Fichtenzapfen? Wie lange der Fels? 

Wie lange saß der Mörder im Schwerkraftschacht 

eines Hochsicherheitstraktes? Wie lange saß 

irgendeiner vor dieser Mauer aus Zeit? Wir sitzen alle, 

auf der fleckigen Haut dieses Planeten. Wie lange 

muss einer sitzen, bis er den Wind versteht, 

die Kiefer, die Stechmücke? Muss er erst sein Blut 

beflügelt zwischen Bäumen verschwinden sehen? 

Muss er ihm nachwinken? Wie lange 

hat irgendjemand jemals irgendetwas 

wirklich vor dieser Mauer getan? 

 

 

2 

 

„Komm“, saust der Wind, „komm“, 

flüstern schöne Gesichter auf Werbetafeln. 

Mein Herz will bleiben, wo es nie war. 

Mein Blut strömt im Kreis. 

Heb ich den Blick, verschwimmt der Weg 

mit dem Horizont. 

 

Ob am Ende das Meer rauscht? 

Oder die Quelle? 

 

Ob ein Vogel am Wasser singt, 

der mich mitsingen lässt? 

 

 

3 

 

Durch Einkaufszonen, vorbei an Rathaus 

und Dom, an der Panzerkolonne, 

die sich bereit macht zur Befriedung 

des Horizonts, vorbei am Spiel-Casino 

der Bank, angebaut Bretterbuden 

all der Initiativen des guten Gewissens, 

windschief, die Plakate halb losgerissen vom Leim 

aus den Knochen der Ungläubigen, vorbei 

am Theater der Sehnsucht, an Justizpalast, 

Medienanstalt, an den Laternen 

der verbogenen Wörter, vorbei, 

vorbei, mit einem Lied tief in mir, 

das klingen will, einem Rhythmus, 

der tanzt. 

 

 

4 

 

„Meere, Quellen? Ein Vogel allerdings piept. 

Willst du in die Gebärmutter zurück? 

In den Moment, der Ei und Same vereinigt? 

In einen anderen Irrtum, der vor dir zappelte? 

Da sind keine Quellen. Ob durch Zufall entstanden, 

ob unter einer planenden Hand: 

Es sind Baupläne. Willst du den Baumeister suchen 

und hoffen, dass er nicht ‚Zufall‘ heißt? 

Und wenn du ihn findest? Wenn ein Stuhl 

den Schreiner betrachtet, glaubst du, der spricht dann 

mit ihm? Und falls doch? Er lädt ihn nicht 

an den Esstisch, wo er Suppe löffelt und dem Bericht 

der Tochter über ihren Schultag lauscht.“ 

 

Wir plaudern ein wenig, mein Schatten 

und ich, tauschen gelegentlich 

unsere Rollen. Wann er spricht, wann ich: 

Vielleicht weiß es das Gras, 

das wir streifen. 

 

 

5 

 

Solang die Worte dauern, scheint eine Antwort 

ganz nah, als müsste jemand bloß weiter 

die Lippen bewegen. 

 

Doch plötzlich schwebt nur noch der Duft 

der letzten Frage im Raum – 

und der Himmel. 

 

„Frage nicht“, singt die Amsel, 

„dann werden sich alle Dinge ereignen.“ 

 

 

6 

 

Gestalt um Gestalt überholt mich, 

ein endloser Treck. Ideen, Versprechungen, 

Menschen, die bald 

zu Nebel werden, 

noch weit unter dem Horizont. 

 

Alles überholt mich,

was davonläuft vor der Herausforderung dieser Mauer

aus reiner Zeit.

 

Alles überholt mich,

was um seine Ziele weiß, weil dieses Wissen

seine Möglichkeiten beschränkt.

 

Alles überholt mich,

was im Klingeln der Werbe-Jingles

das Lied des Himmels verloren hat.

 

Alles überholt mich,

was vergessen hat, dass jeder Traum von Tau

und von Himmel spricht.

 

Alles überholt mich –

dass zum Sog des Horizonts noch der Sog

der Menschen hinzukommt.

 

Alles überholt mich –

dass sich im Sturm die Melodien der Werbe-Jingles

verwirren.

 

Unbezweifelbar singt ein Vogel. 

 

 

7 

 

Die Firma gibt eine neue Reihe heraus: 

„Lieder der Vögel“. Vertretersitzung. 

Das Scharren von Stiften auf weißem Papier. 

 

„Für den Dreijahresvertrag mit Ina, der Amsel, 

haben wir knapp eine Million bezahlt“, 

unterrichtet stolz der Verlagschef. 

 

„Aus ihrem ersten Album koppeln wir 

‚Lied für einen Schlehendorn‘ aus.“ Geraune. Nicken. 

Süße und Blut. Investitionen. 

 

Ein Sinfonie-Orchester 

begleitet. 

 

 

8 

 

Vom blauen Himmel ein Stück, 

von den Gesängen der Amsel, vom Schmerz 

der verlassenen Frau, von der Stille des Herzens, 

von den Bewegungen zweier Liebender, 

vom Geräusch des Wassers, das die Quelle 

eben verlassen hat, vom Klang beginnenden Regens 

auf den Dächern der Vorstadt, vom Weiher im Wald, 

von den Tränen des Kindes, das so ganz in den Dingen ist, 

dass es weint um die Bauklötze, die ein anderes Kind 

umwarf, vom Schrei des Mannes, der mit dem Schwert 

die Tyrannen-Festung gestürmt hat und nun nur 

sich selbst im Spiegel des Thronsaals sieht, 

von der Wirklichkeit eines Weltraumschiffs 

auf dem Flug nach Alpha Centauri – von allem 

will ich! Farbige Fäden 

im Teppich der Welt. 

 

Doch nützt das Blau, zahlt sich das Grün aus, 

bringt dieses Violett dich weiter? 

Wohin? 

 

Am besten, du hebst einfach die Hand. 

Am besten, du senkst die Hand, 

drehst sie. 

 

 

9 

 

Menschenschatten liegen über der Wahrheit 

der Welt, über dem tanzenden Staubkorn, 

das sich den Kontrollkameras nicht einmal entzieht, 

der Schlehenblüte, die sich arglos öffnet 

ins Halteverbot, dem Weiß um die Buchstaben 

im Nachrichtenteil einer Zeitung, dem fallenden Regen, 

der allen Dachziegeln Töne entlockt, 

ohne sich um ihre Verwertungsrechte zu scheren. 

 

Blumen, unter schwebenden Villen, im nie 

betretenen Gras. Aus Luken über den Knotenseilen 

starren Augen herab, 

Augen von Kindern, angstvoll und streng. 

Ich blinzle einem Gartenzwerg zu. 

Er blinzelt zurück. 

 

 

10 

 

Jeder Weg ist ein Weg 

in die Irre. Leben ist unwegsam. 

Im hohen Gras zirpen Grillen, 

zirpen vom hohen Gras 

und vom Licht. 

 

Wenn ich den Grillen lausche, 

lausche ich meiner Wirklichkeit. 

 

Wenn ich den Grashalm berühre, 

hab ich den Grashalm berührt. 

 

 

11 

 

Ein Kampf um Träume 

bestimmt die Welt auf unserer Seite 

der Mauer. Die Panzer 

sind losgerollt, an allen Villen vorbei. 

Eingerichtet, zugedichtet. 

Doch die Laternen der Gartenzwerge 

erhellen den Tag kaum. 

Eine fällt um. 

 

Die Augen der Kinder 

an den Luken der Villen – nur selten 

öffnen sie sich, fast nur noch  

im Traum. Auf den Film ihrer Tränen 

sind Schirme gesetzt. Die Herzen 

pochen, Der Atem geht aus 

und ein. Die Herzen 

pochen. 

 

 

12 

 

Zurück geblieben sind die Blumen, 

ist das offene Land, sind auf dem Feldweg 

die Weizenkörner und die Spreu in der Spur 

eines Traktors, ist die Sonne in ihrem 

langweiligen Lauf. 

 

Zurück geblieben ist der junge Mann, 

der von der Wegkreuzung tritt und frei hinein 

in den Wald geht, ist die Abteilungsleiterin, 

die eine Hand auf ihren Bauch legt, mitten 

in der Strategiekonferenz. 

 

Zurück geblieben ist im Gebirge 

ein See und eine Kiefer am Ufer, 

ist dieser Gipfel und das versteinerte 

Schneckenhaus, vom Wind halb freigelegt 

für den Himmel. 

 

 

13 

 

So war es immer, so wird es 

immer sein. Das Archiv hat mit dem Staub 

zu reden begonnen. Sähe einer zurück 

in die Zeit, er sähe sich selbst in den Augen 

der Alten. Notwendigkeiten starrten ihn an. 

Die Bibliothekare sind auf Fortbildung, 

kommen nicht wieder. 

 

Zwischen dem tanzenden Staub 

muss eine Quelle sein. Mein Mund ist so trocken. 

Meine Lider sind müd geworden und schwer. 

 

Eine Raupe, hoch gekrochen am Buch, 

die sich verpuppt in der Stille, sich abschließt 

vom Blau. 

 

 

14 

 

An der Quelle. 

Ein alter Mann schöpft 

aus dem Spiegel des Wassers, 

dem Gesicht eines Kindes, trinkt ... 

Ein Totenschädel, dessen Augenhöhlen 

Schmetterlinge entschlüpfen, entflattern, 

aufsteigen ins Blau ...
 

Haiku 1

 

 

Vogelpfiffe.

Aus dem Schaufenster ausgebrochen –

der Frühling.

 

 

Bushaltestelle.

Ein Krokus öffnet sich

zwischen Kippen.

 

 

Kamerablitze –

Bachs Grabplatte überschwemmt

von Licht.

 

 

Aufgeschlagen

in die leeren Seiten der Buchmesse –

Gesichter.

 

 

Blüten

öffnen sich weiß, in diesen

alten Blick.

 

 

Provinz-Bahnhof,

stillgelegt. Alle Gleise enden

in Blüten.

 

 

Mit einem Schmetterling

spangt das Mädchen sein Haar.

Kirschblüten.

 

 

Zum Bauplatz

die Absperrung aufgebrochen –

Kirschblüten!

 

 

Touristengeschwätz –

durchs Grabmal bis in die Knochen

des Königs.

 

 

Café in Krakau.

Über Spitzentischdeckchen

züngelt die Zeit.

 

 

Chopins Hände.

Alle Tasten des schwarzen Flügels

sind weiß.

 

 

Auschwitz,

Verhunger-Zellen. Jemand niest

in der trockenen Luft.

 

 

Garten im Altersheim.

Aus allen Fugen des Schachbretts

blüht Löwenzahn.

 

 

Den Müll hinaus gebracht –

vor die Blüten.

 

 

Blütentanz –

der Postbote verliert

einen Werbebrief.

 

 

Gefällter Kirschbaum –

Seine Blüten bewegt von

Bienengesumm.

 

 

Ofterdingen.

Am Denkmal der Brunnen:

versiegt.

 

 

Blütenduft.

Ein Mädchen wippt hinein

in die Kaufzone.

 

 

Haltestangen

im Bus – durch Wolken

von Fliederduft!

 

 

Reifenwechsel.

Das Radkreuz gelegt auf

Kirschblüten.

 

 

Maimorgen –

ein Spinnennetz im leeren Raum

des Motorrads.

 

 

Löwenzahn –

Sterne blas ich ins Haar

der Geliebten.

 

 

Platanen

in frischem Grün – der Wurf

eines Boulespielers.

 

 

Schattenmühle.

Dem Strömen der Wutach

entsteigen Enten.

 

Die Karten aufgedeckt

 

Papierschiffchen

 

Ein Schmetterling, geschlüpft aus 

dem Totenschädel, setzt sich, müd geworden 

vom Flug, auf die Treppe zum Fluss, 

klappt die Flügel auf, 

badet im todbringenden Licht. 

 

So schön ist die Welt! 

So hören sich Töne an, 

so leuchten Farben, duften Blumen, 

so schmeckt Nektar, so leise klingen 

die Stempel des Büros von fern! 

 

Ein Mensch hat sich auf die unterste Stufe 

der Treppe gesetzt, nun faltet er 

Schiffe aus vergilbtem Papier und gibt sie 

hinein in das Strömen. Fische 

stupsen sie an. 

 

Wo bin ich hier? 

Bei mir? Am Fluss? Zurück geblieben? 

Von was? Uralte Steine 

starren mich an. 

Ich decke die Karten auf. 

In der Mitte der Welt

 

Platzende Knospen.

Am Ufer der Milchstraße

ein Teich.

 

Ich habe Schnee geschoben

und Sterne, eine ganze Wiese Schnee.

Ich habe Holz gehackt und die Scheite

gestapelt am Haus.

Ich habe der Sonnenuhr Zeiger

im Schatten entdeckt.

Ich habe den Schatten des Lebens entdeckt

und nichts mehr gesucht.

 

Ein Frosch springt vom Ufer

hinein in die Sterne, treibt langsam

dem Grund zu.

 

Die Eintagsfliege

sitzt in der Mitte der Welt, reibt sich

ein Bein, sieht mich an.

 

Strömen

 

Ein Morgen inmitten von Vogelschreien. 

Weiße Wolken spiegeln im Fluss. 

Die Liebste ist noch im Zelt geblieben. 

Ich sitze am Wasser und spüre 

das Strömen in mir. 

 

Ein Eisvogel flog fort, 

als ich kam. Der Fluss und der Himmel 

blieben. 

Letzte Worte einer Seiltänzerin

 

Es ist schön im Himmel 

und gut zu hören, wie fest und klar 

noch mein Herz schlägt, 

über dem Schlamm, über den Gesichtern 

der Menschen, die hell werden, 

wenn sie sich hoch ins Offene recken. 

Setz Fuß vor Fuß auf dem Seil. 

 

Hinter der Front hupender Autos 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739474113
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Lyrik Lyrik-Sequenzen Hölderlin Hölderlinturm Gedichte Tübingen Haiku

Autor

  • Volker Friebel (Autor:in)

Volker Friebel wurde an einem Schneesonntag gegen Ende des Jahres 1956 in Holzgerlingen geboren, nach Wanderjahren Studium der Psychologie, Promotion. Er ist in Tübingen tätig als Schriftsteller, Ausbildungsleiter, Bildermacher und Musiker.
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Titel: Manchmal Tau