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Lutetia Stubbs - KellerLeichen

...und wie man sie nicht entsorgt

von Lutetia Stubbs (Autor:in)
332 Seiten
Reihe: Lutetia Stubbs, Band 1

Zusammenfassung

Die Ganoven Wilbur und Murdok McDuff haben es geschafft: seit der eine Bürgermeister und der andere Polizeichef von Borough geworden sind, laufen die Geschäfte besser als je zuvor. Schließlich hat es Vorteile, wenn jegliche Ermittlung in eine Richtung gelenkt werden kann, die weit weg von den Brüdern zeigt. Probleme gibt es erst, als die Familie Stubbs in die Burg einzieht, die bis dahin als Endlagerstätte für die erfolglose Konkurrenz der McDuffs diente – und jetzt zur letzten Ruhestätte der Neuankömmlinge werden soll. Doch da haben sie ihre Rechnung ohne Lutetia gemacht. Die Tochter der Familie löst Probleme mit einer scharfen Beobachtungsgabe, noch schärferer Intelligenz und – falls das nicht ausreicht – einem Baseballschläger. Als sie sich mit George, dem örtlichen Totengräber, zusammentut, tauchen Leichen an Plätzen auf, an denen sie vorher gar nicht vergraben waren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Titel

Infos zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Ein Wort zum Schluss

Leseprobe Lutetia Stubbs: Herz aus Stein

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Über den Autor

Danksagung

Fantasievermerk

Fair Use Vereinbarung

Impressum

Fußnoten

Titel


Lutetia Stubbs:
KellerLeichen

von
Matthias Czarnetzki

Infos zum Buch

Mehr über Lutetia Stubbs und ihre Fälle gibt es unter
LutetiaStubbs.de

Anregungen, Kritiken und Wünsche sind jederzeit herzlich willkommen.
Der direkte Draht zum Autor:
MCzarnetzki.de

Bisher erschienen:
Lutetia Stubbs: KellerLeichen
Lutetia Stubbs: Herz aus Stein
Lutetia Stubbs: Die Beerdigung von Adalbert Finley

Korrektorat
Korrektorat Lectorette

Kapitel 1

Alte Damen sollten anständig sein. Freundlich. Nett zu Kindern. Sie sollten sich nicht aufführen wie zwei Hafenschlampen beim Revierstreit. Henry Wilson beobachtete gelassen den Streit der Swanson-Schwestern. Er kaute sein kaltes Truthahn-Sandwich, dachte an nichts Komplexeres als das Wetter und erweiterte seinen Vorrat exotischer Beleidigungen, die er pedantisch in sein bereits recht umfangreiches Notizbuch eintrug. Solange sich die Damen nur gegenseitig angifteten, brauchte er nicht einzuschreiten.
Die Swansons galten als neu Zugezogene; sie lebten erst seit dreißig Jahren in Borough. Trotzdem hatten sie sich in dieser für ländliche Verhältnisse kurzen Zeit einen festen Platz in der Gesellschaft erobert. Ihre Ankunft hatte in der gutbürgerlichen Mittelschicht der Stadt ein Erdbeben ausgelöst. Owen Henrics, damals Stadtsäufer von Borough und ein halbes Jahr später tot, hatte Wilson, der zu diesem Zeitpunkt nur auf eine stürmische, wenn auch einseitige Affäre mit Daisy Duck zurückblicken konnte, beiseite genommen und ihm die Neuigkeit zusammen mit einer Whiskeyfahne ins Gesicht gehaucht.
"Det sin Dame von Welt, Junge! Die verkehrn nich mit unsereins. Die machen's nur mit de bessere Gesellschaft."
Später dachte Wilson darüber nach, welche Art Damen so in sechs Sprachen fluchen kann, dass selbst gestandene Männer die Flucht ergriffen. Wie dieser Russe, der das Haus neben den Swansons bezogen hatte und unvorbereitet in eine der Swansonschen Verbalschlachten geriet. Der Mann behauptete, Kapitän im Ruhestand zu sein. Wilson hielt das für gelogen: erstens war er kaum älter als fünfundzwanzig und zweitens sollte ein Matrose nicht rot anlaufen, bevor Inga und Barbara sich warm gekeift hatten. Zwei Wochen später gab er das frisch renovierte Haus auf und verschwand spurlos aus Borough. Bei anderer Gelegenheit brauchte Wilson länger, um die Frage der Sprache zu lösen. Die Reaktion einer Gruppe japanischer Touristen, die wohl versehentlich nach Borough geraten war, klärte es dann.
Manchmal fragte sich Wilson, auf welche Weise genau die Swansons mit den gehobenen Kreisen verkehrten.
Doch obwohl sie sich seit über siebzig Jahren leidenschaftlich hassten, gingen sie nie getrennte Wege - für Wilson eines der größten Rätsel des Lebens. Die Lösung hätte ihn wirklich interessiert, aber ihm fehlten Neugier und Phantasie, um mehr als die tägliche Routine seines Jobs zu erledigen. Auf eine Art war er der perfekte Beamte.
"Meurtriére!" Wilson horchte auf. Er hatte keine Ahnung, was Meurtriére bedeutete, aber Inga rastete bei diesem Wort aus. Ohne polizeilichen Eingriff hätte sie bewiesen, dass eine Handtasche durchaus eine tödliche Waffe ist. Wilson packte die Reste seiner Mahlzeit weg und ging auf die Schwestern zu.
"Guten Tag, Ladies." Vier eisblaue Augen fixierten ihn. Er spürte die Veränderung, als er vom Polizisten zur Zielscheibe wurde.

Im selben Augenblick löste sich nicht weit entfernt in einem dunklen Raum die Hand eines Skeletts und fiel zu Boden. Ein goldener Ring löste sich vom Fingerknochen und rollte in einer langen Spirale in die entfernteste Ecke des Raumes. Der darin eingelassene Brillant hätte dabei sicher malerisch gefunkelt, aber in diesem Raum war es auf Grund des Fehlens von Türen und Fenstern stockdunkel. Außerdem war niemand anwesend, der den ganzen Vorgang beobachten konnte.

"Über diesem Drecksnest hängt ein riesiger Arsch und wartet nur..."
"Ich verbitte mir solche Worte in meiner Gegenwart!" brüllte Harold Stubbs. Marx zuckte zusammen. Er hatte seinen Erzeuger noch nie schreien hören und da sie sich die letzten siebzehn Jahre nicht sehr nahe gekommen waren, wusste er nicht, zu welchen Reaktionen der alte Herr neigte. Der Stubbsche Familiendiesel bahnte sich seinen Weg durch die schafbedeckten Hügel, die noch zu Wales gehörten und steiler wurden, je weiter sie nordwärts kamen. Die Tatsache, dass sie seit Stunden nur noch Hügel und Schafe sahen, zehrte gewaltig an Marx' Nerven.
"Hoffentlich haben die schon elektrischen Strom", murmelte er.
"Ja. Ich habe mich danach erkundigt", antwortete Harold, der den gemäßigten Tonfall seines Sohnes für ein gutes Zeichen hielt.
"Fließend Wasser?"
"Auch das."
"Das einundzwanzigste Jahrhundert?" Sogar Harolds beschränktes linguistisches Hirnzentrum erkannte gelegentlich Sarkasmus. Er versuchte, einen angemessenen väterlichen Rat für diese Situation zu finden.
"Du wirst es überleben."
"Das befürchte ich." Marx versank in tiefem Schweigen. Sein Vater sah ihn mit einem forschenden Blick an.
Harold Stubbs war leidenschaftlicher Mathematiker. Er hatte es in Fachkreisen zu einigem Ansehen und einer Professur in Cambridge gebracht - mit all ihren Nachteilen. Der Nachteil bestand aus einer Horde Studenten, die sich seiner Meinung nach von einer Horde Affen nur durch den aufrechten Gang unterschied.1 Er hatte fünfzehn Jahre Vorlesungen überlebt, indem er seine Zuhörer weitgehend ignorierte. Bedauerlicherweise schien diese Taktik bei seinen eigenen Kindern zu versagen. Überdies hatte seine Frau die Unverschämtheit besessen, sich vor einem halben Jahr einfach überfahren und ihn mit seinem Nachwuchs allein zurück zu lassen. Er sah in den Rückspiegel und betrachtete seine Tochter, die während der ganzen Fahrt aus dem Fenster gesehen und nichts gesagt hatte.
"Nun, Lutetia, freust du dich auf..." - Harold sah auf seinen Notizzettel - "...Borough? Die Burg hat sieben Schlafzimmer und vier Bäder, alles bestens eingerichtet." Die Erwähnung ihres Namens veranlasste seine Tochter, ihren Geist aus welchen Sphären auch immer zurückzurufen und aufs Hier und Jetzt zu fokussieren.
"Was bedeutet das schon?" sagte sie.
Seine Kinder waren zwar Zwillinge, aber sie hatten überhaupt keine Gemeinsamkeiten.

Die Einrichtung des Borough Inn bestand zum größten Teil aus dunkel gebeiztem Holz. Die Tische waren mit mannshohen Trennwänden abgeteilt, an denen luxuriöse, mit rotem Samt gepolsterte Bänke standen. Auf Hochglanz polierte Messingbeschläge komplettierten die Ausrüstung des Pubs, den John Smith in eine Kopie des Orient Express verwandeln wollte. Murdok McDuff fand Wilson im letzten Abteil mit seinem fünften Pint beschäftigt.
"Wilson, Sie sehen Scheiße aus!"
Der Angesprochene sah mühsam auf.
"Genau die Begrüßung, die ich jetzt brauchte."
"Im Ernst, Sie sollten zum Arzt gehen. Ihr Auge erinnert mich an die Pflaumenernte letztes Jahr. Hervorragende Marmelade." Wilson sah seinen Vorgesetzten hasserfüllt an. Gewisse Dinge sollte man nicht zu einem Mann sagen, der sich gerade in Selbstmitleid ertränkt. Oder umgekehrt.
"Der Riss über dem Auge sollte genäht werden. Was war los? Kneipenschlägerei? Dafür sieht's hier aber noch ganz ordentlich aus."
"Die Swansons", murmelte Wilson. Von zwei Greisinnen verprügelt worden zu sein ist keine Heldentat, die man gern laut herausschreit.
"Oh." Das blieb McDuffs einziger Kommentar für zwei Minuten. "Da kann man nichts machen. Bleiben Sie zwei, drei Tage zu Hause und kurieren Sie sich aus." Unbewusst tätschelte er dabei Wilsons Hand, genau so, wie er es bei seinem Enkel gemacht hätte. Wilson riss seine Hand aus McDuffs großväterlicher Umklammerung.
"Nein!" bellte er. "Das werde ich nicht! Diesmal sind die Zwei zu weit gegangen!" Er richtete den Zeigefinger anklagend auf sein Gesicht. "Das hier ist ein unprovozierter Angriff auf die Staatsgewalt. Dafür kommen diese Hyänen an den Strick! Verdammt, wenigstens hätten sie den verdient." Die ehrliche Empörung auf Wilsons Gesicht erinnerte Murdok an eine Karikatur.
"Mein lieber Wilson!" beschwichtigte er. "Seien Sie doch nicht so pathetisch. Es sind doch nur zwei alte Frauen."
"Zwei Monster in Gestalt alter Frauen."
"Mag sein. Aber nach außen sind es zwei alte Frauen. Sie machen sich zum Gespött mit einem Kreuzzug gegen zwei harmlose Omas." Wilsons Gesicht lief rot an, als er sich erhob und McDuff wütend anfunkelte.
"Harmlos? Die sind nicht harmlos! Die terrorisieren seit Jahrzehnten die Stadt - das wissen Sie genau! Nein, die haben sich endgültig zu viel rausgenommen. Wenn Sie nicht Manns genug sind, übernehme ich die Sache allein!" brüllte Wilson, ließ sich zurück auf die Bank fallen und verzog das Gesicht. Seine Nieren hatten nähere Bekanntschaft mit einem Paar orthopädischer Schuhe gemacht. Murdok lehnte sich zurück. Er blickte auf eine lange Erfahrung in öffentlichen Ämtern zurück und hatte festgestellt, dass sich die meisten Dinge durch reine Ignoranz lösen ließen.
"Wilson", sagte er mit ruhiger Stimme, "Sie bleiben die nächsten drei Tage zu Hause. Das ist ein Befehl. Danach sehen wir weiter. Trinken Sie erst mal... Nein, besser nicht." McDuff winkte in Richtung Bar und orderte einen Pott schwarzen Kaffee. Wilson war zu erschöpft, dem Chief zuzuhören. In seinem inneren Universum bildete sich der unumstößliche Plan, mit dem Bösen in Gestalt der Swansons aufzuräumen. McDuff beobachtete seinen Untergebenen aus halb geschlossenen Augen und las dessen Gedanken vom Gesicht ab. Was er sah, erfüllte ihn mit leichter Besorgnis, allerdings kannte er Wilson seit dessen Geburt. Es wird schon alles gut, sagte er zu sich selbst, als der Wirt mit dem Kaffee kam und ihm auf die Schulter klopfte.
"Heute Abend hinten im kleinen Raum. Der ganze Club soll kommen", flüsterte er.
"Heute? Wir haben Dienstag. In zwei Tagen treffen wir uns sowieso."
"Die Meisterschaften sind in zwei Wochen."
"So bald?" Wilson schreckte hoch.
"Wassnlos?"
"Nichts, nichts. Die Meisterschaften sind in zwei Wochen. Hatte ich total vergessen. Ganz sicher in zwei Wochen?" fragte Murdok.
"Ganz sicher. Vielleicht schon früher."
"Mist." McDuff trommelte mit den Fingern auf den Tisch. "Ich muss los. Also Wilson: lassen Sie die Finger von den Swansons!" Wilson richtete einen Alkohol vernebelten Blick auf den davon eilenden McDuff.
"Blöder Brigdeclub", murmelte er. Dann kippte er nach vorn und schlief ein.

Marx drehte die Heizung noch höher, obwohl ihm bereits der Schweiß auf der Stirn stand. Seit geraumer Zeit erhöhte er unauffällig die Temperatur - seine Sorge galt dabei weniger seinem Wohlbefinden als dem einiger Pflanzen, die er kurz vor der Abfahrt unter dem Sitz versteckt hatte und die es warm und normalerweise auch hell bevorzugten. Und die ihm selbst in einem Kaff wie Borough ein farbenfrohes, unbeschwertes Leben bescheren sollten. Trotz aller Vorbehalte gegen diesen Umzug: Marx hatte die Pläne ihres neuen Domizils studiert und seine Vorteile erkannt. Es gab abgelegene Räume, in denen er seinem Hobby ungestört nachgehen könnte. Davon ausgehend, dass es mit der Polizei in diesem Winkel nicht weit her sein konnte und die sicherlich noch unverdorbene Dorfjugend ein lukratives Kundenpotential bildete, plante er, sich seiner botanischen Leidenschaft in großem Stil zu widmen. Seine Hand wanderte wieder zum Heizungsregler.
"Das hält ja keine Sau aus!" teilte Harold der Welt mit und kurbelte das Seitenfenster runter. Sofort begann Marx zu keuchen.
"Zugluft!" krächzte er. Harold überhörte ihn. Marx Keuchen übertönte langsam den altersschwachen Diesel. "Das Fenster! Kann mal jemand das Fenster zumachen?" röchelte er.
"Wage es bloß nicht", knurrte Harold, als Marx an ihm vorbei zur Fensterkurbel langte.
"Die Zugluft ist tödlich für mich", schnauzte Marx. "Ich bin erkältet! Und es gibt garantiert keinen vernünftigen Arzt in diesem Nest."
"Einen Aderlass wird er noch hinkriegen. Lutetia, gib deinem Bruder einen Schal von hinten." Harold hatte gerade ein Schild entdeckt, auf dem die Entfernung nach Borough mit einhundertzwölf Meilen angegeben wurde, was seine Laune erheblich verbessert hatte. Schließlich war einhundertzwölf genau vier Mal achtundzwanzig und achtundzwanzig eine perfekte Zahl - das heißt die Summe ihrer Teiler. Der Gedanke an eine perfekte Zahl machte ihn glücklich2. Er ließ ihn von einem perfekten Leben und einer perfekten Welt träumen. Wobei eine perfekte Welt eine wäre, in der ihn nicht alle für wunderlich halten würden.
"...als ob es jemanden kümmern würde, wenn ich abkratze", bekam er noch mit.
"Die Pflanzen wahrscheinlich." Marx fuhr herum und begegnete dem unergründlichen Blick Lutetias.
"Was hast du gesagt, Lutetia?" fragte Harold.
"Nichts", antwortete Marx schnell. "Tagträume oder so was. Nichts Wichtiges." Er drehte sich zu seiner Schwester um, die wieder aus dem Fenster sah.
Na warte. Harold hatte inzwischen die Heizung herunter gedreht und das Fenster geschlossen. Marx verzichtete auf weitere Kommentare und dachte darüber nach, was seine Schwester wissen könnte.

Als der Pub noch John Smiths Großvater Peter Smith gehört hatte, war der kleine Raum sorgfältig hinter Wandpaneelen verborgen und ließ sich nur durch Druck auf bestimmte Astlöcher öffnen. Zugang hatte nur, wer das Codewort kannte und den vierstelligen Mindesteinsatz bar vorweisen konnte. In dem fensterlosen Raum hing die einzige Lampe so tief, dass sie nur den Tisch erleuchtete und die daran sitzenden Personen im Dunkeln ließ, die sich in dicke Qualmwolken einnebelten und mit verstellten Stimmen ihre Einsätze bekannt gaben. Auf diese Weise hatte Großvater Smith genug Geld zusammen gescharrt, um seinem Sohn Malcolm ein besseres Leben zu ermöglichen - was ein Jurastudium gegen den Willen des Jungen einschloss. Der zeigte ihn nach erfolgreichem Abschluss wegen Betriebs eines nicht lizenzierten Casinos an. Mit seinem Wissen sorgte er dafür, dass Peter Smith den Rest seines Lebens hinter Gittern verbrachte; seine juristischen Fachkenntnisse halfen ihm, den Gewinn aus Schmuggel, Glücksspiel und einigen anderen Aktivitäten legal zu erben und bis zu seinem Herzinfarkt ein angenehmes Leben zu führen. John genoss immer noch einen großen Teil des großväterlichen Reichtums und betrieb den Pub mehr aus traditionellen Gründen. Diese Tradition veranlasste ihn auch, die Drinks mit etwas mehr Wasser als Alkohol zu mischen und den Verbrauch professioneller Stammtrinker großzügig nach oben abzuschätzen.
Ebenfalls aus Tradition hatte der den Betrieb des kleinen Raumes aufrecht erhalten. Nur war er auf die Bedürfnisse einer neuen Klientel angepasst worden.
Die zweiundsiebzigjährige Mrs. Wilson hatte auf einem Panoramafenster mit Blumen bestanden. Smith hatte nur mit den Schultern gezuckt und ein Fenster eingebaut, welches den Ausblick auf den zwei mal zwei Meter großen Innenhof freigab. Da sich normale Pflanzen mangels Sonnenlicht nicht lange hielten, hatte er die Blumen nach und nach durch Plastikgewächse ersetzt, was niemand zu stören oder zu bemerken schien. Barrabas Homestetter, ausgedienter Opernsänger und Richter, hatte auf ausreichende Beleuchtung gedrängt. Die Ära Murdok McDuffs als Feuerwehrchef hatte dem kleinen Raum einen Rauchmelder eingebracht, der schon einen hitzigen Streit durch die Sprinkleranlage abkühlte. Im Laufe der Jahre waren weitere persönliche Verbesserungen dazugekommen, wobei Mrs. Wilsons Deckchen wohl am auffälligsten waren, die alle horizontalen und einige der vertikalen Flächen bedeckten.
Als Murdok McDuff eintraf, war der Bridgeclub bereits vollständig versammelt. Seine Mitglieder saßen in den üblichen Viererteams an den Tischen, die Karten vor sich ausgebreitet. Aber niemand spielte. Die Karten lagen genauso da, wie sie seit zwei, drei Wochen oder Jahren lagen. In diesem Raum hatte - soweit Murdok sich erinnern konnte - noch nie jemand Bridge gespielt. Heute wirkten alle bedrückt, selbst das Klappern von Amanda Wilsons Stricknadeln klang deprimiert. Murdok spürte die schuldbeladene Aura in diesem Raum; eine Aura, die seiner Meinung nach jeden Menschen umgab, manche stärker, manche schwächer. Er brauchte nicht lange nach der Quelle zu suchen. Die Jahre hatten Murdok mit einem untrüglichen Instinkt ausgestattet. Die Jahre hatten ihn auch mit etlichen Schwimmringen ausgestattet, einer korrespondierenden Anzahl Kinne und einer rasch größer werdenden Glatze. Seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Wilbur hatte die Natur ein Gebiss aus der Zahnpastawerbung, eine sportlich elegante Figur und ein Vertrauen erweckendes Lächeln geschenkt, jegliches Gewissen dafür eingespart. Eine Tatsache, die Murdok schon früh kennen lernte. Egal, ob die Porzellanballerina - das Lieblingsstück ihrer Mutter - oder das Fenster des Nachbarn, Wilbur brauchte nur strahlend zu lächeln, und einen Schuldigen - meist Murdok - zu präsentieren und alle glaubten ihm. Wilbur nahm sich, was er wollte und ließ seinen Bruder dafür bezahlen. Es dauerte lange, bis Murdok die Vorteile einer Zusammenarbeit erkannte. Murdok brauchte nur noch jemanden zu besorgen, der alles ausbaden musste, während Wilbur die Präsentation übernahm. Seit diese Masche das erste Mal erfolgreich war, ging es mit den Brüdern steil bergauf, zuerst in den weniger hellen Bereichen des Gesetzes, dann - nahezu legalisiert - in der Politik. Murdok überließ Wilbur die offiziellen Posten, deren Hauptaufgabe darin bestand, zu lächeln und zu winken, während er selbst im Hintergrund jemanden suchte, der es ausbaden konnte.
Umso überraschter war er, dass Wilbur heute ein Bild des Elends abgab. Die anderen Mitglieder des Clubs sahen ebenfalls nicht glücklich aus, woraus Murdok folgerte, dass sie schon Bescheid wussten.
"Was gibt's?" fragte er, nachdem er mehrere Minuten mit seinem Whisky verbracht hatte, ohne dass ihn jemand dabei störte. Wilbur zog scharf Luft ein.
"Es war absolut unvorhersehbar. Und in dem Sinne auch nicht meine Schuld."
"Dein idiotischer Bruder hätte sich auf Lächeln und Winken beschränken sollen", zischte Mrs. Wilson über das Klappern ihrer Stricknadeln hinweg. Murdok hob erstaunt die Augenbrauen. Er hatte die alte Dame nur einmal so wütend erlebt, und das war Jahrzehnte her. Damals gab es Tote. Einen Toten.
"Ich bin kein Idiot!"
"Was noch zu beweisen wäre", murmelte Homestetter. "Sag's ihm schon." Wilbur holte noch einmal Luft.
"Du erinnerst dich sicher an die Burg?" Das tat Murdok. In der Tat war es schwer, die Burg zu vergessen, da selbst der berühmte englische Nebel selten dicht genug war, die kleine, aber massive Anlage aus dem Panorama der Stadt verschwinden zu lassen. Einfallende Normannenhorden hatten vor mehr als tausend Jahren ein schützendes Gemäuer notwendig gemacht, welches im Lauf der Zeit wuchs und wucherte wie ein fröhliches Krebsgeschwür, das ab und zu von diversen Eroberern, Feuersbrünsten und Einstürzen zurechtgestutzt wurde. Der letzte Besitzer hatte es zu seinem Alterssitz umbauen lassen und verstarb, als er am Tag des Einzugs über die Schwelle stolperte und sich das Genick brach. Da er keine Erben hatte, war das Gebäude der Stadt zugefallen. Regelmäßige Zuwendungen der Denkmalpflege schützten das Gebäude vor dem Verfall, verschiedene Gerüchte um die genauen Todesumstände des letzten Besitzers vor neuen Bewohnern. Murdok sah Wilbur so an, dass der seine Entlastungsargumente fallenließ. "Nun, diese Burg, du weißt, sie steht nur so rum und dabei ist sie doch so ein erstklassiges Anlageobjekt. Eine Schande, sie nicht zu nutzen."
"Wir nutzen sie", warf Murdok ein. "Und dabei soll es bleiben. Wir. Und niemand sonst." Wilbur schluckte.
"Rein theoretisch tun wir das auch. Die Burg ist ein erstklassiges Abschreibungsobjekt." Wilbur knetete seine Finger durch. Murdok konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so nervös gesehen zu haben.
"Und wo genau liegt das Problem?" Der Satz hätte Diamanten schneiden können.
"Nun, Brenda hatte sich Folgendes ausgedacht: Wir verkaufen die Burg an Kapitalgesellschaften, die schreiben ein paar Jahre lang den größten Teil des Kaufpreises ab, danach kaufen wir das Ding zum Restwert zurück. Mehr oder weniger. Ja." Wilbur schwieg wieder. Murdoks trommelnde Finger klangen wie Gewehrfeuer und hatten die gleiche Wirkung auf Wilbur. "Ein nahezu perfekter Plan, den sich Brenda da ausgedacht hatte", murmelte er.
"Also Brenda, was ist an Ihrem nahezu perfekten Plan schiefgelaufen?"
"Nichts", antwortete die junge Frau im grauen Tweedkostüm, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. "Der Plan ist perfekt. Und es hätte auch diesmal keine Probleme gegeben, wenn Wilbur nicht reingepfuscht hätte."
"Ich habe überhaupt nicht..."
"Schnauze Wilbur! Also, was ist passiert? Und bitte leicht verständlich und ohne Ausflüchte, ich verliere langsam die Geduld." Brenda Stetson zuckte mit den Schultern.
"Wie gesagt, wir verkaufen die Burg, der Käufer schreibt seine Steuern ab, dann kaufen wir sie zurück. Meistens zum Restpreis, manchmal für weniger. Jedenfalls haben wir die Burg vor drei Jahren an einen Immobilienfonds verkauft und hätten sie dieses Jahr zurück kaufen sollen. Leider hat Wilbur die Verhandlungen übernommen. Er wollte nicht den vereinbarten Restpreis bezahlen, sondern nur die Hälfte. Er meinte, die allgemeine Kassenlage und die Preisentwicklung für Immobilien würden das rechtfertigen, aber die Fondsgesellschaft hat ihn abblitzen lassen. Punkt ist, wir haben die Burg nicht zurückbekommen. Die Fondsgesellschaft hat einen anderen Käufer gefunden." Murdok brauchte einen Augenblick, um die Worte zu verdauen. Die Clubmitglieder konnten an seiner Gesichtsfarbe ablesen, wie weit die Erkenntnis in ihm reifte. Und sie wussten, wenn sein Gesicht diese krebsrote Farbe hatte, dann brauchte er ein Ablassventil. Ohne sich sichtbar zu bewegen, bildeten die Anwesenden einen möglichst großen Kreis um Wilbur. Er wirkte im Moment so anziehend wie eine Pappel auf einem flachen Feld während eines schweren Gewitters. Smith betrachtete die schalldichte Tür, die er aus gutem Grund hatte einbauen lassen.
Die Investition hatte sich gelohnt.

Brenda Stetson schön zu nennen wäre eine Lüge; sie wirkte höchstens auf Besenstielfetischisten attraktiv. Warum gerade sie Wilbur McDuffs Sekretärin war, konnten sich Außenstehende nicht erklären, zumal Wilburs Schwäche für physisch besser ausgestattete Frauen bekannt war. Diejenigen, die mit Brenda zu tun hatten, ahnten, warum sie für die McDuffs unentbehrlich war, aber nur die beiden Brüder schätzten ihre Qualitäten über alles. Wilbur und Murdok hatten in den letzten dreißig Jahren ein riesiges Netz an Firmen, Beziehungen und Beteiligungen aufgebaut, welches jährlich mehr als siebzig Millionen Pfund aus den tiefen und manchmal auch trüben Wassern der Wirtschaft siebte. Und Dank Miss Stetsons einzigartiger Begabung wurde das Finanzamt mit drei Pfund und vierundneunzig Pence am Gewinn beteiligt - für Murdoks Geschmack immer noch zu viel. Als nach einer Viertelstunde noch nicht abzusehen war, dass sich Murdoks Wut demnächst legen würde, griff sie ein.
"Was passiert ist, ist passiert. Wir sollten uns um die Schadensbegrenzung kümmern." Sie war an der Wand stehen geblieben, mit verschränkten Armen und gleichgültigen Blick. Außerdem hatte sie so leise gesprochen, dass sie über Murdoks Wutausbruch kaum zu hören war. Trotzdem schnappte Murdok wütend nach Luft. Und genau so, wie sich eine viertel Tonne wütender Stier von einem lächerlich gekleideten Hänfling erstechen ließ, kapitulierte Murdok vor Stetson.
"Um dich kümmere mich noch", fauchte er Wilbur an. Der versuchte, Stetson einen dankbaren Blick zuzuwerfen, aber sie ignorierte ihn.
"Soviel wir wissen, ist der Käufer ein Immobilienmakler, der exklusive Villen und Wohnungen aufkauft, um sie an exklusive Kunden zu vermieten." Das Klappern der Stricknadeln verstummte einen Moment.
"Was heißt exklusiv in diesem Zusammenhang?" fragte Amanda.
"Leute mit Geld", antwortete Smith. "Oder nicht?"
"Ich wusste es! Leute mit Geld. Die wir ausnehmen könn..."
"Schnauze, Wilbur!" fuhr Murdok ihn an. "Also, sind es Leute mit Geld?" Stetson zuckte mit den Schultern.
"Soviel ich weiß, vermietet er auch an Künstler und Intellektuelle. Und er ist tatsächlich nicht billig." Murdok schwieg einen Moment.
"Also könnte es eine Weile dauern, bis jemand in die Burg einzieht?" Stetson schüttelte den Kopf.
"Nein. Die Burg ist bereits vermietet. Unser hochverehrter Bevölkerungszuwachs dürfte schon auf dem Weg sein."
"Verdammt!" Dumpfes Schweigen breitete sich aus, während jeder sich die Schrecken der Zukunft ausmalte.
"Machen wir uns nicht völlig umsonst Sorgen? Sie müssen ja nichts rauskriegen", unterbrach Wilbur und fing sich eine Kopfnuss von Amanda ein.
"Du bist und bleibst ein Trottel! Verschwindet der Steuerprüfer, wenn du die Augen zumachst? Also was ist, wenn die ihn finden?" Ein Stöhnen ging durch den Raum. Diese Frage hatten alle gefürchtet. Murdok blies die Backen auf.
"Zuerst werden sie zu mir kommen. Ich denke, ich kann das Gröbste abwenden."
"Und wie?" Murdok zuckte mit den Schultern.
"Ich lasse mir was einfallen. Sollen sie erst mal kommen. Vielleicht merken die ja wirklich nichts." Aber diese Hoffnung hegte niemand wirklich. Nicht mal er selbst.

Familie Stubbs erreichte ihr Ziel um zwei Uhr morgens in einer Stimmung, die die Hölle als einen angenehmen Ort erscheinen ließ. Schuld daran trugen ein Traktor und ein Milchwagen, respektive deren Fahrer. Während der Stubbsche Familienwagen mit dem Tempo einer gehbehinderten Schildkröte zwischen den beiden Fahrzeugen dahin kroch, war die Atmosphäre merklich abgekühlt. Harold hatte vermutet, dass es nicht schlimmer werden konnte, als das Gefährt vor ihnen seinen Geist aufgab und die Wahl darin bestand, zu warten, bis der Fahrer den Schrotthaufen repariert hatte oder die letzten vierzig Kilometer im Rückwärtsgang zurückzufahren und eine andere Strecke zu wählen. Die Entscheidung wurde ihnen vom Fahrer des Milchwagens abgenommen, der sich weigerte, den Rückweg freizumachen.

Als sie nach sechzehn Stunden Fahrt endlich ihr Ziel erreichten, klappte Marx' Kinn nach unten.
"Das soll unser Märchenschloss sein?"
"Eine faszinierende Burg. Sie stammt aus dem neunten Jahrhundert", sagte Harold.
"Und gammelt seitdem vor sich hin, oder?" Harold hätte gern etwas Passendes gesagt, über das neue Heim, über einen Neuanfang, dass die Familie zusammenhalten muss und dass jetzt alles anders, möglicherweise sogar besser wird. Er wurde von Marx unterbrochen, der ohne abzuwarten auf die Tür zugestrebt war.
"Der Schlüssel!" bellte er. "Ich hoffe, die haben hier Heizung und fließend Wasser eingebaut. Strom würde an ein Wunder grenzen." Harold seufzte.
"Keinen Sinn für die Bedeutung des Augenblicks", murmelte er. Lutetia stand neben ihm. Sie hatte andächtig die Hände gefaltet und sah zum Burgturm hinauf.
"Zauberhaft!" sagte sie. Ihr bleiches Gesicht leuchtete im Mondlicht und hob sich von dem schwarzen Samt ab, der ihren Kleiderschrank füllte. Harold hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen, vor über fünfundzwanzig Jahren, als er ihre Mutter traf und sie im jugendlichen Leichtsinn geheiratet hatte. Lutetia hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt - und seinen Intellekt. Mit anderen Worten, die vollkommene Frau. Der man nicht ansah, dass sie wegen schwerer Körperverletzung in drei Jahren von vier Colleges geflogen war.
"Wo ist der Schlüssel?" wiederholte Marx energischer. Harold erwachte aus seinen Erinnerungen und klopfte sich die Taschen ab.
"Ich muss ihn hier haben... nein, da ist er nicht, vielleicht hier? Auch nicht. Ah ja - da!" Harold hielt den Schlüssel triumphierend in die Höhe, aber erntete nur den eisigen Blick seines Sohnes. Das Türschloss war das modernste Stück an der ganzen Burg. Es ließ sich ohne Probleme öffnen - das verklemmte Tor nicht. Das Gebäude war überraschend gut gesichert, wenn man bedachte, dass es sich mehr oder weniger um eine Ruine handelte.
"Ich werde wohl ein ernstes Wort mit dem Vermieter reden müssen", bemerkte Harold. "Er hat mir versichert, dass das Haus auf dem neusten Stand und frisch renoviert ist."
"Du hast einem Makler geglaubt?" Marx' Blick sprach Bände. Das Tor gab einigen entschlossenen Tritten schließlich nach. Lutetia fand den altmodischen Drehschalter und betätigte ihn, worauf eine einsame zwanzig Watt Birne die Dunkelheit in eine Ansammlung trügerischer Schatten verwandelte. Eine in ihrer Ruhe gestörte Ratte huschte durch die Eingangshalle und verschwand in der dahinter liegenden Schwärze. Harold klatschte in die Hände.
"Lasst uns unser neues Heim erkunden!" Marx und Lutetia drehten sich zu ihrem Vater, in dessen Stimme eine Begeisterung lag, die bei dem vor ihnen liegenden Anblick pervers zu nennen war.
"Dieses Loch..." Harold hörte gar nicht zu, sondern strebte zu den Türen auf der gegenüber liegenden Seite der Eingangshalle. Er war entschlossen, sich durch die Umstände und vor allem nicht durch seine Kinder die Erfüllung seines Traumes vermiesen zu lassen. Die Geschwister sahen sich an. Marx ließ seinen Zeigefinger über die Schläfe kreisen.
"Es sieht doch gar nicht so schlecht aus", drang Harolds Stimme gedämpft aus der Ferne. "Ein wenig staubig", sagte er, als er wieder in der Halle auftauchte, "aber die Möbel sind abgedeckt. Ich könnte sofort anfangen, die Sachen auszupacken während ihr hier saubermacht." Ein Blick auf seine Kinder ließ seinen Enthusiasmus schlagartig verschwinden. "Oder wir sollten die Schlafzimmer suchen. Morgen sieht die Sache schon viel besser aus."
"Niemals", brummte Marx.

Eine Stunde später schlich eine Gestalt zum Wagen und kehrte mit Blumentöpfen beladen in die Burg zurück. Ebenso wie die Stubbsche Ankunft, wurde auch das von wachsamen Augen beobachtet.

Kapitel 2

"Exzentrisch. Das könnte man wohl sagen." Der Ton, mit dem Amanda Wilson exzentrisch aussprach, deutete auf geistig minderbemittelt hin. Es war neun Uhr morgens und damit noch weit vor Murdoks üblicher Zeit. Aber das nicht enden wollende Läuten des Telefons hatte ihn geweckt und er war auf Amandas Bitte3 zu ihr gekommen, wo er immer noch halb betäubt zum nächsten Sessel geschoben wurde. Es gab Tee mit Schuss - was Murdok etwas versöhnte - und die Neuigkeiten vom Bezug der Burg.
"Um Zwei? Was machst du mitten in der Nacht draußen?"
"Ein Spaziergang. Ich konnte nicht schlafen. Eine Stunde später schleicht sich jemand zu ihrem Auto und holt was raus. Hat nicht mal Licht gemacht."
"Eine Stunde hier und die Karre ausgeräumt. Muss ein neuer Rekord sein." Erst dann klickte es bei Murdok. "Du bist eine Stunde vor der Burg rumgelaufen?"
"Ich denke nicht, dass es ein Dieb war. Ich habe die Schlüssel gehört."
"Hast du jemanden erkannt? Oder was er reingeschleppt hat?"
"Nein, es war ein bisschen undeutlich", murmelte Amanda. Sie ließ die Bilder der letzten Nacht noch einmal vor ihrem Auge vorbeiziehen. "Ich kann unter dem Nachtsichtgerät meine Brille nicht tragen." Murdok prustete seinen Tee in die Tasse zurück.
"Nachtsichtgerät? Zwei Uhr morgens mit einem Nachtsichtgerät? Was um Himmels Willen machst du da?"
"Ich will nicht stolpern. Die Fußwege sind in einem miesen Zustand. Das Komitee für sichere Bürgersteige sollte mal bei dir vorsprechen."
"Das kenne ich gar nicht."
"Keine Angst, das kommt noch."
"Du bist nicht zufällig die Vorsitzende? Was soll's, wenn es mir den Besuch des Vereins Keine Grausamkeit Gegen Herrenlose Hunde erspart..."
"Ich denke eher, dass sich diese Kräfte vereinen." Amanda Wilson führte ein reges gesellschaftliches Leben. Das hatte ihr die Mitgliedschaft - und auf Grund ihrer Persönlichkeit meist auch den Vorsitz - in einer unüberschaubaren Vielzahl von Vereinen, Komitees und Gruppen eingebracht, so dass sie jede erdenkliche Facette des sozialen Lebens in Borough repräsentierte. Sich mit ihr anzulegen, kam einer gesellschaftlichen Ächtung gleich. Vorsichtig versuchte Murdok, ein anderes Thema anzuschneiden.
"Wir sollten diese Leute erstmal kennenlernen..."
"Du könntest einen Antrittsbesuch machen. Sie in der glücklichen Gemeinschaft der Bürger von Borough begrüßen."
Murdok runzelte die Stirn.
"Klingt nach Kitschroman." Amanda zuckte mit den Schultern.
"Es würde dem Bild eines idyllischen Städtchens entsprechen. Nimm deinen Bruder mit. Aber er soll nur über das Wetter reden und lächeln." Sie überlegte kurz. "Nur lächeln wäre besser."
"Und vielleicht könnte ein harmlos aussehendes, älteres Mütterchen an ihre Tür klopfen und um eine milde Gabe für irgendeine kirchliche Sache bitten." Murdoks Lächeln wurde von Mrs. Wilsons eisigem Blick geschreddert. "Mit dem harmlosen alten Mütterchen habe ich nicht dich gemeint."
"Ich fühlte mich auch nicht angesprochen." Murdok wusste, dass er bei Gelegenheit diese Äußerung bereuen würde. "Andererseits könnte die Vorsitzende der Historischen Gesellschaft Boroughs die neuen Burgbewohner in die Geschichte dieses außergewöhnlichen Bauwerkes einführen. Dabei ein kleines Schwätzchen", sagte sie mehr zu sich selbst als zu Murdok. Der klopfte sich mit dem Fingernagel an die Zähne.
"Wir wollen sie doch nicht überfordern", warf er ein, aber Amanda wischte seinen Einwand mit einer Handbewegung weg. Ihr war eine Idee gekommen.
"Niemand fühlt sich von einer harmlosen alten Dame überfordert." Murdok versuchte, sich Amanda als harmlose alte Dame vorzustellen. Er konnte sehen, dass Amanda etwas plante und wusste, dass es sinnlos war, es ihr ausreden zu wollen. Und dass es gefährlich wäre, ihr im Weg zu stehen. In seinem Geschäftsleben war er mit einigen zwielichtigen Gestalten zusammengetroffen. Angst hatte er dabei nicht gehabt. Er hatte vor überhaupt nichts mehr Angst. Denn im Vergleich zu Mrs. Wilson war der Rest der Welt harmlos. Aber sie hatte eine Schwachstelle.
"Dein Sohn hat vor, sich mit den Swansons anzulegen. Vielleicht nimmt er ja mütterlichen Rat an, auf mich scheint er nicht zu hören."
"Haben die zwei ihn wieder versohlt? Der Junge sollte wirklich lernen sich durchzusetzen." Sie gab Murdok einen Wink. "Ich kümmere mich drum. Du kannst jetzt gehen." Sofort verließ Murdok das Haus. Seine Geschwindigkeit dabei rechtfertigte das Wort Flucht.

Zur selben Zeit klappte Marx Stubbs die Augen auf. Entgegen seiner Hoffnung entpuppten sich der Umzug und die Burg nicht als Albtraum, sondern als nackte und äußerst kalte Realität. Der Griff an die Heizung bestätigte seine Befürchtungen über den Zustand der Anlage.
"Verflucht!" murmelte er und kniete sich auf den Boden, um die Pflanzen zu begutachten, die er unter dem Bett versteckt hatte. Einige Blätter neigten sich Besorgnis erregend weit nach unten. Marx verabreichte ihnen Wasser und eine exakt bemessene Dosis Spezialdünger. Erst dann zog er sich selbst an und ging auf die Suche nach etwas Essbarem.
Marx fand den Rest der Familie in einem Raum, der wie eine mittelalterliche Küche aussah. Diese wurde von einem riesigen Kamin beherrscht, der - nach dem Rußbelag auf Wand und Decke zu urteilen - jahrhundertelang mit feuchtem Holz und Autoreifen gefeuert worden war und auf dessen Drehspieß ohne weiteres Stier am Stück gegrillt werden konnte. Ein elektrischer Herd - nach dem Design ein Relikt der frühen Sechziger - stand an der anderen Wand, eingefasst zwischen einem gemauerten Wasserbecken und einer steinernen Arbeitsfläche. Dort stand einsam der einzig moderne Gegenstand des Raumes: die Kaffeemaschine, die Harold auf Anweisung seiner Tochter aus dem Wagen geholt hatte. Eine teerähnliche Flüssigkeit tropfte in die Kanne - Lutetia bevorzugte nicht nur schwarze Kleidung. Der große Tisch in der Mitte des Raumes war kein Esstisch - die braune Patina stammte von der Verarbeitung frischen Schlachtfleisches. Lutetia und Harold saßen bereits an den Stirnseiten; Harold hielt seine Tasse in beiden Händen und blickte ins Leere.
"Die Heizung funktioniert nicht und es ist schweinekalt."
"Einen schönen guten Morgen."
Marx nahm sich Kaffee und setzte sich ohne ein weiteres Wort an den Tisch. Es folgten Minuten des Schweigens, die Harold abrupt beendete.
"Ihr seht schon: im Nu fühlen wir uns hier heimisch! Dieses Haus hat doch einen ganz eigenwilligen Charme!" Dabei schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Einige lose Partikel der Deckenbemalung folgten dem Ruf der Schwerkraft.
"Etwas von diesem erwähnten Charme ist gerade in meinen Kaffee gebröckelt", sagte Marx. "Dieses Gemäuer braucht eine Generalüberholung. Mit einem Flammenwerfer. Danach könnte man hier was Vernünftiges hin bauen."
"Du siehst es so negativ!" Harolds Zeigefinger wackelte vor Marx' Gesicht, genauso wie es sein Vater damals getan hatte. Er hatte vergessen, wie sehr er das gehasst hatte. Es fiel ihm wieder ein, als er Marx' Miene sah. "Ein bisschen Farbe und hier sieht alles ganz anders aus. Ich habe bereits mit dem Makler gesprochen - er meinte, am besten wir renovieren selbst und er erstattet uns die Materialkosten. Wir können uns hier alles einrichten, wie wir wollen. Ist das nicht toll?"
"Natürlich. Er spart sich die Kohle für die Handwerker und wir rackern uns dumm und dämlich. Ich mach hier keinen Handschlag." Mit zusammengebissenen Zähnen zählte Harold bis zehn. Sein Sohn erforderte alles, was er an Geduld aufbringen konnte. Andererseits standen ihm keine nennenswerten Optionen zur Verfügung - Harolds körperliche Verfassung war nach Jahrzehnten des Akademikerlebens und der gesunden4 Ernährung, die er seiner Frau verdankte, kaum in der Lage, die logistischen Aspekte des Wocheneinkaufs zu bewältigen. Marx hingegen hatte Zeit und Gelegenheit genutzt, um ungesunde aber Masse aufbauende Fleischnahrung in sich hineinzustopfen.
"Wir sind doch eine Familie", presste Harold schließlich durch die Zähne. "Wir halten zusammen! Einer für alle, alle für einen, nicht wahr?" Die ausgestreckte Hand war ein Fehler, stellte er fest. Im Film würden alle einschlagen und eine Art Pakt besiegeln. Stattdessen setzte Lutetia einen Im-Prinzip-Hast-Du-Recht,-Aber-Ich-Bin-Zu-Alt-Für-Diesen-Quatsch- Blick auf und Marx sah ihn an, als wäre er übergeschnappt. Einige Sekunden später zog er die Hand zurück. Und änderte seine Taktik "Wie dem auch sei. Solange ich für eure Unterkunft und Verpflegung bezahle, tut ihr, was ich sage. Marx - du findest raus, wo es hier Farbe gibt, holst zwei Eimer und streichst die Küche. Und zwar bis heute Abend! Verstanden!" Marx' Kinn klappte nach unten. Er wollte etwas sagen, aber ein gezielter Schlag in seine Nieren hielt ihn zurück.
"Tu was er sagt", raunte Lutetia in sein Ohr. "Sonst gibt er nie Ruhe."
"Und du" - Harold richtete seinen Zeigefinger wie eine Speerspitze auf Lutetia - "Die Möbel müssen abgedeckt und poliert werden. Alle Zimmer müssen gekehrt und gewischt..." Lutetias Miene zeichnete sich durch einen Ausdruck mangelnder Aufmerksamkeit aus, der Harold zur Raserei brachte.
"Wir bekommen Besuch", sagte sie, stand auf und öffnete das Burgtor.

"Oh mein Gott! Ist ihnen schlecht? Soll ich einen Arzt holen?" Lutetia lächelte kurz und vollkommen humorlos, wie jemand, der einen schlechten Witz zu oft gehört hat. Sie betrachtete die beiden Männer vor der Tür. Der eine war fett, hatte eine beginnende Glatze, stank nach Schweiß und hatte kein Gefühl für Eleganz. Der andere war schlank, hatte seine Haare grau meliert und trug einen Anzug, der mehr kostete, als ein ehrlicher Angestellter verdiente. Dazu grinste er konzentriert. Harold hielt noch seine Serviette in der Hand, als er aus der Küche kam.
"Wer sind die Herren, mein Liebling?" Harolds Stimme verriet nichts von seinem Ausbruch. Lutetia warf einen prüfenden Blick auf die Besucher.
"Dick und Doof. Ich glaube, sie wollen zu dir." Harold lächelte irritiert, als er die Bemerkung seiner Tochter verarbeitete. Murdok trat am abgelenkten Harold vorbei in die Eingangshalle. Er setzte eine Miene auf, die weltmännisch offen sein sollte.
"Guten Tag, ich bin Murdok McDuff und das ist mein Bruder Wilbur. Wir heißen Sie und Ihre Familie in Borough herzlich willkommen." Dann lächelte er so strahlend wie falsch. Harold, der nur theoretische Erfahrung im Umgang mit Menschen hatte, war hoch erfreut.
"Ist das nicht nett? Der Charme des Landlebens, stimmt es nicht, Lutetia? Hier kümmert man sich umeinander!" Harold drehte sich um, aber seine Tochter war verschwunden. "Sie ist ein wenig schüchtern. Aber kommen Sie doch herein. Ich fürchte, die Küche ist der einzige hergerichtete Raum. Wir sind erst heute Morgen angekommen."
"Aber machen Sie sich unseretwegen keine Umstände", antwortete Murdok anstandshalber. Harold hatte sich schon umgedreht und war vorangegangen.
"Widerliche Göre!" zischte Wilbur kaum hörbar.
"Wieso?" erwiderte Murdok ebenso leise. "Ein wenig forsch, die Kleine und eine gute Beobachtungsgabe. Ich habe tatsächlich ein oder zwei Pfund zugelegt - und nicht vergessen: Wetter und lächeln!"
"Ich möchte Ihnen meinen Sohn vorstellen... oh, er ist auch nicht da", stellte Harold fest, als er in die Küche kam. Marx hatte sich verdrückt, bevor Harold seinen Anweisungen Nachdruck verleihen konnte.
"Eine schüchterne Familie", bemerkte Murdok.
"Eigentlich nicht", antwortete Harold. "Vielleicht ist es das Landleben - sie sind die Anonymität der Großstadt gewohnt."
"Das Landleben. War das der Grund, warum Sie hergezogen sind?"
"In der Tat. Ich habe gelesen, dass das Leben auf dem Land gut für die Erziehung der Kinder ist. Sie sind geschützt vor - wie soll ich sagen..."
"Der Großstadt?" Ich habe gelesen... Murdok machte sich eine mentale Notiz.
"Genau! Die Kriminalität, die schlechten Einflüsse... so was. Davor will ich sie bewahren. Eine Tasse Kaffee?"
"Gern", antwortete Wilbur. Harold hob die Kaffeekanne an. "Sie ist leer", stellte er fest. "Ich könnte versuchen, frischen zu machen. Allerdings fürchte ich, ich bin nicht sonderlich gut im Umgang mit Küchengeräten." Wilbur sah zu Murdok und Murdok zu Wilbur. Man hatte natürlich von solchen Menschen gehört, aber nie geglaubt, dass es sie wirklich gibt. Wilbur erbarmte sich schließlich.
"Ich mache das. Was sind Sie bloß von Beruf?"
"Ich bin Professor für Mathematik. Natürlich habe ich zum Wohl meiner Kinder meinen Lehrstuhl aufgegeben, nachdem meine Frau bedauerlicherweise gestorben war, aber ich denke, ich kann hier meine Forschungen weiterführen. Ich will zukünftigen Generationen etwas hinterlassen, was sie führt und leitet." Aus Richtung Arbeitsfläche kam ein Geräusch, das ein erstickter Hustenanfall sein konnte.
"Entschuldigung", keuchte Wilbur, "ich muss Kaffeepulver eingeatmet haben." Einige unbeschäftigte Gedanken sprühten Idiot an Murdoks geistigen Horizont.
"Glauben Sie, dass hier der richtige Ort dafür ist? Brauchen Sie nicht eine Universität, wo Sie forschen können?" Harold lächelte milde. Er fühlte sich wie ein Mann, der nach einer langen Reise in einem fremden, verwirrenden Land endlich heimatlichen Boden unter die Füße bekam.
"Nun, das ist bei vielen Fächern der Fall. Aber die Mathematik findet im Kopf statt" - dabei tippte er sich an den eigenen - "und davon habe ich genug, um selbst in einer trostlosen Einöde keine Probleme zu bekommen!" Murdoks Gedanken formten jetzt ein anderes Wort: es begann mit einem A und war wesentlich länger. Harold interpretierte das versteinerte Lächeln falsch und redete weiter. "Sehen Sie, Mathematik braucht weder teure Versuchsanlagen, materialaufwendige Experimente oder eine Menge Leute, die alles diskutieren müssen. Mathematik braucht lediglich brillante Köpfe. Deshalb ist sie auch die Königin der Wissenschaften, der ich mich ganz und gar verschrieben habe." Wahrscheinlich brauchte die Königin einen Hofnarren. Wilbur unterbrach Harold, bevor dieser fortfahren konnte.
"Der Kaffee ist fertig. Haben Sie die Burg für länger gemietet?" Murdok warf Wilbur einen warnenden Blick zu. Harold sah misstrauisch auf.
"Sollte ich etwa nicht?"
"Doch, doch! Wir dachten nur - die Umstellung vom Leben in der Großstadt mit seinen intellektuellen Reizen zum ländlichen Leben - wir befürchteten, Sie würden nur... eine Probezeit einlegen."
"Nein, das habe ich nicht vor", sagte Harold. Die Schärfe in seiner Stimme hatte zugelegt. "Meine Entscheidungen sind gut durchdacht und endgültig."
"Zweifellos. Sie sollten meinen Bruder nicht missverstehen - er redet sonst nur über das Wetter. Wir möchten natürlich, dass Sie sich so schnell wie möglich einleben!"
"Ich denke nicht, dass ich Probleme habe", sagte Harold und lehnte sich zurück. "Aber die Kinder. Ein Ortswechsel kann junge, ungefestigte Menschen leicht aus der Bahn werfen." Murdoks müßige Gedanken buchstabierten Volltrottel. Seine eigenen Vorstellungen von jungen, ungefestigten Menschen wiesen in die Richtung von gemeingefährlichen Bastarden, die man vorbeugend einsperren sollte.
"Sollte es Probleme geben", sagte Murdok und stand auf, "zögern Sie nicht, sich an uns zu wenden. Jetzt wollen wir Sie nicht länger aufhalten." Harold war in Gedanken versunken.
"Es gibt da tatsächlich etwas. Meine Arbeit lässt mir kaum Zeit und die Kinder... Sie kennen nicht zufällig eine gute Haushälterin, die einen Job braucht?"
"Ich werde sehen, ob mir jemand einfällt."
"Danke, das wäre hilfreich." In diesem Moment schlug sich Murdok vor den Kopf, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen.
"Übrigens - der Vermieter sollte es Ihnen gesagt haben, aber wir wissen ja, wie Vermieter so sind. Vergessen die wichtigsten Sachen, bis der Vertrag unterschrieben ist." Harold nickte zustimmend, nicht weil er dieses Verhalten kannte, sondern weil er das Gefühl hatte, als Mann von Welt diese Tatsache kennen zu müssen. "Die Kellergewölbe sind heimtückisch. Baulich ist nichts dran auszusetzen", sagte er schnell, als er Harolds Gesichtsausdruck sah, "aber es gibt da kaum Licht und der Grundwasserspiegel ist hoch, na ja, es sollte eben besser keiner runtergehen. Es ist mehr eine Legende, aber da unten soll sich mal ein Kind verirrt haben und im Schlamm stecken geblieben sein. Leider hat man es nicht mehr rechtzeitig gefunden..." Die Pause ließ genug Zeit, um sich vorzustellen, wozu man es nicht mehr rechtzeitig finden konnte. "Aber das ist nur eine Legende." Murdoks Lächeln erschien und teilte die Hautmassen zwischen Nase und Kinn wie einst Moses das Rote Meer.
"Man muss es ja nicht herausfordern", murmelte Harold.
"Genau. Aber wir haben Sie lange genug aufgehalten - sicher haben Sie eine Menge zu tun." Murdok reichte Harold die Hand, drehte sich um und erschrak. Ohne ein Geräusch war Lutetia aufgetaucht und stand hinter ihm.
"Sie sind eine bemerkenswert leise Person", brachte er hervor, nachdem sein Puls wieder unter zweihundert lag.
"Ich wüsste nicht, dass das verboten wäre."
"Ist es auch nicht. Es kann jemanden nur einen mörderischen Schrecken einjagen."
"Nur solchen, die etwas zu verbergen haben. Was ist mit Ihrem Bruder los? Er sieht aus, als wäre ihm unwohl - soll ich einen Arzt holen?" Ohne die Antwort abzuwarten, drehte sich Lutetia um und verschwand in einem der hinteren Räume, wo sie offensichtlich damit beschäftigt war, Ordnung zu schaffen. Murdok hatte sich zu Wilbur gedreht. Der lächelte blass und angestrengt. Harold war in der Küche geblieben.
"Wir sollten jetzt gehen", stellte Murdok fest. Leise murmelte er: "Seltsame Familie."

Wilbur atmete erst auf, nachdem sie außerhalb der Hörweite waren.
"Na endlich", zischte Murdok. "Dein blödes Grinsen ist eine Zumutung!"
"Wer hat gesagt: Lächeln und Wetter? Als wäre ich ein Idiot." Murdok war in Gedanken versunken und ignorierte seinen Bruder. Der ging noch einmal das Gespräch durch. "Die Legende von dem Kind...du bist damals nicht im Schlamm stecken geblieben! Die Tür war zugefallen."
"Jemand hatte einen Keil drunter geschoben."
"Aber man hat dich rechtzeitig gefunden."
"Nicht rechtzeitig zum Abendessen. Und du weißt, dass unser alter Herr eine lockere Hand hatte."
"Erstaunlich", sinnierte Wilbur. "Du hast die Wahrheit gesagt." Murdok schnaubte verächtlich.
"Natürlich! Was sich die Leute denken geht mich nichts an!"
"Du sorgst nur dafür, dass sie was zu denken haben."
"Genau."

Lutetia war keineswegs weltfremd, obwohl viele den Fehler machten, sie dafür zu halten. In Wirklichkeit hatte ihre genetische Veranlagung sie mit einem Verstand und einer Wahrnehmung ausgestattet, der die Realität nicht nur registrierte, sondern sezierte. Lutetia sah Details, die niemand sonst bemerkte. Sie betrachtete die Welt durch ein Mikroskop.
Nein, Lutetia war nicht weltfremd. Sie sah die Realität nur realer als die meisten. Und sie hatte früh festgestellt, dass ihr nicht gefiel, was sie sah - worauf sie begann, sich in ihrem Kopf eine eigene Welt zu schaffen.
Im Normalfall ließ Lutetia diese Welt nicht von der Realität beeinflussen und schaltete auf Automatik. Derzeit waren ihre Hände damit beschäftigt, Laken von verhüllten Möbeln abzuziehen, zusammenzufalten und auf einem exakt ausgerichteten Stapel aufzuschichten. Da Hausarbeit auf den Rest ihrer Familie dieselbe Wirkung hatte wie ein übel gelauntes Stinktier auf die Kunden einer Douglas-Filiale5, benutzte sie diesen Vorwand, um Zeit für sich zu haben. Ärgerlicherweise ließ die Realität sie nicht in Ruhe, sondern kratzte an ihren Schutzwänden wie ein Hund, der dringend Gassi muss. Etwas an den zwei Männern stimmte nicht. Nichts von dem, was sie gesagt oder getan hatten, war falsch - nur irgend etwas von dem, was sie nicht gesagt oder getan hatten, erschien ihr seltsam. Sie konnte nur noch nicht sagen was.

Lutetia bezog - wie ihr Vater - den größten Teil ihres Wissens aus Büchern, aber sie machte nicht den Fehler, das geschriebene Wort mit dem wahren Leben zu verwechseln. Statt dessen eliminierte sie alles, was nur der Phantasie von Autoren entsprungen sein konnte, die zu viel Zeit allein in geschlossenen Räumen verbrachten. Es blieb wenig übrig.
Ein Antrittsbesuch der Stadtoberen, um neu Zugezogene zu begrüßen - solchen Schwachsinn hielten selbst Schreiber drittklassiger Heimatromane für unter ihrer Würde. Der Dünne hatte einen leichten Schweißfilm auf der Haut gehabt, obwohl es in der Burg kühl war. So etwas geschieht, wenn der Mensch, der in dieser Haut steckte, sich in ihr unwohl fühlt. Der Dicke hatte wahrscheinlich nur wegen seiner Fettschicht geschwitzt. Die Beiden waren zu einem bestimmten Zweck hier. Aber welchem?
Lutetia schüttelte den Kopf. Solche Grübeleien waren zwecklos. Sie wandte sich einem Stapel Blätter zu, der neben ihr auf einem Tisch lag und einen interessanten Beweis zu elliptischen Funktionen enthielt. Die Theorie war so kompliziert, dass es nur eine handvoll Mathematiker gab, die sie verstanden. Es war für Lutetia ein Schock gewesen, festzustellen, dass ihr Vater nicht dazu gehörte.
Damals war sie sechs Jahre alt.

Während sich Lutetias Gehirn mit einer Präzisionsmaschine auf Hochtouren vergleichen ließ, wäre das Bild, welches Georges geistiger Aktivität entsprach, ein aufgeräumter, blankgeputzter Schreibtisch. Die Oberfläche war stark geneigt, sodass sich nichts auf ihr länger als fünf Sekunden halten konnte - das entsprach genau der Zeitspanne, die ein Gedanke in Georges Gehirn überleben konnte, bevor er über der Kante des Vergessens abkippte. Durch langjähriges, geduldiges Training und einen immer griffbereiten Rohrstock, der eigentlich ein Ausstellungsstück des von ihr geleiteten Heimatmuseums war, hatte ihm seine Mutter eine gewisse Routine beigebracht, an die er sich sieben Jahre nach ihrem Ableben immer noch gewissenhaft hielt. Dazu gehörte es, morgens halb elf die Tür zum Borough Inn mit dem Schlüssel, der an einem Strick hinter der Eingangstür hing und der durch den Briefschlitz zu erreichen war, den Laden zu öffnen, den roten Plastikeimer, der hinter der Theke stand und manchmal die letzte Rettung für Zecher war, die es nicht mehr bis zur Toilette schafften, mit Wasser zu füllen6 und mit dem Schrubber, der hinter der Tür zur Küche hing, den Boden zu wischen. Die folgenden zwei Stunden verbrachte er damit, jedes einzelne Messingteil auf Hochglanz zu polieren. Nachdem er das getan hatte, räumte er das Putzzeug weg und nahm sich aus dem Backofen eine für ihn bereitgestellte Mahlzeit, die den größten Teil seines Lohnes darstellte und meist aus den Resten des gestrigen Abends bestand. Wie üblich aß er alles auf, wusch das benutzte Geschirr ab, nahm sich einen Besen und ging zur hinteren Wand des Gastraumes. Dort drückten seine Finger automatisch in der richtigen Reihenfolge auf die Astlöcher, die geheime Tür öffnete sich und er begann, den Raum zu fegen. George störte es nicht, dass heute noch jemand da war - solange die Anwesenden seinem Besen rechtzeitig auswichen. Brenda Stetson warf ihm einen prüfenden Blick zu und ignorierte ihn dann. Barrabas Homestetter behandelte George von vornherein wie Luft.
"Was könnten sie finden?" fragte Brenda.
"Nichts. Ehrlich. Nichts was sie beunruhigen müsste. Das war lange vor ihrer Zeit." Als ihn Stetsons Blick traf, winselte er wie ein Hund, den eine Peitsche getroffen hatte. "Die... die McDuffs hatten ein Versteck da oben", sagte Homestetter plötzlich, als wäre ihm das gerade eingefallen, "so ähnlich wie das hier. Nun ja, wenn das jemand findet... es könnte dumme Fragen geben. Sie wissen ja, wie das ist." Stetsons Blick hätte kleinere Lebensformen umgebracht.
"Amanda fragte, was wäre, wenn sie ihn finden. Ihn ist eine Person - keine Sache, Homestetter." Schweißperlen sammelten sich auf Homestetters Stirn und vereinigten sich zu kleinen Bächen auf dem Weg nach unten. Trotzdem versuchte er ein tapferes Lächeln.
"Es ist wirklich nichts und eigentlich weiß ich gar nichts darüber. Sie sollten Wilbur fragen. Der ist Ihr Boss und es ist seine Sache." Homestetters Angst erstaunte Brenda. Der Mann war ein Lebenskünstler, der sich um nichts Sorgen machte - abgesehen vom nächsten Drink und der nächsten Zigarre. Der Ausdruck in seinen Augen aber grenzte an Panik. Was immer er nicht wissen wollte, musste ein großer Brocken sein.
Die Tür klickte leise, als George den Raum verließ. Weder Stetson noch Homestetter nahmen Notiz davon.

Zur selben Zeit sah Henry Wilson in den Spiegel. Ihm stand dafür nur ein Auge zur Verfügung - das andere war über Nacht zugeschwollen. Dem Arzt hatte er etwas von einem LKW und Fahrerflucht erzählt - obwohl dessen Grinsen und die Bemerkung, dass er auf einen Raubüberfall durch zwei Schwerverbrecher getippt hatte, Wilson klar machte, dass der Doktor die Wahrheit bedauerlicherweise kannte. Das wiederum ließ vermuten, dass Wilson ab sofort bei jedem Schritt, den er von nun an bis in alle Ewigkeit tun würde, von hämischem Gelächter und Getuschel hinter vorgehaltener Hand begleitet werden würde. Es sei denn, er würde ein Exempel statuieren und beweisen, dass sich niemand ungestraft an Henry Wilson vergreift. Und dass jeder, der es versucht, unbarmherzige Vergeltung zu spüren bekommt. Die Swansons würden es bereuen. Koste es, was es wolle.

Über die Swansons wusste niemand viel. Sie waren vor dreißig Jahren aufgetaucht und seitdem fast ununterbrochen Ortsgespräch gewesen, aber niemand wusste, was sie vorher getrieben hatten, woher das Geld kam, mit dem sie gelegentlich um sich warfen, oder was sie taten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Manchmal verschwanden sie für ein paar Wochen, reisten angeblich durch den Kontinent oder gingen auf Safari - aber niemand hatte das bisher nachgeprüft. Wilson begann nach Schwachstellen zu suchen. Er stellte sich eine Liste der möglichen Informationsquellen auf: Bibliothek. Zeitungsarchiv. Mutter. Seine Mutter. Wilson strich das letzte Wort auf der Liste zweimal durch. Er war sich bewusst, dass seine Mutter ein hohes Ansehen in Boroughs Gesellschaft genoss. Und er war sich ebenfalls bewusst, dass er für sie eine mittlere bis schwere Enttäuschung darstellte. Wilson war sich nicht sicher, was genau sie von ihm erwartet hatte, aber er wusste genau, dass er ihre Erwartungen in keinster Weise erfüllt hatte. Genauso wie Mrs. Wilson auf Grund natürlicher Vorgänge immer dazu tendierte, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen, neigte ihr Sohn dazu, sich an den Rand der Gesellschaft treiben zu lassen. Ohne Amanda Wilsons Intervention wäre Wilson nie bei der Polizei gelandet, was seine Fähigkeiten zwar überstieg, ihn aber vor einem weiteren Abstieg bewahrte. Seit mehreren Jahren bestand ihr Verhältnis aus einem wöchentlichen Besuch und Gesprächen, deren Tiefe über ein Wie geht es dir? und Was macht das Leben? nicht hinausgingen. Andererseits war Mrs. Wilson Mittelpunkt der Gesellschaft von Borough und damit genau die Quelle, die am Erfolg versprechendsten schien. Aber diesmal wollte er es allein schaffen.
Seine Hände griffen automatisch nach dem Seidenpapier, das griffbereit unter dem Waschbecken lag. Auch nach Jahrzehnten täglicher Praxis gelang es ihm nicht, sich verletzungsfrei zu rasieren.

"Ein nettes Städtchen", bemerkte Harold, als er nach Beendigung dessen, was er seine Arbeit nannte, Lutetia fand, die gerade die letzten Laken von den Möbeln gezogen und verstaut hatte.
Das Dorf der Verdammten.
"Ich hatte gar nicht geglaubt, dass es so was noch gibt."
Der Idiot.
"Woran denkst du gerade?"
"An Filmklassiker."
"Einfach rührend, wie man sich auf dem Land noch umeinander kümmert." Lutetia reagierte nicht auf seine Worte. Sie kannte den Tonfall von seinen Vorlesungen, die sie vor ein paar Jahren besucht hatte, um ihren Erzeuger besser kennenzulernen. Ihn jetzt von seinem Kurs abzulenken - oder gar Widerspruch einzulegen, wie es ihr vorschwebte - würde ihn ungenießbar machen. "Ich habe mir die Bibliothek angesehen - einfach fantastisch. Nicht groß, offenbar waren die vorigen Bewohner keine determinierten Leser, aber es sind einige alte, interessante Manuskripte darunter." Lutetia hatte die Bibliothek ebenfalls in Augenschein genommen - die Manuskripte waren nur alt - aber Harold begann seine Begeisterung über das alte Papier auf den Ort auszudehnen, obwohl er Letzteren noch gar nicht kannte. Kein Familienmitglied hatte seit ihrer Ankunft die Burg verlassen und von der Bevölkerung hatten sie nur die McDuffs kennengelernt - was über die übrigen Bewohner hoffentlich nichts aussagte. Lutetia ignorierte ihren Vater weiterhin und ließ nur ab und zu ein "Wirklich entzückend", "Das finde ich auch" oder "Zauberhaft" fallen, wenn der Klang seiner Stimme es für angebracht erscheinen ließ. Sie war keinesfalls abgeneigt gegen Borough und das Leben in einer Burg schien ihr für eine Person wie sie selbst durchaus angemessen zu sein - aber sie neigte dazu, sich ihre Meinung erst nach gründlicher Prüfung zu bilden. Während sie in Gedanken versunken war, entging ihr, dass Harold neben ihr stand. Sie bemerkte ihn erst, als er den Arm um ihre Schultern legte.
"Was ist los?" fragte Harold. "Meine Güte, du bist ja eiskalt und steif!" Lutetia stand tatsächlich wie versteinert da.
"Dein Arm", sagte sie beherrscht. "Nimm ihn weg."
Harold lächelte unsicher.
"Das ist eine Geste liebevoller Verbundenheit zwischen Vater und Tochter."
"Zufällig ist es auch eine Geste sexueller Belästigung zwischen Mann und Frau" kam die Antwort - mehr gezischt als gesprochen.
"Aber ich bin dein Vater..."
"Ich werde dir einen liebevollen Spruch auf den Gips schreiben." Lutetia schälte sich aus Harolds Umarmung, der seinen Arm immer noch ausgestreckt hielt, während er die neuen Erkenntnisse über das Verhältnis zu seiner Tochter verarbeitete. "Ich denke, wir brauchen noch einige Kleinigkeiten zum Abendessen. Ich werde einkaufen gehen", verkündete Lutetia, als sie das Zimmer verließ. Da bestand wenigstens keine Gefahr, dass ihr ein Mitglied der Familie zu nahe kam.

Kapitel 3

Amanda Wilson hielt das Fernglas fest an die Augen gepresst. Unter anderem war sie Vorsitzende der Borougher Vogelfreunde und damit sozusagen berechtigt, jederzeit und überall mit einem Fernglas bewaffnet aufzutauchen. Schließlich konnten seltene Vögel an den seltsamsten Orten und zu den ungewöhnlichsten Tageszeiten angeflattert kommen. Allerdings hätte niemand zu fragen gewagt, warum sie wirklich seit fast zwei Stunden das Burgtor beobachtete. Normale Neugier konnte das kaum erklären, aber Mrs. Wilson galt als am besten informierte Quelle von Gerüchten, zumindest in einem engen Bereich um Borough herum. Einen solchen Ruf bekommt niemand, der seine Nachmittage im Fernsehsessel vertrödelt.
Mrs. Wilson hatte eine bewundernswerte Ausdauer. Und nachdem seit dem Weggang der McDuffs absolut nichts passierte, öffnete sich nun das Tor. Sie stellte die maximale Vergrößerung ein. Auf siebzehn schätzte Amanda die junge Frau. Und gut gebaut, soweit das ein nicht männliches Wesen beurteilen konnte; auf jeden Fall besser als die ansässige Konkurrenz. Die schwarzen, glatten Haare reichten ihr bis auf den Rücken und hatten denselben Farbton wie ihr schwarzes Kleid - vermutlich Samt. Das Gesicht zeichnete eine Blässe, die auf konsequentes Meiden von Sonnenlicht zurückzuführen war. Mrs. Wilson hatte bereits die Schublade ihres geistigen Aktenschranks geöffnet, welche mit "harmlos" beschriftet war. Da machte Lutetia den ersten Schritt. Amanda Wilson hatte sich ein Leben lang mit Menschen beschäftigt. Sie zu studieren war ihr liebstes Hobby - das und ihr Wissen anzuwenden, um ihren Willen durchzusetzen. Sie beurteilte Menschen nach ihrem Handschlag, der Art wie sie redeten, ihrer Haltung. Als sie sah, wie Lutetia lief, fiel ihr das Fernglas aus der Hand. Amanda schnappte nach Luft. So etwas hatte sie nicht erwartet. Dann sah sie wieder durch das Fernglas, bis Lutetia hinter der nächsten Kurve verschwand.
Dieses Mädchen war gefährlich.

Lutetia verließ die Burg ohne ein bestimmtes Ziel. Da Kartographen es im Allgemeinen für Zeitverschwendung hielten, einen Ortsplan von Borough zu erstellen, war die Anfahrtsskizze des Maklers ihre einzige Orientierung. Allerdings schenkte sie der Werbeaussage, dass die nächste Einkaufsmöglichkeit keine fünf Minuten entfernt sei, nur insoweit Glauben, als dass damit Zeiträume ab sechs Minuten bis mehreren Stunden gemeint sein könnten. Ein kurzer Lichtblitz, etwas wie eine Reflexion, zuckte am Rand ihres Blickfeldes auf - zu kurz, um seine Quelle herauszufinden. Der Eindruck fügte sich in die Rubrik Seltsame Dinge In Borough ein, die sich in Lutetias Unterbewusstsein ausbreitete. Sie bog nach rechts auf die Straße, die von irgendeinem Stadtvater mit eigenartigem Sinn für Humor Schlossstraße genannt wurde. Sie lief in die Richtung, in der sie das - wenn man zu Euphemismen neigt - Stadtzentrum vermutete.

Eine halbe Stunde später betrat Lutetia eine unbekannte Welt. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte sie ihr Leben in der wohligen Anonymität der Großstadt verbracht, die Individualisten jeglicher Art tolerierte, akzeptierte und ignorierte. Die Einwohner von Borough dagegen wussten mit dem Wort Individualisten nichts anzufangen und hielten sie bestenfalls für eine zur Jagd freigegebene Spezies. Bisher hatte Lutetia ihre Einkäufe in Supermärkten erledigt, deren Angestellte vierunddreißig verschiedene Versionen von: Ham wer nich! beherrschten. Jetzt stand sie in einem Tante-Emma-Laden, dessen Tante Emma fest entschlossen war, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen.
"Hallo, wen haben wir denn da?" Die ungewöhnlich durchdringende Stimme riss Lutetia aus ihren Gedanken. Außer der Inhaberin entdeckte sie zwei oder drei Kundinnen älterer Bauart und war sich sicher, noch einige Augenpaare hinter Regalen und Zeitschriftenständern entdeckt zu haben, die sie alle wie die Hauptattraktion einer Kuriositätenschau betrachteten. Lutetia ließ ihren Blick durch den Laden schweifen, während die penetrante Stimme weiter auf sie einredete.
"Mein Name ist Violet. Was kann ich für dich tun?"
"Nichts", antwortete Lutetia in der vagen Hoffnung, damit den Redestrom abzuschneiden.
"Kein Problem. Sieh dich nur um - ich habe hier alles, was es in den großen Kaufhäusern auch gibt - nur auf kleineren Raum, wie ich immer sage." Pflichtgemäß kam ein gehorsames Kichern der anwesenden Damen, um zu bestätigen, dass sie so etwas wirklich immer sagte. "Und ich habe extra noch ein paar von den ausgerasteten Sachen besorgt, die die Leute aus der Großstadt immer haben wollen. Da in der Kühltruhe hinter dir liegen frische Austern, falls du welche haben willst, Schätzchen." Von dieser Frau als Schätzchen bezeichnet zu werden, dachte Lutetia, kam einer schweren Beleidigung gleich. Violet schien das nicht zu bemerken. "Weiß gar nicht, warum die ganzen vornehmen Leute dauernd dieses glibbrige Zeug schlürfen wollen." Die Antwort kam aus der Richtung des Zeitungsständers.
"Sex", sagte eine Frau, die Lutetias Schätzung nach die Siebzig schon erreicht haben musste. Und auf ihrem Lebensweg wahrscheinlich eine ganze Menge mitgenommen hatte.
"Ja. Da steht er wie ein Hammer", ergänzte eine zweite Frau - zweifellos ihre Schwester. "Hättest deinem Mann ein paar beschaffen sollen." Violets Gesicht behielt seine Form. Nur ihre Stimme klang jetzt wie sibirischer Ostwind, der dreißig Grad unter Null und zwei Meter Schnee verheißt.
"Wenn Sie nichts kaufen wollen, gehen Sie. Die Bücherei ist neben dem Rathaus, dort können Sie umsonst lesen." Die Schwestern ließen sich nicht im Geringsten beeindrucken. Sie kicherten fröhlich und begannen, das Mittelposter des aktuellen Playboys fachmännisch zu untersuchen.
"Aufgepumpt", sagte die eine.
"Da sieht man die Narben", bestätigte die andere und fuhr mit dem Finger eine Linie entlang.
"Ich sehe immer noch besser aus" und fuhr die Linie ihres Körpers entlang.
"Und bei mir ist alles echt, was man von der nicht sagen kann."
"Verschwindet aus meinem Laden!" Die Verwiesenen grinsten hämisch und gingen zur Tür - mit dem Playboy und nach einem kräftigen Schluck aus einer in Papier eingewickelten Flasche. Kurz bevor sie den Laden verließen, drehten sie sich um und zwinkerten Lutetia zu. Das Auftreten der Beiden erschien Lutetia sympathisch - eine Meinung, die anscheinend niemand mit ihr teilte.
"Beachte die Swansons nicht, Schätzchen", fuhr Violet - wieder mit Zuckerbäckerstimme - fort. "Ein paar alte Schlampen, mit denen man sich besser nicht abgibt. Du willst sicher etwas Spinat. Gut für die Blutbildung, damit deine blassen Wangen etwas Farbe bekommen."
"Ich sehe mich nur etwas um, danke" erwiderte Lutetia, die nicht vorhatte, an ihrer sorgsam gepflegten Blässe etwas zu ändern.
"Das liegt doch nur an dem Stadtklima", warf eine Kundin vom Typ gemütliche Oma ein. "Stimmt's Kindchen, wenn du dir die frische Luft um die Nase wehen lässt, kriegst du schon rosige Wangen."
"Wir haben uns noch gar nicht richtig bekanntgemacht. Also, ich bin Violet, das dort drüben ist Berta, hier haben wir Dorothea und zu guter Letzt steht neben ihr Stephanie. Und du bist?"
"Miss Stubbs." Violets Lächeln flackerte für einen Sekundenbruchteil, bis sie ihre eiserne Fröhlichkeit wieder in der Gewalt hatte.
"Auf dem Land ist man nicht so förmlich. Wir sind hier eine große, gemütliche Familie." Es lag an Violets jahrelangem Training7, dass ihr jegliche Art von Lügen glatt über die Lippen ging.
"In dem Fall: Miss Stubbs. Ein Pfund Brokkoli, eine große Zucchini, ein halbes Pfund fettfreier Joghurt, ein Kilo Kartoffeln und das Bund Schwarzwurzeln da drüben."
"Kein Fleisch?"
"Nein, kein Fleisch."
"Wie soll man von so was satt werden?"
"Das dürfte mein Problem sein, nicht Ihres."
"Einer älteren Dame gegenüber sollte so ein junges Fräulein nicht so frech sein", meinte die gemütliche Oma mit einem salbungsvollen Ton und ignorierte Violets wütenden Blick. Die ältere Dame würde ein Nachspiel haben.
"In dem Fall sollte ich wohl auch nicht mit Fremden reden", konterte Lutetia.
"Kein Grund schüchtern zu sein."
"Sie verfügen über eine bemerkenswerte Divergenz zwischen Anspruch gegenüber dem environmentalen Kontext und sich selbst. Das ist faszinierend."
"Siehst du, Violet, sie ist doch ein ganz nettes Mädchen. Braucht eben ein paar Minuten um aufzutauen. Also ich finde sie herzallerliebst." Wenn sie versucht, mir in die Wange zu knuffen, bringe ich sie um. Laut sagte Lutetia:
"Brokkoli sollte grün sein." Widerwillig tauschte Violet das Gemüse gegen ein Exemplar um, das sie für sich selbst reserviert hatte.
"Das macht sieben neununddreißig." Violet hielt die gepackte Plastiktüte über den Tresen. "Ich finde trotzdem, es sollte Fleisch dabei sein. Oder die Austern, die ich extra besorgt habe."
"Warum kredenzen sie die nicht Ihrem Mann?" Violets Fröhlichkeit geriet ernsthaft ins Wanken.
"Mein Mann ist..." begann Violet.
"... abgehauen. Mit einer Jüngeren." Die gemütliche Oma qualifizierte sich für die Kategorie boshaftes Klatschweib. Lutetia dachte kurz nach.
"Die hat ihm wahrscheinlich Austern gegeben", sagte sie in dem Moment, in dem sie die Tür hinter sich schloss.

"Mistgöre!" zischte Violet.
"Interessant, dass du so freundlich zu ihr warst. Bist du doch sonst nicht."
"Amanda meinte, wir sollten nett zu den Neuen sein. Gut fürs Geschäft, die schwimmen im Geld. Trotzdem brauche ich mir so was nicht bieten zu lassen."
"Ich fand sie nett. Sie hat mich außergewöhnlich divergent genannt."
"Das war eine Beleidigung."
"Was verstehst du schon davon! Ich sollte mir ernsthaft überlegen, ob ich hier weiter einkaufe. Ich glaube, so eine Behandlung muss ich mir nicht bieten lassen."

Der Lichtstrahl einer Taschenlampe glitt über massive, aber im Lauf der Zeit mürbe gewordene Grundmauern und dann zurück zu den Grundrissen, die Marx in der linken Hand hielt. Bis jetzt hatte seine Erforschung der Burg noch nichts Erfreuliches erbracht - abgesehen von einem freundlichen Schulterklopfen seines Vaters, der bei seinem Sohn endlich Interesse für das neue Heim entdeckt zu haben glaubte. Marx' Interesse galt aber eher abgelegenen, versteckten - nach Möglichkeit auch sonnendurchfluteten und warmen - Räumen, die er zur Gärtnerei umfunktionieren könnte. Da die Erbauer der Burg andere Prioritäten hatten und Fenster gerade groß genug machten, um Pfeile und kochendes Öl auf ankommende Barbaren verteilen zu können, endete seine Suche im Keller. Dieser war - entgegen den Behauptungen ihres morgendlichen Besuches - trocken und geräumig. Und dank der Modernisierungsmaßnahmen des letzten Besitzers, die hauptsächlich aus dem Einbau einer Zentralheizung bestand, erstaunlich warm. Marx stand unter einem der mächtigen Pfeiler, die das Gebäude stützten, und dachte nach. Seine handwerklichen Fähigkeiten waren unbedeutend. Aber es schien an der Zeit, sich mit der Kunst der Elektroinstallation zu beschäftigen. Besonders der Installation einer Flutlichtanlage. Der Keller bot geeignete Räumlichkeiten. Obwohl es zu Beginn ein äußerst stabiles Gewölbe war, hatte man im Laufe der Jahrhunderte kleine Bereiche abgetrennt und zu Lagerräumen und Werkstätten gemacht. Für jemanden, der keinen Plan hatte, war so ein verwirrendes Labyrinth aus Gängen und Sackgassen entstanden. Eine davon schien Marx besonders geeignet, da sie zwar eine Rückwand mit dem Heizungsraum teilte, aber nur durch einen Umweg zu erreichen war, der fast durch das gesamte Gewölbe führte und nur von jemandem zu finden war, der von der Existenz dieses Raumes wusste. Zumindest ging Marx davon aus. Er hielt umständlich im Licht der Taschenlampe die Blaupausen vor sich und versuchte, sich zu orientieren. Nach dem Plan musste es rechts von ihm eine Abzweigung geben und nach vorn mindestens drei Pfeiler weiter gehen. Stattdessen ging die Abzweigung links und vor ihm standen nur zwei Pfeiler. Marx nahm an, dass er sich verlaufen hatte - schließlich hielten die Mauern antike Feinde und das Sonnenlicht genauso ab wie das GPS-Signal, ohne das sein High Tech Empfänger nicht mehr war als eine teure Handvoll Plastik und Metall.
Mit einer Akribie, die nur durch die Aussicht auf ein Leben in Reichtum erklärt wurde, machte sich Marx an die Erforschung des Gewölbes. Als Erstes war es wichtig, die Pläne mit der Realität in Übereinstimmung zu bringen. Eigentlich wollte er nichts überstürzen, aber seine Setzlinge ließen schon die Blätter hängen.
Marx stellte schnell fest, dass Vermessen viel schwieriger war, als er gedacht hatte. So wie viele andere Dinge.

Wilsons erste Begegnung mit der Bücherei war untrennbar mit den Worten: "Rühr das nicht an!" verbunden. Diesen Satz hatte er nicht nur auf die seltenen und wertvollen Erstausgaben bezogen, die im Büro des Bibliotheksleiters standen, sondern auf alle Bücher, die ihm später in seinem Leben begegnen sollten. Während andere Kinder Angst vor Spinnen, Schlangen oder dem schwarzen Mann hatten, bekam Wilson einen Heulkrampf, als eine eher unerfahrene Lehrerin ihm in der ersten Klasse ein Schulbuch in die Hand drückte. Obwohl seine Mutter ihm später geduldig erklärte, dass Bücher nicht gefährlich waren8, blieb eine tiefe Abneigung vorhanden.
Dementsprechend unwohl war ihm, als er seine Schritte in die Stille der Bücherei lenkte. Still deshalb, weil kaum jemand hierher kam. Wilson näherte sich dem einzigen anderen Lebewesen hier, einer drallen Blondine, die für ihn ungeheuerlich jung und - im Verhältnis zu ihrem Volumen - äußerst unzureichend bekleidet war.
"Hi!" stammelte Wilson, den die gewaltige, freischwingende Oberweite aus dem Konzept gebracht hatte. Die Bibliothekarin erkannte Wilson sofort. Und eine Sekunde später fiel auch Wilson ein, woher er die Frau kannte. Es war der größte Fall seiner Karriere. Beziehungsweise: es hätte der größte Fall seiner Karriere sein können. Er hatte Peaches Cavanaugh mit einem Pfund weißen Pulver in der Hand erwischt, als sie über den Marktplatz in Richtung Schule marschierte, wahrscheinlich um das Zeug an die armen Kinder zu verscheuern. Wilson war sofort eingeschritten, hatte ihr den Stoff abgenommen und ein Wochenende in der Zelle verschafft, bevor er den Fall dem Untersuchungsrichter vorlegte, der ihr die gerechte Strafe und ihm eine Beförderung eingebracht hätte. Und so wäre es sicher auch gekommen, wenn in dem Päckchen wirklich Rauschgift oder zumindest Anthrax gewesen wäre. Allerdings stellte sich heraus, dass der Besitz von Puderzucker keine Straftat darstellte. Und dass ein Haufen kleiner Kinder verzweifelt darüber war, dass es dem selbstgebackenen Stollen nicht den letzten Schliff geben konnte. Wilsons Argumentation, dass es verdächtig ist, britische Kinder zu zwingen, ausländisches Gebäck herzustellen und es später unter die Einwohnerschaft von Borough zu verteilen, fand beim Richter kein Gehör. Dem schien die steigende Terrorismusgefahr egal zu sein - eine Einstellung, die er mit dem Großteil der Elternschaft teilte. Statt dessen brachte die Zeitung fast täglich eine Karikatur über den "Helden von Borough" und Murdok McDuff hatte es für klüger gehalten, seinen eifrigsten Beamten für eine Weile in den Urlaub zu schicken, bis die Sache wenn schon nicht vergeben, dann doch wenigstens vergessen wäre.
Im Gesicht der Bibliothekarin stand deutlich, dass die den Vorfall weder vergessen und erst recht nicht vergeben hatte.
"Verschwinden sie!" Die Tatsache, dass nur die freundliche Begrüßung fehlte und Cavanaugh auf Gewaltanwendung verzichtete, wertete Wilson als gutes Zeichen.
"Ich führe hier offizielle Ermittlungen durch."
"Mir egal. Haun sie ab!"
"Ich brauche Einblick in die Zeitungsarchive von vor ungefähr dreißig Jahren." Wilson wartete, aber eine Reaktion blieb aus. "Und zwar sofort!" Die Antwort war ein Geräusch, das wie ein unterdrücktes Lachen klang.
"Sehe ich wie ne Tippse aus? Wenn Sie das Zeug haben wollen, müssen Sie es sich selbst holen." Wilson überlegte, dass es klüger wäre, wenn niemand mitbekäme, was er genau suchte - auch wenn er etwas länger bräuchte. Und realistisch gesehen: Hilfe würde er von dieser Frau nicht bekommen.
"Wo ist das Archiv?"
"Das Archiv befindet sich hinter der Tür, auf der Archiv steht. Sie können lesen?" sagte Cavanaugh und ergänzte nach einem prüfenden Blick: "Wahrscheinlich nicht." Ihr Finger wies ihn in die entsprechende Richtung. "Und gehen Sie mir nicht mehr auf die Nerven!"
Wilson steuerte das Archiv an, welches, wie er feststellte, im Keller des Hauses untergebracht war und aus ungeordneten Kartons voller Zeitungen, Magazinen, Broschüren und einer vergessenen Ladung Hausmüll bestand. In manchen Fällen hatte sich jemand die Mühe gemacht, eine Jahreszahl an die Seite zu kritzeln - was nicht bedeutete, dass der Inhalt auch aus diesem Jahr stammte. Wilson seufzte. Er hatte nicht geglaubt, dass es leicht sein würde, aber er wollte nicht gleich am Anfang aufgeben.
Die Zeitungen, die er suchte, mussten dreißig Jahre, vielleicht noch älter sein. Sogar er konnte sich daran erinnern, welchen Aufruhr es gegeben hatte, als die Swansons in Borough auftauchten. Damals waren es noch keine unerträglichen, alten Schachteln gewesen, sondern noch ziemlich ansehnliche Bräute - wie die respektablen Männer meinten, wenn ihre wesentlich respektableren Frauen außer Hörweite waren. Wilson hatte kritiklos die Meinung seiner Mutter übernommen, die... wenn er genau darüber nachdachte, stellte Wilson fest, hatte Amanda Wilson zu den Swansons überhaupt keine Meinung. Sicher, sie verabscheute solche Personen, und ihre Lippen verwandelten sich in schmale, weiße Striche, wenn sie die Schwestern auch nur sah, aber sie hatte nie etwas gegen die Swansons unternommen. Dabei war Amanda Wilson eine Frau, die sonst ihren Standpunkt mit allen Mitteln durchsetzte.
Als Nächstes musste Wilson feststellen, dass sich die Unordnung des Archivs nicht nur auf die Kartons, sofern auch auf deren Inhalt bezog. Offenbar wurde die Aufgabe, ein Archiv zu führen, so interpretiert, dass der zuständige Bibliothekar seine ausgelesene Zeitung nicht wegwarf, sondern in einen Karton stopfte. Der landete im Keller, sobald sich nichts mehr reinpressen ließ. Wilson seufzte. An sich schon kein Freund von zu viel Papier, würde es eine Menge Zeit kosten, Zeit, die er dank seines 'Urlaubs' reichlich hatte. Nicht, dass es einen großen Unterschied machte. Borough war ein ruhiger Ort. Sehr ruhig, normalerweise. Ruhig wie ein Komapatient. Es gab keine nennenswerte Kriminalität, wenn man von ein paar Schulstreichen, Mutproben und dem, was Violet als frisch verkaufte, absah. Und doch hatte Wilson das Gefühl, das hinter den Kulissen mehr ablief. So groß, dass man es nicht sah, weil es überall war. Wilson suchte weiter.

Nach knapp zwei Stunden hatte er sich wenigstens eine grobe Orientierung erarbeitet, das hieß, er hatte eine Karte des Kellers, die ihm die Lage der Jahrzehnte angab. Wilson war noch ein kleiner Junge gewesen, als er den Swansons zum ersten Mal begegnete. Das war jetzt dreißig, fünfunddreißig Jahre her - falls wirklich etwas über die Schwestern in den Artikeln zu finden war, dann ab den späten Sechzigern oder den frühen Siebzigern. Er wandte sich dem entsprechenden Bereich des Kellers zu.

Zu den Dingen, die es vor drei Jahrzehnten noch nicht gab, gehörten Farbbilder, Seite-3-Mädchen und Klatschspalten. Offenbar litten die Zeitungsmacher dieser Epoche unter dem Irrglauben, dass der durchschnittliche Leser an harten, nachprüfbaren Fakten interessiert sei und ohne Gerüchte über das Liebesleben von Stars und Sternchen auskommen konnte. So viel zu Wilsons Hoffnung, dass die Swansons in den entsprechenden Kolumnen auftauchen würden. Er nahm die Zeitungen wahllos zur Hand und las über eine gar nicht so gute alte Zeit. Der kalte Krieg mit seinen übermächtigen Gegnern war auf dem Höhepunkt, Intrigen, Krisen und - sogar in Borough - echte Kriminalität brachten die Welt an den Abgrund. Er war so in die Betrachtung der Vergangenheit versunken, dass er aus allen Wolken fiel, als er das nächste Exemplar aus dem Karton zog.
Dreißig Jahre jünger9, ohne Falten, mit wasserstoffblonden Haaren, lächelten die Swanson-Schwestern ihm von Seite 1 entgegen. Nicht als erster Versuch, PinUp-Girls auch im Borougher Lokalblatt unterzubringen, sondern unter der Überschrift:

Inga und Barbara Swanson zu Ehrenbürgerinnen von Borough ernannt

Ehrenbürgerinnen? Mit einem Schlag wurde es finster im Keller.

In einem anderen Keller stand Marx ratlos mit einem Plan in der Hand da, der keinen Sinn zu ergeben schien. Er hatte sogar Bücher über Architektur zu Rate gezogen, in der Hoffnung, eine Erklärung zu finden. Zweifellos war diese Burg romanisch, was ihm genauso viel sagte wie die Börsenanalyse der Financial Times. Die Bauweise war einfach: man hatte in mehr oder weniger gleichen Abständen Säulen gesetzt, welche die darüber liegende Decke abstützten. Spätere Bauherren hatten nach Bedarf Zwischenwände eingezogen. Aber genau dabei schien jemand einen Fehler gemacht zu haben. Marx starrte auf seinen Plan, den er auf einem Stück karierten Papier gezeichnet hatte. Der Keller verfügte über sechsunddreißig Säulen, die in einem Quadrat von sechs mal sechs mit einem Abstand von vier Metern aufgestellt waren. Diese Zwischenräume waren oft mit einfachen Ziegelmauern abgetrennt worden, um kleine Verschläge zu erhalten, in denen auch jetzt noch leere Fässer, altes Handwerkszeug, altmodische Möbelstücke oder einfach nur Gerümpel lagerte. Aber im nordöstlichen Bereich des Kellers, zwischen der vierten und der fünften Säule, hatte jemand alle vier Seiten zugemauert. Es war offensichtlich, sobald sich jemand die Mühe machte, die Säulen abzählte und die Wände auf einem Stück Papier aufzeichnete. Aber ohne diese Hilfe fiel es gar nicht auf. Der Keller war ein Labyrinth, die offiziellen Pläne veraltet und dort gab es ein Stück Welt, von dem niemand etwas ahnte. Marx lächelte.

Peaches Cavanaugh hatte die Form und die Haut eines Pfirsichs, aber das Naturell eines Alligators. Nur ein bestimmter Gedanke, der ihr sofort nach Wilsons Auftauchen gekommen war, hatte sie davon abgehalten, dem Bullen jeden Knochen zu brechen und die Überreste durch den Abfluss zu spülen. Jetzt wurde es Zeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen.
"Ich mach Feierabend!" rief sie in Richtung Kellertür. Sie achtete sorgfältig darauf, dass der Ruf nicht zu laut war. Dann zuckte sie mit den Schultern, ging nach draußen und schloss die Tür ab.

Die Bücherei hatte nur drei Tage in der Woche geöffnet. Die restliche Zeit arbeitete Peaches Cavanaugh als Köchin im Pub - und nach dem Wochenende würde sie ja wieder aufschließen. Gewissensbisse verspürte sie nicht - schließlich kann ein Mensch ohne weiteres sechs Tage ohne Wasser überleben.
Draußen vergewisserte sie sich, dass auch die Fenster fest verschlossen waren. Dann ging sie zum Sicherungskasten und drückte den Schutzschalter. Zu ihrer größten Zufriedenheit lag das ganze Haus sofort im Dunkeln. Es war Vorschrift10, den Zustand dieser Sicherheitseinrichtung einmal im Monat zu prüfen und Peaches fand es an der Zeit, die Versäumnisse der letzten zwei Jahre aufzuholen.

Wilson vermutete in der plötzlichen Dunkelheit zuerst natürliche Ursachen. Da der ganze Raum ohnehin nur von einer einzigen Glühbirne erhellt wurde, machte die fehlende Beleuchtung keinen Unterschied. Noch sickerte Licht durch den Belüftungsschacht herein - genug, um die Treppe nach oben zu finden, aber nicht genug, um allen Hindernissen auszuweichen. Seine Hilferufe blieben unbeantwortet - womit Wilson gerechnet hatte.
Noch mehr erstaunte ihn, dass er oben niemanden vorfand, Türen und Fenster fest verschlossen und die Rollläden heruntergelassen waren. Das drahtlose Telefon brach zusammen, als er die erste Ziffer eintippte - Cavanaugh hatte mit zwei Metallklammern dafür gesorgt, dass es so sein würde.
Methodisch und erfolglos prüfte Wilson jeden auffindbaren Schalter und wandte sich dann seinen Fluchtmöglichkeiten zu. Die Tür war mehrfach verriegelt, sehr alt und - bedauerlicherweise - sehr stabil, was ebenfalls für die elektrisch gesteuerten Fensterläden galt. Wilson zweifelte keine Sekunde daran, dass Cavanaugh dahinter steckte und dass er ihr den Hals brechen würde, sobald sie am nächsten Morgen aufschloss. Dass Ausbruchsversuche sinnlos waren, konnte sich Wilson denken. Schließlich befand sich die Bibliothek im ehemaligen Stadtgefängnis11. Statt weiter einen Ausweg aus einer ausweglosen Situation zu suchen, addierte er Cavanaugh zu seinem Feindbild und widmete sich im trüben Licht der Notbeleuchtung der Zeitung, die er immer noch in der Hand hielt.

(Borough/BH) Mit einer feierlichen Zeremonie wurde heute im Rathaus den Schwestern Inga und Barbara Swanson die Ehrenbürgerschaft von Borough verliehen.
Die beiden Schwestern haben - obwohl sie erst seit kurzer Zeit in unserem wundervollen Städtchen leben - unserer Gemeinde unschätzbare Dienste erwiesen. Wie Bürgermeisterin Amanda Wilson in ihrer Laudatio ausführte, ist die Bereicherung des kulturellen Lebens in Borough von derartigem Ausmaß, dass ihr schlicht und einfach die Worte fehlen, sie zu beschreiben.
Die Damen Swanson haben beschlossen, ihre internationale Karriere zu beenden und sich hier in unserem beschaulichen Ort zur Ruhe zu setzen, aber dennoch allen Einwohnern mit ihren Kenntnissen jederzeit zur Verfügung zu stehen.
Im Anschluss dieser Zeremonie erhielt der bekannte Film- und Opernstar Barrabas Homestetter seine Ernennungsurkunde zum Friedensrichter für die Stadt Borough. Er übernimmt damit die Aufgaben von Reverend Elias Johnson, der sich auf eigenen Wunsch in den Ruhestand zurückziehen will.

Die Personen auf dem kleinen, unscharfen Foto waren kaum zu erkennen und selbst wenn man sie kannte, war es schwierig, sie zu identifizieren. In den letzten dreißig Jahren war die Zeit nicht zu allen nett gewesen. Wilson erkannte seine Mutter, die beiden McDuffs und Barrabas Homestetter, den er nie für eine bekannte Persönlichkeit, eher für einen Angeber gehalten hatte. Was hatte diese Gruppe gerade zu diesem Zeitpunkt zusammengeführt?
Und welche besonderen Dienste hatten die Swansons für Borough geleistet? Zumindest vertikaler Natur, setzte eine zynische Stimme in seinem Kopf hinzu. Und ihm war neu, dass seine Mutter einmal Bürgermeisterin war. Sicher, sie hatte sich immer viel für die Stadt engagiert - aber Bürgermeisterin? Vielleicht ließ sich noch mehr herausfinden. Wilson hatte in der kleinen Sanitärecke, die laut Bauverordnung in jeder öffentlichen Einrichtung vorhanden sein musste, ein paar Kerzen und Streichhölzer entdeckt. So ausgerüstet kehrte er in den Keller zurück.

Die Nachricht über die Stubbs hatte sich in der kleinen Stadt in Windeseile verbreitet. Nur die wenigsten machten sich Gedanken darüber. Dem größten Teil genügte eine oberflächliche Beschreibung des einzigen weiblichen Zugangs. Die enthielt normalerweise die Phrase "mächtig Holz vor der Hütte".

Während Lutetia das Abendessen zubereitete - eine Aufgabe, die sie nur übernommen hatte, um nicht zu verhungern - gingen ihr verschiedene Gedanken nicht aus dem Kopf. Etwas war merkwürdig an diesem Ort und seinen Bewohnern. So, als würde jeder sie beobachten. Dank ihrer Aufmachung war Lutetia es gewöhnt, beobachtet oder besser angegafft zu werden. Aber das hier kam einer Observierung gleich. Andererseits konnte es tatsächlich an der ihr bis dahin unbekannten Mentalität von Kleinstädtern liegen. Die Frage:
"Was gibt es zu essen?" unterbrach ihre Gedanken.
"Gemüsegrillspieße", antwortete sie strahlend und beobachtete zufrieden, wie sich die Angesichter der restlichen Familie verdüsterten. Schließlich räusperte sich Harold.
"Wir sollten wirklich eine Haushälterin anstellen", meinte er. "So lange werden wir uns beim Kochen abwechseln. Morgen bist du dran, Marx." Lutetia hatte die indirekten Vorteile vegetarischer Küche erkannt.

Kapitel 4

Die Mikrowelle verkündete mit einem traurigen Ping, dass das heutige Abendmenü zum Verzehr bereit sei, während im Radio Musik für einsame Herzen lief, die sogar eine Gute-Laune-Fee in depressiven Selbstmord treiben konnte. Allein der Scotch gurgelte fröhlich aus der Flasche ins Glas und durch Brendas Kehle, wo er den Rest des Inhalts wieder traf. Dabei hatte der Abend nach ihrer Planung anders verlaufen sollen. Ein elegant gekleideter Gentleman hätte aus seiner Limousine steigen und an ihre Tür klopfen sollen, um sie in ein vornehmes Restaurant auszuführen; optional mit anschließender Varietévorstellung. Zu später Stunde würde er sie nach Hause fahren, bis an die Tür begleiten und dann anstandshalber fragen, ob er denn noch eine Tasse Kaffee bekommen könnte - vorzugsweise zum Frühstück.
Ihr Problem bestand nun in der mangelnden Hartnäckigkeit der Männer - die wenigsten waren hartnäckig genug, auf ein zweites Date mit ihr zu bestehen und manche warteten nicht einmal das Ende des ersten ab, bevor sie verschwanden. Das hatte dazu geführt, dass Brenda Stetson seit mehreren Jahren neunundzwanzig, Jungfrau und unverheiratet war - nichts davon freiwillig. Irgendwo hinter einer zugegebenermaßen dicken Schale saß ein weicher Kern, der sich nach Liebe, Geborgenheit und einem zu Hause sehnte und nichts unversucht ließ, es zu bekommen. Ihre regelmäßigen Kontaktanzeigen hielten einige der kleinen Lokalblätter am Leben12. Sie las alle Frauenmagazine, derer sie habhaft werden konnte und hoffte, darin den Schlüssel zu finden, für Männer unwiderstehlich zu werden. Das Einzige, was sie herausfand, war, dass Männer auf bestimmte weibliche Attribute achteten, die ihr die Natur vorenthalten hatte. Etwas anderes konnte es nicht sein, denn sie war humorvoll13, geistreich14 und spontan15. Sie konnte stundenlang hochinteressante Gespräche über Finanzmathematik führen - sie konnte nur niemanden finden, der zuhören wollte.
Der heutige Tag war eine einzige Pleite gewesen. Die McDuffs hatten sich zusammen mit Mrs. Wilson und Homestetter im Büro getroffen und sie rausgeworfen! Als wäre sie ein kleines Mädchen, das nur stören würde. Brenda wusste von einer Menge krummer Geschäfte, die die McDuffs am Laufen hatten. Wenn sie ein Geheimnis vor ihr hatten, war etwas Gewaltiges am dampfen. Zu dem Zeitpunkt hatte das Brenda nicht gestört - sie erwartete einen höchst vergnüglichen, möglicherweise sogar erotischen Abend. Ihr Date erwartete zwar eine wesentlich kurvenreichere Blondine mit einem IQ auf dem Niveau der Raumtemperatur16, aber würde er erst sehen, was Brenda ihm zu bieten hatte, würde er sich zu dem besseren Fang selbst gratulieren. Zweifellos. Zu ihrem Pech hatte der Mann fünfzig Pfund investiert und sich vom Redakteur Namen und Bild der "nordischen Schönheit" zeigen lassen und darauf beschlossen, seiner Ex eine neue Chance zu geben.

Während Brenda mit unsicheren Schritten durch ihr Cottage wankte und dabei allen Ex-Frauen und -Freundinnen des Universums die Pest an den Hals wünschte, saß Amanda Wilson immer noch auf der Bank vor der Burg. Vor ein paar Minuten hatte sie sehr genau zugehört, was ein paar ihrer Freundinnen aus Violets Laden über Lutetia zu erzählen hatten. Amanda hatte genug Erfahrung, um aus den unterschiedlichen Geschichten das zu extrahieren, was der Wahrheit am nächsten kam - und das beunruhigte sie. Ihren Plan, selbst der Burg einen Besuch abzustatten, hatte sie sofort verworfen. Sie spürte, dass von dort Unannehmlichkeiten drohten.

Unannehmlichkeiten waren auch das, was Peaches Cavanaugh drohten, zumindest wenn es nach Wilson ging. Seine Gefangenschaft begann an seinen Nerven zu zehren. Leitungswasser war kein adäquater Ersatz für sein Feierabendbier und sein Magen machte hartnäckig darauf aufmerksam, dass er seit dem frühen Morgen nicht anständig gefüllt worden war. Eine Weile lang hatte Wilson mit dem Gedanken gespielt, die Streichhölzer an das hier im Überfluss vorhandene Papier zu halten und sich von der Feuerwehr befreien zu lassen. Andererseits war es möglich, dass Cavanaugh auch die Feuermelder sabotiert hatte17 und Wilson verspürte nicht das Bedürfnis, von einem Bestatter nach draußen gebracht zu werden. Stattdessen hatte er sich aus Zeitungspapier eine isolierende Unterlage geschaffen und einige der Vorhänge zu Bettzeug umfunktioniert. Im flackernden Licht der Kerze las er weiter in den alten Berichten. Doch das, was er suchte, war so offensichtlich, dass er es nicht fand.

Wenn Amanda Wilson besorgt war, merkte man ihr das nicht an. Sie behielt ihr fröhliches Lächeln, welches das runde Gesicht mit tausenden Fältchen überzog. Ihre Stimme blieb ruhig und gefasst und verlor nie den zuckersüßen Beiklang, der sie jedem, der sie traf, auf den ersten Blick sympathisch machte. Sie war stolz auf ihre Fähigkeit, selbst in heiklen Situationen einen kühlen Kopf zu behalten. Doch diesmal nagten Zweifels an ihr. Das war umso störender, da sie es sich nicht erklären konnte. Sie hatte das Mädchen ja nicht einmal kennengelernt. Prüfend sah sie durch das Fernglas, als sich das Burgtor erneut öffnete. Lutetia hatte sich entschlossen, den Morgen zu einem kleinen Spaziergang zu nutzen, um die Gegend ein wenig besser kennenzulernen. Wie eine Katze! dachte Amanda. Wäre sie tatsächlich eine, würde sie ein riesiges Rudel Kater nach sich ziehen. Amanda sah ein wenig nach links. So sehr unterschieden sich Männer doch nicht von Katern.

Lutetia hatte bemerkt, dass ihr eine Gruppe Halbstarker folgte, allerdings flößte ihr diese Tatsache keine Furcht ein. Sie hatte sich schon seit längerer Zeit an solche Verhaltensweisen gewöhnt und wusste, wie sie damit umzugehen hatte. Die Gegenseite musste das noch lernen.
"Hey Mama! Ich hab schon viel von dir gehört! Und noch mehr von deinen Glocken." Lutetia hatte schon bessere Sprüche gehört. Aber noch keine Schlechteren. "Ich bin Rocky. Der mit dem großen Zauberstab" Rocky bezog seinen Mut direkt aus der Flasche, die in seiner Jacke steckte. Möglicherweise erlag er auch dem Irrglauben, dass schwarze Lederklamotten, lange Haare und Vollbart unwiderstehlich machen.
"Du willst erobert werden. Alles klar, ich weiß Bescheid." Soweit es sein angeschlagener Gleichgewichtssinn zuließ, versuchte er, Lutetia den Weg zu versperren - angefeuert von seiner Clique, die hier die Ortsgruppe der Hells Angels darstellen wollte. Mittlerweile brachte Lutetias hartnäckige Ignoranz Rocky zu der für ihn verhängnisvollen Entscheidung, seine Taktik zu wechseln.
"Hey Puppe, du bist eine von den Ruhigen. Ich steh auf so was." Und legte ihr den Arm um die Schultern.

Lutetia erstarrte.
"Pfote weg!" Für einen Moment war Rocky verunsichert. Lutetias Stimme löste in den vom Unterbewusstsein gesteuerten Regionen seines Hirns Panik aus. War sie nicht nur ein Mädchen? Er griff fester zu.
Lutetia hatte schon davon gehört, eine Sache kurz und schmerzlos zu machen, hielt aber nicht viel von der zweiten Hälfte des Prinzips. Lutetia griff nach Rockys Hand, verdrehte seinen Arm und tauchte unter ihm weg, bis sie den steifen Arm nur noch über ihre Schulter zu biegen brauchte. Es knirschte, als sein Ellenbogen zersplitterte, genauso wie sein Nasenbein gleich darauf. Aber Rocky spürte diesen Schmerz nicht, denn der finale Kontakt von Lutetias Knie mit seinen Familienjuwelen löschte alles andere aus - und reduzierte für Monate sein Interesse an weiblicher Nähe auf Null.

Rockys Stöhnen war das einzige Geräusch. Keiner seiner Gang wagte auch nur zu atmen - das hätte Aufmerksamkeit erregen können. Lutetia ordnete ihre Kleidung, drehte sich um und setzte ihren Weg fort.

Amanda hatte das Fernglas keine Sekunde von den Augen gelassen. Jetzt nahm sie es herunter und lehnte sich zurück. In ihrer unerschütterlichen Persönlichkeit erwachte etwas: Panik bereitete sich auf ihren ersten großen Auftritt vor.

Etwas Ähnliches widerfuhr Wilson in der Bibliothek, doch hatte er die Ebene der Panik schon durchquert und stieg zu den Gipfeln des Zorns auf. Dunkelgraues Morgenlicht hatte eine nicht sehr erholsame Nachtruhe beendet, die Wilson auf einem Lager aus Pappkartons und Zeitungspapier verbracht hatte, genährt von der wunderschönen Vorstellung, der Bibliothekarin gleich beim Eintreten einen Stuhl über den Schädel zu ziehen. Sicherheitshalber hatte er den richtigen Schwung schon seit einigen Stunden geübt - und war dementsprechend enttäuscht, als die Uhr Acht anzeigte und die Tür geschlossen blieb. Er entschied, dass das Zuspätkommen einen extra harten Schlag rechtfertigte. Als eine halbe Stunde später immer noch niemand kam, ahnte Wilson Schlimmes. Minuten später war es Gewissheit: anhand des Aushangs der Öffnungszeiten hatte er erkannt, dass er noch für mindestens drei Tage eingesperrt war.

Nicht einmal seinen Verzweiflungsschrei ließen die ehemaligen Gefängnismauern nach draußen.

Überleben bekam die höchste Priorität. Was auch immer Wilsons ursprüngliche Ziele waren, jetzt galt es, etwas Essbares und Wasser zu finden, das nicht aus der Kloschüssel stammte. Er durchwühlte alle Schreibtische auf der Suche nach vergessenen Schokoriegeln, Keksen und Lunchpaketen. Er fand zwei, die nach dem Entfernen des grünen Pelzbelages noch genießbar schienen. Einen Volltreffer landete er bei den Büchern - beziehungsweise einer Buchattrappe, die eine fast volle Flasche exzellenten, mittlerweile fünfundzwanzigjährigen Scotch Whisky enthielt. Der erste Zug linderte seine Sorgen enorm, der zweite senkte sie auf ein Minimum, der dritte öffnete ihm den Blick auf eine wunderbare Zukunft. Während der Alkohol heiß in seinem Magen brannte, nahm Wilson sich Zeit, mit einigen traumatischen Erlebnissen seiner Kindheit aufzuräumen und Dinge zu tun, die er sich nie gewagt hatte. Mit Bücherregalen Domino zu spielen zählte dazu.
Da die im Whisky enthaltenen Kalorien genügend Energie lieferten, fand Wilson, dass eine halbe Flasche als vollwertige Mahlzeit zählte und stellte seine Suche nach fester Nahrung ein - vor allem, da er auf weitere vier präparierte Bücher gestoßen war, mit denen sich die drei Tage überleben lassen konnten. Sein auf Höhenflug befindliches Gehirn erinnerte sich wieder an den Grund seines Hierseins, so dass er in Begleitung der Flaschen wieder in den Keller stieg. Zwar kam er dabei langsamer voran als am Vortag, hatte aber eine wesentlich bessere Stimmung. Erstaunlicherweise befand sich in den Pappkartons, bei denen er die Suche am Vortag beendet hatte, ein nahezu lückenloses Archiv der Mai- und Juniausgaben der Borough Times18, deren beherrschendes Thema das Verschwinden des Bürgermeisters Thomas Burk zu sein schien, während der Rest des Blattes mit alltäglichen Meldungen gefüllt war - Anklagen gegen die Unfähigkeit der Regierung, Skandale, die weit weg stattfanden und unter der Rubrik Polizeibericht kleinere Absätze über Einbrüche und Überfälle, sowie ab und zu eine Täterbeschreibung und die Bitte um Mithilfe.
Wilson erkannte auf einigen der Fotos seine jüngere Mutter, die zu jener Zeit offiziell das Sekretariat leitete, eigentlich jedoch - wenn die Emanzipation damals schon so weit gewesen wäre - das Amt einer Stadträtin innegehabt hätte.
Wilson blätterte durch die Zeitungen mit dem beiläufigen Interesse eines Mannes, der allen weltlichen Sorgen entrückt war. Offensichtlich hatte es sich bei Borough vor dreißig Jahren um ein genauso langweiliges Nest gehandelt, wie es das Borough heute war. Normale Leute, normale Sorgen, nichts Aufregendes. Der kleine Teil seines Bewusstseins, der noch über dem Alkoholspiegel schwamm, versuchte, ihn auf etwas aufmerksam zu machen, wurde aber mit einem kräftigen Schluck ersäuft.
Nichts schien hier zu passieren - bis zum 14. Mai. An diesem Tag nahm die Schlagzeile die Hälfte der Titelseite ein, was darauf hindeutete, dass diesmal nicht über die letzte Sitzung des Blumenzüchterverbandes berichtet wurde.

BURK VERSCHWUNDEN!!! STADTKASSE GEPLÜNDERT!!!

(Borough/SD) Thomas Burk, Bürgermeister von Borough, verschwand im Verlauf der letzten Nacht unter ungeklärten Umständen. Zur selben Zeit kam der Inhalt der Stadtkasse in Höhe von £500.000 abhanden. Die Polizei vermutet einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen.
Das Verschwinden des Bürgermeisters wurde heute Morgen durch seine Sekretärin Mrs. Amanda Wilson entdeckt. Aus gut unterrichteter Quelle erfuhr die Borough Times, dass Mrs. Wilson beim Betreten des Büros am Morgen als Erstes das abgehängte Porträt des Stadtgründers Sir Henry Morgan bemerkte, hinter dem sich der Tresor mit den Vermögenswerten der Stadt befindet. Auf den zweiten Blick bemerkte sie das fehlende Geld und alarmierte umgehend die Behörden.
Auf die Frage, warum sich soviel Geld im Tresor befand, wollte Mrs. Wilson ebenso wie zu weiteren Details keine Auskunft geben.
Ob es Burk möglich war, den Tresor allein zu öffnen, sollen Ermittlungen klären. Weitere Auskünfte wollen die Behörden aus taktischen Gründen nicht geben. Die Polizei bittet allerdings darum, Hinweise zum Aufenthaltsort von Thomas Burk und den £500.000 sofort an die zuständige Dienststelle weiterzuleiten.

Wilson begab sich auf Zeitreise. Er war damals ungefähr zehn und erinnerte sich kaum an diese Zeit. Seine Mutter war nicht viel mehr ein grauer Schatten, der ihm morgens sagte, dass er aufzustehen hatte, und der ihn abends ins Bett schickte. Er hatte mitbekommen, dass andere Erwachsene sich ängstlich umsahen, bevor sie von seiner Mutter sprachen und ihm das ein wenig Schutz gab. Während anderen Schulkindern demonstriert wurde, was die meisten Lehrer von der Abschaffung der Prügelstrafe hielten, bekam Wilson nur einmal in seiner gesamten Schulzeit eine Ohrfeige. Der entsprechende Lehrer war gerade nach Borough versetzt worden und verschwand wenige Tage nach dem Vorfall in irgendeine namenlose Kolonie am Ende der Welt.
Wilson nahm sich die nächste Ausgabe vor.

KEINE NEUEN ERKENNTNISSE ZUM AUFENTHALTSORT VON BURK!
Schläft unsere Polizei?

(Borough/SD) Wie gestern exklusiv in der Borough Times berichtet, verschwand Thomas Burk, bis zu diesem Tag Bürgermeister von Borough, mit £500.000 aus der Stadtkasse. Wie aus gut unterrichteten Kreisen verlautet, besteht der dringende Verdacht, dass beide Vorkommnisse in engem Zusammenhang stehen.
"Es war schon eigenartig, dass er als Einziger die Kombination wusste - er hatte sie angeblich aus Sicherheitsgründen geändert", hieß es von einer engen Mitarbeiterin. Unter dem Vorwand, dringend nötige Investitionen für die Stadt ohne Verzögerung tätigen zu können, hat Burk einen ungewöhnlich hohen Bargeldbestand vorrätig gehalten. Um was für Investitionen es sich handelte, kann bis zum jetzigen Zeitpunkt niemand sagen. Wie es scheint, hat Burk seine Flucht seit längerer Zeit geplant.
Währenddessen hat die Polizei nicht den geringsten Anhaltspunkt zum Aufenthaltsort von Thomas Burk. Wie der zuständige Inspektor R. Morony bemerkte "kann sich die Ratte überall verkrochen haben."
Angesichts dieses Eingeständnisses der Hilflosigkeit sollte man sich fragen, ob die Ermittlungen nicht fähigeren Händen übertragen werden sollten.

Wilson benötigte in seinem Zustand ein paar Minuten, um den Namen des zuständigen Inspektors auf seine Liste zu verfolgender Spuren zu krakeln. Er zweifelte selbst am Sinn dieser Aktion: Riktor Morony musste damals fast siebzig gewesen sein und heute höchstwahrscheinlich tot - aber Wilson war sich sicher, dass nur Hartnäckigkeit ihn weiterbringen würde. Deshalb wollte er jeder kleinen Spur nachgehen, selbst wenn diese Richtung Friedhof führte.
Außerdem war der alte Morony eine Legende; selbst in den umliegenden Bezirken hatte er den Ruf eines Bluthunds, der äußerst unangenehm zu Kriminellen war. Dass es nach seiner Überzeugung keine Unschuldigen gab, brachte ihm eine Menge Ärger und eine Versetzung nach der anderen ein, bis er schließlich in Borough landete. Für einen Mann seines Kalibers mochte das auf den ersten Blick wie eine Verbannung nach Sibirien erscheinen, aber Morony fand hier ein reiches Betätigungsfeld. Innerhalb von Tagen wurde er zum effektivsten Polizeibeamten, den Borough jemals gehabt hatte - und zur meist gehassten Person. Die Gefängnisverwaltung musste zwei Wochen später die Verdächtigen wie Sardinen in die Zellen quetschen und der Landrichter - ein gemütlicher, etwas behäbiger älterer Herr, der zu Übergewicht und Verdauungsstörungen neigte - bekam so viel Arbeit, dass ihn ein Herzinfarkt in Woche vier dahinraffte. Dass der Reporter Moronys Absetzung verlangte, hieß nichts anderes, als dass der Typ ein Idiot war. Wilsons Eifer war neu entfacht. Er beachtete die Kopfschmerzen nicht, die sich durch den Mangel an Alkohol eingestellt hatten, sondern grub sich weiter durch die Zeitungen.

Brenda Stetson erlebte eine weitere Enttäuschung, als sie durch die offene Tür ihres Büros Amanda Wilson mit direktem Kurs auf die Räume des Bürgermeisters vorbei stürmen sah. In der Annahme, dass es sich um eine Krisensitzung handelte, an der sie wie üblich teilnehmen und an deren Ende sie wieder die Kohlen aus dem Feuer holen müsste, war Stetson aufgestanden und hatte sich auf den Weg gemacht - und ihr wurde die Tür vor der Nase zugeschlagen!

"Wie ein echter Gentleman", bemerkte Wilbur, der Stetsons Gesichtsausdruck gesehen und - mit einem für ihn untypischen Feingefühl - richtig gedeutet hatte.
"Besser, wenn sie nicht reingezogen wird", brummte Murdok. Wilbur lächelte siegessicher.
"Keine Angst, das Problem wird sich in kürzester Zeit von selbst erledigen", antwortete er. "Ich habe geeignete Maßnahmen ergriffen."
"Meinst du damit die Schläger, die sich vor der Burg rumtreiben?" fragte Amanda.
"Ja", entgegnete Wilbur selbstzufrieden. "Sie werden unsere hochgeschätzten Neuzugänge so lange belästigen, bis die freiwillig verschwinden. Das dürfte in wenigen Tagen der Fall sein."
"Dann miete jemanden, der noch unangenehmer ist", empfahl Amanda. Wilburs strahlendes Lächeln versteinerte. "Hast du kürzlich mit deinen Bullies gesprochen?" fragte sie beiläufig.
"Ich bin nicht dämlich! Ich kann mir nicht leisten, mit solchen Elementen in Verbindung gebracht zu werden." Er zwinkerte seinem Bruder zu und versuchte, sich moralische Unterstützung zu holen, gab aber schnell auf.
"Du solltest mal mit dem dicken Jungen sprechen."
"Rocky? Furchteinflößender Typ, oder?"
"Nicht für dieses entzückende Mädchen. Zufällig kenne ich eine der OP-Schwestern, die Dienst hatten. Die Ärzte sind zuversichtlich, dass er seinen Arm in ein paar Monaten wieder bewegen kann. Nur seine Zeugungsfähigkeit ist dahin. Kein großer Verlust, wenn ihr mich fragt."
"Bedeutet das das, was ich denke, das es bedeutet?" fragte Wilbur nach ein paar Momenten gedankenvollen Schweigens.
"Ich bin sicher, dass es das nicht tut, da du nicht denken kannst", antwortete Amanda ohne den geringsten Vorwurf in der Stimme. "Das Mädchen hat einen harten Schlag. Hat jemand von den Herren mal nachgeprüft, ob sie einen Karatekurs besucht hat? Oder ob sie zweimal englische Juniorenmeisterin und einmal Vize-Europameisterin im Vollkontakt war? Nein? Dachte ich mir."
"Verdammt!" brummte Murdok.
"So ein Fehler kann jedem passieren!"
Murdok und Amanda ignorierten Wilburs Verteidigung.
"Wir könnten sie wegen Körperverletzung einbuchten - oder?"
"Zu gefährlich. Wir können froh sein, wenn deinem Superhelden nicht raus rutscht, wer ihn angeheuert hat."
"Ich denke, wir sollten freundlicher zu den Stubbs sein", bemerkte Amanda. "Die kommen sonst noch auf die Idee, sie wären in unserem netten Städtchen nicht willkommen."
"Sind sie auch nicht", murmelte Wilbur.
"Wilbur, sag deinen Freunden, sie sollen woanders spielen", sagte Amanda und stand auf. "So eine Behandlung gehört sich wirklich nicht. Meine Güte, die Leute sind gerade erst hergezogen!" Noch einen Moment blieb Amanda sinnierend stehen. "Wir brauchen eine Möglichkeit, näher an sie ran zu kommen."
"Ein Besuch der Vorsitzenden der Historischen Gesellschaft Boroughs vielleicht?" schlug Murdok vor, aber Amanda wischte diese Idee mit einer Handbewegung beiseite.
"Nein, es muss noch näher sein. Außerdem ist es besser, wenn ich mich ein wenig im Hintergrund halte. Dieses Mädchen scheint mir ein wenig zu clever zu sein. Und den Rest der Familie habe ich noch gar nicht kennen gelernt. Wenn wir alle dort aufkreuzen... sie sollten besser keinen Verdacht schöpfen."
Murdok neigte dazu, Amandas Vorschlägen bedingungslos zuzustimmen - es ersparte viel Ärger. Doch dann fiel ihm etwas ein. "Hast du schon mit deinem Sohn gesprochen?" Befriedigt registrierte er Amandas gekräuselte Lippen. Sie mochte nicht an ihre Misserfolge erinnert werden. Amanda zuckte mit den Schultern.
"Keine Ahnung wo er steckt. Ich habe Besseres zu tun, als ihm hinterherzulaufen." Bei diesen Worten war Amanda aufgestanden und zur Tür gegangen. Mit einer knappen Geste verabschiedete sie sich und war Sekunden später auf ihrem Weg nach draußen bereits in tiefe Gedanken versunken. Wilbur sah aus dem Fenster, bis Amanda die Stufen des Rathauses hinunterging.
"Ich hasse es, wenn sie so mit uns redet. Es hört sich an, als wären wir komplette Idioten."
"Was nichts daran ändert, dass sie recht hat."
"Eigentlich", sinnierte Wilbur weiter, "war das alles doch ihre Idee gewesen. Warum nicht ihr den schwarzen Peter zustecken und sie auffliegen lassen?"
Weil Amanda im Gegensatz zu dir mehr als drei Gehirnzellen hat, dachte Murdok. "Wenn wir so was versuchen, taucht ein Stapel Akten auf, in denen sie uns alles anhängt. Zusammen mit den entsprechenden Beweisen. Sie spielt das Spiel schon länger als wir."

Das hatte sie nicht erwartet. Sie hatte eine Menge Friedhöfe gesehen - vor allem, da für Lutetia die Friedhöfe einer Stadt die Hauptattraktion darstellten. Nicht viele Vierjährige ziehen den Stadtfriedhof einem Spielplatz vor - und noch weniger Erwachsene können diese Neigung verstehen. Glücklicherweise hatten weder Harold noch ihre verstorbene Mutter genug Interesse an ihr gehabt, um sich dieser Entwicklung in den Weg zu stellen. Durch Beobachtung hatte Lutetia die grundlegenden Eigenheiten der menschlichen Natur kennengelernt: dass die Person, die jemand zu sein schien, sich enorm von der Person unterschied, die dieser jemand tatsächlich war und beide rein gar nichts mit der Person zu tun hatten, an die sich die Trauergäste erinnerten. Wobei die Beliebtheit der letzten Person in direktem Zusammenhang mit dem zu erwartenden Erbe stand.
Idyllisch, in einem kleinen Wäldchen etwas außerhalb des Ortskerns, lag Boroughs letzte Ruhestätte. Die Friedhofsmauer wand sich zwischen alten Bäumen hindurch und war unter Efeuranken kaum zu sehen. Das schmiedeeiserne Tor im gotischen Portikus stand einen Spalt offen, gerade breit genug für eine Person.
Dahinter begann eine andere Welt. Das dichte Blätterdach der Bäume ließ nur wenige Lichtstrahlen bis auf den Boden fallen - aber möglicherweise war dieser Effekt auch der Hand eines kunstsinnigen Gärtners zu verdanken. Die Lichtbänder trafen gerade im richtigen Winkel, um hier einen Namen hervorzuheben, da eine einzelne Blüte zum Leuchten zu bringen oder den grauen Faltenwurf einer Statue um einige Schatten zu bereichern. An Statuen gab es eine gewaltige Auswahl. Jede Familie hatte darauf bestanden, ihren Ahnen ein möglichst bombastisches Denkmal zu setzen - zumindest bombastischer als das des Nachbarn. Der Friedhof glich einem Depot von Engel-, Frauen- und Marienstatuen und jeder Grabstein erklärte in epischer Breite, was für ein hervorragender Mensch sechs Fuß tiefer verrottete. Hätte Lutetia dem geglaubt, was sie las, wäre Borough eine Fabrik für die Reliquien künftiger Generationen. Nach ihrer Erfahrung dagegen musste es sich bei den Gebeinen unter ihren Füßen um die größte Ansammlung abgebrühter und gewissenloser Halsabschneider, Geizkragen, Betrüger und Diebe handeln, die im Land zu finden war - mit anderen Worten: die Mittelschicht einer ganz normalen Kleinstadt.
Lutetia wanderte langsam durch den Wald steingewordener Trauer. Sie schätzte Kunst - zumindest die Art, die sie hier vorfand - und hatte im Lauf der Zeit ein Auge dafür entwickelt. Auserlesenere Werke der Bildhauerkunst waren nicht einmal im Louvre zu finden. Dafür schaffte etwas, das sie eher unterbewusst wahrnahm, wenige Augenblicke später den Sprung in ihre Gedanken. Sie schloss die Augen und überprüfte jeden Grabstein in ihrer Erinnerung und tatsächlich: es schien in Borough keine normalen Leute zu geben. Die Gräber, die sie gefunden hatte, gehörten Fabrikbesitzern, Kaufleuten, Unternehmern, Handwerkern, Ärzten, Oberstudienräten und was auch immer. Aber anscheinend gab es keine Verkäufer, Angestellten, Arbeiter, Lehrer, Beamte - kleine Leute, die einfach nur ihrer Arbeit nachgingen und dafür sorgten, dass diese kleine Stadt funktionierte. Sie fragte sich, wo deren Gebeine landeten. Lutetia hatte etwas gegen Klassenunterschiede, begünstigt durch den Umstand, dass ihre Familie genug Geld hatte, ihr die Freiheit solcher Gedanken zu gewähren.
Hier stand sie vor einem logistischen Rätsel. Immerhin bestand die Bevölkerung einer Stadt zu mindestens fünfzig Prozent aus "dem kleinen Mann". Eine derartige Menge Leichen konnte sich nicht in Luft auflösen. Nicht in Luft, korrigierte sie sich nach einem weiteren Rundblick, aber in Rauch. Nein, das war kein zweiter Kirchturm. Inzwischen war sie an der Westmauer angelangt. Während die übrigen drei Seiten aus den pompösen Grabmälern bedeutender, reicher und in den meisten Fällen ausgestorbener Familien bestand, war diese Mauer nackt und leer. Nicht einmal Blumen lagen da, keine Kränze, keine Schleifen, keine Kerzen. Nur eine einzige Statue, die Lutetias Interesse fesselte. Es war ein nackter Mann, der an einer im Boden eingelassenen Tür zerrte. Möglicherweise hätte er sie auf bekommen, wenn er sich nicht mit einem Knie auf die eiserne Platte gestützt hätte. Eingemeißelt in den Stein stand darunter: "Wir sind nicht verloren, nur vorangegangen" - eine erstklassige Drohung für jemanden mit einem schlechten Gewissen. Während der Spruch, den sich ein angetrunkener Dorfpoet in seiner blauen Stunde ausgedacht haben musste, durch Lutetias Kopf ging, veränderte sich das Bild auf subtile Weise. Die Metallplatte senkte sich ein paar Zentimeter nach unten und gab einen kleinen Spalt frei, in dem die Finger einer Hand erschienen. Lutetia bückte sich, ohne die Augen von den Fingern zu lassen, und griff nach einem lockeren Stück der Wegbegrenzung. Sie hatte sich noch keine abschließende Meinung über den Tod und ein eventuelles Leben danach gebildet, aber zumindest hygienische Gründe sprachen dafür, dass Leichen unter der Erde bleiben sollten - und sie wollte dafür sorgen, dass es auch so blieb. Andererseits: mit Hygiene schien dieses spezielle Exemplar keine Probleme zu haben; die Finger und die Hand, zu der sie gehörten, sahen nicht tot aus, sondern - als Resultat von viel Seife und einer Scheuerbürste - rosig und lebendig. Es fehlte die Erde unter den Fingernägeln als Hinweis, dass sich ihr Besitzer aus seiner letzten Ruhestätte heraus gegraben hatte; auch das letzte Hemd sah aus, als wäre es eben aus der Reinigung gekommen. Eine Sekunde später erschien die zweite Hand und brachte einen Staubwedel zum Vorschein. Lutetia entschied, dass ein Staubwedel kaum Zubehör eines wandelnden Toten war und legte den Stein vorsichtig zurück. Auch der Rest des Körpers deutete darauf hin, dass es sich hier um ein lebendes Exemplar der Gattung Mensch im weitesten Sinne handelte: flammend rote, wirre Haare, Segelohren derselben Farbe, ein breites, gutmütiges Gesicht und ein freundliches, möglicherweise auch blödes Grinsen. Der Junge ignorierte Lutetia vollständig - niemand hatte George beigebracht, wie er sich Personen gegenüber verhalten sollte, die seiner täglichen Routine im Weg standen.
Lutetia dagegen betrachtete George mit lindem Interesse: er strahlte für diesen Ort zu viel Leben aus - was einem Sakrileg ziemlich nahe kam. Lutetia räusperte sich - und erhielt keine Reaktion. Bisher waren fehlende Worte ein Phänomen, welches sie nur von anderen kannte und nun wusste sie selbst nicht, was sie sagen sollte. Nicht, dass ihr nichts einfiel, aber "Wohnen sie hier?" erschien ihr unangemessen. Schließlich räusperte sie sich noch einmal und sagte laut:
"Hallo!" George reagierte wie eine mechanische Puppe: Er richtete sich steif auf, wandte die Augen in Richtung Himmel und überlegte, welche der ihm beigebrachten Regeln für diese Situation wohl angebracht wäre. George hatte Lutetia zwar bemerkt, nur war es ihm nicht in den Sinn gekommen, auf sich aufmerksam zu machen. Jahrelang nicht beachtet zu werden hatte in ihm die Überzeugung reifen lassen, so etwas wie unsichtbar zu sein. Und der Rohrstock seiner Mutter hatte ihm gelehrt, nichts Ungezogenes zu einer Dame zu sagen - was für ihn sicherheitshalber bedeutete, gar nichts zu sagen. Auf den Fall, dass ihn jemand ansprach, hatte George niemand vorbereitet - keiner hielt das für möglich. Dann fand er eine Lösung, die keine der ihm eingebläuten Anstandsregeln verletzte.
"Hallo." Lutetia hatte dem mehrminütigen Kampf der Gedanken auf Georges Gesicht mitverfolgt und beschloss, sich langsam vor zu arbeiten.
"Wer bist du?" George erinnerte sich an die Lektion, die er dazu von seiner Mutter erhalten hatte.
"Ich darf nicht mit Fremden reden." Lutetia lächelte flüchtig. Noch einen Schritt langsamer.
"Ich bin Lutetia. Jetzt kennst du mich, und ich bin keine Fremde mehr. Wer bist du?" George lächelte zufrieden. Den Regeln war genüge getan.
"Ich bin George."
"Ja, du bist George." Lutetia nahm sich die Zeit, ihn ein wenig anzulächeln. "Was hast du dort unten gemacht?" George drehte sich um, offensichtlich um nachzusehen, wo er gerade eben gewesen war. Als er sich zurückdrehte, strahlte er förmlich.
"Ich habe Mama besucht! Mama wohnt da!" Lutetia stutzte. Wohnen? Wer würde in einem Grab... Andererseits: es lag im Grünen, die Nachbarschaft war ruhig; manche Leute würden sterben für so eine... Sie verfolgte den Gedanken nicht weiter. Schließlich war sie selbst auf der Suche nach einem idyllischen Plätzchen, aber nur, um sich gelegentlich zurückzuziehen.
"Da wird sie sich freuen."
"Oh ja, das tut sie. Mama freut sich immer, wenn ich komme und saubermache. Sie freut sich, dass ich es nicht vergesse!"
"Du machst sauber? Dort unten?" George nickte stolz.
"Jeden Tag. Möchtest du meine Mama mit mir besuchen? Ich muss sie erst fragen, aber das kann ich morgen machen. Da besuche ich sie wieder." Ich weiß, wo das hinführt, dachte Lutetia. Psycho oder einfach Plemplem. Trotzdem hörte sie sich sagen:
"Das wäre nett." George schien das zu genügen; er wandte sich der Metalltür zu und verriegelte sie. "George? Wohnt noch jemand da unten?"
"Alle meine Freunde", sagte er stolz. "Ja! Sie lachen nämlich nicht, wenn ich etwas sage. Und sie hauen mich auch nicht", fügte er nach einem Moment hinzu. "Seit sie da unten wohnen."
"Wie interessant", bemerkte Lutetia. George machte einen lieben, netten und - zugegeben - einfach gestrickten Eindruck. Dass er es vorzog, seine Zeit mit einem Haufen Skelette zu verbringen sprach Bände über die lebenden Einwohner dieser Stadt. Auf der anderen Seite: Hatte jemand George erklärt, was tot zu sein bedeutete? Wahrscheinlich nicht. George unterbrach ihre Gedanken.
"Wie bitte?"
"Du bist nett." Das verblüffte Lutetia. Freakig, seltsam, unheimlich - das waren die Attribute, die ihr erster Eindruck bei anderen hinterließ. Als nett hatte sie noch niemand bezeichnet. "Möchtest du mit mir die Hecken verschneiden?" Wenigstens machte sich jetzt ihr Verstand nützlich. Er präsentierte die Erkenntnis, dass ihr hier ein Date angeboten wurde - und etwas in ihrem Bauch stimmte zu.

Kapitel 5

Die Zeitung hatte am Fall des verschwundenen Bürgermeisters - und des verschwundenen Geldes - überraschend schnell das Interesse verloren. Das Einzige, was Wilson noch fand, war zwei Tage später eine kurze Meldung, dass Mrs. Amanda Wilson bis zu den Neuwahlen die Amtsgeschäfte übernehmen würde. Einige Mitglieder des Stadtrates drückten ihre Anerkennung aus, dass sie bereit sei, sich in einer solchen Krise zur Verfügung zu stellen. Dann folgte belangloses Blabla und der Fall schien erledigt. Wilson hatte sich durch sechs weitere Monate des Archivs gewühlt, um Hinweise zu finden. Er hätte hämische Kritik an der Polizei erwartet, den Schrei nach besseren Leuten. Aber der fehlte ebenso wie weitere Artikel von SD - wer auch immer das gewesen sein mochte.
Wilson versuchte, die wenigen Erinnerungen aus dieser Zeit aufzufrischen. Seine Mutter war damals immer beschäftigt gewesen und hatte kaum Zeit gehabt, sich um ihn zu kümmern. Wilson wiederum hatte kaum das Interesse gehabt, sich um seine Mutter zu kümmern, sondern war mit Dingen beschäftigt, die Jungen in seinem Alter und mit seiner Konstitution nun einmal tun: vor älteren Jungen mit einer kräftigeren Konstitution wegzulaufen.
Er nahm sich den Stapel noch einmal vor, diesmal entschlossen, sich nicht das kleinste Detail entgehen zu lassen. Tatsächlich lohnte es sich: drei Tage nach Burks Verschwinden erschien ein Leserbrief, in dem ein "besorgter Bürger" auf eine so zurückhaltende Art und Weise - die auf massive Zensur seitens der Redaktion schließen ließ - starke Bedenken gegen gewisse Personen ausdrückte, die durch ihr Verhalten einen schlechten Ruf verbreiten könnten. Es gehe doch nicht an, hieß es da, dass zwei Damen auf der Straße lautstark zu streiten anfängen und dabei tätlich würden - wobei sogar unbeteiligte Dritte zu Schaden kämen. Wilson ersetzte lautstarke Streitereien durch wüstes Fluchen und Tätlichkeiten durch brutale Gewaltattacken - damit hatte er den ersten Hinweis auf die Swansons. Unter diesem Gesichtspunkt gesehen, fand er in den folgenden Ausgaben weitere Berichte über das Treiben der Schwestern, verhüllt in Andeutungen und Umschreibungen. Wilson lehnte sich zurück. Die Swansons waren zur selben Zeit in die Stadt gekommen, als Burk dieselbe fluchtartig verlassen hatte. Wilson glaubte nicht an Zufälle. Jedenfalls hatte man ihm auf der Polizeischule beigebracht, nicht an Zufälle zu glauben, obwohl er persönlich meinte, dass sich das Leben leichter bewältigen ließ, wenn man es tat. War Burk wegen den Swansons verschwunden? Hatte er vor ihnen die Flucht ergriffen? Letzteres konnte Wilson gut nachvollziehen, aber es erklärte nicht die Sache mit dem Geld. Wo war es? Die Antwort auf die zweite Frage würde wahrscheinlich das ganze Rätsel lösen.
Seine Hand suchte selbstständig nach der nächsten in Reichweite befindlichen Whiskeyflasche. Das war inzwischen seine automatische Reaktion auf jeglichen Gedanken an seine Gefangenschaft. Es vereinfachte die Situation enorm.

Als Lutetia am späten Nachmittag von ihrem Ausflug zurückkehrte, war sie um einige interessante Erfahrungen reicher. Sie hatte bisher keine Ahnung, was für einen Effekt das richtige Licht auf ein Kunstwerk haben konnte - und welche Blätter welches Baumes entfernt werden mussten, um genau dieses Licht durchzulassen. Die verzauberte Stimmung des Ortes hatte nichts mit seiner Lage, Magie oder einer Laune der Natur zu tun, sondern mit harter Arbeit. Für George war die Dramaturgie des Friedhofs alles: Pflicht, Hobby, Obsession - quasi die Innenarchitektur seiner Wohnung. Er hatte sich in einem Nebengelass der Friedhofskapelle häuslich eingerichtet, was niemanden zu stören schien. Eine Handvoll Besucher waren im Lauf des Nachmittags erschienen um ihre Angehörigen zu sehen und hatten stattdessen Lutetia angestarrt. Von George hingegen hatten sie soviel Notiz genommen wie von einem Penner in der Fußgängerzone - sie blendeten ihn aus ihrer Wahrnehmung aus. Lutetia dagegen war fasziniert von George. Der Junge hatte mehr von einem Träumer als von einem - hier seufzte sie innerlich - Idioten. Sie hasste es, in Klischees zu denken, aber es änderte nichts an der Tatsache, dass sich George anhörte wie ein achtjähriges Kind, dem es an kommunikativer Übung mangelte. Das schien er heute aufgeholt zu haben. Während er über den Friedhof lief, Grabsteine und Statuen prüfte, hier einen Zweig entfernte, dort einige Blätter stutzte, hatte er geredet. Einmal in Fahrt war er nicht zu stoppen; wahrscheinlich gab es sonst niemanden, der ihm zuhörte.
Lutetia hatte ihn nicht unterbrochen während sich in ihrem Kopf wie aus tausenden Puzzleteilen langsam das Bild dieser kleinen Stadt zusammensetzte. George erzählte unterschiedslos von Fehden und Freundschaften, Gaunereien und Liebschaften, von Verwandtschaften und dem Bridgeclub; letzterer berühmt dadurch, dass er noch nie irgendeinen Wettbewerb gewonnen hatte. George hatte ein überraschend gutes Gedächtnis für Kleinigkeiten und Details, aber ihm fehlte das Verständnis über die Zusammenhänge dieser Informationen.
Als Lutetia sich schließlich verabschiedete, hatte George ihr das Versprechen abgenommen, am nächsten Tag wiederzukommen - das hatte Lutetia sich schon selbst vorgenommen.

Es passierte nichts. Absolut nichts. Was Marx' ohnehin bescheidene Meinung von diesem Ort in einen bodenlosen Abgrund stürzen ließ. Er hatte ein Zimmer im Torhaus besetzt, da es die größten Fenster hatte - was gut für das Pflanzenwachstum war - und sich von dort der Zugang zur Burg am besten überwachen ließ. Er hatte ein transportables Gewächshaus aufgebaut - eine Zwischenlösung, bis er sein Domizil im Keller ausgebaut hatte. Leider machte ihm der Rest der Familie durch dauernde Anwesenheit einen Strich durch die Rechnung. Seine übrige Zeit verbrachte er damit, sein unsägliches Schicksal für die Welt im Allgemeinen zu kommentieren.
"Halb Fünf. Nichts. Absolut nichts. Es dämmert noch nicht mal und die Bürgersteige sind schon hochgeklappt", murmelte er durch seine zusammengebissenen Zähne. "Zu dieser Zeit immer noch herumstreunende Bürger werden aufgefordert, sich in ihre Häuser zu begeben. Wer nach Beginn der Sperrstunde in ungefähr fünfzehn Minuten noch draußen erwischt wird, muss damit rechnen, wegen Landstreicherei verhaftet und aus dem Nest geworfen zu werden. Vorher wird er natürlich geteert und gefedert." Marx seufzte. Seine Pflänzchen waren noch nicht groß genug, um ihn aus der Tristesse dieses Ortes zu befreien.
"Führst du wieder Selbstgespräche?" Marx fuhr herum.
"DUMME PUTE!" brüllte er. "Schleich dich gefälligst nicht so an mich ran!"
"Was für ein unfreundliches Wort für deine eigene Schwester", entgegnete Lutetia unbeeindruckt und trat neben ihn ans Fenster. Sie hatte sich das Turmzimmer genommen - nebst dem zugehörigen Turm - der sich an das Torhaus anschloss. Marx war sich sicher, dass sie das nur getan hatte, um ihm eins auszuwischen. "Selbstgespräche können auf beginnende Schizophrenie hinweisen."
"Oder sind die einzige Möglichkeit, sich mit einem intelligenten Menschen zu unterhalten. In diesem Kaff gibt's ja sonst nichts." Lutetia beachtete ihn nicht. Sie sah aus dem Fenster. Worauf, konnte Marx nicht erkennen.
"Interessant", murmelte sie. "Du scheinst nicht der einzige Spanner zu sein."
"Ich bin kein...!" fuhr Marx auf. Aber Lutetia war weg. Marx sah nach draußen. Dort war niemand.

Lutetia ging auf direktem Weg in die Küche und fand in einer der vielen noch nicht ausgepackten Kisten das, was sie suchte: eine Thermosflasche und eine noch nicht geöffnete Packung Kekse. Sie setzte den Teekessel an und überlegte, welche Sorte einer alten Frau bekommen würde. Den Tee packte sie zusammen mit den Keksen in einen kleinen Rucksack. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit verzichtete sie für ihren Ausflug auf schwere Samtkleidung, sondern wählte eng anliegende19 Sportsachen. Die schweren Halbstiefel blieben zu Gunsten leichter Turnschuhe20 im Schrank und die Haare band Lutetia zu einem einfachen Zopf zusammen. Dann schwang sie sich den Rucksack auf den Rücken und ging los.
Das Haupttor war der einzige Zugang zur Burg. Das hatte der Makler gesagt; er nannte es ein Sicherheitsplus, so viel Wert wie zehntausend Pfund. Die Pläne schienen ihm Recht zu geben, denn dort war kein anderer Eingang verzeichnet und gerade deshalb war Lutetia sicher, dass es noch mindestens einen zweiten Weg nach draußen gab. Kein Burgherr mit einem Funken Verstand hätte sich selbst eine Sackgasse gebaut - schon am Morgen nach ihrer Ankunft hatte sie einen Geheimgang nach draußen entdeckt, der in einer kleinen Nische ihres Turms begann und auf der Rückseite der Burg in einer Schießscharte etwa zwei Meter über dem Boden endete. Der Boden unter ihr war mit niedrigen, dichten Büschen bewachsen, die ihre Landung dämpften. Lutetia sah sich kurz um und verschwand in der Dämmerung.

Amanda streckte sich langsam und spürte jeden einzelnen Rückenwirbel in seine vorgesehene Position zurück schnappen. Das lange Sitzen machte ihr mehr Schwierigkeiten als früher. Vielleicht sollten die Holzbänke, die Spaziergänger zum Ausruhen einluden, durch bequemere, für längere Observationen geeignete Exemplare ersetzt werden. Sie griff nach dem Fernglas. Alle paar Minuten prüfte Amanda, ob sich am Burgeingang etwas tat. Es brachte sie zwar nicht weiter, war aber besser als gar nichts zu tun.
Amanda wusste genau, dass die McDuffs sie für verrückt hielten - oder für besessen, obwohl den beiden der Mut fehlte, das laut zu sagen. Sie versuchte sich einzureden, dass dem nicht so wäre. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass die Stubbs eine ganz normale Familie waren, auch wenn die Tochter einen schwarzen Gürtel hatte. Schließlich kamen sie aus der Großstadt und dort war das Leben rauer als hier. Amanda nahm das Fernglas und stellte es auf das hell erleuchtete Fenster des Torhauses ein. Viel war nicht zu sehen - anscheinend hatte der Junge sich dort eingerichtet. Oder nicht eingerichtet, denn die Wände waren kahl, die Beleuchtung bestand aus einer nackten Glühbirne, deren Installation Amanda eine amüsante Slapstickaufführung verschafft hatte. Ansonsten schien er nicht viel mehr zu machen, als trübselig aus dem Fenster zu starren. Amandas Meinung über ihn, die sich übrigens auch auf alle Menschen im Alter zwischen acht und vierundzwanzig Jahren ausdehnte, war, dass er sein Leben verschwendete. Ihrer Meinung nach sah die ideale Schule einer Fabrik des frühen Manchesterkapitalismus nicht unähnlich und würde durch eine tägliche Arbeitszeit von mindestens sechzehn Stunden nicht viel Zeit für Unsinn lassen. Danach hatten die Absolventen wenigstens Disziplin gelernt. Und das Befolgen von Anweisungen. Amanda war eine ordnungsliebende Person. Sie hatte vor einer Ewigkeit als Stenographin in der Stadtverwaltung angefangen und sich langsam hochgearbeitet. Dabei hatte sie festgestellt, dass alles wunderbar funktionieren konnte - solange sich alle an sorgfältig ausgearbeitete Vorgaben und Pläne hielten; möglichst an die von ihr ausgearbeiteten Vorgaben und Pläne. Amanda hatte sich viel Mühe mit dieser Stadt gegeben und dabei mit immer mehr Aufgaben und Gebieten beschäftigt - es aber nie fertig gebracht, Dinge zu delegieren. Das lag vor allem an der Erkenntnis, dass der Rest der Welt aus Personen bestand, die ihren Schädel als ungenutzten Lagerraum vermieten konnten. Amanda liebte Ordnung. Die geringste Störung konnte alles aus dem Gleichgewicht bringen.
Besonders Lutetia gefährdete Amandas Ordnung. Mädchen waren zu ihrer Zeit sittsam, still und bescheiden - so sollten sie auch heute sein. Jemand, der sich nichts sagen ließ, seinen Kopf durchsetzte und sogar noch eine eigene Meinung hatte, passte nicht in ihr Konzept. Sie hatte nichts dagegen, wenn die Stubbs genauso schnell aus Borough verschwinden würden, wie sie aufgetaucht waren. Amanda konzentrierte ihre volle Aufmerksamkeit auf die Burg, als könnte sie deren Bewohner durch reine Konzentration in Luft auflösen. Entgegen dem Anschein, den sie überall erweckte, waren ihre Augen und Ohren in exzellenter Kondition; eine unbedingt notwendige Voraussetzung, um ständig auf dem Laufenden zu bleiben. Sie hörte das träge Zwitschern der Vögel, die sich bald in die Nachtverstecke zurückziehen würden, das befriedigte Maunzen einer Katze, welches bedeutete, dass mindestens ein Vogel ein warmes Plätzchen gefunden hatte, welches nicht ganz seiner Vorstellung entsprach. Sie hörte den lauten Fernseher, den der fast taube Winters bis spät in die Nacht laufen ließ - was ihm die Feindschaft der ganzen Straße eingetragen hatte. Die Hudson-Bälger wurden endlich zum Essen gerufen. In der Burg tat sich immer noch nichts. Ihrem Bestimmungszweck zufolge gab es zwar nicht viele Fenster nach außen, aber Amanda kannte das Gebäude gut genug, um anhand der Schatten auf den Turmwänden festzustellen, wo gerade jemand war. Sie streckte die schmerzenden Gelenke. Die Dämmerung kam immer noch früh und die Abende würden erst in ein paar Wochen wärmer werden. Die Kälte war nahezu unerträglich.
"Eine Tasse Tee gefällig?" Amandas Herz setzte zwei Schläge lang aus. Die Person, die gesprochen hatte, saß neben ihr auf der Bank. Es war Lutetia.

Amanda brauchte einige Sekunden, um sich von dem Schock zu erholen. Lutetia schraubte währenddessen die Thermosflasche auf, füllte heißen Tee in den Becher und hielt ihr das dampfende Getränk hin.
"Nehmen Sie ruhig. Es ist nicht vergiftet." Amanda keuchte.
"Sie haben mich erschreckt, junge Dame!"
"Wirklich?" fragte Lutetia erstaunt. "Ich dachte, Sie haben mich schon von weitem gehört. So intensiv wie Sie die Gegend beobachten. Und ich war nicht besonders leise." Oh doch, das warst du! dachte Amanda. Der Knopf in meinem Ohr ist mit einem der besten Richtmikrophone verbunden, das man für Geld kaufen kann und du warst nicht zu hören.
"Ja, ja, aber ich habe mich auf die Vögel konzentriert! Ich bin Amanda Wilson, die Vorsitzende der Königlichen Gesellschaft der Vogelfreunde von Borough." Lutetia ergriff die dargebotene Hand und schüttelte sie kurz und mechanisch. Dabei starrte sie ihr gerade in die Augen. Amanda stellte fest, dass sie besser spielen musste, wenn sie glaubwürdig wirken wollte. "Jemand hat mir berichtet, dass in der kleinen Buschgruppe da vorn ein Pärchen Merops apiaster sein Nest bauen will - und ich will die kleinen Piepmätze zu gerne sehen. Sie sind sehr selten." Gekonnt legte Amanda ihr Gesicht mit einem Lächeln in tausend Falten und hätte damit als Märchenillustration einer gütigen Großmutter durchgehen können. Es wirkte umwerfend auf Kinder. An Lutetia prallte es ab.
"Tee?" wiederholte sie. "Nach dem stundenlangen Sitzen hier muss Ihnen kalt sein. Und ich habe hier noch einige Kekse - nicht selbst gebacken, aber trotzdem gut." Amanda griff nach der angebotenen Tasse und musterte Lutetia unauffällig. Lutetia schien das nicht zu bemerken. Sie breitete eine Serviette auf der Bank aus, platzierte etwas Gebäck darauf und füllte eine zweite Tasse mit Tee, bevor sie sich bequem hinsetzte und die Beine ausstreckte.
"Der Himmel ist so schön, finden Sie nicht auch?" Lutetia sah Amanda nicht an, sondern schloss die Augen und atmete tief durch. "Ein nettes Städtchen", bemerkte sie schließlich.
"Was?" fragte Amanda, die auf eine solche Bemerkung nicht vorbereitet war.
"Ein nettes Städtchen. Mir gefällt es hier."
"Das freut mich", antwortete Amanda. Sie hatte überhaupt keine Ahnung, was Lutetia wollte. Normalerweise konnte sie Menschen lesen wie ein Buch, aber dieses spezielle Exemplar ließ sich nicht öffnen - es war versiegelt, mit Ketten verschlossen und in einem Tresor deponiert, der im tiefsten Keller einer exzellent gesicherten Bank lag. Wider Erwarten lächelte Lutetia.
"Sehr interessante Menschen hier. Diese Frau aus dem kleinen Laden... Violet"
"Liebenswürdig und ein wenig schwatzhaft."
"...und zuvorkommend. Obwohl ich sagen muss, es passt so gar nicht zu ihr, freundlich zu Fremden zu sein. Aber das ist vielleicht nur so ein Gefühl. Es lag vielleicht auch an diesen zwei anderen Frauen - Schwestern nehme ich an. Ein schwedischer Name, wenn ich mich recht erinnere."
"Die Swansons", antwortete Amanda knapp und mit einem leichten, kaum feststellbaren Widerwillen in der Stimme, der Lutetia vielleicht entgangen wäre, wenn sie nicht darauf geachtet hätte.
"Die werden es wohl gewesen sein. Interessante Personen."
"Wohl kaum!" murmelte Amanda leise. Lutetia lächelte in sich hinein. Amandas Reaktionen bestätigten vieles von dem, was sie am Nachmittag gehört hatte.
"Ich habe auch schon viel von Ihnen gehört, Mrs. Wilson. Sehr viel Gutes." Amanda hatte das Gefühl, am falschen Ende einer geladenen Waffe zu stehen.
"Aber nicht doch", versuchte sie abzuwiegeln.
"Nein, wirklich. Die Art, wie Sie sich um alles kümmern, ist ganz zauberhaft. Nahezu rührend." Der letzte Satz war merkwürdig betont.
"Danke", murmelte Amanda. "Das ist zu viel des Lobes."
"Nein, ist es nicht", fuhr Lutetia fort. "Glücklicherweise brauchen Sie sich um mich keine Sorgen zu machen. Ich komme hervorragend allein zurecht."
"Da bin ich mir ganz sicher. Der Junge heute - ich habe es ganz zufällig mitbekommen, ich beobachtete gerade einen Turmfalken durchs Fernglas - das war nicht gerade zimperlich." Lutetia zuckte mit den Schultern.
"Ich mag es nicht, angefasst zu werden." Sie überlegte einen Moment. "Diese Typen passen nicht hierher. Sie passen nicht in diese Stadt." Die letzten Worte schwebten lange in der Luft. Amanda hielt es für klüger, nichts zu sagen. Wilbur würde für seine Dummheit bezahlen. Lutetia schüttelte sich, als ob sie einen unangenehmen Gedanken loswerden wollte.
"Ich wollte noch irgendwas sagen, was war es doch gleich? Ach ja", sagte Lutetia nach ein paar weiteren Augenblicken und stand auf. "Merops apiaster oder Bienenfresser, wie er auch genannt wird, bevorzugt steile Flussufer und kommt nur in Südeuropa vor. Wer immer Ihnen diesen Tipp gegeben hat - er hat nicht viel Ahnung von Vögeln." Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand sie so schnell und leise in der Dunkelheit, wie sie daraus aufgetaucht war.

Murdok befand sich um zwei Uhr morgens in einer Tiefschlafphase und hatte nicht vor, sich daraus wecken zu lassen. Aber als das Telefon nach dem siebenundzwanzigsten Klingeln immer noch nicht aufgab, stand er auf und hüpfte mit einer unfreiwilligen Komik über die kalten Steinplatten im Flur.
"Wer da?" knurrte er.
"Die Meisterschaften sind in einer Woche. Wir treffen uns Punkt zehn im Club."
"Herrgott Amanda, hättest du mich nicht in sechs Stunden anrufen können? Es ist mitten in der Nacht!"
"Sei nicht so zimperlich!" fuhr ihn Amanda an. Die übliche Leichtigkeit war aus Amandas Stimme verschwunden. "Und sei pünktlich."
"Worum geht's?"
"Sei da und du wirst es erfahren." Dann hörte er nur noch das Freizeichen. Murdok tappte zurück ins Bett und stellte den Wecker. Amanda hasste Unpünktlichkeit und ihre Ungnade war eine Erfahrung, die er nicht wiederholen wollte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739461229
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Schräge Vögel Typisch britisch Schwarzer Humor Krimi Thriller Spannung Satire Parodie Humor

Autor

  • Lutetia Stubbs (Autor:in)

Lutetia Stubbs ist eine Ermittlerin, wie sie in keinem Bilderbuch steht: Sie löst Probleme mit einer scharfen Beobachtungsgabe, noch schärferer Intelligenz und – falls das nicht ausreicht – einem Baseballschläger.
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Titel: Lutetia Stubbs - KellerLeichen