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Lutetia Stubbs - Der Kleckser

von Lutetia Stubbs (Autor:in)
340 Seiten
Reihe: Lutetia Stubbs, Band 4

Zusammenfassung

Menschen sterben wie Fliegen in Borough - was für einen Bestatter an sich keine schlechte Nachricht ist. Lutetia beunruhigen nur zwei Tatsachen: dass die Todesfälle dieser speziellen Fliegen einem verstörend vorhersehbaren Muster folgen und dass ihr Ehemann George nicht dazu gehört. Währenddessen entdeckt Marx Stubbs ein bisher ungeahntes Talent für moderne Kunst; vor allem deren pinselstrichgenaue Nachahmung. Und er erweckt damit das Interesse von Kunstliebhabern, denen Geld genausowenig bedeutet wie Menschenleben...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Titel

 

Lutetia Stubbs:
Der Kleckser


Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Infos zum Buch

Lutetia Stubbs: Der Kleckser

Ein paar Monate vor dem Anfang

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

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Danksagung

Über den Autor

Fantasievermerk

Fair Use Vereinbarung

Impressum

Fußnoten

Infos zum Buch

Mehr über Lutetia Stubbs und ihre Fälle gibt es unter
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Anregungen, Kritiken und Wünsche sind jederzeit herzlich Willkommen.

Der direkte Draht:
kontakt@lutetiastubbs.de

 

 

Inhalt

Menschen sterben wie Fliegen in Borough - was für einen Bestatter an sich keine schlechte Nachricht ist. Lutetia beunruhigen nur zwei Tatsachen: dass die Todesfälle dieser speziellen Fliegen einem verstörend vorhersehbaren Muster folgen und dass ihr Ehemann George nicht dazu gehört.

Währenddessen entdeckt Marx Stubbs ein bisher ungeahntes Talent für moderne Kunst; vor allem deren pinselstrichgenaue Nachahmung. Und er erweckt damit das Interesse von Kunstliebhabern, denen Geld genauso wenig bedeutet wie Menschenleben...

Lutetia Stubbs: Der Kleckser

Ein paar Monate vor dem Anfang

Nebel waberte von der Themse herüber und tauchte London in ein Grau, gegenüber dem ein Edgar-Wallace-Film wie ein farbenfrohes Potpourri wirkte. Laurence Oliver hatte das Fenster weit geöffnet - die einzige Möglichkeit, dass der Qualm seiner Zigarette den Weg an die frische Luft fand, ohne vorher den Rauchdetektor in unnötige Aufregung zu versetzen. Auf seinem Schreibtisch lag ein Berg Papierarbeit, der dort seit Jahren ungehindert wuchs und gedieh. Oliver war Praktiker - Chief Elk leider nicht. Der erwartete Oliver in fünf Minuten zum Rapport. Oder besser gesagt: zur Exekution. Das reichte noch für zwei Zigaretten.

Exakt zweihundertneunundneunzig Sekunden später klopfte Oliver an die schallgedämpfte Eichentür des Büros seines Vorgesetzten. Und erhielt keine Reaktion. Das war Methode vom Chief. Den Boss raushängen und seine Untergebenen spüren lassen, wer hier das Sagen hatte. Dass sogar Elks persönlicher Bürodrachen heute früher Schluss gemacht und ihren Arbeitsplatz in aller Eile verlassen hatte, war kein gutes Zeichen. Deshalb wartete Oliver, bis Herein! gebellt wurde.
Chief Elk verzichtete auf Begrüßung, Small Talk und Formalitäten.

"Was haben Sie zu sagen, Oliver?"
"Der Raubmord an dem Juwelier und die sieben Raubüberfälle der Kensington-Bande wurden erfolgreich aufgeklärt." Aus der Ecke hinter ihm schnaubte es verächtlich. Dort stand de Cusack. Ein Kunstheini, wahrscheinlich schwul und eng mit einer Reihe von Ministern befreundet. Leiter des Raubdezernats und angepisst, weil sich seine Luschen an den Überfällen die Zähne ausgebissen hatten. Elk räusperte sich.
"Eine sehr interessante Umschreibung ihrer Aktivitäten."
"Ich habe vier Geständnisse. Alle unterschrieben, detailliert und unmissverständlich."
"Von vier Verdächtigen, die jetzt alle im Polizeikrankenhaus liegen. Während sie sich bester Gesundheit erfreuten, bevor sie den Verhörraum betraten."
"Ist mir vollkommen unerklärlich."
"Ich möchte wissen, was passiert ist."
"Die Verhöre wurden aufgezeichnet. Am besten, Sie schauen sich die Videos an. Sie werden kein Fehlverhalten meinerseits finden."
"Stimmt", erwiderte Elk düster. Oliver beschlich ein ungutes Gefühl.
"Sind die Geständnisse weg?" Elk sah ihn mit einem Blick an, der entweder Ritterschlag oder Versetzung an die Arktis bedeuten konnte.
"Die Geständnisse sind noch da. Aber das, was nicht auf den Videos zu sehen ist, wird eine Untersuchung nach sich ziehen. Eine langwierige Untersuchung. Während der Sie nicht weiter für die Mordkommission tätig werden." Eine Suspendierung. Oliver hatte davon schon eine ganze Reihe hinter sich. In ein paar Tagen würde der Chief angekrochen kommen, mit einem neuen Fall in der Hand, einer aufgesetzen Gönnermiene und Oliver huldvoll wieder in den aktiven Dienst versetzen. Wie immer.
"Glücklicherweise", meldete sich de Cusack aus seiner Ecke, "hat das Raubdezernat eine Aufgabe für Sie, die Ihrem... Ruf gerecht wird." Das Grinsen auf de Cusacks Gesicht gab dem ohnehin von der Natur nicht Begünstigten das Aussehen eines Aasgeiers.
"Ich zum Raub? Was soll das sein? Eine Degradierung?"
"Natürlich nicht. Aber bis zur vollständigen Aufklärung der Angelegenheit hat der Commissioner angeordnet, die Mordkommission vor dem Verdacht der Vertuschung zu schützen."
In der Hierarchie der Kommissariate und der Publicity stand Mord ganz oben, während Raub von der Presse regelmäßig wegen mangelnder Aufklärungsquoten niedergemacht wurde. Tiefer standen nur noch die Uniformierten, die ihrerseits voller Verachtung auf die Verkehrspolizei herabschauten. Oliver hatte sich an der Spitze wohl gefühlt und möglicherweise einmal zu oft nach unten getreten. Jetzt freuten sich die Aasgeier auf seinen Kadaver - bildlich gesprochen. Das sagte de Cusack natürlich nicht. Es stand in seinem Gesicht geschrieben.
"Dann ist der Ruf der Abteilung wichtiger als die Aufklärung von Morden und Überfällen?" Elks Gesicht wurde schlagartig düster.
"Wenn es um diese Art Aufklärung geht, ja. Falls Sie damit ein Problem haben, kann ich Ihnen gern einen Platz bei der Verkehrspolizei beschaffen. Da können Sie den ganzen Tag über Vorschriften und Regeln nachdenken, während Sie den Verkehr am Picadelly Circus regeln, Knöllchen verteilen und für den Rest ihres Lebens vor jeder Scheißhausratte salutieren!" Elk war an sich kein schlechter Mensch. Aber er hatte politische Ambitionen und würde für seinen makellosen Ruf über Leichen gehen. Oliver wusste, dass er dazu gehörte. Er seufzte leise.
"Wobei brauchen die Herren vom Raub die Unterstützung eines Profis?" De Cusack entglitten für einige Millisekunden die Gesichtszüge. Dann fiel dem Mann offensichtlich etwas ein, was ihn enorm erheiterte.
"Ich nehme nicht an, dass Sie mit den Feinheiten unserer Ermittlungsarbeit vertraut sind, Oliver. Wir beschränken uns nicht nur auf eine Verbrechensart, wie Mord. Bei uns gibt es mehr zu tun. Fälschung und Hehlerei zum Beispiel. Wir haben einen Ring von Kunstfälschern und Hehlern entdeckt und es wird Zeit, ihn zu infiltrieren, Beweise zu sammeln und ihn zu vernichten."
"Holen Sie sich einen Laienschauspieler. Ich bin keiner."
"Vielleicht wären Sie ein guter Verkehrspolizist", knurrte Elk. "Mal ausprobieren?" De Cusack fuhr fort.
"Es geht um Bilder im Wert von mehreren Millionen Pfund. Die National Gallery und der Buckingham Palast sind sehr an der Aufklärung interessiert. Es handelt sich hier um nichts weniger als die Kultur unserer Nation!"
"Und gute Presse für Raub", murmelte Oliver.
"Bei einem Fehlschlag würde der Kommissar, der es versaut hat, gegrillt werden. Öffentlich. Und landesweit." De Cusack sah glücklicher aus als je zuvor. Oliver achtete sorgfältig darauf, seine Faust nicht in das Gesicht dieses selbstgefälligen Idioten zu rammen.
"Und wo hat sich dieser ominöse Verbrecherring versteckt??" Elk wandte sich an de Cusack.
"Das ist unwichtig. Punkt ist, dass wir einen Informanten in den Ring einschleusen konnten, der einen neuen Mitspieler einführen kann. Wir werden Sie ins Ausland schicken, von wo Sie mit einer neuen Identität und einem erstklassigen Ruf als Kunstfälscher zurückkehren. Sie werden Großbritanniens erste Adresse für gefälschte Bilder, deren Weg und den Weg des Geldes, mit dem sie bezahlt werden, wir lückenlos nachverfolgen können. Wir werden Sie in einem kleinen, perfekt gelegenen Ort platzieren. Er heißt..." - hier musste de Cusack in seinen Unterlagen nachschauen - "...Borough."
Alle drei schwiegen einen Moment.
"Nie gehört", sagte Oliver schließlich.
"Das kommt davon, dass es in den Polizeistatistiken nicht auftaucht. Borough ist der friedlichste Ort im gesamten Vereinigten Königreich."
"Deshalb schicken wir Sie dorthin. Wenn etwas Außergewöhnliches passiert, wissen wir sofort, wer dafür verantwortlich ist."
"Wo man hobelt, fallen Späne. Und wenn ich die Kunstfälscher dort aufspüren soll..."
"Sie sollen nicht hobeln!" unterbrach ihn Elk. "Sie sollen beobachten. Für das Hobeln wird ihr Partner zuständig sein."
"Partner?"
"Nicht direkt Partner", sagte de Cusack und grinste. "Ihr neuer Vorgesetzter."

Kapitel 1

Es gibt drei Worte, die die Welt verändern. Zumindest hatten sie InfoGeorge verändert, der bisher ein zurückhaltender, aber liebevoller Ehemann war, immer da, wenn InfoLutetia ihn brauchte, eine starke Schulter, an die sie sich anlehnen konnte. Jetzt war er ein neurotischer, überbesorgter Klammeraffe, der ihr nicht den kleinsten Bewegungsspielraum ließ. Und das nur, weil sie ihm vor acht Monaten jene drei magischen Worte gesagt hatte:
"Ich bin schwanger."

Lutetia spielte mit dem Gedanken, ihn umzubringen.

"Nimm Platz, Liebling. Ich habe dir Frühstück gemacht. Vitaminreicher Orangensaft, frisches Obst, Joghurt, Müsli, Eier mit Speck, aber nicht so fettig, geräucherter Fisch und ein Glas saure Gurken. Falls du Appetit hast." Lutetia hatte nicht den geringsten Appetit auf saure Gurken. Nie gehabt und würde sie auch nie haben - was George nicht daran hinderte, ihr seit jenem verhängnisvollen Tag welche anzubieten. "Und hier sind deine Folsäure- und Eisentabletten." Bei dem, was George in sie hineinstopfte, kam Lutetia sich langsam vor wie eine Pinata. Sobald irgend Jemand sie mit einem Stock auch nur berührte, würde sie platzen und ein Strom Pillen würde sich aus ihrem Körper ergießen. Eine Pinata für Hypochonder. Lutetia lächelte. "Es ist schön, dich lachen zu sehen." George mit seinem Dackelblick. Das machte es schwer, ihn zu hassen.

"Was gibt es heute zu tun?" fragte Lutetia ein paar Minuten später.
"Nichts. Du kannst dich entspannen."
"Ich entspanne mich seit sieben Monaten und dreiundzwanzig Tagen. Ich fühle mich so leicht und unbeschwert, dass ich Wände hochgehen könnte." George schaute sie offen und unschuldig an - aber Lutetia hatte gelernt Nuancen zu erkennen. Das war sein offen und unschuldig-Blick mit einer kleinen Prise Zurückhaltung. Was bedeutete, dass da die eine oder andere Leiche im Bestattungsinstitut lag, von der sie nichts wissen sollte. "Es ist Mr. King, habe ich recht? Er sah mir schon beim letzten Mal so dürr und klapprig aus, ich wusste gleich, dass der es nicht mehr lange macht."
"Bei unserer letzten Begegnung sah er blendend aus." Aber Lutetia ließ sich nicht täuschen. Wenn George von einer letzten Begegnung sprach, musste das nicht bedeuten, dass der andere zu diesem Zeitpunkt noch lebte.
"Du hast eine Totenmaske von ihm gemacht! Ohne mir Bescheid zu sagen!" Lutetias Augen wurden schmal und fixierten ihren Mann. "Kein Wunder, dass er blendend aussah! Du hattest mir versprochen, dass ich mitmachen darf!" George zuckte zusammen.
"Du bist schwanger."
"Ist mir nicht entgangen. Ich bin diejenige von uns beiden, die aussieht wie ein Weinfass."
"Schwangere sollten nicht schwer arbeiten."
"Ich kann froh sein, dass du mich atmen lässt! Oder ist das auch zu anstrengend für mich?"
"Ich habe gelesen..."
"Und ich bin schwanger! Ich weiß genau, wie es ist, schwanger zu sein! Und ich weiß genau, was ich mir zumuten kann und was nicht! Also, wann ist die Beerdigung von King?" George blieb einen Moment still.
"Die war gestern Nachmittag", murmelte er. "Ich muss heute wirklich nur aufräumen."
"Das überlässt du InfoBellington. Es ist seine Kapelle."
"Aber ich habe..."
"Du hast deiner schwangeren Frau jeden Wunsch von den Lippen abzulesen - verstanden?" Bevor George antworten konnte, ging die Küchentür auf.
"Oh, eheliche Zweisamkeit. Das erklärt den aufsteigenden Brechreiz." InfoMarx wäre nicht Marx, wenn er den komplett falschen Moment für seinen Auftritt gewählt hätte. "Was gibts zu essen?"
"Bedien dich."
"Geräucherter Fisch und saure Gurken? Ist nichts anderes mehr übrig?" Lutetia starrte auf den Tisch. Es war tatsächlich nichts anderes mehr da und George hatte die ganze Zeit in sicherem Abstand am Spülstein gestanden - was bedeutete... Lutetia hoffte, dass nicht sie zunahm, sondern das Kind. Marx legte einen grünen Zettel auf den Tisch und griff nach den Gurken.
"Was ist das?"
"Hing am Burgtor. Mit einer Reißzwecke an das historische Holz genagelt. Manche Menschen haben keinen Sinn für Kultur." Lutetia schnappte sich das Papier.
"Wir laden ein", las sie laut, "zur Eröffnung unserer Galerie. Lassen Sie sich verzaubern von Werken auserlesener Künstler wie Miro, Picasso, Valence und Kubitsch."
"Eine Galerie? In diesem Nest? Was für Idioten", sagte Marx, während er unbeirrt weiterkaute.
"Das ist in der Tat ungewöhnlich", murmelte Lutetia. "Eine Galerie mit Künstlern von Weltrang in einem Städtchen wie Borough..."
"...von gar keinem Rang", warf Marx ein.
"...dürfte sich nicht lange halten."
"Künstler sehen nicht aufs Geld", sagte George, der ebenfalls einen Blick auf die Einladung warf.
"Galeristen sind keine Künstler. Die wollen Geld verdienen."
"Die hier sind beides", bemerkte George und tippte auf die Namen der Inhaber: Ricardo und Stephano Valence. "Die stehen in einer Reihe mit Miro und Picasso."
"Zumindest was ihre Selbsteinschätzung angeht. Ich hab noch nie von einem Valence gehört."
"Oder einem Miro." Ein schneller Blick genügte um sicherzugehen, dass Marx keinen Scherz machte. George räusperte sich.
"Miro, Joan, geboren 20. April 1893, gestorben 25. Dezember 1983. Einer der bedeutendsten Vertreter des Surrealismus und der abstrakten Kunst. Besonders bekannt für seine imaginären Landschaften und seine Traumbilder. Laut Encyclopedia Britannica."
"Wenn ich einen Lexikoneintrag will, sehe ich selber nach." Lutetia zuckte mit den Schultern und las weiter.
"Lassen sie sich entführen in eine Welt des Surrealismus jenseits ihrer Erfahrungen. Werden Sie gefesselt von der Verbindung klassischer Motive in den Formen moderner Kunst. Freuen sie sich auf die Weltpremiere des neuesten, atemberaubenden Werkes des weltbekannten Malers Ricardo Valence." Lutetia legte den Zettel vor sich auf den Tisch. "Eine solche Anhäufung von Adjektiven müsste verboten werden."
"Malen und schreiben zu können wäre wahrscheinlich zu viel verlangt."
"Andererseits ist hier sonst nichts los. Wann ist die Eröffnung?"
"Heute Abend."
"Nun George, möchtest du mich zu diesem kulturellen Höhepunkt einladen?" George zögerte.
"Ich bin mir nicht sicher. Die Farbdämpfe könnten..." Ein Blick zu Lutetia und George wusste, dass für ihn die falsche Antwort größere Gesundheitsrisiken bedeutete als irgendwelche Farbdämpfe. "Aber ich denke, dass können wir riskieren. Wir bleiben eben nicht so lang."
"Und was die Arbeit angeht", sagte Lutetia, während George zappelte wie ein Fisch, der es trotz aller Anstrengung doch nicht vom Haken geschafft hatte, "ich könnte den Telefondienst übernehmen." Auf Georges Gesicht zeichnete sich deutlich ab, wie er im Geist alle potentiellen Gefahren für seine Frau und das Baby durchging, die durch langes Sitzen vorm Telefon und anschließenden Gesprächen an demselben entstehen konnten. Und dass er keine fand.
"In Ordnung. Und ich..."
"Meinetwegen. Du darfst die Kapelle ausfegen." George verschwand sichtbar erleichtert. "Und du, Marx, räumst die Küche auf. Hier sieht es aus wie im Schweinestall."
Nachdem die langen und kontinuierlichen Bemühungen der ehemaligen Haushälterin InfoBrenda ihrem Chef InfoHarold das Jawort abzuringen, vor ein paar Monaten endlich von Erfolg gekrönt wurden, litt die Haushaltsführung enorm. Da beide zur extrem seltenen Spezies der leidenschaftlichen theoretischen Mathematiker gehörten, blieb für profane Dinge des Lebens kaum Zeit. Lutetia war froh, dass sie wenigstens die körperliche Hygiene nicht vernachlässigten. Marx dagegen hatte sich mit seiner neuen Rolle noch nicht abgefunden.
"Wer hat mich eigentlich zur Putze bestimmt?"
"Brenda, Harold, George und ich."
"Ich hätte da auch gern ein Wort mit geredet."
"Dann wäre es statt vier gegen null mit vier gegen eins entschieden worden. Und nun hopp, hopp! Ich muss los."

Auch wenn sie es sich George gegenüber nicht allzu sehr anmerken lassen durfte, Lutetia freute sich auf den Telefondienst. So würde ihr keine Leiche mehr durch die Lappen gehen. Die Freude erhielt einen kleinen Dämpfer, als sie Georges Notiz fand.
"Telefondienst erst ab morgen! Ich möchte, dass du dich ausruhst. Galerieeröffnung kann anstrengend sein." George hatte es vorgezogen, schon weit weg zu sein, bevor Lutetia den Zettel fand. Schlaftabletten waren gut, ging es ihr durch den Kopf. Sie töten nicht schnell, aber schmerzlos. Schließlich war George der Vater ihres ungeborenen Kindes.

"Sieht abgefahren aus", urteilte InfoInga Swanson später am Vormittag über die zukünftige Galerie, die auf der Route des Spaziergangs mit ihrer Schwester lag. Die beiden über siebzigjährigen Damen standen vor der angegebenen Adresse und sahen fast nichts. Die Schaufenster des ehemaligen Antiquitätenladens waren mit Tüchern verhängt und die Tür mit blickdichten Rollläden abgesichert. Jemand hatte sich viel Mühe gegeben, hier eine Überraschung vorzubereiten, die er sich nicht verderben lassen wollte. Dabei hatte er nicht mit jemanden vom Schlag der Swansons gerechnet.
"Finde ich auch!"
"Wo haben wir so was zum letzten Mal gesehen?"
"Bei der Altpapiersammlung in der Schule." Die Tür schwang auf. InfoBarbara hatte einfach die Klinke runtergedrückt, festgestellt, dass nicht abgeschlossen war, die Galerie betreten und mit der Beurteilung dessen begonnen, was sie sah. Sofort kam aus den Tiefen des Ladens ein Mann geschossen.
"Wir haben geschlossen! Haben sie das Schild nicht gelesen?"
"Ich habe meine Brille vergessen. Barbara, ich dachte, du bist heute fürs lesen zuständig!"
"Wir haben noch nicht fürs Publikum geöffnet. Wir stecken noch mitten in den Vorbereitungen."
"Deshalb hängen keine Bilder an den Wänden." Der Mann sah sich panisch um.
"Was fehlt?"
"Die Bilder", antwortete Inga. "Diese seltsamen Krakel markieren bestimmt die Stellen, wo die richtigen Bilder hinsollen, oder?" Verwirrung ergriff den Mann. Das passierte den meisten, die zum ersten Mal mit den Swansons konfrontiert wurden.
"Soll das die Mona Lisa sein?" Barbara hatte den Moment der Unaufmerksamkeit genutzt und war tiefer vorgedrungen.
"Das letzte Mal haben wir sie im Louvre gesehen", bemerkte Inga. "Vor zwei Tagen."
"Das da ist nicht das Original. Das ist eine Kopie. Man merkt es sofort."
"Da ist nämlich ein kleiner Fehler."
"Wieso? Gibt es in Italien keine Satellitenschüsseln auf den Häusern?"
"Ihre Gesichtsfarbe ist nicht lila." Der Mann hatte die Schwestern inzwischen wieder eingeholt.
"Das ist keine Kopie! Das ist eine Interpretation."
"Eine Interpretation. So so. Mona Lisa auf LSD?" Ein paar Augenblicke nachdenklichen Schweigens vergingen. "Was ist der Unterschied?"
"Kommen sie zur Eröffnung der Vernissage. Mein Bruder wird ihnen das Bild dann gern erklären."
"Ihr Bruder?"
"Ricardo Valence. Sie werden bestimmt schon von ihm gehört haben."
"Nicht dass ich wüsste." Ihr Gegenüber atmete tief ein. Lang genug, um bis Zehn zu zählen.
"Müsste man ihn kennen?" Wieder einatmen. Diesmal hätte er es bis Hundert geschafft. Ob er überhaupt zählte, war natürlich reine Spekulation. Die Schwestern waren an den Zählkünsten anderer nicht interessiert.
"Ricardo steht mit den bekanntesten Malern in einer Reihe."
"Auf diesem Zettel hier?" Barbara hatte den grünen Flyer aus ihrer Handtasche gezogen. "Ja, da steht tatsächlich Valence zusammen mit Picasso und Miro."
"Die kenn ich auch nicht."
"Natürlich kennst du Picasso, Barbara! Das ist der alte Pinselschwinger, der dich mal mit einem Portrait von dir bezahlt hat."
"Der Typ, der nicht mal die Augen auf die richtige Nasenseite sortieren konnte?"
"Genau der."
"Picasso hat Sie gemalt?" warf der Mann ein, der seine Sprache wiedergefunden hatte.
"Ja, aber ich war nicht gut getroffen. Habs weggeworfen. Geht es Ihnen nicht gut? Sie röcheln so."
"Nichts! Nichts. Es ist nichts."
"Gut. Wer sind Sie überhaupt?"
"Stephano Valence. Ricardos Manager."
"Wenn ihr Bruder genauso gut aussieht wie sie, dann könnten wir uns gerne für ein Doppeldate verabreden." Stephano erstarrte für einen Moment, als ihm sein Gehirn eine bildliche Vorstellung des eben gehörten präsentierte.
"Es wäre uns eine Freude, Sie beide heute Abend bei der Vernissage zu begrüßen. Bis dahin haben wir noch sehr viel zu tun - wenn Sie uns entschuldigen würden..." Der unausgesprochene Rauswurf hing in der Luft.
"Hübsche Bilder", sagte Inga. "Ich denke, hier könnten wir uns wohlfühlen." Stephano kassierte den wohl anzüglichsten Blick, den er je bekommen hatte, als sie hinter ihrer Schwester den Laden verließ. Ein weiterer Mann tauchte aus den hinteren Bereichen des Ladens auf und wischte sich den Mund ab.
"Danke für deine Hilfe, Ricardo", zischte Stephano.
"Entschuldige die Verspätung. Bei der Stelle mit dem Doppeldate musste ich mich übergeben." Ricardo warf einen nachdenklichen Blick in die Richtung, in die die Swansons verschwunden waren. "Das waren also ein paar der pittoresken Einwohner dieses pittoresken Städtchens." Stephano hob die Schultern.
"Die würde ich eher als skurril bezeichnen. Solche Wracks sind ein Grund schwul zu werden." Ricardo hob erstaunt die Augenbrauen.
"Sind wir das nicht?"
"Nein. Diese Stadt verträgt nicht zu viel Fremdartigkeit. Wie kommst du voran?"
"Sehr gut. Mein Werk nähert sich der Vollendung."
"Ich bin nicht an deinem Werk interessiert. Wie weit bist du mit dem Auftrag?"
"Der wird rechtzeitig fertig sein", murmelte Ricardo und starrte immer noch geistesabwesend in die Leere. Erst das ungeduldige Fingertrommeln seines Bruders weckte ihn daraus auf. Er seufzte. "OK, ich setz mich ran. Ich frage mich, was er mit meinen Bildern macht. Die Farbe hat nicht mal Zeit richtig zu trocknen, bevor er sie verscherbelt."
"Du bist eben ein begnadeter Künstler."
"Das muss es wohl sein." Stephano drehte den Schlüssel im Türschloss um. Er wollte nicht noch einmal überrascht werden.

Zeit zurückzukehren. Der Mann sah sich in dem Zimmer um, in dem er die letzten Jahre verbracht hatte. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Holzregal. Eine Matratze auf dem nackten Fußboden. Genug, um ihn am Leben zu erhalten. Nicht genug, ihn zurückzuhalten. Zu wenig, um die Miete für die letzten sechs Monate zu rechtfertigen. Der Räumungsbescheid lag auf dem Tisch; morgen würden sie kommen. Er sah sich noch einmal um. Nicht aus Sentimentalität, sondern um sicherzugehen, dass er keine Spuren zurückließ. Für die Welt würde er aufhören zu existieren.

"Du siehst wunderhübsch aus", stellte George mit der für ihn typischen naiven Ernsthaftigkeit fest.
"Das sagst du immer."
"Weil es immer stimmt."
"Du würdest es auch sagen, wenn ich einen Kartoffelsack an hätte."
"Weil du auch darin wunderhübsch bist." Nicht dass Lutetia je Kartoffelsäcke tragen würde - die hatten die falsche Farbe. Ihre ganze Garderobe bestand aus schwarzen Kleidern - bei denen nur ein aufmerksamer Beobachter Unterschiede bemerken würde. Das hatte sie nicht daran gehindert, die letzte Stunde mit der Auswahl der geeigneten Kombination zu verbringen. George stand während der ganzen Zeit geduldig in der Ecke und beobachtete sie. Er war fertig angekleidet mit demselben Anzug, demselben weißen Hemd und derselben Fliege, die er bereits zu ihrer Hochzeit getragen hatte - und der für die nächsten zehn Jahre die geeignete Wahl für gesellschaftliche Anlässe jeder Art darstellen würde. Er sah aus wie die Vorlage für James Bond. Vorausgesetzt, James Bond hatte Segelohren, war rothaarig und bevorzugte eine Strubbelfrisur.
"Was hältst du davon?" Mit einer schnellen Drehung präsentierte Lutetia George ihre aktuelle Auswahl.
"Es umschmeichelt deine Figur, bringt dein Haar hervorragend zur Geltung und unterstreicht die Farbe deiner Augen." Lutetia erstarrte mitten in der Bewegung. So ein Satz war untypisch für George. Außerdem war da ein Hauch von Ironie in seiner Stimme. Oder Ungeduld? Aber der Blick in seinen Augen war unschuldig wie immer.
"Ich weiß nicht. Es fehlt noch etwas."
"Zeit? Die Eröffnung beginnt in einer halben Stunde."
"Warum wirst du immer so schnell ungeduldig?"
"Jeder Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde bringt uns dem Tode näher. Darum nutze die Zeit und verschwende sie nicht."
"Ich habe die Zeit nicht verschwendet", schnappte Lutetia. "Ich achte nur darauf, wie ich wirke. Wir können gehen."

Das Einzige, was eine Galerieeröffnung übertreffen konnte, wäre ein Besuch der Queen. Niemand wollte das verpassen. Lutetia merkte schnell, dass die gesamte Upper-Class von Borough erschienen war und genoss es, nicht selbst im Mittelpunkt zu stehen. InfoAmanda Wilson stand mit einem Glas Champagner in der Hand bei einem Unbekannten und unterhielt sich angeregt. Ihr lautes Kichern und die vertraulichen Gesten machten den Eindruck, dass sie schon einen gewaltigen Schwips hatte, aber ihre Augen waren klar, aufmerksam und registrierten jede Kleinigkeit, die um sie herum vorging. Die gewaltige Silhouette des Polizeichefs InfoMurdok McDuff dominierte das entgegengesetzte Ende des Raumes. Auch er hielt ein Glas Champagner in der Hand, aber eher, weil nichts Vernünftiges aufzutreiben war. Marx hatte das Buffet rekordverdächtige drei Sekunden nach Eintritt erreicht.
Die Valences hatten den ehemaligen Antiquitätenladen, das Büro des Inhabers und das dahinter liegende Lager zu einem einzigen, riesigen Saal umgebaut. Jede vertikale Fläche - und Dank beweglicher Stellwände gab es eine Menge davon - war mit Bildern behängt, unter denen meist ein kleines Schild auf Ricardo Valence als den Künstler hinwies. Aber der Flyer hatte nicht zu viel versprochen: Es gab tatsächlich einen Miro und einen Kubitsch zu bewundern - beide zusammen kaum größer als ein Handteller. Der Miro konnte auch ein eilig weggeworfener Putzlappen des Malers sein, den jemand - um Geld zu verdienen - auf eine Holzplatte gespannt hatte. Der Hinweis, dass der Preis auf Anfrage genannt würde, bedeutete, dass diese Idee für den Putzlappensammler extrem profitabel war. Lutetia betrachtete die Bilder der Reihe nach. George wurde auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung wie ein Unsichtbarer behandelt - niemand wollte sich mit einem Totengräber unterhalten. Etwas davon hatte auf Lutetia abgefärbt1. Ungestört konnte sie ihren Gedanken nachgehen und die Bilder sowie ihre Bewunderer betrachten. Sie hörte einzelne Gesprächsfetzen wie Luftblasen im Champagner über die Hintergrundgeräusche aufsteigen und platzen.
"...Wundervoll...Dieser Ausdruck...Diese Kraft... Was für eine Lebendigkeit!..."
Lutetia fragte sich, worüber diese Leute redeten. Die Bilder waren kaum mehr als ein paar mit einem klecksenden Pinsel sinnfrei hingekrakelte Linien. Das einzig phantasievolle an Valence Werken waren Titel und Preis; Ausdruck und Kraft geschweige denn Lebendigkeit konnte sie in keinem entdecken - ebenso wenig wie ihren Schöpfer. Lutetia vermutete, dass der Maestro einen effektvollen Auftritt plante, der etwas mit der Enthüllung der drei zentral aufgestellten, mit Tüchern verhangenen Staffeleien zu tun hatte. Im Hintergrund hob sich plötzlich die Stimme einer älteren Dame ab. Als Lutetia die Verursacherin fand, hakte die sich gerade bei einem dadurch peinlich berührten jungen Mann unter.
"Ich bin Amanda Wilson. Vorsitzende des Vereins zur Förderung der bildenden Künste und Malerei in Borough. Sie müssen Stephano sein. Ich habe schon viel über sie gehört." Der junge Mann lächelte.
"Wirklich? Und sie sind trotzdem gekommen?" Amanda kicherte.
"So ein Schelm! Ich freue mich, dass Sie Borough gewählt haben. Hier auf dem Land ist es schwer, namhafte Künstler zu bekommen. Wie sind Sie denn gerade auf unser kleines Städtchen gestoßen?"
"Die Ruhe und Stille hier. Mein Bruder braucht das, um sich auf seine Kunst zu konzentrieren."
"Wie wahr, wie wahr." Amanda würde erst von dem jungen Mann ablassen, wenn nicht die geringste Information mehr aus ihm rauszuquetschen war. In dieser Hinsicht glich Amanda einem Vampir, der seinem Opfer auch den letzten Tropfen Blut aussaugt. Amanda Wilson war die graue Eminenz der Stadt, ohne Mann, seit einigen Jahren ohne Kind und kontrollsüchtig. Die idealen Voraussetzungen für die Position der Klatsch- und Tratschzentrale. Doch nun schob sich etwas anderes nach vorn und alles, was bisher Vordergrund war, wurde nun Hintergrundmakulatur.
"Genau das Mädchen, das wir gesucht haben!"
"Wie schön dich zu sehen!"
"Auch begeistert von dieser Kunst?" Die Swansons hatten die Galerie betreten und direkten Kurs auf Lutetia genommen, andere Galeriebesucher zur Seite schiebend wie Eisbrecher kleine Stücke Arktis. Lutetia atmete auf. Die Offenheit der Schwestern hatte etwas Erfrischendes. Deren letzte Frage klang eher wie ein Scherz, als könnten sie es kaum erwarten, laut loszulachen.
"Ohne Zweifel. Dieses Werk hier ist außergewöhnlich. Ich spiele mit dem Gedanken es zu kaufen", antwortete Lutetia.
"Echt?" Das Entsetzen der Swansons war nicht gespielt. Lutetia deutete auf die Plakette unter dem Bild.
"Siebzig mal fünfzehn. Ich hab einen Wasserfleck im Schlafzimmer. Das wäre die perfekte Abdeckung." Die Swansons atmeten vernehmlich auf.
"Wir hatten schon gedacht, mit unserem Kunstverständnis ist was nicht in Ordnung."
"Wie die von dem Schund leben wollen, ist mir ein Rätsel."
"Solche Sachen kann man vielleicht in London loswerden."
"Da gibt es genug Idioten mit Geld."
"Hier gibt es nur Idioten oder Geld. Nicht beides zusammen. Barrabas - wie schön dich zu sehen!" Der gealterte Schauspieler und Opernsänger und Boroughs einziges Stück Glamour, lächelte gequält, als die Swansons ihn in Beschlag nahmen. Lutetia sah sich um. Marx hatte das Abräumen des Buffets rechts begonnen und hinter sich nur leeres Geschirr übrig gelassen. Die anderen Gäste waren damit beschäftigt, gesehen zu werden. Sogar Lutetia hatte in diesem Gewimmel Schwierigkeiten, George zu finden, der nahezu unsichtbar in einer Ecke stand und eins der Bilder studierte. Lutetia ging zu ihm hinüber.
"Was hältst du davon?"
"Einige Sachen sind interessant. Das dort zum Beispiel." Lutetia sah auf das Bild, auf das George deutete.
"Das ist ein blauer Punkt auf schwarzem Hintergrund", sagte Lutetia. George zuckte mit den Schultern.
"Für andere ist es der Mittelpunkt des Universums." Lutetia zog konzentriert die Augenbrauen zusammen.
"Der Mittelpunkt des Universums ist ein schwarzes Loch mit gewaltiger Massenkonzentration. Wobei sich die Physiker und Astronomen da noch nicht einig sind." George seufzte mitleidig.
"Dieser Punkt ist die Erde. Wir sind der Mittelpunkt des Universums."
"Die Erde liegt am äußeren Rand einer relativ kleinen Galaxie. Da ist garantiert kein Mittelpunkt drin." George sah seine Frau zweifelnd an.
"Du willst nicht verstehen, was der Künstler damit sagen will, oder?"
"Aber es ergibt keinen Sinn! Warum nimmt er nicht seinen Pinsel und schreibt auf die Leinwand: 'Wir sind der Mittelpunkt das Universums?' Warum macht er einen blauen Klecks auf schwarzes Papier? Jeder Hanswurst kann das. Und anschließend behaupten, es verberge sich eine große Botschaft dahinter."
"Damit sich jeder Betrachter seine eigenen Gedanken machen kann. Jedem sagt das Bild etwas anderes."
"Wenn man mit einem Bild jedem was sagen will, sagt man im Grunde gar nichts."
"Das ist eine interessante... Meinung", bemerkte eine Stimme hinter ihr. Die gehörte zu einem Mann, dessen Alter sich dank der Hilfe von Schönheitschirurgen und Sonnenbänken nicht schätzen ließ und der es offensichtlich geschafft hatte, sich aus Amandas Umklammerung zu befreien. Die schwarzen, öligen Haare und die gebräunte Haut deuteten auf einen Südländer hin, sein Akzent auf Glasgow. Sein Anzug zeigte, dass er eine Menge Geld verdienen musste und seine Hände, dass er das nicht mit harter Arbeit tat. Diese Hände konnten einem Makler oder einem Taschendieb gehören.2 "Stephano Valence. Der Nicht-Künstler." Stephano lachte über seinen eigenen Scherz wie jemand, der stundenlang vorm Spiegel den Effekt seiner Worte und Gesten geübt hatte mit dem Ziel, vertrauenserweckend und gewinnend zu wirken.
"Lutetia Stubbs. Pragmatikerin. Und mein Mann George. Wie sind Sie so schnell von Amanda losgekommen?" Stephano lächelte gequält, als wollte er eine schmerzliche Erinnerung schnell verdrängen und ignorierte Lutetias Frage.
"Sie halten nicht viel von moderner Kunst?"
"Ich halte nicht viel davon, Leute zu veralbern. Ein paar Striche auf die Leinwand zu werfen und ihnen eine tiefere Bedeutung zu unterstellen kann jeder."
"Zweifellos. Sie so auf die Leinwand zu bringen, dass jeder darin etwas anderes sieht, das ist schon schwieriger."
"Ich sehe darin eine Verschwendung von Leinwand, Farbe und Zeit."
"Wie sie meinen." Stephano lächelte das strahlende Lächeln, mit dem Verkäufer jeden beschenken, bei dem nichts zu holen ist. Während des Gesprächs waren die Hintergrundgeräusche verebbt. Köpfe wurde gedreht, Hälse gereckt - möglichst unauffällig, um nicht wie ein Spanner auszusehen - und dieser Mann gemustert, der in Borough so fehl am Platz wirkte wie ein Schwan auf einem Hausdach3. Das Auftauchen der Valence-Brüder würde die Gesellschaft des Städtchens durcheinanderschütteln wie ein Erdbeben, bis sich eine Lücke gebildet hatte, in die sich die beiden Männer einnisten konnten. In dreißig oder vierzig Jahren wären sie in die Gemeinschaft integriert. Bis dahin würden sie ein unerschöpfliches Gesprächsthema bilden. Und bis zu diesem Moment kannten alle nur Stephano.

Gegen Ricardo war er gar nichts.

Kapitel 2

Stephano hatte sich unter die Gäste gemischt, hier und dort ein paar Worte gewechselt, die Stimmung aufgeheizt und Erwartungen geweckt, auf Ricardo Valence, das Genie, den Künstler, den Übermenschen. Als Ricardo auftauchte, verwandelten sich die verstummten Gespräche in ehrfürchtige Stille. Er betrat nicht den Raum - er erschien. Eingehüllt in eine Aura weltentrückter Unnahbarkeit und einen grünen Seidenanzug, der ihm selbst beim Christopher-Street-Day die vollste Aufmerksamkeit garantiert hätte. Dazu hatte er einen weißen Kaschmir-Schal über die Schultern geschwungen und einen so distinguierten Gesichtsausdruck aufgesetzt, bei dem selbst die Queen Hemmungen haben würde, ein Wort an diesen personifizierten Kunstgott zu richten. Sofort war Stephano an seiner Seite. Mit lauter Stimme verkündete er:
"Sehr geehrte Damen und Herren: Ricardo Valence!" Falls die Beiden mit tosendem Applaus oder ähnlichen rechneten, hatten sie sich in der Mentalität der Borougher Einwohnerschaft gründlich getäuscht. Die stand schweigend da und taxierte die Brüder wie ein paar exotische Schmetterlinge. Und versuchte zu herauszufinden, wie man die am besten mit der Stecknadel aufspießt, um sie in der heimischen Sammlung zu platzieren. Nach ein paar Augenblicken Stille räusperte sich Stephano.
"Wir freuen uns, dass so viele unserer Einladung gefolgt sind. Natürlich ist uns bewusst, dass Ricardos Werk außergewöhnlich und weit über die Grenzen von London bekannt ist, aber selbst hier... davon sind wir - natürlich angenehm - überrascht."
"Davon, dass es selbst am Arsch der Welt Leute gibt, die wissen was ein Pinsel ist?" murmelte Marx. Er war neben Lutetia getreten und hielt auf seinem Teller die Überreste des Buffets. "Die sind doch alle nur hier, weils was zum Futtern für lau gibt."
"Diese Chance dürften sie verpasst haben."
"Vielleicht wird sich der eine oder andere gefragt haben", fuhr Stephano fort, "warum ein so weltbekannter Künstler wie Ricardo London verlässt und sich in Borough niederlässt, einen Ort so..."
"Verlassen? Abgeschieden?" schlug Marx vor.
"...pittoresk. Nun die Antwort ist einfach."
"War Ihnen die Polizei auf der Spur?" Jemand hatte den Satz als Scherz laut ausgesprochen. Stephano zuckte zusammen, aber er hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. Ein unaufmerksamer Beobachter hätte nichts davon bemerkt.
"Was für ein amüsanter Einwurf. Nein, nach einer Phase unerschöpflicher Kreativität spürte Ricardo, dass er eine Veränderung brauchte, um sein Hauptwerk abzuschließen. Dieses Werk - ein Meilenstein in der Kunstgeschichte - ist ein radikaler Einschnitt in seinem bisherigen Schaffen. Es gibt nichts Vergleichbares und der Einfluss der schottischen Landschaft und des Lebens hier haben es Ricardo ermöglicht, sein Meisterwerk zu beenden. Und, meine Damen und Herren" - Stephano machte eine wohldosierte Pause - "heute werden sie zum ersten Mal einen Blick darauf werfen dürfen!" Auch das Raunen, das jetzt durch die Menge gehen sollte, blieb ungeraunt. Ricardo hatte neben den verhüllten Staffeleien Aufstellung bezogen, hibbelig wie ein Kind nach drei Flaschen Apfelsaft ohne Klo in Sicht. Aber sein Bruder war noch nicht fertig. Er wirkte wie ein Zirkusdirektor, der seinem Publikum die Attraktion des Abends anpreist. "Liebe Gäste, sie alle kennen Vivaldis Vier Jahreszeiten, diesen grandiosen Mittelpunkt der Musik. Nun ist die Kunst bereit für einen neuen Zyklus: Ricardo Valences Vier Jahreszeiten! Und heute stellen wir ihnen den ersten Teil vor: Winter!" Er nickte kurz und Ricardo zog an den Laken, die sich4 aufbauschten und langsam zu Boden sanken.
Die Blicke der Anwesenden wanderten auf die Leinwände, dann auf die Valences, dann zurück auf die Leinwände. Falls das ein Witz war, hatte ihn keiner verstanden. Falls das große Kunst war, wollte sich niemand durch seine Meinung als Banause bloßstellen.
Der Zyklus hieß Winter. Winter bedeutet Schnee. Schnee ist weiß - soweit konnten alle folgen. Was an drei rein Weiß bestrichenen Flächen Kunst sein sollte, entzog sich ihrer Kenntnis.
"Was ist daran Kunst?" nuschelte Marx mit dem Mund voller Schinkenröllchen.
"Jemandem dafür Geld aus der Tasche zu ziehen." Lutetia hatte sich nicht bemüht, leise zu sprechen und erntete dafür einen wütenden Blick von Stephano. Schließlich begann jemand zu applaudieren. Ein paar folgten halbherzig und zögernd breitete sich das Geräusch aus - niemand wollte Spielverderber sein. Offenbar hatte jemand beschlossen, dass das hier wirklich Kunst war.
"Formidable!" rief eine Stimme aus der Menge. Lutetia hatte InfoHomestetter als ihren Ursprung erkannt, der in der kulturellen Gemeinde von Borough so viel galt wie der Einäugige unter Blinden. Er drängte sich durch die Neugierigen nach vorn, bis er neben Ricardo stand. Mit ihren künstlerisch um die Hälse geschwungenen Schals sahen sie aus wie Brüder im Geiste. Vertraulich legte Homestetter seine Hand auf die Schulter des Malers. "Sie werden es nicht wissen, mein lieber Ricardo, aber zu meiner Zeit war ich nicht nur der bekannte Opernstar und Schauspieler, dem die Welt zu Füßen lag, sondern auch ein feinsinniger Kunstkritiker, auf dessen Wort Galerien und Museen hörten." Und nach einer Pause, in der er begriff, was er gerade gesagt hatte, fuhr er fort: "Um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: das tun sie immer noch! Auf mich hören, meine ich." Homestetter - nun sicher, dass er wieder im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stand - warf einen Blick auf die Bilder und entrang sich einen inbrünstigen Seufzer. "Dieser Mut! Diese Kraft! Es gehört viel dazu, damit an die Öffentlichkeit zu treten." Homestetter schwieg ergriffen. Ricardo lächelte gequält. Er konnte mit dem alten Mann, der sich an seinen Arm klammerte, nicht viel anfangen. Sein Bruder verfolgte Homestetter mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen. Eine nahezu heilige Stille senkte sich über den Raum, bis sich jemand räusperte.
"Und was kostet das Zeug?" Kunst auf ein derart irdisches Niveau zu reduzieren, kam einem Sakrileg gleich. Aber Stephano war auch Geschäftsmann und hatte in seinem Büro Dossiers über die bedeutendsten Borougher Bürger5. Sakrileg hin oder her: John Smith, Wirt des einzigen Pubs in Borough, hatte Geld. Das entschuldigte vieles. Stephano lächelte.
"Dieses Werk ist unbezahlbar. Wie sollte man seinen Wert in Zahlen ausdrücken? Wie will man Kunst bewerten?"
"Sechs Quadratmeter Leinwand. Dazu weiße Deckfarbe. Krieg ich für fünfundzwanzig Pfund im Baumarkt", erwiderte Smith. Ein kollektives, scharfes Einatmen zeigte, dass der Punkt an ihn gegangen war. Stephanos Lächeln verlor an Temperatur.
"Wir in der Welt der Malerei" - seine Betonung ließ darauf schließen, dass es sich bei Wir um eine höhere Lebensform handelte - "wissen, dass Kunst mehr ist, als die Summe der Zutaten. Was ist ein Buch? Ein paar bedruckte Blätter Papier? Was ist ein Bild? Etwas Leinwand und Farbe? Nein, es ist mehr: Es ist das, was uns Menschen über die Tiere erhebt, die direkte Verbindung zwischen dem Fleisch und dem Göttlichen." Stephano ließ seine Worte ein paar Augenblicke lang wirken. "Wir haben uns entschlossen, den Zyklus Der Winter zu versteigern. Sie sind herzlich eingeladen, sich an der Auktion zu beteiligen. Das Mindestgebot beträgt zweihundertsechsundfünfzigtausend Pfund." Die noch junge Stille wurde von einem lauten Scheppern unterbrochen. Marx war der Teller aus der Hand gefallen.

Stephano wartete, bis sich seine Worte gesetzt hatten und die ersten Zuhörer wieder zu atmen anfingen.
"Ricardo und ich sind uns bewusst", fuhr er mit einem strahlenden Lächeln fort, "dass eine Auktion diesen Ausmaßes international Aufsehen erregt. Die Versteigerung wird deshalb nicht heute Abend stattfinden, sondern erst in vier Wochen. Bis dahin haben Sie, verehrte Gäste, ausreichend Gelegenheit, dieses Meisterwerk hier in der Galerie eingehend zu betrachten. Sie können..."
"Liebe Freunde!" unterbrach ihn Homestetter. Jeder konnte an Stephanos Gesicht sehen, dass Homestetter alles andere als ein Freund war. Und es auch nie werden würde. "Es ist mir eine Ehre, solch aufstrebenden, jungen Talenten zur Seite zu stehen und alle Hilfe zuteil werden zu lassen, die in meinen bescheidenen Kräften steht. Natürlich habe ich noch ein paar Kontakte in die Londoner Kunstwelt und was könnte dieser Auktion mehr Glanz verleihen, als die Expertise eines Auktionators von Sotheby! Ich werde meinen alten Freund Peter Thornton gleich morgen früh anrufen und herbitten." Stephanos Gesichtsausdruck war für Homestetter nicht zu entschlüsseln6 , deshalb winkte er gönnerhaft ab. "Danken Sie mir nicht. Ich tue das gern. Etwas Publicity wäre auch nicht schlecht. Ich denke, ich sollte ein paar meiner alten Freunde in der Fleet Street informieren."
"Das ist... mir fehlen die Worte", fauchte Stephano. "Das ist wirklich sehr großzügig."
"Nicht der Rede wert", winkte Homestetter ab. "Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ich wie Ihr Bruder ein unbekannter Künstler war."
"Wir sind nicht..." Aber ein Barrabas Homestetter in voller Fahrt ließ sich nicht so leicht aufhalten.
"Verehrte Damen und Herren, lassen Sie mich einen Toast ausbringen! Auf Ricardo Valence, den neuen Stern am Kunsthimmel! Füllt die Gläser, lasst uns trinken!" Egal was die Valences davon hielten - der letzte Vorschlag hatte die vollste Zustimmung der Gäste und ließ das Interesse an der Vernissage sofort wieder aufleben - wenn auch nicht das Interesse an den Bildern. Homestetter wartete, bis alle Gläser gefüllt waren und hob seinen Drink.
"Auf die Valences!"
"Auf die Valences!" antwortete der vielstimmige Chor der Anwesenden. Homestetter leerte sein Glas in einem Zug und röchelte. Drei Sekunden später war er tot.

Drei Minuten später waren alle Gäste auf nahezu magische Weise verschwunden.
"Erstaunlich. So gut wie die Bar noch gefüllt ist, hätte ich mehr Widerstand erwartet", bemerkte Lutetia.
"Die meisten mögen es nicht, in der Nähe einer Leiche zu sein."
"Wieso? Mir macht es nichts aus."
"Du bist Bestatterin. Und du bist..."
"Was?"
"Ach nichts." Die Tür klappte und Wodrow InfoCornwood betrat die Galerie.
"Ich habe gehört, es gab hier eine Leiche." Boroughs einziger Staatsdiener in Uniform hatte die bemerkenswerte Gabe, das Offensichtliche zu übersehen. Wahrscheinlich hatte er deshalb den Job bekommen. Lutetia zeigte nach unten.
"Sie liegt direkt vor Ihnen."
"Mrs. Stubbs, Sie sind schon bei der Arbeit. Ein natürlicher Tod?"
"Das hat Ihr Boss nach langer und gründlicher Untersuchung festgestellt." Cornwood schaute auf seine Uhr.
"Der Mann ist vor drei Minuten gestorben. Vier mittlerweile."
"Mr. McDuff ist bemerkenswert schnell."
"In der Tat." Lutetia zögerte einen Moment. Es ließ sich bei Cornwood nicht feststellen, ob er naiv oder beschränkt war. Lutetia tendierte dazu, Letzteres anzunehmen. Cornwood neigte sich zur Leiche und schnüffelte. "Das riecht sehr... chemisch."
"Alkoholisch, wenn man der Aussage Ihres Bosses folgt."
"Gilt Alkoholvergiftung als natürliche Todesursache?"
"Solange niemand ihm den Stoff mit Gewalt eingeflößt hat, ja. Und es gab genug Zeugen, die Homestetter den ganzen Abend dabei zugesehen haben, wie er sich volllaufen ließ." Cornwood sah sich in der Galerie um. In der leeren Galerie. Ricardo hatte einen künstlerisch vollendeten Schwächeanfall bekommen und war von Stephano in die Wohnung oben gebracht worden. Außer Lutetia und George war niemand mehr da.
"Die Stimmung war einfach weg, nachdem unser Freund seinen letzten Drink gekippt hatte." Cornwood warf einen Blick in die Runde. Er wirkte verloren und hilfesuchend und tat Lutetia ein wenig leid, aber Cornwood gehörte zu Murdoks Leuten und es war nicht gut, sich zu nah in den Einflussbereich des Polizeichefs zu begeben. Murdok McDuff mochte einen gemütlichen, harmlosen Eindruck machen. Aber den machen Flusspferde auch - und Flusspferde töten mehr Menschen als Krokodile.
"Dann scheint ja alles in Ordnung zu sein?" Cornwood schaffte es, aus allem eine Frage zu machen.
"Dürfen wir ihn mitnehmen?" fragte Lutetia zurück. Cornwood kratzte sich hinter dem Ohr.
"Wenn die Verwandten nichts dagegen haben."
"Ist mir nicht bekannt."
"Die wissen aber schon von dem hier?"
"Ich gehe davon aus, dass die zuständigen Behörden diese Aufgabe pflichtgemäß erfüllt haben.?"
"Woher soll ich das wissen?"
"Weil Sie der Polizist sind und das Ihr Job ist."
"Dann sollte ich mich wohl darum kümmern?" Lutetia seufzte.
"Das ist ein freies Land. Sie können tun und lassen was Sie wollen. Aber ja: Sie sollten sich darum kümmern." Cornwood ging in Richtung Tür, und stoppte, als ihm etwas einfiel. Er deutete auf Homestetter.
"Kann man den wiederbeleben?" Lutetia zog scharf Luft ein und sah zu George. Der schüttelte nur minimal den Kopf.
"Juristisch ein ganz heißes Pflaster. Stellen Sie sich vor, wir holen ihn zurück und er behält geistige Schäden? Wer übernimmt die Verantwortung?"
"Dann lassen Sie ihn so... tot, meine ich."
"Natürlich. Tod ist unser Geschäft. Nicht Wiederbelebung."
"Richtig", sagte Cornwood und eilte davon. Lutetia sah ihm noch lange nach und machte sich ihre Gedanken über den geistigen Verfall der Menschheit.
"Wenn Dummheit schmerzen würde, müsste er den ganzen Tag schreien."
"Sonst hätte Murdok ihm den Job nicht gegeben."
"Armer Teufel."
"Unterschätze ihn nicht. Er ist in Borough aufgewachsen. Ich denke, er weiß, woran er hier ist."

George hatte darauf bestanden, dass Lutetia im Büro blieb und jede körperliche Arbeit unterließ. Selbst das Hochheben des Telefonhörers gestattete er nur unter Vorbehalt. Lutetia sollte sich stattdessen vollkommen der Planung und Organisation von Homestetters Beerdigung widmen. Dessen Ableben avancierte zum gesellschaftlichen Höhepunkt des Jahres und ließ die Galerieeröffnung weit hinter sich. Die Valences konnten einem leid tun; so viel Mühe und eine Leiche stellte sie in den Schatten.
Andererseits hatte es Lutetia kaum nötig, den Telefonhörer hochzuheben, da sie in den seltensten Fällen dazu kam, ihn abzulegen. Homestetter war weder besonders beliebt noch gehasst - er lebte nur schon sehr lange in Borough. Deshalb gehörte es sich für jeden anständigen Nachbarn, ein angemessenes Maß Trauer zur Schau zu stellen. Alles andere wäre sozialer Selbstmord.
"Nein, Mrs. Gallecki, Mr. Homestetter ist noch nicht aufgebahrt. Natürlich wird es eine Möglichkeit zur Kondolenzbezeugung geben. Ich werde Sie sofort informieren, sobald die Aufbahrung stattfindet."
"Guten Morgen, Schätzchen, wie geht es?" fragte Inga, die aus dem Nichts erschienen war.
"Du hast nicht zufällig etwas Tee?" ergänzte Barbara.
"Mach dir einen. Ich würde es ja selbst tun, aber George bringt euch um, wenn er merkt, dass ich mich anstrenge."
"Uns? Wieso uns?"
"Mich liebt er."
"Ehemänner können nerven. Deshalb waren wir nie verheiratet." Die Swansons bildeten eine angenehme Abwechslung zum Rest der Borougher Bürgerschaft. Vor allem bildeten sie den einzigen Teil, der mit Lutetia im wahrsten Sinne des Wortes befreundet war.
"Als ich sagte Tee, meinte ich..."
"Keine Chance. George lässt Alkohol nicht mal in meine Nähe. Er meinst, schon der Geruch könnte dem Kind schaden. Selbst die Eröffnung gestern war grenzwertig. Wegen der Farbdämpfe."
"Das ist abgefahren."
"Übrigens: die Aufbahrung wird erst heute Abend sein. George ist noch nicht fertig." Die aufgekratzte Stimmung der beiden Schwestern verschwand plötzlich. Sie setzten sich auf die Besucherstühle vor dem Schreibtisch und schauten Lutetia ernst an.
"Deshalb sind wir hier."
"Wegen Barrabas."
"Etwas stimmt nicht."
"Der Mann hatte eine Konstitution wie ein Pferd."
"Und auch ein Ge..."
"Ich wills nicht wissen!" unterbrach Lutetia.
"Unmöglich, dass ihn ein Drink aus der Bahn wirft."
"Wir haben ihn schon gesehen... da war das gestern gerade mal leicht angeschickert."
"Laut McDuff war es ein natürlicher Todesfall."
"Wenn jemand mit einem blutigen Messer über einer Leiche steht, wäre es für ihn ein tragischer Unfall. Höchstens. Eine richtige Ermittlung würde Aufmerksamkeit auf Borough ziehen, und das will er nicht."
"Ihr habt also schon mit ihm gesprochen."
"Er hat uns rausgeworfen."
"Interessant, dass er euch überhaupt reingelassen hat."
"Wir hatten den Überraschungseffekt auf unserer Seite." Lutetia dachte nach.
"Ich weiß nicht, ob ich viel tun kann." Inga legte ihr die Hand auf den Arm.
"Du hast ein Händchen mit Leichen und es lenkt dich ab. Du wirst sehen, die Zeit vergeht wie im Flug."
"Gerade noch untersuchst du Barrabas Tod, und schwupps, da sind die Kinder im College."
Lutetia sah erschrocken auf.
"Wisst ihr was, was ich nicht weiß?"
"Überhaupt nicht."
"Wir finden es auch schön, dass du es auf die altmodische Tour ankommen lässt. Das Geschlecht erst nach der Geburt rausfinden und so was."
Lutetia wischte mit einer ärgerlichen Geste die Ablenkung zur Seite.
"Wie kommt ihr auf Kinder?"
"Wollt ihr nach einem schon Schluss machen? Macht viel zu viel Spaß, die Sache."
Lutetia entspannte sich ein wenig.
"So war das gemeint." Lutetia lehnte sich zurück und wartete, dass ihr Puls wieder in den Normalbereich zurückkehrte. Kinder! George würde durchdrehen. Etwas Ablenkung war vielleicht doch gar keine schlechte Idee. "Also unser Aushilfs-Caruso hatte eine Leber aus Stahl. Was hat ihn dann umgebracht? Habt ihr was Seltsames gesehen?"
"Nein. Wir sind gegangen, kurz nachdem wir dich getroffen hatten."
"Wir mussten arbeiten."
"Und unser Klient möchte anonym bleiben."
"Wer möchte das nicht?" Die Swansons waren wahrscheinlich die ältesten noch aktiven Dominas der Welt. Manche waren scharf darauf, von alten Damen verprügelt zu werden, aber keiner darauf, dass es öffentlich bekannt wird.
"Wo wir grad von Arbeit reden - wir müssen weiter."
"Ein Termin tagsüber?"
"Nein. Schönheitsschlaf nachholen. Das Geschäft ist hart."
"Und die Konkurrenz schläft nicht", bemerkte Lutetia. Die Schwestern erstarrten.
"Das ist ein Klischee."
"Sicher?"

"Mein Vorgesetzter ist wer?" Laurence Oliver erinnerte sich noch genau an das Gespräch vor sechs Monaten.
"Cyrill van Koch." Chief Elk grinste in sich hinein. Keine Frage, Oliver war der beste Mann seiner Truppe. Leider war er auch das menschliche Äquivalent einer Kanonenkugel im vollen Flug. Man wusste weder, wann er einschlug, noch wen es traf. Nur, dass es dort, wo er einschlug, in den nächsten Monaten und Jahren keine Spur von Kriminalität mehr geben würde. In manchen Fällen auch keine Spur von menschlichem Leben. Oder Leben im Allgemeinen.
"Die Schwuchtel mit der Klatsche?" Elk war kein besonders bösartiger Chief. Aber er genoss die Situation trotzdem. Oliver hatte es verdient, einen genauso verrückten und unzurechnungsfähigen Menschen vor die Nase zu bekommen, wie er selbst es war.
"Van Koch ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Kunst. Außerdem ist er normal, solange er regelmäßig seine Tabletten nimmt. Und er ist ein begnadeter Maler, was für diese Operation ein unschätzbarer Vorteil ist."
"Der Typ gehört in die Irrenanstalt!"
"Es gibt viele, die das gleiche von Ihnen behaupten."
"Idioten, die keine Ahnung haben, was auf der Straße los ist", knurrte Oliver.
"Aber die haben das Sagen."
"Ich würde denen..."
"Und genau deshalb gehören Sie nicht zu denen. Außerdem ist die Stimmung auf der Straße im Augenblick gerade nicht die Beste. Die Bevölkerung regt sich über die zunehmende Polizeibrutalität auf und der schnellste Weg, die zu senken, ist, Sie für ein Jahr von der Straße zu nehmen."
"Ein Jahr!" Oliver gelang es nicht, das Entsetzen aus seiner Stimme zu verbannen.
"Zwölf Monate. So lange ist die Operation angelegt."
"Wenn ich einen Mordfall nicht nach drei Wochen gelöst habe, soll ich ihn zu den Akten legen!"
"Hier geht es um Kunst. Und viel Geld. Bei ein paar Millionen im Spiel sind zwölf Monate kein Thema", sagte Elk und fügte nach einer Pause drohend hinzu: "Oder vierundzwanzig7."
"Diese Welt ist krank." Das wusste Elk. Doch diese Welt bot für einen Mann wie ihn auch Möglichkeiten und Elk hatte nicht vor, ewig Polizeibeamter zu bleiben - selbst wenn er der Polizeibeamte war, der ganz oben auf der Karriereleiter stand. Der nächste Schritt würde die Grenze in Richtung Politik durchbrechen - und dort war es gefährlicher als auf einem Minenfeld. Dorthin ging man besser nicht mit einer tickenden Bombe im Gepäck - und genau das war Oliver. Die Operation Raubkunst war auf zwölf Monate angelegt. Aber sie ließ sich problemlos auf zwölf Jahre verlängern, wenn es notwendig war, Oliver so lange von der Bildfläche verschwinden zu lassen.
"Ihr bekommt eine Spezialausbildung in Florenz. Kunst und Kunstgeschichte, Malerei, Techniken und so was. Damit euch nicht gleich jeder Freizeitganove enttarnen kann. In der Zeit bauen wir eine Legende auf. Dann geht es nach Borough."
"Italien?" Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten erhob sich ein leichter Hoffnungsschimmer in Oliver. "Da gibt's Mafia!"
"Die Sie in Ruhe lassen werden! Verstanden? Dort sind Sie Tourist, kein Polizist. Papiere und Tickets werden noch heute zugestellt. Sobald van Koch das Go gibt, geht es los und dann will ich Sie hier ein paar Wochen lang nicht sehen! Gehen Sie nach Hause und packen Sie alles Nötige zusammen. Und jetzt raus! Die Unterhaltung ist beendet!"
Die Art, wie Oliver die Tür hinter sich zugeknallt hatte, zeigte deutlich, dass dieser mit dem Gesprächsverlauf nicht zufrieden war. Elk lächelte trotzdem. Das Aufräumen in seiner Abteilung hatte gerade erst angefangen. Außerdem ging ihm ein Satz nicht aus dem Kopf: Da gibts Mafia! Nun ja. Jede politische Karriere erforderte das eine oder andere Opfer. Man sollte sich alle Optionen offen halten.

Nachdem die Schwestern gegangen waren, stemmte sich Lutetia aus dem Bürostuhl. Noch vier Wochen Schwangerschaft bei dieser Wachstumsrate und ich sehe aus wie ein Elefant, dachte sie. Schlimmer noch: ich fühle mich jetzt schon wie einer. Sobald sie einmal in Bewegung war, störte das nicht - es waren die Übergänge, die schwer fielen. Vom Liegen zum Sitzen, vom Sitzen zum Stehen. Die mangelnde Bewegungsfreiheit, die George ihr ließ. Eindeutig. Lutetia ging zur Treppe, die das Büro mit dem Krematorium verband.
Früher hatten sie das Büro direkt im Krematorium. Dort gab es einen kleinen Bereich für die Kunden, eine kleine, gemütliche Ecke für gemeinsame Stunden ohne Kunden und Georges Arbeitsbereich. Drei Tage, nachdem Lutetia George von der Schwangerschaft erzählt hatte, befand er, dass das Treppensteigen zu gefährlich für eine Schwangere wäre. Zu dem Zeitpunkt war die Schwangerschaft noch nicht von einer Magenverstimmung zu unterscheiden gewesen, trotzdem hatte George darauf bestanden, dass Lutetia sich schonen sollte. Und irgendwas musste er in den letzten Tagen mit der Treppe gemacht haben - Lutetia passte kaum noch durch den schmalen Gang.

Obwohl Lutetia George jeden Tag seit fast einem Jahr dabei zusehen konnte, wurde sie nie müde, es auch zu tun. George war nicht einfach nur Bestatter - er war ein Künstler und ein Genie, mindestens vom Rang eines Michelangelos. Der eine konnte Steine zum Leben erwecken, der andere Leichen. Zumindest optisch.
"Wenn der letzte Anblick, den du von einem geliebten Verstorbenen siehst, das Bild ist, welches du für den Rest deines Lebens im Herzen trägst", sagte er an dem Abend, als Lutetia ihn nach dieser Obsession gefragt hatte, "dann sollte dieser Anblick der Schönste sein, den es gibt. Schließlich ist diese Erinnerung das Zweitbeste, was wir von einem Verstorbenen behalten können." Lutetia wusste auch, was so einen Anblick übertreffen konnte. Der Kopf von Georges Mutter stand auf dem Regal in der Pausenecke. Und sie sah selbst Jahrzehnte nach ihrem Tod noch beneidenswert aus.
George ordnete etwas an Homestetters Kleidung - was konnte Lutetia nicht sehen. Aber Homestetter war in einem seiner früheren Leben Opernstar gewesen. Ein weißes Hemd, Weste, Fliege, Frack, das war das Mindeste, was er verdient hatte. Lutetia wusste, dass George solche Accessoires sogar aus eigener Tasche bezahlte, wenn die Hinterbliebenen nicht besonders zahlungskräftig waren. Und sie wusste, dass die Kunst, eine Fliege zu binden, ihre Fähigkeiten überstieg. George war so vertieft in seine Arbeit, dass er Lutetia nicht gehört hatte. Sie klopfte an den Türrahmen und George schrak hoch. Etwas zu schnell für ein normales Erschrecken.

Es hatte diese Ich-habe-etwas-zu-verbergen Geschwindigkeit.

"Hallo George!"
"Lutetia! Du hättest nicht hier runter kommen dürfen. Es ist viel zu anstrengend für dich."
"Ich brauche die Bewegung. Ich hab gelesen, dass Schwangere viel Bewegung brauchen." Ich hab gelesen war eine Zauberformel, die jegliches Gegenargument von George zu Staub zermalmte. "Außerdem wollte ich die Liebe meines Lebens sehen." George kam hinter seinem Tisch hervor und umarmte Lutetia.
"Das ist lieb." Ihr entging nicht, dass er dabei versuchte, sie von Homestetter wegzuschieben. Allerdings hatte sie mittlerweile um dreißig Pfund mehr als er und eine gehörige Portion Sturheit.
"Er sieht großartig aus. Wie Graf Dracula."
"Von Monte Christo. Ich hab ein paar alte Fotos von einer Aufführung gefunden, wo er ihn gespielt hat. Warte, ich hol sie! Oder nein, komm mit, sie liegen hinten. Da kannst du dich ausruhen." Ausruhen klang gut. Wirklich gut. Aber George erinnerte Lutetia an einen Vogel, der vor einer Katze herumhüpft und tat, als hätte er sich den Flügel gebrochen. Nur um das Raubtier vom Nest weg zu locken.
"Ich bleibe hier. Sonst schaffe ich den Rückweg nicht." George verschwand hinter dem Vorhang. Im gleichen Augenblick fuhren Lutetias Hände über Homestetters Leiche. Unter dem dünnen Stoff des Opernhemdes fühlte sie genau das, was sie erwartet hatte. Sie knöpfte das Hemd auf, verschränkte ihre Arme vor der Brust und wartete. George kam nach ein paar Augenblicken wieder nach vorn, sah Homestetter, sah seine Frau und sagte:
"Oh."
"Was hat das zu bedeuten?"
"Was genau?"
"Der Y-Schnitt. Homestetter wurde obduziert. Wer hat das angeordnet?"
"Niemand."
"Wie witzig. Wer hat die Obduktion durchgeführt?"
"Ich." Lutetia stutzte.
"Seit wann obduzierst du?"
"Ich habe diese Weiterbildung angefangen. Pathologie für Einsteiger. Sehr beliebt bei Bestattern."
"Warum habe ich nie was davon gehört?"
"Es ist nicht exakt das, womit man Werbung macht."
"Und warum tust du das?" Lutetia fixierte George mit zusammengekniffenen Augen, eine Technik, die sie über die Jahre an Ratten, Schlangen und Marx perfektioniert hatte. "Raus damit!"
"Menschen sterben aus ungeklärter Ursache. Besonders, seit du nach Borough gekommen bist."
"Willst du sagen, ich bringe sie um?"
"Natürlich nicht! Außerdem hast du in dreiundneunzig von hundertsieben Fällen ein Alibi."
"Danke für das Vertrauen. Und woran ist Homestetter gestorben?"
"An Verdünnung." Die Worte waren raus, bevor George merkte, dass Lutetia ihn reingelegt hatte. "Es ist nichts Offizielles! Ich kann mich geirrt haben! Ich habe kaum Erfahrung. Es ist erst meine..."
"Hundertsiebente Obduktion?" George wurde still.
"Ja."
"Also gut. Was vermutest du?"
"Homestetters letzter Drink. Es war Verdünnung."
"Ein Schluck reicht kaum, um ihn zu vergiften."
"Er reichte, um die Schleimhäute der Speiseröhre anschwellen zu lassen. Er ist erstickt. Das und der Schock. Ging ziemlich schnell."
"Klingt logisch."
"Ist aber nur Theorie."
"Sicher."
"Wer sollte so einen harmlosen, alten Mann umbringen?"
"Jemand, den er zu Unrecht verknackt hat, als er noch ein nicht so harmloser, korrupter Richter war?"
"Interessiert uns die Lösung?"
"Wenn nicht innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden eine weitere Leiche reinkommt, dann ja. Und bei der nächsten Obduktion will ich dabei sein."

Der Mann ging durch die Straßen von Borough. Er erkannte alles wieder: das Straßenpflaster, die Vorgärten, die Häuser, die Menschen. Sie waren alt geworden, hatten ihr Leben gelebt und sich verändert. Auch er hatte sein Leben gelebt und sich verändert. Niemand erkannte ihn.

In Hollow Close gab es eine neue Pension. Der Name der Betreiberin, Elizabeth Moon, sagte ihm nichts. Es waren Neuzugezogene, die nicht viele Fragen stellen würden. Die Frau klang am Telefon angenehm zurückhaltend. Er hatte sich als Hobbyornithologe aus London vorgestellt, der in Borough eine Woche Urlaub machte, um Bienenfresser zu beobachten, die es angeblich hier oben geben sollte. Deshalb wäre er auch den ganzen Tag und manchmal die halbe Nacht unterwegs. Es schien Mrs. Moon nicht zu interessieren. Die einzige Frage, die sie stellte, war, ob er die vierzig Pfund pro Nacht im Voraus bezahlte.

Hollow Close war so menschenleer und abgelegen, wie der Straßenname schon suggerierte. Der Nieselregen hatte selbst den letzten neugierigen Passanten vertrieben. Niemand sah, wie der Mann mit seinem Rucksack zielstrebig durch die Straße lief. Er drückte auf die Klingel der Pension. Ein paar Augenblicke später öffnete Mrs. Moon, eine korpulente Mittfünfzigerin. Londoner Vorruheständler, die sich ihren Traum vom Leben in der reinen Natur erfüllt haben, klassifizierte er. Und Borough, weil sie die Annehmlichkeiten der Stadt nicht ganz missen wollen. Theoretisch bot Borough die besten Voraussetzungen dafür. Solange man Borough nur aus Büchern, Reiseführern und Maklerprospekten kannte.
"Hallo, ich habe das Zimmer gemietet." Es dauerte einen Moment, bis ihr einfiel, dass sie jetzt die Rolle der bodenständigen Vermieterin spielen musste und das entsprechende Gesicht mit dem zugehörigen gewinnenden Lächeln aufsetzte.
"Oh ja, wir haben Sie schon erwartet. Kommen Sie doch rein, Mr... Ach Entschuldigung, jetzt habe ich ihren Namen vergessen." Ein Name. Er hatte selbst nicht an einen Namen gedacht. Aber er hatte Übung darin, sich Namen zuzulegen.
"Richard Throttle."
"Kommen Sie rein, Mr. Throttle. Es ist alles vorbereitet. Ich befürchte nur, wir müssen Sie jetzt gleich allein lassen. Mein Mann und ich gehen zu einer Aufbahrung. Ein ehemaliger Opernstar ist plötzlich verstorben und Sie wissen ja wie das ist. Wenn wir nicht hingehen, hält uns die ganze Welt für den Täter!" Mrs. Moon kicherte über ihren eigenen Scherz. "Die Wahrheit ist, wir sind hier erst zugezogen und so eine Aufbahrung ist eine wunderbare Gelegenheit, Menschen kennen zu lernen."
"Wie hieß der Sänger? Vielleicht kenne ich ihn." Mrs. Moon schaute sich um.
"Hier muss irgendwo die Zeitung liegen. Ah, dort ist sie. Barrabas Homestetter. Hier ist sein Nachruf, Sie können ihn gern lesen. Ihr Zimmer ist das hinten links. Ich muss leider wirklich los." Throttle nickte geistesabwesend und las den Artikel gründlich. Als er fertig war, legte er die Zeitung zur Seite und lächelte.

"Ich möchte der Welt etwas hinterlassen."
"Wenn du aufs Klo musst: raus auf den Gang, dritte Tür rechts", knurrte Murdok. Seit InfoWilbur seinen Bruder Murdok vor einer gefühlten Ewigkeit ins Bürgermeisterbüro zitiert hatte, faselte er vom Sinn seines Lebens. Das Problem war: es hatte keinen. Wilbur war Bürgermeister geworden, weil er gut aussah und lügen konnte ohne rot zu werden. Und weil er vernünftig genug war, die realen Geschäfte denen zu überlassen, die davon Ahnung hatten. "Ein Vermächtnis. Etwas von Wert, etwas, das bleibt. Etwas, was mich überlebt. Was hast du gerade gesagt?"
"Wo ist diese Hupfdohle, die sonst immer um dich rumspringt?"
"Keine Ahnung. Einkaufen wahrscheinlich. Die wichtigere Frage ist: Was kann ich der Menschheit zurückgeben?"
"Die fünfunddreißig Millionen Pfund, die du ihr im Lauf der Zeit geklaut hast?" Murdok sah unter den Schreibtisch. Vielleicht hatte sich die Blondine da versteckt. Bei Wilbur konnte man nie wissen.
"Ich meine etwas Ideelles."
"Dafür hast du mich rufen lassen?" Menschen waren für weniger gestorben, aber Blut war dicker als Wasser. Wenn - wie im Fall seines Bruders - auch nur geringfügig. Murdok inspizierte den Aktenschrank. Leer. Keine Akten, keine Frau. "Sie hat dich an die Luft gesetzt, oder?" Wilbur war nicht schwerer zu durchschauen als eine Klarsichtscheibe. Auf die das Wort MIDLIFE-KRISIS gesprüht war. Ja, in Großbuchstaben.
"Was kümmert mich schon die Unvernunft der Jugend?" Die philosophische Tour. Sie hatte ihm kräftig ins Ego getreten.
"Du warst ihr zu alt."
"Sie sagte, sie will das Feuer der Jugend spüren." Der Papierkorb war leer.
"Und das ist bei dir auf Sparflamme."
"Dein Mitgefühl ist erbärmlich", fauchte Wilbur. Hinter den Büchern stand nichts, die Pflanzen waren echt und nicht aus Plastik. Keine Verstecke. Der Aktenvernichter! Eins der wenigen Geräte, die Wilburs technisches Verständnis nicht überstiegen. Und vielleicht das einzige, ohne dass er wirklich nicht leben konnte. Zumindest in Freiheit.
"Dein Frauengeschmack auch. Das musste früher oder später passieren." Murdok öffnete den Abfallbehälter des Aktenvernichters. Drei Flaschen. Alle leer. Und alle drei hatten gestern Abend noch in seinem eigenen Büro gestanden, wartend auf den richtigen Zeitpunkt, geöffnet zu werden. Wilburs Krise war es eindeutig nicht.
"Ich habe überlegt, ob du ihren neuen Freund kastrieren könntest."
"Ich könnte, wenn ich wollte, aber ich will nicht. Zuviel Aufwand. Ist es nicht wert."
"Es geht um mein Wohlergehen!"
"Ich sagte doch: Ist es nicht wert. Außerdem kastriere ich dich, wenn du dich noch einmal an meinen Vorräten vergreifst - hast du das verstanden?" Wilbur nickte geistesabwesend.
"Ich werde ein Buch schreiben."
"Geht das jetzt los!" stöhnte Murdok. Bücher schrieben Leute, die nichts zu sagen hatten, aber das aus irgendeinem Grund in epischer Breite erläutern mussten.
"Und ich werde es nennen: Das Recht ist auf unserer Seite!"
"Seltsamer Titel für die Bekenntnisse eines Möchtegern-Casanovas."
"Es sind keine Bekenntnisse. Es geht hier um etwas Größeres. Es ist ein Buch über die unorthodoxe Finanzierung von Städten und Gemeinden." Murdok dachte, er hätte sich verhört.
"Über was?"
"Über die unorthodoxe Finanzierung von Städten und Gemeinden."
"Das passt nicht zu dir."
"Warum nicht?"
"Es klingt intelligent. Dazu braucht man Verstand und du hast keinen."
"Ich werde dich nicht in der Widmung erwähnen."
"Oh grausame Welt." Etwas in Murdoks Jacke piepste. Er schaute auf das Gerät und räusperte sich. "Ich muss gehen. Irgendwas ist in der Bibliothek."
"Hast du deine Bücher nicht zurückgegeben? Wir Schriftsteller reagieren auf so was sehr empfindlich!"
"Schlaf deinen Rausch aus. Und lass mich mit deinen hirnrissigen Ideen in Ruhe, ich habe zu arbeiten."

Kapitel 3

Die Arbeit in einem Bestattungsinstitut zeichnet sich durch Ruhe und Frieden aus. Menschen, die durch die Tür kamen, verfielen sofort in den Flüstermodus - auch wenn garantiert niemand da war, der aufgeweckt werden konnte. George übernahm den Umgang mit den Hinterbliebenen, spendete Hilfe und tröstete sie über ihren Verlust hinweg. Lutetia übernahm den Umgang mit den Hinterbliebenen, die vergaßen, ihre Rechnungen zu bezahlen und denen sie wesentlich größere Verluste in naher Zukunft in Aussicht stellte.
Alles in allem taucht Bestatter auf der Liste der neuntausendsiebenhundertdreiundachtzig beliebtesten Berufe nicht auf. An einem normalen Tag stellte das Klingeln des Telefons den Höhepunkt dar. Lutetia hob ab, bevor das Klingeln richtig begonnen hatte. Das verwirrte manche Anrufer, aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen.
"Burk und Stubbs Bestattungen."
"Kommen Sie in die Stadtbibliothek. Und zwar dalli." Lutetia hatte die Stimme sofort erkannt.
"Mr. McDuff. Schön von Ihnen zu hören."
"Bringen Sie kräftige Männer mit."
"Ich glaube, es gibt nichts, womit ich nicht allein fertig werden könnte."
"Peaches InfoCavanaugh?" Der Punkt ging an Murdok. Wer Peaches Cavanaugh leicht übergewichtig nannte, verwechselte auch schon mal Elefanten mit Gazellen. Die Bibliothek lag im ehemaligen Gefängnis und war nur über eine Treppe zu erreichen. Schwierig, den Gabelstapler dort hoch zu bekommen.
"Und beeilen Sie sich. Die Leser fühlen sich durch den Anblick belästigt." Freizeichen. McDuff war kein Mann langer Reden - zumindest nicht Lutetia gegenüber.

"Was ist passiert?" fragte Lutetia, als George und sie dreizehn Minuten später die Bibliothek betraten. Murdok McDuff war noch da und gab Wodrow Cornwood letzte Anweisungen.
"Woher soll ich das wissen? Ich war nicht dabei."
"Sicher?"
"Ich wüsste nicht, was Sie das angeht."
"Aufräumen und abschließen, Cornwood. Und passen Sie auf, dass die Beiden hier nur die Leiche mitnehmen und nichts sonst." Cornwood versuchte zu salutierten, aber McDuff war schon weg. Lutetias Mundwinkel verzogen sich befriedigt nach oben.

"Officer Cornwood, wie schön Sie zu sehen. Geht es Ihnen gut?" Die Frage war rhetorisch; dass Cornwood Schmerzen hatte, sah ein Blinder. Er stand da, schaffte es aber nicht, seinen Oberkörper mehr als neunzig Grad aufzurichten.
"Ich würde Ihnen nicht empfehlen, die Verstorbene ohne fachliche Hilfe anzufassen. Ich könnte meinen Cousin anrufen. Marc befördert normalerweise Pianos und Flügel, aber vielleicht hat er auch was für Schwertransporte da."
"Nein danke." Lutetia beugte sich nach unten, um mit dem Officer auf Augenhöhe zu kommen. "Können Sie sich grade hinstellen?"
"Ich glaube, wenn ich mich konzentriere und den Schmerz ignoriere, dann wäre ich..."
"Kurzfassung bitte."
"Nein."
"Das ist ungünstig, denn Sie stehen mir im Weg."
"Das tut mir wirklich leid." Cornwood war ein erstaunlicher Mensch. Selbst bei einem Amoklauf hätte er nicht vergessen, Bitte und Danke zu sagen. Außerdem hatte er einen Hang, sich für alles entschuldigen zu müssen. Lutetia sah, wie George ihr Zeichen zu geben versuchte. Es hatte etwas von Erlöse ihn doch von seinen Leiden! an sich.
"Ich führe Sie etwas zur Seite, damit wir unseren Job tun können. Spricht etwas dagegen? Muss die Spurensicherung noch ran oder soll sich ein Pathologe die Leiche ansehen?" Cornwood schüttelte den Kopf.
"Commander McDuff war sehr spezifisch. Er hat betont, dass es sich hier um einen natürlichen Todesfall handelt."
"Ich hätte nichts anderes vermutet." Cornwood sah am Rand seines nach unten gerichteten Blickfeldes Lutetia auf sich zukommen, mit dem Schuh an der Teppichkante hängenbleiben und stürzen. Instinktiv wollte er sie auffangen, richtete sich ein wenig auf, aber sie drehte sich eigenartig zur Seite. Dann spürte er ihr Knie in seinem Rücken und danach... gar nichts mehr.
"Danke, dass Sie mich aufgefangen haben." Cornwood stand da und überlegte, ob das Sarkasmus war. Dann fiel ihm auf, dass er stand. Er bewegte sich. Vorsichtig. Funktionierende Rückenwirbel: Vierundzwanzig. Schmerzende: Null. Er sah Lutetia an.
"Ich habe... Sie sind..."
"Muss die Schwangerschaft sein. Der Bauch ist schlecht fürs Gleichgewicht."
"Macht überhaupt nichts." Cornwood fasste sich noch einmal an den Rücken. "Ich soll hier noch aufräumen." Lutetia lächelte ihn an. Dieses Lächeln hatte etwas, was Cornwood wünschen ließ, ganz weit weg zu sein.
"Gehen Sie zum Arzt, wir machen das. Und treiben Sie Sport."
"Das ist..."
"Schlecht für den Rücken? Wollten Sie das sagen?" Cornwood ließ das Thema fallen. Er hatte gehört, dass Auseinandersetzungen mit Lutetia nicht zu gewinnen waren.
"Sind Sie sicher, dass Sie das alleine schaffen? So mit Ihrer Schwangerschaft und so?"
"Sind Sie sicher, dass Sie Ihr Gesicht noch brauchen?" Cornwood sah irritiert zu George. Seine Lippen formten lautlos das Wort Hormone? George schüttelte den Kopf.
"Ich kann Sie sehen", bemerkte Lutetia eisig. "Dieses Mal lasse ich es durchgehen, Officer! Wer hat sie gefunden?"
"Die Lesemäuse." Lutetia sorgte dafür, dass ihr Gesicht absolut nichts dem verriet, was gerade durch ihren Kopf ging.
"Kleine, graue Nager mit Brillen?"
"Nein. Vorschulkinder. Offenbar war Ms Cavanaugh eine Bibliothekarin mit Leidenschaft. Sie hat sich dafür eingesetzt, Kindern das Lesen näherzubringen."
"Muss ein Schock für die Kinder gewesen sein."
"Nicht wirklich. Von der Zwergenperspektive sah sie wohl nicht viel anders aus als sonst. Hätten sie ihr Gesicht gesehen, wäre das was anderes gewesen. Kein schöner Anblick. So haben sich die Kinder nur gewundert, dass sie ruhiger war als sonst."
"Danke, Officer."

Nachdem Lutetia den Officer nach draußen geschoben hatte, wandte sie sich Peaches Cavanaugh zu. Die Bibliothekarin hatte die Ausmaße eines Nilpferds, als Lutetia sie das letzte Mal gesehen hatte - und das war hundert Pfund her. Sie würden wirklich einen Gabelstapler brauchen. Sogar George stand ratlos vor der Verblichenen.
"Wie kriegen wir die weg?" George reagierte instinktiv.
"Du fasst sie nicht an! Ich will nicht, dass du dich überanstrengst."
"Ok."
"Wirklich?"
"Wirklich. Stimmt was nicht?"
"Normalerweise gibst du nicht kampflos auf."
"Ja, aber ich bin auch kein Idiot. Ich pflege ein inniges Verhältnis zu meinen Bandscheiben. Vor allem will ich, dass es ihnen gut geht. Irgendeine Vermutung zur Todesursache?"
"Ich würde auf das Hühnerbein in ihrem Hals tippen. Sie ist vermutlich erstickt."
"Natürlicher Tod also."
"Es spricht nichts dagegen."
"An einem Hühnerbein zu ersticken ist ein Anfängerfehler. Sie war Profi."
"Es gibt Berufssoldaten, die beim Waffen reinigen ums Leben kommen."
"Das hat immer so einen schalen Beigeschmack."
"Von Waffenöl?" Lutetia warf George einen tadelnden Blick zu. Stufe Drei auf einer Skala von Eins bis Zehn.
"Manchmal habe ich das Gefühl, du lebst schon zu lange mit mir zusammen. Die Frage ist: Warum stirbt jemand, dessen Passion das Vertilgen von großen Nahrungsmengen ist, genau an dem, was er am häufigsten macht?"
"Statistik. Gehen wir davon aus, dass ein Esser im Durchschnitt bei jedem hunderttausendsten Biss sich so verschluckt, dass er daran erstickt..."
"...dann gibt es Menschen, die ihr Leben lang nicht bis dahin kommen."
"Sie hat es offensichtlich geschafft."
"Würdest du sie trotzdem obduzieren?"
"Weißt du, was für eine Schweinerei das gibt?"
"Du könntest gleichzeitig das Fett rauskratzen und entsorgen. Dann passt sie in einen Standardsarg. Und in ein Standardloch. Wie willst du sonst ein Grab ausschaufeln?" George kratzte sich am Kopf.
"Ich hatte noch etwas Dynamit da." Lutetia sah George durchdringend an.
"Ich hoffe nicht, dass du das von Murdok gekauft hast."
"Nein. Kannst du dich an Peter Beckett erinnern?"
"Kleiner, unscheinbarer Typ? Buchhalter. Konnte kein Wässerchen trüben?"
"Passionierter Fischer. Dynamitfischer um genau zu sein. Nach seinem Tod hab ich die Wohnung ausgeräumt."
"Man könnte das als Diebstahl bezeichnen."
"Seine Verwandten hatten mir den Auftrag gegeben. Und es ist immer noch besser, als wenn das Zeug unbeaufsichtigt hochgegangen wäre." In diesem Moment hatte Lutetia eine ihrer Meinung nach geniale Idee. Die Rache für jedes Schone dich! und Überanstreng dich nicht! der letzten Monate.
"George?"
"Ja?"
"Stell dir vor, unser Nachwuchs krabbelt unschuldig durch die Burg oder durch das Krematorium."
"Stell ich mir vor."
"Kleine Kinder untersuchen alles. Und ich meine alles." George trat ungemütlich von einem Fuß auf den anderen. Lutetia schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. "Du hast noch vier Wochen Zeit, alles potentiell Gefährliche aus der Burg zu schaffen." Das sollte ihn bis zur Geburt beschäftigen.
"Dann solltest du dich in der nächsten Zeit nicht in der Bibliothek aufhalten."
"Die Bibliothek ist mein Refugium!"
"Dann fass wenigstens die Bücher nicht an. Und auch nicht die Regale."
"Ich werde mich auf den Ohrensessel und den Kamin beschränken."
"Kamin wäre auch schlecht. Aber ich denke, unser Kind wird noch etwas länger brauchen, bis es lesen lernt, oder?"
"Du willst Bücher verbrennen? Ich bin entsetzt."
"Keine Bücher. Also nicht richtige Bücher. Informationen. Die ich mal so aufgeschnappt habe. Aber keine Angst, der Inhalt ist in meinem Kopf gespeichert." Da hatte George recht. Für bestimmte Sachen arbeitete sein Gehirn wie ein Fotoapparat.
"Darf ich fragen, was für Informationen?"
"Nicht besonderes. Was man halt so aufschnappt."
"Keksrezepte?"
"Kommt auf deine Definition von Keks an."
"Und ich dachte Marx wäre der Einzige mit Veranlagung zum Schwachsinn."
"Ich konserviere Informationen. Aber falls es dich beruhigt - keine Drogen. Eher praktische Sachen. Sprengstoff, Brandbeschleuniger, schmutzige Bomben."
"Warum liest du so was?"
"Es ist physikalisch wahnsinnig interessant."
"Lass das Zeug verschwinden. Wenn Murdok dahinterkommt, sind wir als Terroristen dran. Aber es reicht, wenn du es auf den Speicher bringst."
"Nicht verbrennen?"
"Nein. Wer weiß, wozu das nochmal nützlich ist. Und nun lass uns Peaches aufschneiden."
"Was uns zu unserem Problem zurück bringt: Wie zur Hölle?"
"John Smith. Hast du gesehen, wenn er Lieferungen bekommt?"
"Der Palettenhubwagen?"
"Genau."
"Soll ich ihn fragen, ob er den ausleiht?"
"Fragen? Was für eine eigenartige Idee."


George hatte außer dem Hubwagen noch vier Bierfässer mitgebracht. Das war die einzige Möglichkeit, den Obduktionstisch vorm Zusammenbruch zu bewahren. Außerdem hatte er grüne Chirurgenkleidung an8 und zugelassen, dass Lutetia sich die alte Fleischschürze umband. Lutetia griff in den Instrumentenkoffer.
"Was willst du damit?" Lutetia sah auf den Gegenstand in ihrer Hand.
"Das ist ein Skalpell. Damit schneidet man Menschen auf."
"Ja. Aber das da ist Peaches Cavanaugh. Da braucht man richtiges Werkzeug. Hier." Lutetia starrte ungläubig auf das Werkzeug in Georges Hand.
"Ist das eins von unseren Steakmessern?", fragte sie schließlich.
"Ja. Das mit dem kleinen eingravierten M für Marx."
"OK." Lutetia zuckte nur kurz mit den Schultern und Sekunden später war George in seine Arbeit vertieft. Lutetias einzige Aufgabe bestand darin, eimerweise Körperfett zu entsorgen. Sie kippte die überschüssige Masse gleich in den Ofen. Dort würde es zusammen mit dem Rest der Bibliothekarin verbrannt werden - und es ersparte die sinnlose Tortur, das zusätzliche Gewicht im Sarg erst hoch in die Kapelle und dann wieder runter ins Krematorium zu schleppen.
George redete nicht, während er arbeitete. Erst als er sich nach zwei Stunden aufrichtete und den Rücken streckte, konnte Lutetia wieder etwas sagen.
"Und?"
"Nichts. Natürlicher Tod. Der letzte Bissen steckte noch in der Luftröhre. Sie hat sich verschluckt."
"Und niemand da, der den Heimlich-Griff anwenden konnte."
"King Kong war wohl gerade anderweitig beschäftigt."
"Ich bin beeindruckt."
"Die Obduktion war nicht sonderlich schwer."
"Nein. Mein Zynismus färbt auf dich ab."
"Was nichts daran ändert, dass Peaches Cavanaugh eines natürlichen Todes gestorben ist. Tut mir leid."
"Du kannst ja nichts dafür."
"Ja. Und jetzt müssen wir los." George hatte sich seine Jacke schon übergeworfen und hielt Lutetia den Mantel hin. Draußen waren über zwanzig Grad, aber er wollte eine Unterkühlung ausschließen.
"Wir? Wohin?"
"Der Geburtsvorbereitungskurs. Schon vergessen?" Nicht vergessen, verdrängt. Aber Lutetia wollte sich das nicht anmerken lassen. George hatte ungefähr drei Tage, nachdem Lutetia die verhängnisvollen drei Worte geäußert hatte, alle Hebammen abtelefoniert, ihre Reputation und Fachkenntnisse geprüft, mit den meisten ihrer Patientinnen gesprochen und Mildred Servegood zur am besten geeigneten Hebamme für die Geburt seines ersten Kindes gekürt. "Wenn wir ihren Kurs mitmachen, wird die Niederkunft ein Kinderspiel. Es war nicht leicht, bei ihr einen Platz zu bekommen." Lutetia schluckte ihre Antwort runter. George freute sich auf die Geburt - aber er brauchte nur daneben zu stehen und auf das Ergebnis zu warten.
"Bist du sicher, dass das gut ist? Kurse, Lernen, Stress - sollte unser Baby nicht etwas entspannter auf die Welt kommen?"
"Genau deshalb gehen wir zu Mildred. Mehr Entspannung geht nicht. Sie hat so eine Art mit autogenen Training und bewusster Atmung. Unglaublich, was man beim Atmen alles falsch machen kann."
"Ich atme ein und ich atme aus. Das hat mich über zwei Jahrzehnte am Leben gehalten."
"Schwerer Fehler. Glaub mir, ich kann ihr stundenlang zuhören, wenn sie über Atmung spricht."
"Seid ihr nicht... Konkurrenten?"
"Nein, wir arbeiten an den verschiedenen Enden des Lebenszyklus. Und irgendwie liefert sie meine späteren Kunden."
"Hört sich an, als wärt ihr dicke Freunde."
"Ich muss zugeben, dass nur mein gutes Verhältnis zu ihr uns die Teilnahme am Kurs gesichert hat. Normalerweise wartet man vierzehn Monate auf einen Platz bei ihr. Einundzwanzig, wenn sie jemanden nicht leiden kann."
"Woher soll jemand wissen, dass er in vierzehn Monaten schwanger ist?"
"Sie macht auch Fruchtbarkeitsberatung."
"Das nimmt irgendwie den Spaß aus der ganzen Sache."
"Was nichts daran ändert, dass wir spät dran sind." Lutetias Meinung nach benutzte George in letzter Zeit zu oft das Wort wir. Gern auch bei Sachen, die ihr überhaupt nicht passten. Beim Reden war das einfach; mit dem praktischen Teil stand sie aber allein da und nichts würde etwas daran ändern. Aber bevor sie George darauf aufmerksam machen konnte, klingelte das Telefon. George sah erstaunt auf.
"Ich erwarte keine Kunden."
"Deine Fähigkeit, das Ableben unserer Nachbarn so genau vorauszusagen, finde sogar ich ein wenig gruselig."
"Wirklich? Ich nenne es Empathie."
"Vielleicht schärft der Beruf die Sinne. Auf eine sehr spezielle Art und Weise. Aber nicht jetzt. Ich erwarte einen Anruf." Lutetia ging ans Telefon und meldete sich. Auf das, was sie sagte, konnte sich George keinen Reim bilden.
"Und sie sind sicher?" Der Anrufer war sich sicher.
"Wo kommt das vor?" Lutetia zog die Augenbrauen hoch.
"Keine Chance, dass sich so ein Tier in unsere Gewässer verirrt, an der Angel endet und von dort aus auf den Tisch kommt?" Ein paar Augenblicke lang blieb Lutetia still und hörte zu.
"Definitiv synthetisch." Sie hörte noch etwas länger konzentriert zu und verabschiedete sich dann.
"Vielen Dank, Professor. Sie haben mir sehr geholfen. Und nein, ich habe nicht vor, demnächst jemand zu ermorden." Lutetia blieb gedankenverloren stehen. Vorsichtig nahm George Lutetia den Hörer aus der Hand und legte auf.
"Wir gehen nicht, oder?" fragte George. Er hielt den Mantel immer noch, aber er hatte diesen resignierten Ausdruck im Gesicht. Lutetia war sich sicher, dass er ihn vor dem Spiegel übte.
"Die Sache mit Homestetter...", begann sie.
"Ja?"
"Das war Mord."
"Beeinflusst das unseren Geburtsvorbereitungskurs?"
"Ich kann mich nicht auf so was konzentrieren, wenn ein Mörder frei rumläuft."
"Er hat Verdünnung getrunken. Es kann auch ein tragischer Unfall gewesen sein."
"Nein, George. Die Verdünnung und die geschwollenen Schleimhäute haben nur von der wirklichen Todesursache abgelenkt. Er starb an einer Saxatoxin-Vergiftung."
"Klingt nicht nach einem Bestandteil von Verdünnung."
"Im Gegenteil. Ursprünglich war es Bestandteil eines japanischen Kugelfischs. Nur dass die Version aus Homestetters Körper fünfzig Mal stärker ist als die natürlich vorkommende Variante. Homestetter war tot, bevor sein letzter Drink die Speiseröhre runterlief."
"Ich vermute, dass man das Zeug nicht in der Apotheke um die Ecke bekommt."
"Und schon gar nicht auf Rezept."
"Das bringt uns zu eiskalt geplanten Mord."
"Wir können eine Affekthandlung definitiv ausschließen. Wir brauchen Mittel, Motiv und Gelegenheit." Lutetia hatte zu jedem der drei Punkte einen Finger nach oben schnippen lassen.
"Mittel ist schwierig. Wer läuft schon Tag und Nacht mit einer Flasche Gift in der Handtasche rum?"
"Niemand. Deshalb geht es auch um Vorsatz. Außerdem kann er das Gift auch in der Hosentasche gehabt haben - Männer neigen nicht zu Handtaschen. Oder wolltest du etwas andeuten?"
"Gift ist eine typische Frauenwaffe."
"Das würde die Valences nicht ausschließen."
"Gehen wir davon aus, dass sie das Mittel hatten." Lutetia bog einen Finger wieder nach unten. "Die Gelegenheit hatten sie ebenfalls. Die Drinks kamen aus ihrer Bar." Lutetia bog den zweiten Finger nach unten. Nur noch der Mittelfinger war aufgerichtet.
"Fehlt das Motiv. Dazu passt deine Geste." Lutetia seufzte.
"Streichen wir sie. Außerdem können sie Homestetter kaum gekannt haben. Wer immer sich an ihm vergreifen wollte, musste ein Motiv gehabt haben. Und dazu muss ihn sein Mörder gekannt haben. Ich brauche etwas Entspannung. Damit ich auf Ideen komme."
"Wir könnten es noch schaffen!"
"Nein, nicht das. Ein Spaziergang. Er tut mir genauso gut. Vertrau mir, George." Es gab ihr einen Stich ins Herz, seine Augen zu sehen. Sie wusste, dass George um sie und das Kind besorgt war, auf die einzige Art, die er kannte. Und sie wusste, wie weh sie ihm tun würde, wenn sie ihm sagte, dass seine Fürsorge sie erstickte und sie ab und zu Freiraum brauchte.

Lutetia hatte die Burg verlassen, bevor George die üblichen Sicherheitsmaßnahmen durchführen konnte - was darin bestand, ihr alle möglichen Protektoren anzulegen. Beziehungsweise: anlegen zu wollen. Lutetia hatte sich von Anfang an strikt geweigert, Knie-, Ellenbogen-, Schienbein und Handgelenkschützer anzulegen. Den leichten Fahrradhelm hatte sie ebenfalls abgelehnt, auch wenn es ein extra angefertigtes Modell war. Sein Argument, dass eine Hirnverletzung bei einem Sturz gefährlich für das Ungeborene und für sie war9 hatte Lutetia mit dem Hinweis auf sieben Milliarden lebende Gegenbeweise gekontert. Den Höhepunkt bildete eine Halbschale aus Schaumgummi, die sie sich vor den Bauch schnallen sollte. Lutetia hatte einmal zum Spaß alles angelegt, was George ihr anbot und danach ausgesehen wie jemand, gegen den das Michelin-Männchen ein sportlich dynamischer und vor allem schlanker Typ war. Lutetia musste zugeben, dass sie nun vollkommen geschützt war. George musste dagegen zugeben, dass Lutetia sich in diesem Aufzug nicht bewegen konnte10.
Sie einigten sich auf einen Kompromiss: George bot ihr regelmäßig alle Sicherheitsmaßnahmen an, und Lutetia wählte darunter das aus, was ihr angemessen erschien. Was sich meist auf die durchtrittsicheren Arbeitsschutzschuhe beschränkte, die sie sowieso trug und sie gegen alle Gefahren des Alltags zuverlässig schützte; vor allem, wenn diese Gefahren männlicher Natur waren.

Lutetia wusste genau, wo sie hin wollte. Es gab nur wenige Menschen in Borough, deren geistiger Horizont einen nennenswerten Durchmesser hatte und die Swanson-Schwestern gehörten dazu. Und sie musste mit jemand reden, dessen einziger Kommentar zu Japan sich nicht darauf beschränkte zu sagen: "Vor sechzig Jahren hab ich einen Orden dafür bekommen, die Japse zu erschießen."

Lutetia klopfte und Barbara öffnete so schnell, als hätte sie bereits hinter der Tür gestanden. Was bei der Neugier der Schwestern wahrscheinlich war.
"Was wisst ihr über Japan?"
"Nettes Land, aber zu viel Konkurrenz für uns. Wir bekommen da kein Bein auf den Boden. Komm rein." Lutetia schob sich durch die Tür. Das Haus der Swansons war eins der typischen Zwei-Etagen-Zwei-Räume-Häuser, bei denen man sofort im Wohnzimmer stand und gegen die eine Sardinenbüchse ein großzügiges Raumangebot zur Verfügung stellt. Lutetia ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Vollgestellt mit mehr Nippes als es gut für die geistige Gesundheit war, aber nichts Japanisches darunter. Zwar waren die Swansons dass, was Freunden am nächsten kam. Das schloss sie aber nicht automatisch aus dem Kreis der Verdächtigen aus. Lutetia füllte das Zimmer mittlerweile schon gut aus. Die Wandkommode, die mit mehr Alkohol gefüllt war als eine irische Armeebrigade vertragen konnte, ein aus unverständlichen Gründen vor Gesundheit strotzender Gummibaum und zwei riesige Massagesessel11 ließen Inga und Barbara nur die Möglichkeit, sich die Wand entlang an Lutetia vorbeizuquetschen.
"Setz dich, Liebes. Es wundert mich, dass George dich noch allein rumlaufen lässt."
"Das tut er nicht ganz freiwillig. Ich musste meinen gesamten weiblichen Charme spielen lassen."
"Zweifellos. Hat dein Charme die Form von Ketten aus dem Burgverließ?"
"Ich habe etwas Ketchup auf den Boden gekleckert. Funktioniert immer."
"Ich wünschte, wir hätten mal einen Mann mit Putzfimmel gefunden. Warum interessierst du dich für Japan?"
"Saxatoxin. Das Gift des Kugelfischs. Eine Delikatesse in Japan."
"Hat das Barrabas umgebracht?"
"Das hat ihn zuerst umgebracht. Wenn nicht an dem, dann wäre er an der Verdünnung gestorben. Oder den Schädelverletzungen vom Sturz. Als letztes hätte wohl sein Herz schlapp gemacht, aber wohl nicht ganz so schnell. Kennt ihr jemanden mit Verbindungen nach Japan?"
Die Schwestern dachten einige Augenblicke nach.
"Nein. Nicht hier in Borough. Aber wir werden uns umhören."
"Wenn ihr dabei seid: Was wisst ihr über Peaches Cavanaugh?"
"Nicht viel. War auch nicht direkt unser Umgang."
"Hatte sie Feinde?"
"Dazu war sie zu fett. Sich einen guten Feind zu machen erfordert Energie und Aktivität. Fehlte ihr vollkommen."
"Sie ist an einer Hähnchenkeule erstickt."
"Das sollte jemandem von ihrem Kaliber nicht passieren", sagte Inga, die sich am schnellsten ein mentales Bild der erstickten Frau machen konnte.
"Aber ein Arbeitsunfall wäre nicht auszuschließen. Passiert selbst den Besten", ergänzte Barbara. "Wobei, wenn du Feinde erwähnst. Dieser alte Polizist. Der vor Cornwood."
"Amandas Sohn?"
"Genau den meine ich. Die beiden haben sich gehasst wie die Pest."
"Nachdem er verschwunden ist, hat sie sich gehen lassen."
"Vergiss nie: ein guter Feind ist so viel wert wie drei Freunde."
"Hat man wieder was von ihm gehört?" fragte Lutetia.
"Nein. Aber denk mal an seine Mutter. Kein Wunder, dass er weg ist."
Lutetia ließ sich in den Sessel zurücksinken. Er war warm und weich, dazu gemacht, in seinen Tiefen zu versinken, den ganzen Tag darin zu sitzen und alle unbedeutenden Sorgen an sich vorbeiziehen zu lassen. Eigentlich eine ganz bequeme Lösung. Und an Entspannungswirkung wohl kaum von einem Geburtsvorbereitungskurs zu überbieten. Nicht dass Lutetia wirklich Entspannung nötig hatte - normalerweise hatte sie die Energie eines Atomreaktors, aber der kleine Klumpen in ihrem Bauch saugte alles aus ihr heraus. George war es, der die Entspannung brauchte. An was hatte sie gleich nochmal gedacht? Es ging um irgendwas Offizielles - die Bibliothekarin! Aber der Gedanke schien so weit weg zu sein.
"Mach ruhig ein Nickerchen. Machen wir auch immer. Der Körper braucht das ab einem gewissen Alter." Ingas Stimme bohrte sich wie ein Speer in Lutetias Gedanken. Was auch immer der Körper brauchte: sie würde nicht in einem Sessel einschlafen und rumsabbern! Mit einem Schlag war Lutetia wieder hellwach.
"Tut mir leid, ich muss gehen. Ich hab noch was zu erledigen." Dieses Mistding musste eine Automatik haben. Ohne, dass sie es gemerkt hatte, war die Rückenlehne nach hinten gefahren und das Fußteil nach oben gekommen. Lutetia stemmte sich an der Armlehne hoch - und schaffte es nicht, sich selbst mehr als ein paar Zentimeter aus der Tiefe des Sessels zu hieven. Der zweite Versuch lief nicht besser und der dritte raubte ihr die letzte Kraft. Jetzt gab es nur noch zwei Möglichkeiten: Aufgeben oder...
"Könnt ihr mir mal helfen?"

Ein paar Monate vorher

Das hier war Politik. Dass Elk und de Cusack sich zusammengeschlossen hatten, waren die Symptome von etwas Größerem. Oliver hatte Jahre auf der Straße überlebt, weil er ein Gespür für ihre Regeln entwickelt hatte. Und das hatte er entwickelt, indem der den Kopf unten gehalten und beobachtet und zugehört hatte. Aber als sein Instinkt untrüglich wurde, hatte er ihn genutzt. Schneller, härter und erbarmungsloser als seine Feinde. Er spürte ihre Angst und nutzte sie, machte sie zu seiner Waffe, bis in seinem Revier keine Maus mehr aus der Reihe tanzte.
Politik war eine neue Straße. Und Oliver erinnerte sich an die alten Zeiten. Kopf unten halten, beobachten, zuhören. Stillhalten. Bis zum richtigen Zeitpunkt.

Cyrill van Koch war... speziell. Oliver hatte vom Ruf des Raub- und Diebstahl-Faktotums gehört, dass er ein wenig weltfremd und äußerst eigenartig sein sollte. Nach drei Minuten mit diesem Mann zusammen wusste er, dass dieser Typ komplett neben der Spur lief - und Tabletten daran nichts ändern konnten.
"Bringe er mir meinen Mantel." Oliver sah sich in dem mit asiatischen Krempel vollgestopften Zimmer um. Van Koch hatte sich geweigert, Details über den kommenden Auftrag in seinem Büro zu besprechen. Der Feind hört mit, war seine Antwort. Wir gehen in den Hyde-Park. Dort können wir ein Picknick machen. Und dann hatte er angefangen, in der dritten Person von sich zu reden und Oliver wie einen Butler zu behandeln. Oliver hatte sich entschlossen, die Scharade mitzumachen. So lange, bis sie aus dem Hauptquartier raus waren und nicht mehr mit Zeugen zu rechnen war.
"Wir benötigen noch einen Chardonais. Und etwas zum Knabbern." Wenn Oliver etwas zum Knabbern wollte, dann ließ er die Steaks etwas länger auf dem Grill. Was van Koch meinte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Aber für Notfälle hatte er eine Flasche Jim Beam im Büro gelagert - die sollte als Chardonais-Ersatz reichen. Außerdem machte deren Inhalt die Anwesenheit dieses aufgeblasenen Idioten erträglich.
Vom Picknick selbst hatte Oliver nicht viel mitbekommen - ein endloses BlaBla über die Geschichte der Kunst, über Maler und Revolutionäre12, über Entwicklungen und Wirrungen des Künstlerlebens. Erst als Oliver glaubte, dass seine einzige Chance in der Simulation eines Komas liegen könnte, wurde es interessant. Geld. Das war alles, worum es ging. Und zwar Geld in Massen. Geldströme, die zwischen Europa, Amerika und Asien flossen und gegen die der Amazonas ein kleines Bächlein war. Im Gegenzug ergoss sich aus den Museen der Kontinente eine Flut von Bildern. Manchmal mit Wissen der Direktoren, öfter ohne, aber immer ohne Wissen der Öffentlichkeit, der kunstinteressierten Besucher, die für van Koch die wahren Opfer des Betrugs darstellten. Denn die Bilder wurden nicht gestohlen, sondern ausgetauscht. Durch Kopien. Kopien, die sich - das musste van Koch zugeben - in keinem Pinselstrich vom Original abwichen und auch bei einer Untersuchung auf atomarer Ebene keine Unterschiede aufweisen würden, aber die nicht vom Meister selbst, sondern von einem schnöden Nachahmer erschaffen wurden. Oliver fragte sich, was der Punkt war. Wenn sich die Bilder nicht unterschieden, dann war es doch egal, ob die Farbe dreihundert oder drei Jahre alt war. Aber Oliver hatte zu dem Zeitpunkt genug Jim Beam intus, dass ihm die Antwort schnurz war. Eine weitere Stunde später kam der große Moment: Vor sechs Wochen hatte Scotland Yard einen der Fälscher geschnappt. Damit war in diesem perfekt organisierten Geschäft eine Lücke entstanden, die ausgefüllt werden musste. Und genau diese Lücke gedachte van Koch zu füllen.
"Ich kann nicht malen", knurrte Oliver trocken.
"Dafür sind Sie auch nicht da", erwiderte van Koch. "Sie sollen den restlichen Kram machen. Kontakte herstellen, Berichte schreiben, und die Verbindung zum Yard aufrecht erhalten. Ich werde mich dagegen voll und ganz der Kunst widmen."
"Klingt super." Was an Unterton da war, wurde von van Koch ignoriert.
"Und während der Zeit unserer Operation werden unsere eigenen Ichs vollkommen verschwinden. Wir werden uns loslösen und reine Wesen der Kunst werden." Oliver, der über das Verschwinden von irgendwelchen Ichs andere Vorstellungen hatte, grunzte nur. "Gut. Wenn alles klar ist, dann erwarte ich Sie morgen exakt sieben Uhr an dieser Adresse. Hier ist der Schlüssel. Meine Sachen müssen noch gepackt werden. Und seien Sie leise, ich schlafe um diese Zeit noch." Van Koch ließ eine Visitenkarte und einen Schlüssel in Olivers Hand fallen und stand auf. In Oliver reiften erste Mordpläne.

Kapitel 4

Der menschliche Körper war ein Wunderwerk. So viel hatte Lutetia bei den Gelegenheiten mitbekommen, zu denen der administrative Schulplan sie zwang, sich mit Biologie zu beschäftigen. Warum konnte sich das heranwachsende Leben nicht einfach so entwickeln, dass es das alte Leben nicht mehr als nötig beeinträchtigte? Nicht dass - wie es Marx so charmant ausgedrückt hatte - sie mittlerweile aussah wie ein Elefant, nein, inzwischen fühlte sie sich auch wie einer. Der sanfte Aufstieg zur Burg kam ihr wie die Ersteigung des Mount Everest vor. Wie tief George erschüttert sein musste, merkte Lutetia daran, dass er ihr keine Vorhaltung wegen ihrer Überanstrengung machte.
"Ich hatte gerade eine Erscheinung", sagte er schließlich.
"Etwas Übernatürliches?"
"Ich wäre geneigt zu sagen ja." Lutetia kannte George schon lange. Und so ziemlich das Einzige, was nicht zu George passte, waren Dinge, die nicht real existierten. Gespenster, Übernatürliches, Geister. Sarkasmus, Ironie, Steuerrückzahlungen. Wenn er eine Erscheinung hatte, dann würde als nächstes wohl Gravitation mal einen Tag Urlaub nehmen.
"Ich war in der Bibliothek."
"Du hast doch keins von den alten Büchern angefasst, oder? Die Schimmelpilze können komische Sachen mit deinem Kopf anstellen."
"Nein. Ich habe Marx dort gesehen."
"Marx? Klein, fett, pickelig?"
"Deinen Bruder. Mit einem Buch in der Hand."
"Das ist in der Tat eine Erscheinung. Es ging nicht zufällig um Pflanzenanbau?"
"Nein, um moderne Kunst." Die Bibliothek war im Kaufpreis der Burg inbegriffen. Und die Bücher in der Bibliothek hatten das gleiche Alter wie das Gemäuer ringsum. Und sie waren für Lutetia der ultimative Beweis, dass Alter und Weisheit zwei Dinge waren, die nicht kausal voneinander abhängen.
"Wir haben Bücher über moderne Kunst in unserer Bibliothek?"
"Als es geschrieben wurde, war Dürer gerade etwas revolutionär Neues."
"Du bist sicher, dass Marx das in der Hand hatte?"
"Ich bin sogar überzeugt, dass er darin gelesen hat."
"Vielleicht sind Außerirdische auf der Erde gelandet und übernehmen die Hüllen dummer Menschen, um sie mit intelligenten Wesen aus einer fremden Welt zu füllen. Wie in diesem Film."
"Hältst du das für eine logische Erklärung?"
"Hast du eine bessere?"
"Nein."
"Dann muss es wohl so sein."
"Du siehst erschöpft aus, Lutetia. Soll ich dir einen Tee machen?" Lutetia sagte ja bevor ihr einfiel, dass George Earl Grey gleich zu Beginn ihrer Schwangerschaft auf die schwarze Liste gesetzt hatte und mit Tee jetzt irgendeinen Kräutersud meinte. Sie seufzte. Er meinte es ja nur gut.
"Vielleicht will Marx die Bücher verkaufen. Sähe ihm ähnlich."
"Ja, aber warum liest er dann darin? Außerdem sind es nicht seine Bücher. Offiziell gehört die Burg deinem Vater, inoffiziell dir. Marx darf bloß hier wohnen."
"Lass ihn. Wir merken schon früh genug, wenn er wieder Blödsinn anstellt. Hatte Cavanaugh eigentlich Familie?" Lutetia registrierte sofort das argwöhnische Aufblitzen in Georges Augen.
"Sind bei einem Autounfall gestorben."
"Alle?"
"Alle."
"Niemanden, den wir benachrichtigen können?"
"Und auch niemand, den du ausfragen kannst." George kannte sie wirklich gut.
"Warum sollte ich jemanden ausfragen wollen? Ich mache mir nur Sorgen, dass ihre Beerdigung eine ziemlich trostlose Veranstaltung wird."
"Wird es nicht. Der Kindergarten wird etwas aufführen. Peaches konnte gut mit Kindern umgehen."
"Wirklich. Das ist... schön. Wo hat sie übrigens gewohnt? Ich habe sie nie außerhalb der Bibliothek gesehen."
"In einer kleinen Wohnung am Leichester Square, genau zwischen Bibliothek und Pub. Sie hat früher bei Smith als Barmixer gearbeitet."
"Interessant. Welche Nummer?"
"Zweiunddreißig." George würde sie niemals anlügen. Es kam nur darauf an, die Fragen präzise zu stellen.
"Ich meine nicht die Nummer vom Pub sondern von Peaches Wohnung. Und komm mir nicht mit Ausreden und Vorhaltungen, das vertragen meine Hormone nicht."
"Nummer Fünf, unten rechts."
"Hast du einen Schlüssel?"
"Nein." Falsche Frage.
"Wo hat sie ihren Ersatzschlüssel versteckt? Und vergiss nicht: kochende Hormone sind schlecht fürs Baby." Lutetia legte eine Hand auf ihren Bauch und merkte eine Bewegung. "Es tritt schon!" Dass der Tritt auch eine Ermahnung an sie sein könnte, George nicht so hart anzufassen, brauchte sie nicht zu erwähnen. Aber sobald das Kind da war, musste sie ein ernstes Wort mit ihm reden. Über Loyalität und an welcher Brust es sich lohnt zu saugen.
"Vor dem Haus ist ein kleiner Regenwasserabfluss. Rechts. Unter dem Gitter. Die Schrauben sind locker." Gut, aber nicht gut genug.
"Ich bin sicher, das sind sie." Ihr Lächeln verschwand blitzartig. "Ich stelle nur fest, dass deine Antwort nichts mit meiner Frage zu tun hat. Und ich möchte dir mitteilen, dass meine Hormone bereits anfangen zu kochen. Wo ist der Schlüssel?"
"Die Polizei wird dich wegen Einbruchs dran kriegen."
"Wenn ich mit einem Schlüssel reingehe? Cornwood wird meine Besorgnis zu schätzen wissen."
"Cornwood vielleicht. Für McDuff ist es ein gefundenes Fressen."
"OK, ich hätte einen Vorschlag: ich hole den Schlüssel und gehe mit Cornwood rein. Der Mann hat ein Faible für mich."
"Weiß er davon?"
"Wo ist der Schlüssel?" George seufzte.
"Hinter ihrem Briefkasten. Du musst ihn erst nach rechts dann oben drücken."
"Ich bin immer wieder erstaunt, woher du so viele Geheimnisse kennst."
"Ich kann gut zuhören. Außerdem habe ich im Pub saubergemacht, als sie noch da arbeitete. Manchmal hat sie es nicht mehr allein nach Hause geschafft."
"Die stillsten Wasser sind immer am tiefsten", sagte Lutetia.
"Ich beginne das zu bezweifeln."

Cornwood dabei zu haben war ein Zugeständnis, das Lutetia schnell bereute. Allerdings basierte eine Ehe auf gegenseitigem Vertrauen und Ehrlichkeit - zumindest sollte sie das. Und deshalb war es notwendig, dass sie Cornwood zumindest von ihren Plänen unterrichtete. Oder Andeutungen machte, die er hoffentlich nicht verstand. Sie winkte den Polizisten zu sich, als er auf seiner täglichen Runde am Markt vorbeikam.
"Was kann ich für Sie tun, M'am?"
"Zuerst hören Sie auf, mich M'am zu nennen. Ich wäre sonst gezwungen..." Lutetia stoppte. Cornwood konnte nichts dafür, dass er Polizist und im Grunde ein lieber Kerl war. "Miss Stubbs reicht." Cornwood nickte. "Als zweites habe ich mich gefragt, ob Sie Peaches Cavanaugh genauer kannten."
"Unsere arme Bibliothekarin? Sie war die Stütze der Kultur unserer Stadt. Hat sich für Kinder aufgeopfert. Brachte ihnen das Lesen bei, veranstaltete Bastelnachmittage und Büchernächte. Während die meisten Eltern unter Kultur das TV-Programm auf dem Kinderkanal verstehen."
"Ich meinte eher ihre private Seite. Hatte sie Familie, einen Freund, Bekannte? Irgendwas?"
"Natürlich gibt es das! Ich denke..." Das Denken dauerte einen Moment. Dann noch einen und noch einen. Lutetias Blase machte sich bemerkbar - ein weiterer Nachteil ihrer Schwangerschaft. Es schränkte ihren Aktionsradius auf die nähere Umgebung verfügbarer Toiletten ein. Nach vier Minuten und einunddreißig Sekunden kräuselte Cornwood die Stirn.
"Seltsam. Es fällt mir tatsächlich keiner ein."
"Das ist aber schade. Die Beerdigung ist in drei Tagen, fünf wenn wir nicht den Großraumbagger auf den Friedhof bekommen. Und bis jetzt gibt es keine Trauergäste. Für eine Stütze der Kultur in Borough."
"Ich werde das herausfinden." Lutetia schnappte ihn am Ärmel, bevor er verschwinden konnte.
"Genau deshalb wollte ich Sie fragen, ob es möglich wäre - natürlich gemeinsam mit Ihnen als Vertreter der Behörden - die Wohnung von Ms Cavanaugh zu inspizieren. Vielleicht finden wir Hinweise auf ihre Familie." Cornwood kratzte sich am Kopf.
"Ich weiß nicht. Ohne Durchsuchungsbefehl wäre das Einbruch."
"Nicht wenn wir einen Schlüssel haben."
"Sie haben den Schlüssel?" Cornwood war ein netter, nicht allzu heller Kerl, aber Lutetia konnte sein Misstrauen spüren.
"Ms Canavaugh hat mir gesagt, wo ihr Ersatzschlüssel ist."
"Ihnen?" Demnächst würden wohl fliegende Untertassen auftauchen.
"George."
"Ah." So ergab die ganze Sache Sinn für Cornwood. "Ihre Wohnung liegt sowieso auf meinem Rundgang."

Der Schlüssel war genau da, wo George gesagt hatte. Bevor Lutetia ihn herausholte, zog sie sich Handschuhe über. Hinter ihr räusperte sich Cornwood.
"Handschuhe?" Mist!
"Ich bekomme so schnell kalte Hände. Die Hormone. Schwangerschaft. Sie verstehen?" Als nächstes musste Lutetia verhindern, dass Cornwood vor ihr durch das Appartement trampelte. Aber das war kein Problem. Niemand kam an ihr vorbei. So lange sie in der Tür stand, drang nichts in die Räume. Nicht einmal Sonnenlicht. Aber das, was sie sah, hätte nicht einmal ein Postkartensommertagssonnenschein aufgehellt.

Das, was Lutetia sah, war Depression in Reinstform. Ein Raum. Die Jalousien heruntergelassen. Die Wände ehemals weiß tapeziert, jetzt grau. Ein wackliger Campingtisch, übersät mit leeren Take-Away-Schachteln, ein riesiger Sessel mit verschlissenen Polstern, ein ungemachtes Bett, ein Kleiderschrank, dessen linke Tür aus der Führung gesprungen und nicht repariert worden war. Hier hatte Peaches Cavanaugh ihr Leben verbracht, die Zeit, in der sie für die Welt da draußen unsichtbar war. Lutetia konnte sie vor sich sehen, ein Berg aus Fett aus dem Sessel quellend, die feiste Hand in den Verpackungen nach dem letzten Stück Pizza wühlend, den Blick auf die graue Wand gerichtet. Das war genug, um sich Gedanken von Verzweiflung und Tod oder eine Kugel durch den Kopf gehen zu lassen. Das Peaches das nicht getan hatte, wunderte Lutetia. Sie machte einen Schritt nach vorn. Hinter ihr kam Cornwood ins Zimmer.
"Oh Gott" war alles, was er sagte.

"Gibt es einen Psychiater in Borough?"
"Nein. Und bis jetzt hatte ich auch geglaubt, hier braucht niemand einen."
"Ich frage mich, wie es in ihrem Kopf ausgesehen hat."
"Und glauben Sie auch, Sie hätten netter zu ihr sein sollen?"
"Nein." Nett sein war Georges Domäne. Aber tief in ihrem Bewusstsein nagte etwas und sagte, dass sie netter hätte sein müssen. Können. Peaches sah nun mal aus wie ein Nilpferd und jemand musste ihr die Wahrheit sagen!
Es sei denn, die Sache mit dem Abfärben lief in beide Richtungen.
"Ich sehe kaum eine Chance, hier etwas über ihre Familie rauszufinden."
"Im Bad ist auch nichts", sagte Cornwood, der es gerade inspiziert hatte. "Sie hat hier mindestens zwölf Jahre lang gelebt." Er sah sich immer noch um, als suchte er etwas ganz bestimmtes.
"Fehlt was?"
"Ich weiß nicht. Ich kenne diesen Wohnungstyp. Alle Sozialwohnungen in der Stadt wurden nach dem gleichen Bauplan hochgezogen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier anders war." Cornwood sah Lutetia an. "Natürlich besteht die Möglichkeit, dass dieses Haus etwas eher oder später als der Rest gebaut wurde."
"Und was ist das Besondere an dieser Wohnung?"
"Alle anderen haben einen kleinen Verschlag, gerade groß genug, um ein Bett hineinzustellen."
"Einen Alkoven."
"Wenn Sie das sagen. Er fehlt hier." Lutetia sah sich um. Es gab in dieser Wohnung keinen Ort, an dem man etwas verstecken konnte, was größer war als eine Zigarettenschachtel. In der Ecke schräg gegenüber dem Eingang war die Tür zum Bad - ein anderthalb Quadratmeter großer, gekachelter Verschlag mit einem Waschbecken und einer Toilette.
"Wo müsste die Nische sein?"
"Neben dem Bad. Aber hier geht die Wand glatt weiter."
"Wirklich?" Lutetias Sinne, durch das Leben in einer von Geheimgängen durchlöcherten Burg geschärft, schlugen an. Sie klopfte beiläufig an der Wand.
"Ruhe da drüben! Ich will schlafen!"
"Ich bin's Hank. Das hier ist Polizeiarbeit!" brüllte Cornwood.
"Ich muss trotzdem auf Nachtschicht! Also lasst den Lärm!"
"Das ist Hank", murmelte Cornwood. "Ganz netter Kerl, wenn er ausgeschlafen ist. Nehmen Sie es ihm nicht zu übel."
"Tue ich nicht." Lutetia klopfte weiter. "Eines Tages liegt er auf meinem Tisch, dann male ich ihm mit Edding einen Schnurbart ins Gesicht. Solange er mir das nicht übel nimmt, toleriere ich vieles." Die Wand klang nach billigem Gipskarton, schnell hochgezogenen Trockenbauwänden13 und eingesparten Schallschutz.
"Bei diesen Wänden müsste Hank eigentlich alles wissen, was es über Peaches Cavanaugh zu wissen gibt."
"Ich befürchte nur, dass der nicht besonders gesprächig ist, bevor er ausgeschlafen hat."
"Das ist verdammt richtig! Wen hast du noch bei dir, Woodie?"
"Ihre Bestatterin!" antwortete Lutetia. Sie hatte Stimme und Tonfall so gewählt, dass Hank eine Weile darüber nachzudenken hatte und klopfte weiter. Diesmal klang es nicht nach billiger Trockenbauwand. Diesmal klang es hohl.
"Sieht aus, als hätten wir den Alkoven gefunden."

Cornwood hatte sehr zum Missfallen des Nachbarn Lutetias Untersuchung wiederholt und somit amtlich bestätigt.

"Das macht keinen Sinn. Wer sollte einen Teil seiner Wohnung so abtrennen, dass man ihn nicht mehr erreichen kann? Und warum?"
"Ich wüsste einige Gründe. Man könnte dahinter Leichen verschwinden lassen."
"Sie haben eine sehr morbide Fantasie, Missis Stubbs." Lutetia zuckte mit den Schultern.
"Keine Fantasie. Erfahrung. Wäre nicht das erste Mal, dass so was in der Stadt passiert."
"Vor meiner Zeit, nehme ich an. Ich bin sicher, sie beziehen sich auf die Burg. Es gibt da tatsächlich die eine oder andere Legende, von der ich gehört habe."
"Bleiben Sie bei diesem Gedanken. Irgendwo muss es einen Mechanismus geben, der die Wand öffnet."
"Nicht wenn dahinter wirklich eine Leiche ist."
"Glauben Sie das? Der Geruch wäre irgend jemandem aufgefallen. Nein, so romantisch wie Peaches veranlagt war, ist dahinter eine Geheimkammer."
"Dann suchen wir eben den Öffner. Aber nicht länger als fünf Minuten, dann beginnt meine Mittagspause." Lutetia wartete, bis Cornwood sich weggedreht hatte. Es war wirklich nur Gipskarton und der hatte brutaler Gewaltanwendung nicht viel entgegenzusetzen. Lutetia schlug zu.

"Ich muss wohl kurz das Gleichgewicht verloren haben" Das blutleere Gesicht Cornwoods bekam dadurch kaum Farbe zurück. "Ich wollte mich wirklich nur abstützen." Lutetias Arm steckte immer noch in der Wand; außerdem hatte sie es durch eine weitere Körperdrehung geschafft, in die dünne Wandverkleidung ein lutetiaförmiges Loch zu drücken. Sie fühlte mit der Hand in dem Hohlraum, fand aber nichts, bevor Cornwood sie rauszog.
"Drückt auf den Knopf hinter dem Tisch, dann geht die ganze Wand hoch, ihr Idioten!" brüllte es von drüben.
"Ich vermute, es ist in diesen Häusern nicht möglich, eine Privatsphäre zu haben", bemerkte Lutetia kühl. Drüben fiel Hank wahrscheinlich gerade ein, was man sich über Lutetia in der Stadt so erzählte. Sie hörten ihn schlucken.
"Nix für ungut, Missis. Es ist nur so, ich hab Nachtschicht und es läuft gerade echt beschissen."
"Ich werde das im Hinterkopf behalten, Hank." Eine rhetorisch perfekte Phrase. Sie würde Hank ebenfalls eine Weile beschäftigen - vor allem die Frage, was genau Lutetia im Hinterkopf behalten würde.
"Hier ist tatsächlich ein Knopf."
"Natürlich! Hab ihn selbst eingebaut. Die Alte hat mir mit ihrer Pfuscherei wochenlang den Schlaf geraubt, da hab ichs lieber selbst gemacht."
"Ich sag doch, Hank ist ein netter Kerl."
"Tatsächlich." Und zur Nachbarwohnung gerichtet sagte Lutetia etwas lauter: "Ich sollte mal auf einen Tee vorbei kommen, wo wir uns schon so nett unterhalten."
"Machen Sie sich nicht die Mühe! Ich muss sowieso gleich weg." Aus der Nachbarwohnung hörten sie eine klappende Tür und sich eilig entfernende Schritte.
"Man könnte meinen, er rennt vor irgend was davon." Cornwood umging die Antwort, drückte den Knopf und die gesamte Wand klappte nach oben.

Wie es aussah, hatte Peaches Cavanaugh vor ihren Alkoven eine dünne Gipskartonwand installiert und mit dem Öffnungsmechanismus eines Garagentores verbunden. Damit konnte sie den Inhalt der Nische komplett vor neugierigen Augen verschwinden lassen. Und das war notwendig. Denn der Schrein dahinter gehörte auf keinem Fall einer geistig gesunden Person. Der Schrein war der Tempel einer ausgewachsenen paranoiden Obsession.

"Ich kenne diesen Mann."
"InfoHenry Wilson. Mein Vorgänger."
"Ach ja. Ich erinnere mich. Er hat mich mal festgenommen."
"Wirklich? Sie wurden verhaftet?"
"Ein Missverständnis."
"Kann ich mir vorstellen."
Der gute Punkt lautete: Kerzen fehlten. Brennende Kerzen vor hunderten Fotos von derselben Person hätten das ganze gruselig gemacht. Fotos waren da - auch wirklich hunderte, nach dem, was Lutetia abschätzen konnte. Und Ordner. Ebenfalls hunderte. Notizen. Überwachungsprotokolle. Bewegungsprofile. Alles was der moderne Stalker so braucht.
"Manchmal glaubt man eine Person zu kennen", bemerkte Cornwood, "und mit einem Mal sieht man, dass man nichts von ihr weiß." Lutetia betrachtete die Fotos. Sie waren in konzentrischen Kreisen angeordnet, die ältesten außen. Henry Wilson war auf jedem zu sehen. Soweit Lutetia erkennen konnte, war das erste Bild, auf dem er auftauchte, das von Peaches Schuleinweihung. Kinder lächelten ihr zahnlückenhaftes Lächeln in die Kamera dahinter. Eine ältere Frau - wohl die zukünftige Klassenlehrerin - stand neben ihnen. Und ein schneidiger Wilson in Uniform. Alle Gesichter waren auf die Kamera gerichtet. Alle, bis auf eins: ein dürres, bebrilltes Mädchen wandte ihren Blick nicht von dem jungen Beamten.
"Wer ist das?" fragte Lutetia.
"Ms Cavanaugh. Muss ihre Einschulung sein."
"Wahrscheinlich hat sich das gute Schulessen auf ihre Figur gelegt."
"Ganz sicher nicht. Ich bin mit ihr in die Schule gegangen. Zwei Klassenstufen über ihr. Zum Abschlussball hätten die Jungs sich gegenseitig umgebracht, um sie mitzunehmen."
"Und mit wem ist sie gegangen?"
"Mit niemandem. Sie hatte einen geheimen Verehrer. Hat sie jedenfalls immer erzählt. Mit dem wollte sie kommen. Ist dann aber nicht aufgetaucht. Später hat sie was von wichtigem Einsatz erzählt, aber niemand hat ihr geglaubt." Cornwood überlegte einen Moment. "Die Gerüchte über ihren unsichtbaren Geheimagenten haben ihr ziemlich zugesetzt. Danach hat sie zugelegt."
"Interessant", sagte Lutetia. Ihr Blick fiel auf ein Tagebuch, das zwischen den Ordnern steckte. Es hatte ein kleines Vorhängeschloss und war mit Pferden und Herzen und Regenbogeneinhörnern bedruckt. Eindeutig das Eigentum eines jungen Mädchens. Die ungeschriebenen Regeln der Polizeiarbeit besagten, dass Beweismittel nicht unterschlagen werden durften. Aber Lutetia war im Leben dort angekommen, wo sie gerade war, weil sie ein feines Gespür für ungeschriebene Regeln hatte. Vor allem, wann diese zu brechen waren. Als sich Cornwood das nächste Mal wegdrehte, verschwand das Tagebuch14. "Ob ich in diesen Papieren was über ihre Familie finden könnte?" Cornwood sah Lutetia zweifelnd an.
"Ich bin mir nicht sicher, was Sie suchen."
"Nächste Angehörige. Jemand, dem ihr Tod nicht am Allerwertesten vorbei geht."
"Dann wohl nicht."
"Und Sie haben nicht mal gesucht. War Peaches Cavanaugh so wenig wert?" Cornwood stöhnte.
"Wird das die moralische Keule? Ist das eine Art Vorbereitung auf die Kindererziehung? Sie können das schon richtig gut."
"Naturtalent. Ich brauche keine Übung." Cornwood rang mit sich selbst.
"Kann ich darauf vertrauen, dass nichts aus diesem Raum verschwindet?" Lutetia wählte ihre Antwort sorgfältig.
"Halten Sie mich für eine Diebin?" Starren oder Unschuldsblick?
"Ich möchte, dass alle Ordner an ihrem Platz sind, wenn ich wiederkomme." Unglaublich: Die Unschuldstour wirkte noch besser als das Starren.
"Das garantiere ich. Nichts von dem, was Sie jetzt hier sehen, wird verschwinden." Er hatte nichts vom Inhalt gesagt.
"Ich muss meine Runde weitermachen."
"Sie können mir vertrauen."
"Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Fehler wäre." An der Tür drehte sich Cornwood noch einmal um. "Warum Allerwertesten? Das sagt heute kein Mensch mehr." Lutetia strich über ihren Bauch.
"Es heißt, die Welt heute ist zu schlecht, um noch Kinder hineinzusetzen. Wenn die Welt besser werden soll, dann muss einer damit anfangen."
"Und der Allerwerteste hilft."
"Es ist ein Anfang. Und falls Sie in meiner Gegenwart jemals dreckige Sprache benutzen, breche ich Ihnen Ihre Knochen. Mit Vergnügen."
"Schließen Sie zu, wenn Sie gehen."

Lutetia schloss ab, sobald Cornwood die Wohnung verlassen hatte. Sie wollte nicht gestört werden. Für einen Moment gelang es Lutetia sogar, ihre drückende Blase zu ignorieren. Einen Moment später überwand sie ihre Abneigung gegen fremde Sanitäranlagen und benutzte Peaches Toilette. Erleichtert setzte sie sich auf den Stuhl, der in dem kleinen Alkoven stand und betrachtete erneut die Fotowand. Cavanaugh war besessen von Henry Wilson. Das führte zu zwei Fragen: Warum? und Wohin hatte das geführt? Die Antwort ließ sich mit Sicherheit am Anfang und am Ende ihrer Aufzeichnung finden. Im Tagebuch des kleinen Mädchens, dass die Bibliothekarin einmal war und im letzten Ordner mit Protokollen.

Das Tagebuch war das eines kleinen Mädchens, das kaum schreiben konnte und dort, wo die Worte fehlten, Bilder einsetzte. Und zu einem inflationären Gebrauch kleiner Herzchen neigte. Es gab nur ein Thema: den jungen, ihrer Beschreibung zufolge unglaublich gut aussehenden Polizeibeamten, der den Erstklässlern am Tag der Einschulung ihre Zuckertüten überreicht hatte. Für Peaches musste Wilson ein auf die Erde gekommener Götterbote gewesen sein, die Fleischwerdung eines Engels, ach was: Zeus persönlich. Es gab weitere Tagebücher. Lutetia blätterte sie durch und fand Lobeshymnen über Lobeshymnen über Henry Wilson. Die ersten Ordner stammten auch aus dieser Zeit, enthielten Zeitungsausschnitte, Fotos und jeden Polizeibericht über die Heldentaten des jungen Constable. Dazwischen detaillierte Beschreibungen des glücklichen Lebens einer gewissen Peaches Wilson - vorausgesetzt, die junge Frau hätte jemals den Mut gefunden, ihren Schwarm anzusprechen. Oder besser: ihr Schwarm hätte sie angesprochen. Peaches hatte - ihren Tagebucheinträgen nach zu urteilen - alles getan, um Wilsons Aufmerksamkeit zu erregen und der hatte sein Bestes getan, es nicht zu bemerken. Peaches fand genug Entschuldigungen dafür: Ein Einsatz, der ihn wegrief, bevor er seine Liebe gestehen konnte, die anstehende Rettung des Planeten, eine Korrektur des Zeit-Raum-Kontinuums. Die Ironie der Sache war, dass Peaches zu dieser Zeit durchaus attraktiv aussah und sogar den einen oder anderen Verehrer gehabt hatte. Sie erwähnte zwei in ihren Aufzeichnungen, zusammen mit ausführlichen und nicht sehr schmeichelhaften Listen ihrer Mängel im Vergleich zu Wilson. Kein Mensch konnte diesem Ideal entsprechen. Das konnte nur in einer gewaltigen Explosion enden.

Und das tat es.

"Der Typ bietet dreitausend Pfund für das Winter-Bild." Stephano Valence warf den Brief in den Papierkorb. Ricardo schnappte danach.
"Welcher Typ?"
"Der Wirt. Der Typ mit der Leinwand und der weißen Farbe." Stephano sortierte weiter die Post, während Ricardo mit glänzenden Augen die Zeilen las.
"Dreitausend Pfund! Das ist... das ist großartig."
"Dreihunderttausend wären großartig. Das da ist reiner Hohn."
"Aber warum? So viel hat noch nie jemand für eins meiner Bilder geboten." Stephano ahnte, was gleich kommen würde und seufzte innerlich. "Vielleicht könnten wir anfangen, von meinen Bildern zu leben, Stephano! Und ich müsste nicht mehr diesen billigen Kram kopieren! Was macht er überhaupt damit?"
"Es gibt viele, die sich einen echten Meister nicht leisten können, aber die Kunst zu schätzen wissen. Die es lieben, jeden einzelnen Pinselstrich zu studieren. Keiner ist besser darin als du, ihnen etwas zu geben, was sie sonst niemals besitzen könnten."
"Aber was ist mit mir?" Die Frage war neu.
"Was soll mit dir sein?"
"Weißt du, eines Tages möchte ich, dass meine Bilder im Museum hängen."
"Das werden sie. Ganz sicher." In der Tat hingen sie bereits dort. Nur nicht unter dem Namen Ricardo Valence, sondern unter den Namen van Gogh, Rembrandt, Renoir, Miro, Monet; die Originale befanden sich dagegen in den bestens gesicherten Tresorräumen privater Sammler, wo sie vor Dieben, Tageslicht und den Blicken unverständiger Kulturbanausen geschützt waren.
"Aber Stephano, hör zu, wenn ich den ganzen Zyklus vollende, dann kannst du diesen Smith bestimmt überzeugen, fünfzehntausend locker zu machen! Das ist ein Anfang!" Stephano verkniff sich ein zynisches Grinsen und sah seinen Bruder traurig an.
"Ja, ein Anfang. Aber nicht mehr. Das würde kaum für sechs Wochen reichen, dann ist das Geld weg. Draufgegangen für deine Medikamente."
"So viel?"
"Ja Ric. So viel." Stephano schwieg einen Moment. Mit Gewalt und Drohungen war bei Ricardo nichts zu erreichen, das wusste er. Aber mit einer geschickten Manipulation war er Wachs in seinen Händen. Deshalb ging nun ein sorgfältig einstudiertes Lächeln über Stephanos Gesicht. "Weißt du was, Ric? Ich werde mit diesem Pubinhaber sprechen. Ich bringe ihn sicher auf fünftausend hoch und dann verkaufen wir ihm dein Bild. Das ist doch ein Anfang!"
"Das würdest du für mich tun, Stephano? Das ist... das ist... ich weiß nicht, was ich sagen soll."
"Nichts, bis das Bild verkauft ist. Und du könntest... er wartet auf die Lieferung." Ricardo seufzte.
"Ich weiß. Aber Dürer ist unglaublich schwierig. Und ich konnte mir das Bild nicht so genau anschauen."
"Es ist der erste Schritt auf dem Weg zu ewigem Ruhm." Ricardo seufzte ein zweites Mal. Stephano wusste, wie er ihn rumkriegen konnte.

Als Lutetia an der Burg ankam, erwartete sie George bereits vor der Tür. Mit verschränkten Armen und einer Miene, die nichts Gutes verhieß. Neben ihm ein Taxi mit laufendem Motor.
"Mildred ist bereit, uns eine zweite Chance zu geben."
"Woher hast du das Taxi?"
"Geborgt. Paul schuldete mir noch einen Gefallen. Steig ein!"
"Aber vielleicht will ich Mildred keine zweite Chance geben? Geburtsvorbereitung ist langweilig. Ich hab hier..."
"Es ist zur Hälfte mein Kind und ich will, dass du in dieses Taxi steigst und mit zu Mrs. Servegood fährst." Lutetia sah George erstaunt an. Ihr Verhältnis basierte auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt. Und ja, einer großen Portion Gehorsam auf seiner Seite. Das war zu viel Neues auf einmal. Lutetia beschloss sich zu fügen - vorläufig - und stieg ein.

Die Fahrt führte aus Borough raus in die Berge. Obwohl Lutetia schon seit einigen Jahren hier lebte, hatte sie die Stadt doch nie wirklich verlassen. Für jemanden, der in London aufgewachsen ist, stellte Borough bereits ein ausreichendes Maß an Ländlichkeit dar. Die fehlende U-Bahn schränkte den Aktionsbereich der Fußgänger ein, die unglaublich schlechten Straßen den der Autofahrer. Noch abgeschiedener ging es kaum, hatte Lutetia geglaubt. Jetzt wurde das Gegenteil klar: links und rechts der Single-Track-Road, die sich durch die schottischen Berge schlängelte, gab es nichts. Absolut gar nichts. Außer Berge. Was für Menschen lebten hier?
"Ist sie auf der Flucht vor den Regierungstruppen?", fragte Lutetia. "Wie Rob Roy?"
"Mildred hat ihre kleine Hütte exakt in der Mitte ihres Arbeitsbereichs gebaut. Damit sie bei Notfällen so schnell wie möglich bei den Frauen ist, egal wo sie wohnen."
"Sie hat ihre Hütte selbst gebaut?"
"Hat mir meine Mutter erzählt. Mildred ist eine sehr tatkräftige Frau."
Nach der nächsten Kurve kam die Hütte in Sicht.

Ein Hubschrauberlandeplatz war das einzige, was fehlte. Aber wahrscheinlich hatte Mildred ihn so angelegt, dass er das Panorama nicht verschandelte. Eine Hütte war dieses Gebäude nur für jemanden, der das Taj Mahal für einen Abstellschuppen hielt. Das Taxi rumpelte durch die letzten Schlaglöcher der Public Road, bevor es auf der asphaltierten Auffahrt zu Mildred Servegoods Anwesen ausrollte. Lutetia erwartete, dass ein livrierter Butler mit weißen Handschuhen gleich die Doppeltüren öffnen und sie persönlich begrüßen würde. Sie wurde nicht enttäuscht. Natürlich war auf das schottische Wetter Verlass: wenn man Regen brauchte, war er nicht da. Sonst hätte der Butler - den die Hebamme von den Chippendales abgeworben haben musste - Lutetia mit dem Regenschirm die zwei Meter vom Auto zum Eingang geleitet.
"Die Herrschaften werden in der grünen Lounge erwartet. Folgen sie mir bitte." Lutetia und George folgten ihm durch ein Labyrinth beteppichter Flure und Treppen, bis der Butler schließlich eine Tür aufstieß und sie in den Raum dahinter führte.
"Mrs. Servegood wird in wenigen Minuten bei ihnen sein. Bitte nehmen sie Platz."
"Ich bin schon da, Jack. Lass Mrs. Stubbs hier und kümmere dich um George." Eines musste Lutetia Mildred Servegood lassen: Sie verfügte über eine exzellente Menschenkenntnis. Sie hatte auf den ersten Blick die Quelle für Lutetias Schwangerschaftsstress erkannt.

Mildred Servegood entsprach nicht ganz dem Bild der klassischen Landhebamme, die sich mit Lederkoffer bei Wind und Wetter, durch Sturm und Gewitter über Moore und Felsabhänge zu den entlegensten Farmen durchkämpft, um einer Frau in Not tagelang beizustehen und das neue Leben auf der Welt willkommen zu heißen. Wenn Mildred Servegood jemals eine Farm aufsuchen sollte, dann sollte da besser auch ein Hubschrauberlandeplatz sein. Und das erste, was ein Neugeborenes von ihr bekam, war eine Rechnung - und erst dann den obligatorischen Klaps auf den Po. Der natürlich als Zusatzleistung abgerechnet wurde. Lutetia war in die blaue Lounge getreten und bemerkte nach ein paar Schritten, dass es hinter ihr eine kleine Auseinandersetzung gab. George wollte nicht, dass Jack sich um ihn kümmerte.
"Lassen Sie mich durch! Ich bin der Vater!" Und Jack war eine Wand. George hatte keine Chance, aber er gab nicht auf. Mildred intervenierte.
"George, du bist ein wundervoller Junge. Aber hier bist du fehl am Platz. Geh mit Jack mit."
"Aber ich bin der Vater! Ich will die Geburt meines Kindes hautnah miterleben! Ich will ein Teil davon werden. Lutetia, sag was!"
"Sie ist die Expertin. Das hast du selbst gesagt. Und wenn sie sagt, dass es für unser Baby das Beste ist, dann... Du willst doch auch den besten Start für unser Kleines." Auf Georges Gesicht dämmerte die Erkenntnis.
"Das ist eine Falle! Lutetia, das ist eine Falle!"
"Ja, ich weiß. Und ich kenne auch diese ganzen Psycho-Bücher, die du liest und die vom Ich-Gefühl sprechen und die natürlich recht haben. Aber hier geht es um unser Baby. Ein neues Leben. Da müssen wir zurückstecken." Lutetia lächelte George an. George überlegte, ob sie ihn an- oder auslächelte.
"Deine Frau hat recht, George. Warum gehst du nicht in den Männerraum? Er hat ein Ledersofa, einen Großbildfernseher und Autozeitschriften."
"Autozeitschriften. Ich hasse Autos."
"Jack wird schon was für dich finden." George starrte Mildred wütend an. Und als er sicher war, dass es keinen Weg an Jack vorbei gab, antwortete er.
"Mir ist nach Tod und Zerstörung!"
"Sehr wohl", entgegnete Jack. "Das klingt nach einer Aufgabe für die Spielkonsole. Möchten Sie Terroristen oder Zivilisten abschlachten?"
"Hebammen!" Mildred und Lutetia sahen George nach, bis die Tür hinter ihm zufiel.
"Die Schwangerschaft ist eine recht anstrengende Zeit", sagte Mildred schließlich.
"Ja", sagte Lutetia. "Für den einen mehr und die andere weniger."
"Ich schätze, eine Stunde Ruhe und Entspannung würde Ihnen ganz gut tun."
"Kein Vortrag über Atmung?"
"Wenn Sie die nicht vor zwanzig Jahren begriffen hätten, wären Sie nicht hier."
"Das ist eine etwas... pragmatischere Einstellung als ich erwartet hätte."
"Setzen Sie sich ruhig." Mildred wies auf ein Sofa, das bequemer aussah als einem wachen und scharfen Verstand zuträglich war. "Keine Angst, ich tue Ihnen nichts."
"Sie haben den Ruf, die Beste zu sein. Atemtechnik, Powerentspannung, Kräuteraufgüsse und so was."
"Das erzählen Frauen ihren Männern, damit sie wieder kommen dürfen. Aber im Prinzip klappt die Sache mit der Geburt seit Jahrtausenden von allein."
"Dafür lassen Sie sich verdammt gut bezahlen." Mildred zuckte mit den Schultern.
"Wie viel ist Ihnen eine Stunde Ruhe wert?" Lutetia warf einen Blick auf das Sofa. Es sah wirklich bequem und verlockend aus.
"Ich habe leider keine Stunde Zeit."
"Warum nicht?" Die Hebamme sah aus wie eine nette alte Dame, deren freundlichen Lächeln man nichts abschlagen konnte. Und der man kein Das geht dich nichts an! entgegenschleudern konnte.
"Es gibt so viel zu tun."
"Es gibt immer viel zu tun. Aber die Meisten vergessen darüber das Wichtigste."
"Und das wäre?"
"Leben."

Kapitel 5

"Er hat sich tapfer gewehrt", bemerkte Jack, als er Lutetia die Tür aufhielt.
"Die ganze Zeit?"
"Die ganze Zeit." George saß im Auto und sagte kein Wort. Das war auch nicht nötig. Selbst fremde Lebensformen von fernen Welten, die nie zuvor einen Menschen gesehen hatten, hätten sofort gewusst, dass er vor Wut kochte. Und dem Zustand seiner Kleidung und Frisur nach zu urteilen, hatte er sich redlich bemüht, Jack an seiner Wut teilhaben zu lassen. Lutetia hingegen war erfrischt und munter. Kein Wunder, sie hatte die letzten zwei Stunden tief und fest geschlafen, hypnotisiert durch das gleichmäßige Klappern von Mildreds Stricknadeln und beruhigt durch das Versprechen der Hebamme, dass die Stricksachen keinesfalls für ein Mitglied der Familie Stubbs bestimmt wären.
"Das war das letzte Mal, dass wir etwas mit dieser Person zu tun gehabt haben!" zischte George, als der Wagen wieder auf der Landstraße war.
"Ich fand sie eigentlich ganz nett." George schnaubte verächtlich.
"So eine falsche Schlange! Nach allem, was ich für sie getan habe!"
"Du für sie? Ich dachte die biologische Verwertungskette geht anders herum. Du weißt schon. Geburt. Leben. Sterben. Das wir so die Endstation sind."
"Versuch nicht, diese Frau in Schutz zu nehmen!"
"Wir haben nächste Woche wieder einen Termin."
"Rechne nicht mit meiner Unterstützung."
"Es ist aber gut für unser Kind. Und ich fühle mich besser als je zuvor."
"Und ich? Ich bin zu fünfzig Prozent an dem Kind beteiligt, und wie werde ich behandelt? Wie ein Hund, den man vor die Tür sperrt! Ich kann nicht glauben, dass du so eine Behandlung tolerierst!"
"Bestimmte Sachen regeln sich besser von Frau zu Frau."
"Es ist auch mein Kind!"
"Das sagen sie alle. Aber wenn es hart auf hart kommt, dann bin ich die, die hechelt und presst. Allein."
"Allein. Du sagst es. Denn allein wirst du sein, wenn du dich weiter mit Mildred Servegood abgibst! Ich werde mit dieser Person für den Rest meines Lebens keinen Raum mehr teilen!" Lutetia klopfte George leicht aufs Knie.
"Du nimmst die Sache viel zu ernst." Sie konnte nicht wissen, dass das der Knopf war, der die Granate zum Explodieren brachte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739461250
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Schräge Vögel Typisch britisch Schwarzer Humor Krimi Thriller Spannung Humor Satire Parodie

Autor

  • Lutetia Stubbs (Autor:in)

Lutetia Stubbs ist eine Ermittlerin, wie sie in keinem Bilderbuch steht: Sie löst Probleme mit einer scharfen Beobachtungsgabe, noch schärferer Intelligenz und – falls das nicht ausreicht – einem Baseballschläger.
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Titel: Lutetia Stubbs - Der Kleckser