Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Zurück geblieben
1
Wie lange saß ich im Wald,
sah in die Ewigkeit? Eine Stunde?
Einen Tag? Anderthalb Leben? Wie lange saß
dieser Fichtenzapfen? Wie lange der Fels?
Wie lange saß der Mörder im Schwerkraftschacht
eines Hochsicherheitstraktes? Wie lange saß
irgendeiner vor dieser Mauer aus Zeit? Wir sitzen alle,
auf der fleckigen Haut dieses Planeten. Wie lange
muss einer sitzen, bis er den Wind versteht,
die Kiefer, die Stechmücke? Muss er erst sein Blut
beflügelt zwischen Bäumen verschwinden sehen?
Muss er ihm nachwinken? Wie lange
hat irgendjemand jemals irgendetwas
wirklich vor dieser Mauer getan?
2
„Komm“, saust der Wind, „komm“,
flüstern schöne Gesichter auf Werbetafeln.
Mein Herz will bleiben, wo es nie war.
Mein Blut strömt im Kreis.
Heb ich den Blick, verschwimmt der Weg
mit dem Horizont.
Ob am Ende das Meer rauscht?
Oder die Quelle?
Ob ein Vogel am Wasser singt,
der mich mitsingen lässt?
3
Durch Einkaufszonen, vorbei an Rathaus
und Dom, an der Panzerkolonne,
die sich bereit macht zur Befriedung
des Horizonts, vorbei am Spiel-Casino
der Bank, angebaut Bretterbuden
all der Initiativen des guten Gewissens,
windschief, die Plakate halb losgerissen vom Leim
aus den Knochen der Ungläubigen, vorbei
am Theater der Sehnsucht, an Justizpalast,
Medienanstalt, an den Laternen
der verbogenen Wörter, vorbei,
vorbei, mit einem Lied tief in mir,
das klingen will, einem Rhythmus,
der tanzt.
4
„Meere, Quellen? Ein Vogel allerdings piept.
Willst du in die Gebärmutter zurück?
In den Moment, der Ei und Same vereinigt?
In einen anderen Irrtum, der vor dir zappelte?
Da sind keine Quellen. Ob durch Zufall entstanden,
ob unter einer planenden Hand:
Es sind Baupläne. Willst du den Baumeister suchen
und hoffen, dass er nicht ‚Zufall‘ heißt?
Und wenn du ihn findest? Wenn ein Stuhl
den Schreiner betrachtet, glaubst du, der spricht dann
mit ihm? Und falls doch? Er lädt ihn nicht
an den Esstisch, wo er Suppe löffelt und dem Bericht
der Tochter über ihren Schultag lauscht.“
Wir plaudern ein wenig, mein Schatten
und ich, tauschen gelegentlich
unsere Rollen. Wann er spricht, wann ich:
Vielleicht weiß es das Gras,
das wir streifen.
5
Solang die Worte dauern, scheint eine Antwort
ganz nah, als müsste jemand bloß weiter
die Lippen bewegen.
Doch plötzlich schwebt nur noch der Duft
der letzten Frage im Raum –
und der Himmel.
„Frage nicht“, singt die Amsel,
„dann werden sich alle Dinge ereignen.“
6
Gestalt um Gestalt überholt mich,
ein endloser Treck. Ideen, Versprechungen,
Menschen, die bald
zu Nebel werden,
noch weit unter dem Horizont.
Alles überholt mich,
was davonläuft vor der Herausforderung dieser Mauer
aus reiner Zeit.
Alles überholt mich,
was um seine Ziele weiß, weil dieses Wissen
seine Möglichkeiten beschränkt.
Alles überholt mich,
was im Klingeln der Werbe-Jingles
das Lied des Himmels verloren hat.
Alles überholt mich,
was vergessen hat, dass jeder Traum von Tau
und von Himmel spricht.
Alles überholt mich –
dass zum Sog des Horizonts noch der Sog
der Menschen hinzukommt.
Alles überholt mich –
dass sich im Sturm die Melodien der Werbe-Jingles
verwirren.
Unbezweifelbar singt ein Vogel.
7
Die Firma gibt eine neue Reihe heraus:
„Lieder der Vögel“. Vertretersitzung.
Das Scharren von Stiften auf weißem Papier.
„Für den Dreijahresvertrag mit Ina, der Amsel,
haben wir knapp eine Million bezahlt“,
unterrichtet stolz der Verlagschef.
„Aus ihrem ersten Album koppeln wir
‚Lied für einen Schlehendorn‘ aus.“ Geraune. Nicken.
Süße und Blut. Investitionen.
Ein Sinfonie-Orchester
begleitet.
8
Vom blauen Himmel ein Stück,
von den Gesängen der Amsel, vom Schmerz
der verlassenen Frau, von der Stille des Herzens,
von den Bewegungen zweier Liebender,
vom Geräusch des Wassers, das die Quelle
eben verlassen hat, vom Klang beginnenden Regens
auf den Dächern der Vorstadt, vom Weiher im Wald,
von den Tränen des Kindes, das so ganz in den Dingen ist,
dass es weint um die Bauklötze, die ein anderes Kind
umwarf, vom Schrei des Mannes, der mit dem Schwert
die Tyrannen-Festung gestürmt hat und nun nur
sich selbst im Spiegel des Thronsaals sieht,
von der Wirklichkeit eines Weltraumschiffs
auf dem Flug nach Alpha Centauri – von allem
will ich! Farbige Fäden
im Teppich der Welt.
Doch nützt das Blau, zahlt sich das Grün aus,
bringt dieses Violett dich weiter?
Wohin?
Am besten, du hebst einfach die Hand.
Am besten, du senkst die Hand,
drehst sie.
9
Menschenschatten liegen über der Wahrheit
der Welt, über dem tanzenden Staubkorn,
das sich den Kontrollkameras nicht einmal entzieht,
der Schlehenblüte, die sich arglos öffnet
ins Halteverbot, dem Weiß um die Buchstaben
im Nachrichtenteil einer Zeitung, dem fallenden Regen,
der allen Dachziegeln Töne entlockt,
ohne sich um ihre Verwertungsrechte zu scheren.
Blumen, unter schwebenden Villen, im nie
betretenen Gras. Aus Luken über den Knotenseilen
starren Augen herab,
Augen von Kindern, angstvoll und streng.
Ich blinzle einem Gartenzwerg zu.
Er blinzelt zurück.
10
Jeder Weg ist ein Weg
in die Irre. Leben ist unwegsam.
Im hohen Gras zirpen Grillen,
zirpen vom hohen Gras
und vom Licht.
Wenn ich den Grillen lausche,
lausche ich meiner Wirklichkeit.
Wenn ich den Grashalm berühre,
hab ich den Grashalm berührt.
11
Ein Kampf um Träume
bestimmt die Welt auf unserer Seite
der Mauer. Die Panzer
sind losgerollt, an allen Villen vorbei.
Eingerichtet, zugedichtet.
Doch die Laternen der Gartenzwerge
erhellen den Tag kaum.
Eine fällt um.
Die Augen der Kinder
an den Luken der Villen – nur selten
öffnen sie sich, fast nur noch
im Traum. Auf den Film ihrer Tränen
sind Schirme gesetzt. Die Herzen
pochen, Der Atem geht aus
und ein. Die Herzen
pochen.
12
Zurück geblieben sind die Blumen,
ist das offene Land, sind auf dem Feldweg
die Weizenkörner und die Spreu in der Spur
eines Traktors, ist die Sonne in ihrem
langweiligen Lauf.
Zurück geblieben ist der junge Mann,
der von der Wegkreuzung tritt und frei hinein
in den Wald geht, ist die Abteilungsleiterin,
die eine Hand auf ihren Bauch legt, mitten
in der Strategiekonferenz.
Zurück geblieben ist im Gebirge
ein See und eine Kiefer am Ufer,
ist dieser Gipfel und das versteinerte
Schneckenhaus, vom Wind halb freigelegt
für den Himmel.
13
So war es immer, so wird es
immer sein. Das Archiv hat mit dem Staub
zu reden begonnen. Sähe einer zurück
in die Zeit, er sähe sich selbst in den Augen
der Alten. Notwendigkeiten starrten ihn an.
Die Bibliothekare sind auf Fortbildung,
kommen nicht wieder.
Zwischen dem tanzenden Staub
muss eine Quelle sein. Mein Mund ist so trocken.
Meine Lider sind müd geworden und schwer.
Eine Raupe, hoch gekrochen am Buch,
die sich verpuppt in der Stille, sich abschließt
vom Blau.
14
An der Quelle.
Ein alter Mann schöpft
aus dem Spiegel des Wassers,
dem Gesicht eines Kindes, trinkt ...
Ein Totenschädel, dessen Augenhöhlen
Schmetterlinge entschlüpfen, entflattern,
aufsteigen ins Blau ...
Haiku 1
Vogelpfiffe.
Aus dem Schaufenster ausgebrochen –
der Frühling.
Bushaltestelle.
Ein Krokus öffnet sich
zwischen Kippen.
Kamerablitze –
Bachs Grabplatte überschwemmt
von Licht.
Aufgeschlagen
in die leeren Seiten der Buchmesse –
Gesichter.
Blüten
öffnen sich weiß, in diesen
alten Blick.
Provinz-Bahnhof,
stillgelegt. Alle Gleise enden
in Blüten.
Mit einem Schmetterling
spangt das Mädchen sein Haar.
Kirschblüten.
Zum Bauplatz
die Absperrung aufgebrochen –
Kirschblüten!
Touristengeschwätz –
durchs Grabmal bis in die Knochen
des Königs.
Café in Krakau.
Über Spitzentischdeckchen
züngelt die Zeit.
Chopins Hände.
Alle Tasten des schwarzen Flügels
sind weiß.
Auschwitz,
Verhunger-Zellen. Jemand niest
in der trockenen Luft.
Garten im Altersheim.
Aus allen Fugen des Schachbretts
blüht Löwenzahn.
Den Müll hinaus gebracht –
vor die Blüten.
Blütentanz –
der Postbote verliert
einen Werbebrief.
Gefällter Kirschbaum –
Seine Blüten bewegt von
Bienengesumm.
Ofterdingen.
Am Denkmal der Brunnen:
versiegt.
Blütenduft.
Ein Mädchen wippt hinein
in die Kaufzone.
Haltestangen
im Bus – durch Wolken
von Fliederduft!
Reifenwechsel.
Das Radkreuz gelegt auf
Kirschblüten.
Maimorgen –
ein Spinnennetz im leeren Raum
des Motorrads.
Löwenzahn –
Sterne blas ich ins Haar
der Geliebten.
Platanen
in frischem Grün – der Wurf
eines Boulespielers.
Schattenmühle.
Dem Strömen der Wutach
entsteigen Enten.
Die Karten aufgedeckt
Papierschiffchen
Ein Schmetterling, geschlüpft aus
dem Totenschädel, setzt sich, müd geworden
vom Flug, auf die Treppe zum Fluss,
klappt die Flügel auf,
badet im todbringenden Licht.
So schön ist die Welt!
So hören sich Töne an,
so leuchten Farben, duften Blumen,
so schmeckt Nektar, so leise klingen
die Stempel des Büros von fern!
Ein Mensch hat sich auf die unterste Stufe
der Treppe gesetzt, nun faltet er
Schiffe aus vergilbtem Papier und gibt sie
hinein in das Strömen. Fische
stupsen sie an.
Wo bin ich hier?
Bei mir? Am Fluss? Zurück geblieben?
Von was? Uralte Steine
starren mich an.
Ich decke die Karten auf.
In der Mitte der Welt
Platzende Knospen.
Am Ufer der Milchstraße
ein Teich.
Ich habe Schnee geschoben
und Sterne, eine ganze Wiese Schnee.
Ich habe Holz gehackt und die Scheite
gestapelt am Haus.
Ich habe der Sonnenuhr Zeiger
im Schatten entdeckt.
Ich habe den Schatten des Lebens entdeckt
und nichts mehr gesucht.
Ein Frosch springt vom Ufer
hinein in die Sterne, treibt langsam
dem Grund zu.
Die Eintagsfliege
sitzt in der Mitte der Welt, reibt sich
ein Bein, sieht mich an.
Strömen
Ein Morgen inmitten von Vogelschreien.
Weiße Wolken spiegeln im Fluss.
Die Liebste ist noch im Zelt geblieben.
Ich sitze am Wasser und spüre
das Strömen in mir.
Ein Eisvogel flog fort,
als ich kam. Der Fluss und der Himmel
blieben.
Letzte Worte einer Seiltänzerin
Es ist schön im Himmel
und gut zu hören, wie fest und klar
noch mein Herz schlägt,
über dem Schlamm, über den Gesichtern
der Menschen, die hell werden,
wenn sie sich hoch ins Offene recken.
Setz Fuß vor Fuß auf dem Seil.
Hinter der Front hupender Autos
Details
- Seiten
- ISBN (ePUB)
- 9783739474113
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (November)
- Schlagworte
- Lyrik Lyrik-Sequenzen Hölderlin Hölderlinturm Gedichte Tübingen Haiku