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ENTHAUPTET

von Ben Lehman (Autor:in)
187 Seiten
Reihe: München-Krimi, Band 3

Zusammenfassung

Gerade an Wannigers 30. Dienstjubiläum bekommt die K3 einen Mordfall, der es in sich hat. Gefunden wurde ein ramponierter Kopf, der schon länger vom Körper abgetrennt war, aber eine Vermisstenanzeige gibt es nicht. Zumindest zunächst nicht. Ein paar Tage später meldet Luca Tadori seine Frau Chiara als vermisst. Er hatte sie vor einer Woche nach einem Streit zum letzten Mal gesehen und gedacht, sie wäre bei ihrer Schwester. Dort ist sie aber nicht. Ist Chiara wirklich nur verschwunden? Oder wurde sie ermordet? Hat sie vielleicht einen Liebhaber und ist bei ihm untergetaucht, denn wie sich herausstellt, wollte sie sich scheiden lassen. Und auch ihre Schwester und ihre Freundin wissen von Affären. Wanninger und sein Team haben Fragen ohne Ende, finden aber zunächst keine Antworten. Plötzlich geht es nicht mehr nur um einen Kopf ohne Körper und um eine Vermisste, sondern um eine ganze Familiensippe und deren dunkle Geheimnisse. Und als hätte die K3 nicht genug zu tun, ist zwischenzeitlich auch noch ein Banküberfall mit Mord aufzuklären, der eine überraschende Wendung bringt. Wer dieses Buch in die Hand nimmt, sollte darauf gefasst sein, es nicht mehr weglegen zu können. Man ist gleich mittendrin im Geschehen und fiebert mit Wanniger und seinem Team, wie all die Ungereimtheiten zusammenhängen und ob sie überhaupt aufgeklärt werden können. Ein gruseliges Lesevergnügen!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum:

Texte: © Copyright by Ben Lehman
Umschlag: © Copyright by Ben Lehman
Verlag: Ben Lehman

Von-der-Tann-Straße 12
82319 Starnberg
mail@benlehman.de

Enthauptet

Dritter München-Krimi

2.

Damit ihr gleich Bescheid wisst, ab heute werde ich jeden Morgen hier an meinem Schreibtisch einen Blick in die Zeitung werfen“, erklärte Wanninger am nächsten Morgen und öffnete die Morgenzeitung. „Mann, was habe ich heute für einen Brummschädel.“

„Ging´s denn gestern Abend noch weiter?“

„Und wie! Vielleicht lass ich mich von Dobler nach Hause schicken. Einen Monat oder zwei, wegen totaler Erschöpfung.“

„Tun Sie uns das bitte nicht an“, jammerte Lena.

Gerade riss Dr. Jablonka die Tür auf. „Ah, unser Sepp hat Langeweile. Du weißt ab heute wahrscheinlich nicht mehr so ganz genau, was du machen sollst.“

„Du schon wieder!“, rief Wanninger. „Hast du vielleicht deinen geheimnisvollen Kopf mitgebracht?“

„Meinen Kopf habe ich immer bei mir, wie du siehst. Aber den anderen habe ich mir nicht getraut mitzubringen“, kicherte er, „wegen deines schwachen Nervenkostüms. Aber ich wollte mit dir darüber ein paar Worte wechseln. Ganz im Ernst, Sepp.“

„Na, dann nimm Platz. Stört dich hoffentlich nicht, wenn meine Mitarbeiter anwesend sind. Da muss ich mir nicht wieder alles merken, du weißt, wie vergesslich ich seit gestern bin.“

Jablonka setzte sich auf einen der Stühle und berichtete: „Also, das ist eine richtig mysteriöse Angelegenheit.“ Er wartete und beobachtete den Gesichtsausdruck der vier Kriminalisten.

„Wieso?“, wollte Thomas wissen.

„Wie ich gestern schon andeutete“, fuhr Jablonka fort, „die haben uns einen ramponierten Kopf gebracht. Sieht nicht mehr so toll aus.“

„Einen Kopf?“, erschrak Florian, „ohne …, äääh, sonst nichts?“

„Männlich oder weiblich?“, wolle Lena wissen.

Er zuckte die Schultern. „Schwierig, kann man nicht mehr so deutlich erkennen. Ich habe ein Foto mitgebracht, das zeig ich euch lieber später, bevor ich gehe.“

„Bestimmt eine Frau“, ging Lena auf, „wir Frauen sind wirklich arm dran. Es gibt so viele brutale Kerle.“

„Lass ihn erst mal ausreden“, meinte Thomas.

„Trotzdem“, Lena schüttelte sich entsetzt, „wenn es nur ein Kopf ist, dann wurde garantiert eine Frau enthauptet. Versteht ihr, geköpft, oh Gott.“

Jablonka überhörte diese Bemerkung. „Das Merkwürdige ist, dass es keine Vermisstenmeldung gibt. Ich habe schon überall nachgefragt.“

Thomas fixierte Jablonka gespannt. „Wo wurde der Kopf gefunden?“

„Nahe der Isar, bei Thalkirchen. Etwas abseits in einem Gebüsch. Wäre vielleicht nie entdeckt worden. Ein Jäger ging zufällig vorbei, sein Hund schlug an.“

„Du willst also sagen, dass wir über diesen Kopf rein gar nichts wissen?“ Wanninger zog die Augenbrauen hoch.

„So ist es.“

„Und der restliche Körper?“

„Leider Fehlanzeige.“

„Und warum erzählst du uns das?“

„Ich dachte, ihr seid die Abteilung für besondere Fälle in der Mordkommission.“

„Trotzdem“, entgegnete Wanninger, „du könntest doch auch mal zu einer anderen Abteilung gehen, nicht immer zu K3.“

„Mein lieber Sepp, wir versorgen nicht nur euch. Falls du es vergessen hast, wir sind als Rechtsmedizin für die gesamte Kripo zuständig und ihr seid nur eine Abteilung der Mordkommission. Die anderen Abteilungen sind völlig ausgelastet, sagt zumindest der Dobler, und gestern hatte ich erfahren, dass ihr gerade auf dem Trockenen sitzt.“

„Ach ja?“, knurrte Wanninger. „Auf dem Trockenen? Weil ich gestern eingeladen hatte und alles gesoff…, ich meine getrunken wurde? Wieviel Bier hast du eigentlich geschluckt?“

„Nur ein Dunkles, mehr gab´s leider nicht, aber das war gestern.“

„Vielleicht erklärst du uns noch, was wir jetzt tun sollen?“

„Keine Ahnung. Aber ich kann doch einen Kopf ohne Körper nicht einfach so rumliegen lassen. Glaubt ihr vielleicht, ich verstau ihn in der Asservatenkammer?“

„Kannst ihn dir einfrieren!“

„Wir sollten die Späßchen zur Seite lassen, Sepp.“ Jablonka wurde ernst. „Dobler hat entschieden, dass K3 den Fall übernimmt. Er hat euch übrigens riesig gelobt, kommt bei ihm nicht so oft vor. Wir werden den Kopf genauestens untersuchen, DNA und so weiter. Dann brauchen wir einen Fachmann, der das Gesicht rekonstruiert.“

„So schlimm?“ Lena war blass geworden.

„Leider ja. Und dann müssen wir gemeinsam nachdenken, wie wir dem Verbrechen auf die Spur kommen können.“

„Schwierig, schwierig Doc, wenn es überhaupt keinen Hinweis gibt.“ Florian schüttelte den Kopf.

„Schon“, bestätigte Jablonka, „nützt aber nichts. Nun seid ihr gefragt. Also, dann macht´s gut. Übrigens, hier ist das Bild.“

Damit verschwand Dr. Jablonka.

Alle vier beugten sich über das Foto.

„Grausam“, Lena schüttelte angewidert den Kopf, „so viel Brutalität. Kann dir einfach nur schlecht werden.“

Wanninger betrachtete das Foto lange, dann meinte er: „Der Kopf wurde sauber abgetrennt. Das hat jemand gemacht, der weiß, wie es geht.“

„Irgendein wildes Tier scheint auch dran gewesen zu sein“, vermutete Thomas.

„Und Würmer“, ergänzte Thomas. Lena schnaubte vernehmlich und warf ihm einen bösen Blick zu.

Am nächsten Tag führte der Rechtsmediziner Dr. Heitkamp aus, dass der Tod vor mehr als einer Woche eingetreten sein dürfte. DNA und Blutgruppe waren festgestellt worden, ebenso alle erkennbaren Details wie Augenfarbe und so weiter. Das Alter der Person wurde auf 25 bis 35 Jahre geschätzt. Der Kopf sei mit einem großen Messer oder vielleicht einer Machete abgetrennt worden.

„Also kein Affekt?“, wollte Wanninger wissen.

„Eher nicht. Natürlich müssen der Mörder und die Person, die den Kopf abgetrennt hat, nicht ein und dieselbe gewesen sein. Vielleicht ein Auftragsmord oder wenigstens eine Auftragsarbeit an einen Metzger.“

„Toller Auftrag“, flüsterte Lena angewidert.

„Irgendwelche weiteren Spuren, die man dem Täter zuordnen könnte, wurden bis jetzt nicht gefunden.“

„Keine Fußspuren am Fundort oder sonst etwas Brauchbares?“

Heitkamp schüttelte den Kopf. „Aber es wird weitergesucht.“

„Dann stehen wir im Augenblick ziemlich ratlos da“, überlegte Thomas.

Dr. Heitkamp nickte und verabschiedete sich. „Ein Zeichner, der dem Kopf ein Gesicht geben kann, ist noch nicht gefunden. Da gibt es nur wenige mit dieser Erfahrung. Die Computersimulation wird gerade erstellt, vielleicht könnt ihr damit was anfangen.“

3.

Die Polizeiinspektion Neuhausen rief im Präsidium an. Da fast alle Leitungen besetzt waren, wurde das Gespräch von der Zentrale zur Abteilung K3 geleitet. Florian nahm den Hörer ab. „Moser“, meldete er sich.

„Polizeiinspektion Neuhausen. Bei uns ist eine Vermisstenmeldung eingegangen“, teilte der Beamte mit. „Der Name des Anrufers ist Luca Tadori, er vermisst seine Frau.“

„Sie sind aber bei der Mordkommission gelandet.“

„Ich kann nichts dafür, ich hatte Ihrer Kollegin in der Zentrale gesagt, dass es sich um eine Vermisstenmeldung handelt. Sie sagte, dass alle anderen Leitungen belegt seien.“

„Na gut“, antwortete Florian. „Sagen Sie mir Name und Adresse, ich geb das weiter.“

„Ja, er heißt Luca Tadori und wohnt in der Winthirstraße in Neuhausen. Telefonnummer habe ich ebenfalls.“

„Seit wann vermisst er seine Frau?“

„Das weiß er nicht genau. Er behauptet, er dachte, dass sie zu ihrer Schwester gefahren ist. Heute Morgen hätte er dort angerufen und erfahren, dass sie nicht eingetroffen ist. Nun macht er sich große Sorgen.“

„Okay, ich kümmere mich darum.“

Wanninger hatte zugehört und meinte: „Sie können ja mal hinfahren.“

„Wieso ich?“

„Dauert doch nur eine Stunde, Florian. Sagen Sie besser nicht, dass Sie von der Mordkommission kommen, damit er nicht einen Riesenschreck bekommt. Vielleicht ist sie inzwischen auch schon wiederaufgetaucht.“

Florian meldete sich telefonisch an und fuhr anschließend in die Winthirstraße. Er klingelte an der Haustür bei Tadori. Es war ein größeres Wohngebäude mit kleinen Balkons, die ähnlich Bienenwaben an der Wand hingen. Die Familie Tadori wohnte in der 4. Etage. Er fuhr mit dem Lift nach oben, Luca Tadori erwartete ihn bereits an der Tür.

„Hallo Herr Tadori“, grüßte Florian. „Moser ist mein Name. Die Polizeiinspektion Neuhausen hat uns informiert, dass Sie Ihre Frau vermissen. Ist sie vielleicht inzwischen wieder nach Hause gekommen?“

Tadori war ein mittelgroßer, eher schmächtiger Mann, offensichtlich italienischer Abstammung, dunkle Haare, feurige Augen. Er zwinkerte nervös mit den Augenlidern und schüttelte den Kopf. „Leider noch nicht. Ich weiß auch nicht, wo sie abgeblieben ist.“

„Seit wann vermissen Sie sie?“

„Habe ich Ihrem Kollegen bereits gesagt, dass ich es nicht weiß.“

„Aber Sie müssen doch wissen, wann Sie Ihre Frau zuletzt gesehen haben.“

„Ja, klar. Das war vor ungefähr einer Woche. Ich dachte, dass sie zu ihrer Schwester gefahren ist, weil …, ääääh …“

„Ja, weil?“

Er zögerte. „Also …, wir hatten gestritten. Meine Frau regt sich oft schnell auf. Ich konnte sie nicht beruhigen. Daraufhin hat sie sich angezogen und ist gegangen, ohne noch ein Wort zu verlieren.“

„Und wieso dachten Sie, dass sie zu ihrer Schwester gefahren ist?“

„Weil sie dort immer hinfährt, wenn wir …, äääh, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind.“

„Gut“, nickte Florian, „etwas mehr müssen Sie mir aber schon erzählen. Wie sollen wir sonst mit den Ermittlungen beginnen? Worüber hatten Sie gestritten?“

„Es geht immer um das gleiche, wegen Kinder.“

„Wegen Ihrer Kinder?“

„Nein, wir haben keine Kinder, aber sie möchte unbedingt welche.“

„Sie nicht?“

„Doch, ja, nein. Das spielt aber jetzt keine Rolle. Wenn sie wieder da ist, reden wir nochmal darüber.“

„Und sie hat die Wohnung verlassen, weil Sie sich nicht einigen konnten?“

„Ja, sie hat erst rumgeschrien und dann ...“

„Hat sie irgendetwas mitgenommen, Wäsche, Kleidung oder sonst was?“

„Weiß ich nicht. Hab nicht aufgepasst, ich war genauso stinksauer wie sie.“

„Könnten Sie das vielleicht herausfinden? Ich meine, dass Sie im Kleiderschrank nachschauen.“

„Ja, ja, kann ich. Mach ich später. Aber ich weiß sowieso nicht, was sie immer mitnimmt, wenn sie zu ihrer Schwester fährt.“

„Na, Sie wissen schon recht wenig.“

„Sagte ich doch gerade …“

„Bitte ein Foto Ihrer Frau!“

„Hier.“ Er holte ein Bild aus seiner Brieftasche und überreichte es Florian. „So sah sie aus, als wir uns kennenlernten. Heute ist sie nicht mehr blond.“

„Dann bitte ein neueres Foto!“

„Muss ich erst suchen. Mein Gott, mach ich gleich, bringe ich Ihnen.“

„Gut, dann hätte ich gerne die Adresse Ihrer Schwägerin.“

„Schreibe ich Ihnen auf.“

„Was machen Sie beruflich, Herr Tadori?“

„Ich arbeite in unserem Obst- und Gemüsegeschäft.“

„Ist das ihr eigenes Geschäft?“

„Ja, gehört der Familie.“

„Arbeitet Ihre Frau dort auch?“

„Nein, tut sie nicht. Sie hat mir früher oft morgens im Großmarkt geholfen. Zuletzt nicht mehr. Arbeitet jetzt in einem Büro.“

„Hat das Büro nicht nach ihr gefragt?“

„Nein, weil sie zurzeit Urlaub hat.“

„Okay“, nickte Florian, „wie heißt Ihre Frau mit Vornamen?“

„Chiara, Chiara Tadori.“

„Fällt Ihnen irgendetwas ein, was für unsere Ermittlungen wichtig sein könnte?“

Er schüttelte wieder den Kopf. „Nein, wirklich nichts.“

„Gut, Herr Tadori, dann belassen wir es erst einmal dabei. Ich werde die üblichen Nachforschungen anstellen lassen, Unfallstationen, Krankenhäuser und so weiter. Dann hören Sie wieder von uns, von mir oder einem meiner Kollegen.“

Florian war froh, als er die Wohnung von Tadori verlassen konnte, ein Besuch ohne hilfreiche Erkenntnisse. Als er in die Ettstraße zurückfuhr, dachte er, eigentlich weiß ich jetzt genauso viel oder wenig wie vorher.

Wanninger brütete gerade über einem älteren ungelösten Fall, als Florian eintrat. „Und?“, wollte er wissen. „Ist die Frau wiederaufgetaucht?“

„Nein, ist sie nicht. Den Weg hätte ich mir ersparen können. Der Ehemann weiß überhaupt nichts, behauptet er wenigstens. Seine Frau ist bereits vor ungefähr einer Woche nach einem Streit abgehauen und er hat wahrscheinlich die ganze Zeit vor sich hin gemault.“

„Das ist doch nichts Ungewöhnliches, Florian. Wenn Sie mal verheiratet sind, können Sie den Mann bestimmt ein wenig besser verstehen.“ Wanninger grinste verschmitzt. „Fragen Sie doch mal nach, ob sie irgendwo gelandet ist, Krankenhaus und so weiter.“

„Und warum soll ich das machen?“

„Weil Sie den Mann gerade kennengelernt haben. Ist doch blöd, wenn jedes Mal ein anderer Beamter bei diesem Tadori aufkreuzt und die gleichen Fragen stellt.“

„Von mir aus“, maulte Florian und klemmte sich ans Telefon. Doch eine Chiara Tadori war weder in einem Krankenhaus bekannt noch stand ihr Name in einem Unfallbericht. Es gab auch keine unbekannten Einlieferungen in den Krankenhäusern.

„Ist sie denn mit dem Auto weggefahren?“, wollte Wanninger wissen.

„Hab ich nicht gefragt“, knurrte Florian ärgerlich, aufgrund stundenlangen Telefonierens ohnehin erledigt.

Lena hatte interessiert zugehört. „Ich denke, wir sollten den Tadori ein wenig genauer unter die Lupe nehmen. Ist schon sehr merkwürdig, wenn die Ehefrau seit einer Woche verschwunden ist und er immer noch den Beleidigten spielt. Mein Mann würde mich garantiert am nächsten Tag überall suchen.“

„Ihr seid auch noch nicht so lange verheiratet“, antwortete Florian.

„Ach ja? Da kennst du dich wohl aus?“

„Nein, aber der Chef.“

Wanninger räusperte sich. „Ich denke, dass es nicht um euch beide geht. Mein Vorschlag ist, dass ihr gemeinsam Herrn Tadori aufsucht und alle weiteren offenen Fragen stellt. Wäre das eventuell möglich?“

„Na gut“, antwortete Florian griesgrämig, „dann kümmert sich eben neuerdings die Mordkommission um eine vermisste Person. Vielleicht nehmen wir einen Spürhund mit.“

„Keine schlechte Idee“, grinste Wanninger, „und die Waffen nicht vergessen!“

Thomas überlegte. „Vielleicht hat sie einen Freund, bei dem sie untergetaucht ist?“

„Ja, das wäre auch nichts Ungewöhnliches“, stimmte Wanninger zu.

Also meldeten sich Lena und Florian wieder telefonisch bei Tadori an und fuhren in die Winthirstraße.

„Haben Sie neue Nachrichten?“ Tadori machte einen besorgten Eindruck, als die beiden Polizisten eintraten.

Florian reichte Tadori die Hand. „Meine Kollegin, Frau Paulsen. Leider noch nichts, Herr Tadori, oder besser Gott sei Dank, denn bestimmt taucht sie in Kürze wieder auf.“

Lena begrüßte Tadori ebenfalls. „Wir haben in allen Krankenhäusern nachgefragt und in allen Polizeiinspektionen. Der Name Ihrer Frau taucht nirgendwo auf. Das sollte eher eine positive Nachricht sein.“

„Für weitere Ermittlungen benötigen wir von Ihnen genauere Informationen“, erklärte Florian, „wir müssen Sie über Ihr Umfeld befragen.“

„Was heißt Umfeld? Ich habe doch schon alles gesagt“, regte sich Tadori auf.

„Ich wundere mich“, begann Lena, „dass Sie Ihre Frau erst nach einer Woche vermissen. Mein Mann würde mich bestimmt schon am nächsten Tag suchen.“

„Sie fragen immer das Gleiche.“ Tadori schien genervt.

„Ist Ihre Frau mit dem Auto weggefahren?“

„Ja, ich glaube.“

„Sie glauben?“ Florians Stimme wurde eine Spur schärfer. „Herr Tadori, ich schlage vor, dass Sie jetzt ein wenig deutlicher werden. Es könnte sonst der Verdacht entstehen, dass Sie sehr genau wissen, wo Ihre Frau geblieben ist.“

„Wirklich nicht, verdammt noch mal“, maulte Tadori erkennbar unsicher, „ich mach euch jetzt einen Espresso, dann schau ich in der Tiefgarage nach.“

„Ja, gute Idee“, nickte Lena, „und wegen fehlender Kleidung und Wäsche überprüfen Sie bitte den Schrank Ihrer Frau.“

Der Espresso stand nach wenigen Minuten auf dem Tisch. Tadori schien erleichtert, kurz verschwinden zu können.

„So einen Espresso können nur Italiener“, lächelte Lena.

Kurz danach tauchte Tadori wieder auf. „Ihr Auto ist weg“, erklärte er.

„Jetzt die Wäsche!“, forderte Lena.

Als er aus dem Schlafzimmer zurückkehrte, schüttelte er den Kopf. „Ich weiß es wirklich nicht, weil ich nie in ihrer Wäsche rumkrame. Das mag sie auch nicht.“

„Kann es sein, dass Ihre Frau einen Freund hat?“ Damit überraschte Florian ihn total.

Tadori schoss mit feuerrotem Kopf hoch. „Was? Wo denken Sie hin? Meine Frau doch nicht.“

„Da wäre Ihre Frau weder die erste noch die letzte“, entgegnete Florian.

Tadori stand noch immer vor ihnen. „Mann, wir sind Italiener. Wenn sie mich betrügen würde, dann …“ Er unterbrach sich und hielt die Hand vor den Mund.

„Genau, das könnte doch sein, Herr Tadori …“ Florian wurde lauter als sonst. „Was wäre denn, wenn Ihre Frau Sie betrügen würde?“

„Nichts, das ist mir nur so rausgerutscht.“

Lena machte eine heimliche Bewegung zu Florian. „Herr Tadori, Sie geben uns jetzt bitte Folgendes: Kfz-Kennzeichen des Autos, Name und Adresse Ihrer Schwägerin und Name und Adresse des Arbeitgebers Ihrer Frau.“

„Name und Adresse meiner Schwägerin habe ich Ihrem Kollegen schon gegeben.“ Leicht zynisch fügte er hinzu: „Vielleicht hat er den Zettel verloren.“

Auf Florians Stirn bildete sich eine senkrechte Falte, doch er sagte nichts. Als Tadori die übrigen Informationen notiert hatte, verließen ihn Lena und Florian wieder.

„Ganz schön peinlich“, bemerkte Lena im Hausflur, „wo ist denn die Adresse von Tadoris Schwägerin?“

„Auf meinem Schreibtisch“, brummte Florian verlegen.

„Dann fahr ich am besten mal zu Chiara Tadoris Schwester“, erklärte Lena ihrem Chef, nachdem sie sich mit Florian besprochen hatte.

„Ja, ist in Ordnung. Vielleicht ergibt sich endlich mal irgendein Anhaltspunkt. Florian, Sie schreiben den Pkw zur Fahndung aus, wie war das Kennzeichen?“

„M-CT-99. “

„Aha CT, Chiara Tadori. “

„Der Kopf, von dem uns der Doc berichtet hat?“, überlegte Thomas.

„Was ist damit?“

„Ob das ihr Kopf ist?“

„Wird geprüft. Aber wir sollten nicht sofort mit dem Schlimmsten rechnen“, winkte Wanninger ab. „Immerhin werden in München täglich irgendwelche Leute vermisst. In der Regel tauchen sie nach ein paar Tagen wieder auf. So, wie ihr den Tadori geschildert habt, ist die Frau wahrscheinlich bei ihrem Freund untergetaucht. Die Schwester ist garantiert eingeweiht, Lena wird das herausfinden.“

Chiara Tadoris Schwester, Luisa Schuster, wohnte in Schleißheim in einem kleinen Reihenhaus. Sie öffnete die Tür.

„Grüß Gott, Frau Schuster“, stellte sich Lena vor. „Ihr Schwager, Luca Tadori, vermisst seine Frau.“

„Ja, ich weiß, bitte treten Sie näher.“

Sie bot Lena eine Tasse Kaffee an.

„Es stellen sich verschiedene Fragen, Frau Schuster. Wir meinen, dass Sie uns gewiss ein wenig behilflich sein könnten.“

„Ich weiß auch nicht, wo Chiara jetzt ist“, antwortete Frau Schuster.

„Vielleicht taucht sie in den nächsten Stunden oder Tagen wieder auf“, begann Lena vorsichtig. „Wir haben inzwischen Herrn Tadori zweimal befragt, es sind uns verschiedene Ungereimtheiten aufgefallen.“

„Ach ja, welche?“

„Herr Tadori gibt zu, dass es mit seiner Frau wiederholt zu Streit gekommen ist. Angeblich ist sie deswegen mehrmals zu Ihnen gefahren.“

„Jaaaa, das stimmt“, zögerte sie zunächst und nickte verhalten.

„Dieses Mal aber nicht?“

„Nein.“

„Wir könnten uns vorstellen, dass Frau Tadori noch irgendjemanden kennt, bei dem sie sich aufhalten könnte.“

„Meinen Sie einen Mann, also einen Freund?“

„Ja, genau.“

„Das ist völlig ausgeschlossen. Ich wüsste es. Wir hatten keine Geheimnisse.“

„Könnte man sagen, dass die Ehe der Tadoris nicht so optimal ist?“

„Das ist sehr vornehm ausgedrückt“, antwortete Frau Schuster. „Chiara will sich schon seit einiger Zeit scheiden lassen.“

„Weiß ihr Mann davon?“

„Natürlich. Wir alle sind Italiener, da fliegen schon mal die Fetzen. Da sagt man auch manchmal was Doofes.“

Lena überlegte kurz, dann entschloss sie sich zu fragen: „Könnten Sie sich vorstellen, dass ihr Mann ihr etwas angetan haben könnte?“

„Luca?“ Frau Schuster schüttelte entschieden den Kopf und lachte los. „Auf keinen Fall. Er ist zwar manchmal aufbrausend, genau wie seine Brüder, aber ansonsten ist er in Ordnung. Sie verstehen sich ganz einfach nicht mehr. Chiara wünscht sich ein Kind und Luca möchte, dass sie im Familienbetrieb arbeitet.“

„Das eine schließt doch das andere nicht aus. Ein Kind ist kein Hinderungsgrund für so eine Tätigkeit. Im Gegenteil, es schweißt vielleicht eher zusammen, könnte ich mir vorstellen. Oder nicht?“

„Ja, schon“, zögerte Frau Schuster, „früher hat sie Luca immer wieder mal morgens in der Großmarkthalle geholfen, jetzt nicht mehr. Aber da ist noch etwas …“

„Ach ja?“

„Chiara hasst Lucas Brüder und würde niemals mit ihnen arbeiten wollen. Ich glaube, da war mal was, so genau hat sie mir das nicht erzählt. Sie hat sich wahrscheinlich geschämt. Lucas Bruder Alfredo ist ebenfalls verheiratet. Nun, meine Schwester ist eine sehr schöne Frau, Alfredos Frau ist …, äääh …, eher das Gegenteil. Und Mario wechselt sowieso regelmäßig seine Freundinnen.“

„Sehr interessant. Und Sie meinen, dass sie ihre Schwager nicht leiden kann, weil einer mal zudringlich war? Wieviel Brüder sind es denn?“

„Sie sind drei Brüder, Mario ist der Jüngste, dann Luca. Alfredo ist der Älteste. Und dann gibt es noch eine jüngere Schwester, Renata.“

„Könnte Chiaras Verschwinden mit einem der Brüder zusammenhängen?“

Frau Schuster wehrte ab: „Glaube ich nicht. Was immer war, es liegt lange zurück.“

„Luca Tadori sagte uns, dass er im eigenen Obst- und Gemüsebetrieb der Familie arbeitet. Welcher Beschäftigung gehen denn seine Brüder nach?“

„Genau genommen sind die Brüder sehr erfolgreich. Es gibt insgesamt fünf Geschäfte in verschiedenen Stadtteilen. Die Brüder haben sich die Aufgaben geteilt. Luca kümmert sich um den Einkauf im Großmarkt. Mario, das ist vielleicht der Netteste, er macht den Verkauf. Er sorgt dafür, dass der Verkauf in allen Geschäften reibungslos klappt, dass die Verkäuferinnen freundlich zu den Kunden sind und nichts in deren eigene Taschen fließt. Sie verstehen?“ Frau Schuster machte eine eindeutige Handbewegung und grinste. „Mario hat seine Augen überall.“

„Und Alfredo?“

„Ja, der Alfredo“, sie wiegte den Kopf hin und her, „Alfredo ist der Finanzchef. Ich mag ihn nicht so sehr, er ist ein richtiger Macho. Und knallhart, sogar zu den eigenen Brüdern und der ganzen Familie. Wenn irgendetwas nicht nach seiner Pfeife läuft, rastet er aus. Sie können sich nicht vorstellen, wie der brüllen kann.“

„Hm, gut zu wissen.“

„Ich möchte aber nicht, dass er erfährt, dass ich …“

„Nein, Frau Schuster, keine Sorge.“

„Ich hätte vor Alfredo nämlich ebenfalls Angst.“

Lena beobachtete Frau Schuster einige Zeit genau und wechselte dann das Thema: „Wenn Luca Tadori täglich in den Großmarkt fährt, hat das doch gewiss einen Einfluss auf das Familienleben, vor allem, wenn ihn seine Frau nicht mehr begleitet. Ich meine, im Großmarkt beginnt doch der Arbeitstag schon um vier Uhr früh. Wer um drei Uhr aufstehen muss, liegt wahrscheinlich schon um zehn Uhr im Bett.“

Frau Schuster nickte. „Das ist wohl wahr. Chiara ist richtig lebenslustig. Immer, wenn sie am Abend mal mit ihrem Mann was unternehmen möchte, Kino, Disco, Theater oder eine Einladung bei Freunden, muss er dringend schlafen. Kann man zwar verstehen, aber, wenn das jahrein und jahraus so abläuft, könnte ich das auch nicht haben.“

Lena nickte zustimmend. „Das ist wirklich blöd. Was machen Sie eigentlich beruflich?“

„Ich bin Krankenschwester und arbeite im Schwabinger Krankenhaus.“

„Und Ihr Mann?“

„Der ist Techniker bei einer großen Telefongesellschaft.“

„Kann Ihr Mann Chiara gut leiden?“

„Natürlich“, nickte sie leicht unsicher, „ich sagte schon, dass Chiara eine attraktive Frau ist.“

Lena übergab Frau Schuster ihre Karte. „Wenn Ihnen irgendetwas Wichtiges einfällt, rufen Sie mich bitte an, Frau Schuster. Danke für die umfassenden Auskünfte und auf Wiedersehen.“

„Fehlanzeige, Herr Wanninger“, erklärte Lena, als sie wieder in der Ettstraße eintraf. „Die Schwester, eine Frau Schuster, hat mir viel über die Familie Tadori erzählt. Ich meine aber, dass da kein echter Ansatzpunkt erkennbar ist, wenigstens nicht für einen Mord. Aber vielleicht ist unsere gesamte Mühe sowieso umsonst.“

Wanninger hatte interessiert zugehört. „Sie sagten: keinen echten Anhaltspunkt, wenigstens nicht für einen Mord. Ist Ihnen denn sonst etwas aufgefallen?“

„Jaaaa“, zögerte sie, „aber nichts Besonderes. Die Tadori-Männer sind drei Brüder, die erfolgreich Gemüse und Obst verkaufen. Frau Schuster sagt, dass sie vor dem Ältesten, Alfredo, Angst hätte, wenn es zu einem Streit oder so käme. Er wäre ein Macho und auch zu den Brüdern oft knallhart.“

„Das besagt aber nichts.“

„Frau Schuster vermutet auch, dass da mal mit einem der Brüder was passiert sein muss. Ihre Schwester hätte aber nie Genaueres gesagt, vielleicht aus Scham. Auf jeden Fall sei die Schwester eine schöne Frau und die Schwägerin eher, ääääh, eher hässlich.“

Florian kicherte grinsend.

„Ich weiß nicht, was es da zu grinsen gibt, Florian“, rüffelte Lena. „Das sind doch nur irgendwelche Familiengeschichten, wie es sie in jeder Familie gibt.“

„Ist in Ordnung, Frau Kommissarin.“ Florian grinste weiterhin.

„Ach ja“, fiel Lena noch ein, „Luca Tadori ist im Unternehmen für den Einkauf verantwortlich und muss jeden Morgen um vier Uhr im Großmarkt sein. Früher hätte seine Frau ihm zuweilen im Großmarkt geholfen, inzwischen nicht mehr. Sie wäre lebenslustig und er muss leider immer abends zeitig ins Bett.“

„Au verflixt“, bemerkte Florian, „das ist echt Scheiße.“

Wanninger hatte aufmerksam zugehört. „Das ist doch wirklich einiges, Lena“, sagte er. „Aber, wie gesagt, vielleicht ist sie morgen wieder zu Hause. Weil jede Lebenslust auch mal wieder durch den Alltag abgelöst wird.“

„Ja, ja, ich habe Sie schon verstanden“, antwortete Lena, „weil sie morgen wiederauftaucht.“

„Sag ich doch“, bemerkte Florian, „da steckt garantiert ein netter Typ dahinter, der abends nicht so zeitig ins Bett muss, also, ich meine, nicht aus beruflichen Gründen.“

„Ihr Männer denkt immer nur an das eine“, schimpfte Lena.

„An was genau, Lena?“

Lena winkte ab.

Kommissar Wanninger hatte das Kinn in der Handfläche verborgen, dann schüttelte er den Kopf.

„Ist was, Chef?“, fragte Lena.

„Wisst ihr was?“ Er blickte seine Mitarbeiter nachdenklich an. „Wir geben den Fall ab. Das fällt nicht in unseren Aufgabenbereich. Und wisst ihr warum?“

Sie wussten nicht, was Wanninger gerade ausbrütet.

„Wo geht eine junge Frau hin, wenn sie es in der Ehe nicht mehr aushält und keinen Freund hat?“

Lena meinte: „Ist doch klar. Sie geht zu ihrer Mutter und weint sich aus.“

„Exakt, Lena“, nickte Wanninger. „Chiara Tedori ist bestimmt zu ihrer Mutter gefahren.“

„Sie ist doch Italienerin“, bemerkte Thomas, „vielleicht wohnt die Mutter irgendwo in Rom oder Neapel.“

„Eben! Wir geben das an die Fahndung weiter und ziehen uns zurück. Die sollen bei ihrer Mutter in Italien nachfragen und ich wette, dort hält sie sich gerade auf.“

„Da hätten wir unsere Zeit auch sinnvoller einsetzen können“, kritisierte Lena.

„Ja, was hätte ich denn tun sollen?“, rief Wanninger erregt. „Der Dobler bestand darauf. Hätte ich mich mit ihm vielleicht anlegen sollen?“

„Ist schon okay“, reagierte Lena.

In diesem Augenblick ging die Tür auf. Wer stand im Türrahmen? Der Referatsleiter Dr. Dobler.

„Oh“, entfuhr es Lena, „hoher Besuch.“

„Ich grüße euch, meine Lieben!“ Dobler trat mit strahlendem Lächeln ein.

„Was verschafft uns die Ehre?“, fragte Wanninger.

„Sie werden es nicht für möglich halten …“ Dobler grinste bedeutungsvoll.

„Doch, bestimmt.“ Wanninger war über Doblers Heiterkeit überrascht.

„Es wurde ein Pkw gefunden. Polizeiliches Kennzeichen M-CT-99.“

„Nein“, entfuhr es Wanninger. „Gerade hatten wir beschlossen, dass Chiara Tadori zu ihrer Mutter gefahren sein muss. Dafür gibt es bestimmte Hinweise. Wo wurde das Fahrzeug gefunden?“

„In einem Gebüsch nahe Thalkirchen.“

Die vier Kriminalbeamten starrten Dr. Dobler entsetzt an.

„Um Gottes Willen“, entfuhr es Lena. „Das könnte ja bedeuten …“

„Genau“, nickte Dobler.

„Und wieso haben Sie das früher als wir erfahren?“, ärgerte sich Wanninger.

„Ich hatte die Spusi noch einmal in das Gebiet um Thalkirchen geschickt, mit der Bitte, jeden Stein und jedes Ästchen zu untersuchen. Gerade sind sie zurückgekehrt. Ihnen wollte ich das zuerst mitteilen. Das Fahrzeug wird soeben abgeschleppt und anschließend eingehend untersucht.“

„Und, im Auto eine Leiche?“, wollte Thomas wissen, „oder wenigstens ein Teil?“

„Du meinst, eine Leiche ohne Kopf?“ Florian kräuselte die Stirn.

„Weiß ich nicht“, Dobler schüttelte den Kopf, „anscheinend nicht, aber wartet es ab.“

4.

Freitagnachmittag blickte Thomas kritisch auf die Uhr: „Drei Uhr, immer noch nicht Feierabend. Ich freu mich schon auf heute Abend.“

Wanninger hob den Kopf. „Trefft ihr euch wieder im PERKEO?“

„Genau, wie jeden Freitag “, bestätigte Thomas.

„Dann viel Vergnügen.“

„Möchten Sie uns heute nicht mal begleiten?“, wollte Lena wissen.

Wanninger zögerte: „Ich weiß nicht …, ich denke …, also heute passt es nicht so gut. Vielleicht ein andermal.“

„Okay, wieder verschoben.“

„Ihr kennt mich doch!“

Wie immer saß Liane, die Mathematikerin der Versicherungsgesellschaft aus der Kaulbachstraße, schon eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit im Stammlokal PERKEO in der Leopoldstraße, obwohl die Bedienung Maria jeden Freitagabend den Tisch sowieso reservierte. Die jungen Hauptkommissare vom K3 hatten vor langer Zeit die Mathematiker kennengelernt und sich mit ihnen angefreundet, nämlich Liane Haberland, Sabine Schnell, Ralf Schubert, Martin Zellner und Sven Paulsen, Lenas Ehemann, der auch beim K3 aus der Zeit eines mysteriösen Kriminalfalls bestens bekannt war.

„Kommen die anderen heute nicht?“, wollte Maria wissen.

„Doch, doch. Aber bring mir schon mal eine Apfelschorle.“

„Für mich auch“, rief Lena, die gerade die Kneipe betrat, hinter ihr Sven, ihr Ehemann.

„Aha, heute alkoholfrei, mit dem Auto gekommen?“, lachte Maria. Sven hielt sie am Ärmel fest. „Ich bin die Ausnahme. Bitte ein Helles, Maria.“

Nach und nach trudelten die übrigen Freunde ein.

„Wo bleibt denn Florian?“, wunderte sich Sabine Schnell. „Hat er heute vielleicht was Besseres vor?“

In diesem Augenblick öffnete er die Tür, latschte mit hängendem Kopf an den Tisch zu seinen Freunden und hockte sich mit einem gemurmelten Gruß hin.

„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, schubste ihn Sabine an.

„Ich besauf mich heute!“, knurrte er.

Martin Zellner, der auf der anderen Seite neben ihm saß, blinzelte ihm zu. „Dem Geruch nach hast du zu Hause schon vorgeglüht.“

„So kenn ich Florian gar nicht“, wunderte sich Liane.

Florians Stirn glich einem Waschbrett. „Merkt man das? Musste ich leider. Hab aber nur einen ganz kleinen Whisky zu mir genommen.“

„Oh, wie vornehm“, gackerte Liane, „hat er zu sich genommen.“

„Was ist denn passiert? Du warst doch den ganzen Tag okay, Florian“, wunderte sich sein Kollege Thomas.

Florian schüttelte den Kopf. „Na klar, da war ich auch noch nicht zu Hause.“

„Spann uns nicht noch länger auf die Folter“, schimpfte Ralf Schubert. „Bist doch ein Mann und keine Memme.“

Allgemeines Grinsen und Glucksen begleitete diese Bemerkung, Ralf erschrak. „Was das zu deutlich?“

„Kann man so sagen“, feixte Liane. „Also raus mit der Sprache, Florian. Mit so einem Trauerkloß möchte ich nicht anstoßen.“

„Meine Freundin ist weg“, murmelte Florian verbittert.

„Sonst nichts?“, bemerkte Sabine.

„Was heißt da: sonst nichts?“

„Du hast heute den ganzen Tag kein Wort davon erwähnt“, wunderte sich seine Kollegin Lena.

„Da wusste ich es noch nicht“, begann Florian. „Als ich nach Hause kam, lag der Zettel auf dem Tisch.“

Sabine wollte der Sache eine lustige Wende geben. „Und auf dem Zettel stand, dass sie heute ohne dich in die Disco geht?“

„Quatsch“, knurrte Florian. „Wir hatten gestern …, äääh …, also es gab eine Meinungsverschiedenheit. Zuletzt hat sie gebrüllt …, ich meine gesagt …, dass sie es mit mir nicht mehr aushält und dass sie endgültig abhaut.“

„Und jetzt ist sie weg“, nickte Thomas. „Keine Sorge, die kommt schon wieder.“

„Sie kommt nicht wieder. Ich kenne sie besser.“

„Mann, Florian“, erklärte Sabine, „in München gibt es doch tausend schöne Frauen. Wie wäre es denn mit mir?“ Dabei kicherte sie in ihre Hand.

„Hör auf!“, schimpfte Florian.

„Wart es ab“, Martin klopfte ihm auf die Schulter, „und denk an was Schönes.“

„Hab ich.“ Florian grinste schon wieder. „Ich hatte vor ein paar Tagen ein Buch gelesen. Es handelte vom Tai Pan.“

Liane sagte erstaunt: „So eine olle Kamelle liest du? Und wie lustig war das?“

„Darüber will ich jetzt nicht reden, weil …“

„Du meinst, das traust du dich nicht zu sagen? Ich habe vor Jahren auch mal ein altes Buch über den Tai Pan in Hongkong gelesen. Da ging es tatsächlich lustig zu. Aber nur für die Männer. Eine Haupt- und mindestens drei Nebenfrauen?“

„Ach, vergiss meine blöde Bemerkung!“

„Also du bist heute echt schlecht drauf“, bemerkte Ralf. „Das kann wirklich ein netter Abend werden.“

„Weil ihr mir keine Ruhe lasst“, regte sich Florian auf. „Ich habe genau das getan, was Martin gerade vorgeschlagen hatte, nämlich abwarten und an was Schönes denken.“

„Jetzt plötzlich?“, wunderte sich Liane. „Bis gerade warst du noch tieftraurig.“

„Ich habe eben an was Anderes gedacht“, Florian schüttelte den Kopf, „um mich abzulenken. Mir ist auch die ganze Zeit der Kopf nicht mehr aus dem Kopf gegangen.“

„Um Gottes Willen, Florian“, erschrak Martin, „brauchst du einen Arzt?“

„Wieso denn ich? Nicht mein Kopf. Ich dachte an den Kopf in unserer Rechtsmedizin.“

„Ein Kopf in der Rechtsmedizin?“ Sabine blickte ihn erstaunt an. „Meinst du einen Kopf ohne Körper?“

„Wir wollten eigentlich nicht über Arbeit sprechen“, erhob Thomas Einspruch.

„Finde ich auch“, stimmte Lena zu.

„Habt euch nicht so.“ Ralf riss die Augen auf. „Sag ein paar Worte und dann wechseln wir das Thema, okay?“

„Also gut“, sagte Lena. „Genau genommen wissen wir herzlich wenig. Es wurde ein menschlicher Kopf in Thalkirchen gefunden. Das ist schon alles. Wir wundern uns nur, dass kein Mensch vermisst wird.“

„Stimmt nicht!“ Thomas schüttelte den Kopf. „Die Frau von dem Italiener wird vermisst.“

„Da wird doch nicht irgendein Schwein eine Frau geköpft haben“, erschrak Sabine.

Lena hob abwehrend die Hand. „Wir wissen noch nicht einmal, ob es ein männlicher oder weiblicher Kopf ist. Unser Doc sagt, er sieht nicht gut aus, er muss ihn erst untersuchen.“

„Es ist garantiert der Kopf einer Frau.“ Sabine schüttelte sich angewidert. „Wir Frauen müssen immer die Aggressionen der Männer aushalten.“

„Bitte, Sabine!“, sagte Thomas energisch. „Wir wissen noch gar nichts. Können wir nicht doch das Thema wechseln.“

Sabine murmelte: „Sogar unser netter Florian wünscht sich eine Haupt- und drei Nebenfrauen, er träumt heute noch vom Tai Pan.“

„Sabine, jetzt spinnst du wirklich!“ Florian zog ein beleidigtes Gesicht.

Liane hustete so laut, dass alle verstummten. „Jetzt muss ich aber mal ein Machtwort sprechen. Ich schlage vor, ab sofort kein Wort mehr über Geköpfte oder Verduftete. Jeder hat inzwischen ein Bier. Lasst uns auf einen gemütlichen Abend anstoßen. Das Wochenende steht vor unserer Tür.“

„Wochenende vor der Tür? Ich habe es vorhin leider nicht gesehen, als ich reinkam“, grinste Florian und hob sein Glas.

„Prosit! Prost.“

5.

Montag um halb zehn wurde die Tür geöffnet, Doc Jablonka von der Rechtsmedizin trat ein, grinsend, was bei ihm üblicherweise nichts Gutes bedeutete. „Guten Morgen allerseits. Schönes Wochenende gehabt?“

Wanninger blickte ihn fragend an. „Hoffentlich du auch.“

„Selbstverständlich, lieber Sepp. Sieht man mir das nicht an?“

„Ich weiß nicht so recht. Meistens kommt schnell das dicke Ende, wenn du so hinterhältig grinst.“

„Hinterhältig? Aber Sepp, wir sind doch im Dienst, ich bin heute schon seit acht Uhr hier. Natürlich komme ich dienstlich zu euch.“

„Das habe ich befürchtet“, brummte Wanninger. „Dann schieß los!“

„Wir haben am Freitagnachmittag noch das sichergestellte Fahrzeug bekommen und natürlich gleich untersucht. Im Kofferraum lag eine Leiche.“

„Ohne Kopf?“ Lena hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

„Nein, Lena.“ Jablonka schüttelte den Kopf. „Eine jüngere Frau mit Kopf.“

„Mit Kopf?“ Wanninger war aufgesprungen. „Dann habt ihr jetzt einen Körper und zwei Frauenköpfe?“

„Nicht ganz, Sepp …“ Jablonka winkte ab. „Genau genommen haben wir einen Frauenkörper mit Kopf und einen Männerkopf ohne Körper.“

„Wieso ist das plötzlich der Kopf eines Mannes?“, rief Thomas.

„Ich hatte euch ein Bild gegeben. Schaut es euch nochmal an, da ist auf Anhieb nicht zu erkennen, ob Männlein oder Weiblein. Nach eingehender Untersuchung war klar, dass es sich um den Kopf eines Mannes handelt.“

Wanninger stutzte überrascht. „Wieso kommst du dann zu uns? Wenn wir den Kopf bearbeiten sollen, kannst du das Auto mit der Frauenleiche einer anderen Abteilung geben.“

„Lieber Sepp.“ Jablonka war besonders freundlich. „Du weißt doch, dass nicht ich über Zuständigkeiten entscheide. Beschwer dich bei unserem lieben Chef.“

„Aber der Dobler weiß doch genau, dass wir auch noch an dem Bank Mord in Haidhausen arbeiten.“

„Mann, habt ihr diesen Fall immer noch nicht geklärt?“

„Jetzt hau aber ab“, schimpfte Wanninger.

„Ich frag doch nur.“

„Nein, haben wir nicht.“ Wanninger beruhigte sich allmählich. „Wir haben von dem Täter ein recht gutes Phantombild, falls er wirklich so aussieht.“

„Und?“

„Alles deutet darauf hin, dass der Bankräuber die Örtlichkeiten sehr gut kannte. Er könnte in der Nähe wohnen. Er wusste offensichtlich, dass an diesem Tag zwei der vier Bankangestellten abwesend waren. Und er kannte den Parkplatz hinter der Bank, den man über die Einfahrt neben dem Nachbarhaus erreicht. Wir haben überall Plakate mit dem Phantombild ausgehängt und hoffen, dass wir damit auf seine Spur kommen.“

„Und? Bereits Anrufer?“

„Ja, schon, einige. Wir gehen jedem Hinweis nach.“

„Wenn alle Stricke reißen“, überlegte Jablonka, „könnt ihr doch mal mit XY-ungelöst reden, vielleicht kommt ihr mit dem Phantombild in die Sendung.“

„Wäre eine Möglichkeit“, entgegnete Wanninger. „Vorher klappern wir erst einmal alle Hinweise ab.“

„Na gut“, entschied Jablonka. „Hier sind unsere Untersuchungsergebnisse der Toten aus dem PKW.“

„Wie wurde sie umgebracht?“, wollte Florian wissen.

„Erwürgt. Muss ein starker, zorniger Mann gewesen sein. Er hat ihr das Genick gebrochen.“

„Eines Tages wechsle ich doch noch den Beruf“, murmelte Lena, „ich kann diese Brutalitäten nicht mehr ertragen.“

„Leider geht´s mir nicht viel besser, Lena“, antwortete Jablonka.

„Aber Sie kommen immer lustig und gelöst zu uns.“

„Liebe Lena, soll ich vielleicht weinen? Wie könnte ich dann meine Arbeit korrekt und sorgfältig verrichten?“

„Ja, vielleicht haben Sie Recht“, entgegnete Lena, als Jablonka bereits die Türklinke in der Hand hatte.

Florian schimpfte unerwartet los: „Der Dobler glaubt, unser Arbeitstag hat vierundzwanzig Stunden. Warum lassen Sie sich alles gefallen, Chef? Sie haben doch schon dreißig Dienstjahre hinter sich, da müssen Sie sich nicht noch dermaßen abrackern. Hatten Sie bei Ihrem Fest selbst gesagt. Sie könnten doch ein wenig auf Ihre Gesundheit achten und es langsamer laufen lassen. Auch wegen Ihrer Gastritis.“

Wanninger war zuerst sprachlos. Dann richtete er seinen Oberkörper auf und wurde rot vor Zorn. „Genau, ich habe hier dreißig Jahre auf dem Buckel, aber ihr nicht! Oder wollt ihr eines Tages mit mir in den vorzeitigen Ruhestand gehen. Wie alt sind Sie, Lena?“

„Ja, ja“, maulte Lena, „Florian meint doch nur.“

„Jetzt haltet ihr plötzlich wieder zusammen!“

„Ist doch nur wegen dem Kopf. Wenn es wenigstens eine vollständige Leiche wäre.“

„Ich würde gerne eure Diskussion unterbrechen und zur Sache kommen“, schimpfte Wanninger immer noch aufgebracht. „Was den Kopf betrifft, weiß ich auch noch nicht, wie wir vorgehen sollten. Aber das Fahrzeug der Frau Tadori und die Frauenleiche im Kofferraum, sieht der blonden Frau schon sehr ähnlich. Wer sollte es sonst sein, als Chiara Tadori. Ich schlage vor, dass einer von euch Herrn Tadori aufsucht. Bitte vorsichtig andeuten, dass seine Frau tot sein könnte. Bringt irgendetwas mit, ihre Haarbürste oder sonst einen Gegenstand, damit der Doc die DNAs vergleichen kann. Und endlich ein aktuelleres Foto!“

„Und, wer soll das dem Tadori sagen?“, wollte Florian wissen.

„Du natürlich, Flori“, antwortete Thomas. „Du kennst ihn doch bereits.“

„Auf keinen Fall!“ Florian sprang auf. „Jetzt bin ich plötzlich der Flori, wahrscheinlich der liebe Flori, oder? Ich habe schon beim letzten Besuch so rumgestottert, weil ich immer nur an den blöden Kopf gedacht habe. Ich war froh, als ich wieder draußen war. So kritische Sachen muss immer der Chef übernehmen.“ Dabei peilte er aus dem Augenwinkel auf ihn.

Wanninger riss die Augen auf. „Ich weiß nicht so recht.“ Sein Blick wanderte vorsichtig zu Lena. „Frauen können so was viel geschickter.“

„Genau.“ Lena schoss das Blut in den Kopf. „Ich frag mal bei unseren Frauen nach, wer Zeit hat.“

Thomas und Florian kicherten schelmisch.

„Und wenn ich Sie herzlich darum bitte, Lena?“, lächelte Wanninger sie an.

„Plötzlich seid ihr alle richtig nett zu mir. Ich geh schon, aber dann habe ich bei euch was gut, ist das klar?“

Thomas und Florian nickten eifrig, Wanninger schloss sich umgehend an.

„Aber ich ruf vorher nicht an“, sagte Lena, „vielleicht ist er gar nicht zu Hause“, hoffte sie.

Lena bestellte einen Dienstwagen und fuhr wieder in die Winthirstraße. Sie klingelte bei Tadori. „Er ist doch anwesend“, dachte sie, als der Lautsprecher einschaltete. „Hallo!“

„Paulsen hier, von der Mo…, von der Kriminalpolizei. Ich würde Sie gerne sprechen, Herr Tadori.“

„Vierter Stock.“

Der Summer ertönte, Lena öffnete die Tür und fuhr mit dem Lift nach oben. Tadori stand abwartend vor seiner Tür. „Haben Sie meine Frau gefunden?“

„Darf ich eintreten?“

„Ja, bitte.“

Tadori wiederholte: „Haben Sie meine Frau endlich gefunden?“

Lena überlegte blitzschnell, wie sie am besten beginnen konnte. Sie beschloss, Tadori ein paar Sekunden zu fixieren. Sie hatte richtig vermutet.

„Sie ist doch nicht etwa …?“

Lena zögerte. „Es könnte sein, Herr Tadori …, aber wir sind noch nicht ganz sicher.“

Er riss die Hände vor sein Gesicht, senkte den Kopf und brach in hemmungsloses Schluchzen aus. Lena legte ihm die Hand auf die Schulter. „Herr Tadori, lassen Sie uns noch die letzten Untersuchungen durchführen. Bitte geben Sie mir eine Haar- oder Zahnbürste Ihrer Frau mit und ich verspreche Ihnen, dass unsere Rechtsmedizin sehr schnell arbeiten wird. Dann auch noch das versprochene aktuelle Foto von ihr. Vielleicht ist es nicht Ihre Frau.“

Mit hängendem Kopf verschwand Tadori und kam mit Zahn-, Haarbürste, Kamm und dem Foto einer hübschen dunkelhaarigen Frau zurück. „Das sollte reichen.“

Lena bedankte sich und verließ das Haus.

Dr. Jablonka nahm die Gegenstände entgegen. Am nächsten Morgen brachte er das Ergebnis. „Leider ja“, sagte er, „eindeutig die DNA von Chiara Tadori. Jetzt wissen wir wenigstens, wer das Mordopfer in dem Pkw ist. Dann überbringt dem Mann die traurige Nachricht.“

Florian bekam eine rote Birne und brüllte: „Jetzt haben wir das auch noch am Hals. Wir reißen uns den Arsch auf und den Dobler kümmert es überhaupt nicht. Sonst gründet er sofort eine Sonderkommission und bei uns …“

„He, he, he“, bremste ihn Lena und sprang auf, „hör auf, hier rum zu plärren.“

Wanninger und Jablonka waren erst einmal sprachlos. Schließlich drehte sich Jablonka um. „Wenn hier neuerdings solch ein Ton herrscht, verschwinde ich besser wieder.“ Sprach´s und zog auch schon die Tür hinter sich zu.

„Jetzt erklären Sie mir mal diesen Ausbruch, Florian“, schimpfte Wanninger.

Lena stand noch immer vor Florian. „Seine Freundin hat ihn verlassen und jetzt dreht er durch. Er war schon am Freitag im PERKEO ungenießbar. Unsere Freunde waren ziemlich angefressen.“

Wanninger stutzte. „Ach so! Florian, Sie sind doch sonst immer so ausgeglichen und eher ruhig. Hat Sie das denn dermaßen mitgenommen?“

„Es tut mir leid“, reagierte Florian und zog den Kopf ein. „Das hätte mir nicht passieren dürfen, kann es leider nicht mehr rückgängig machen.“

„Dann kann ich Sie natürlich verstehen“, entgegnete Wanninger besänftigend. „In so einer Situation weiß man manchmal nicht mehr, wie einem geschieht. Ich schlage vor, wir vergessen die Sache. Im Grunde genommen bin ich froh, dass Sie bei uns sind. Wüsste gar nicht, was ich ohne Ihre Mitarbeit machen sollte.“

„Danke“, flüsterte Florian.

„Ich muss aber noch was sagen“, fuhr Wanninger fort, „ich hör ja oft, wie es in Familien oder bei Paaren, die zusammenleben, zugeht. Wenn Ihre Freundin nicht erkannt hat, was sie an Ihnen hat, ist es um sie nicht schade.“

Florian nickte und drückte seine Nase direkt auf ein Schriftstück auf seinem Schreibtisch, obwohl er keine Brille benötigte.

„Und dann noch etwas“, ergänzte Wanninger, „sollten wir mit unserer Arbeitszeit nicht mehr auskommen, werde ich von Dr. Dobler sofort Verstärkung anfordern. Versprochen, Florian.“

„Ich sag schon nichts mehr.“

„Gut, dann kommen wir zu unserer Aufgabe zurück. Vielleicht gehen Sie wieder zu Herrn Tadori, Lena. Sie haben von uns sowieso schon irgendwas gut. Da lohnt es sich doch.“

„Aha! Ist schon in Ordnung.“

„Das wird gewiss ein schwerer Gang. Bitten Sie ihn, zur Identifizierung seiner Frau zu uns zu kommen.“

Luca Tadori sackte fassungslos zusammen, als Lena ihm die traurige Bestätigung überbrachte, dass seine ermordete Frau in ihrem Auto gefunden worden war. Es dauerte lange, bis er wieder den Kopf hob, die Augen rot unterlaufen und tränenerfüllt. „Was soll jetzt werden?“ stöhnte er.

„Ich kann Ihre Trauer nachfühlen“, sagte Lena leise. „Wenn ich mir vorstelle, ich wäre an Ihrer Stelle …“

„Sind Sie aber nicht.“

„Ich weiß. Trotzdem dreht sich unsere Erde weiter, Herr Tadori. So schwer es mir fällt, ich muss Sie noch bitten, Ihre Frau in unserer Rechtsmedizin zu identifizieren.“

„Wieso denn das, wenn die DNA schon eindeutig war?“

„Unsere Gesetze, Herr Tadori.“ Lena zuckte die Schultern. „Wir müssen hundertprozentig, nein, tausendprozentig sicher sein, dass bei der Analyse kein Fehler passiert ist, so leid es mir für Sie tut.“

Tadori nickte.

„Können Sie es eventuell für morgen Vormittag einrichten?“

Er nickte wieder.

„Um zehn Uhr?“

Nicken. „Wie wurde sie ermordet?“

„Erwürgt.“

Tadori schüttelte den Kopf und brach wieder in Schluchzen aus.

„Herr Tadori, ich verspreche Ihnen, dass wir alles unternehmen werden, den Mörder Ihrer Frau zu finden.“

„Nützt doch nichts mehr.“

„Wir lassen kein Verbrechen ungesühnt, Herr Tadori. Sie werden noch den Leiter meiner Abteilung, Hauptkommissar Wanninger, kennenlernen. Und leider müssen wir Ihnen im Laufe unserer Ermittlungsarbeit noch viele Fragen stellen. Bitte haben Sie dafür schon heute Verständnis.“

Luca Tadori erschien am nächsten Morgen im Polizeipräsidium. Wanninger ging mit ihm in die Rechtsmedizin, dort bestätigte Tadori, dass die Ermordete seine Frau, Chiara Tadori, ist.

„Wann kann ich meine Frau beerdigen?“, fragte er danach gefasst.

Wanninger antwortete: „Wird sich leider noch einige Zeit hinziehen.“

Tonlos murmelte Tadori: „Ich muss meine Familie informieren. Die wissen es noch nicht.“

„Sie haben sie gestern nicht verständigt?“

„Ich konnte nicht.“

„Versuchen Sie heute, sich ein wenig zu beruhigen. Darf ich Sie morgen besuchen? Wir wollen so schnell als möglich mit den Ermittlungen beginnen. Auch wenn Sie im Augenblick am liebsten mit keinem Menschen sprechen möchten, müssen wir Ihnen eine Reihe persönlicher Fragen stellen.“

Wanninger bat wiederum Lena, ihn zu begleiten. Um zehn Uhr klingelte er bei Tadori in der Winthirstraße. Es wurde ein langes Gespräch. Wanninger wollte über die gesamte Familie Tadori genauestens informiert werden. Er notierte Namen und Adressen aller Familienmitglieder, deren Tätigkeiten, Kinder und vieles mehr. Danach verabschiedeten sie sich wieder.

6.

Luciano Tadori kam nach dem Zweiten Weltkrieg als Sohn einer angesehenen und reichen Kaufmannsfamilie in Sizilien in der Stadt Syrakus zur Welt. Sein Vater besaß unzählige Olivenhaine, deren Früchte er im eigenen Betrieb verarbeitete und vermarktete. Er hatte weitreichende Verbindungen in Stadt und Land sowie sehr viele gute und auch bessere Freunde, mit denen er regelmäßigen Gedankenaustausch pflegte. Er war ein Machtmensch. Die Familie wohnte in einem edlen, großzügigen Anwesen am Rande der Stadt. Luciano besuchte eine sündhaft teure Privatschule. Seine Leistungen waren außerordentlich gut, denn er war ein kluges Kind. Nach Schulabschluss wünschte sein Vater, dass er Jura studiere. Da jedoch Vaters Wünsche grundsätzlich Befehle waren, stand Luciano seit längerer Zeit mit ihm auf Kriegsfuß. Und er weigerte sich verbissen, zur Universität zu gehen und seinen Vater regelmäßig um Taschengeld bitten zu müssen. Stattdessen begann er bei Syrafrutta, dem elterlichen Betrieb seines besten Freundes, Salvatore Brisani, einem weit über die Grenzen bekannten Obst- und Gemüsehandel, eine Tätigkeit als Controller, der Umgang mit Zahlen war seit jeher eine seiner Stärken. Mit Salvatores Hilfe wurde ihm eine kleine Wohnung in einem Haus der Familie Brisani in der Nähe des Firmensitzes angeboten. Dort atmete er auf und hörte lange Zeit nichts mehr von seinem Vater. Zuweilen besuchte ihn dort, ohne Wissen des Vaters, seine Mutter und weinte bei jedem Besuch.

„Mutter, ich bin hier wirklich sehr glücklich, sei du es auch.“

Doch die Mutter war traurig, insbesondere darüber, dass zwischen Vater und Sohn kein Dialog mehr zustande kam.

Salvatore hatte eine Schwester, sie hieß Maria, zwei Jahre jünger als Luciano. Maria war eine sizilianische Schönheit, die Burschen der Umgebung rissen sich um sie, doch schon nach kurzer Zeit hatte Maria nur noch Augen für Luciano. Die beiden verliebten sich schließlich und beschlossen zu heiraten, sobald beide Eltern ihr Einverständnis gaben.

Maria Brisanis Eltern mochten Luciano gerne. Da seine Eltern zur Oberklasse von Syrakus gehörten, hatten die Brisanis von Anfang an gegen eine Heirat nichts einzuwenden. Anders lag die Sache bei Lucianos Eltern. Als er seiner Mutter davon erzählte, strahlte und weinte sie abwechselnd vor Glück, denn auch sie mochte Maria gerne. Doch sie schüttelte entschieden den Kopf, als Luciano wissen wollte, ob er mit Vaters Zustimmung rechnen könne. „Garantiert nicht, Luciano. Ich kenne ihn mehr als gut. Bestimmt musst du dir das aus dem Kopf schlagen.“

„Wir werden sehen“, antwortete Luciano und sprach nicht mehr darüber.

Als die Vorbereitungen zur Hochzeit bereits in vollem Gange waren, fragte eines Tages Maria: „Luciano, was ist jetzt mit deinem Vater?“

„Ich weiß es nicht? Morgen fahre ich hin.“

Als Luciano an der elterlichen Villa erstmals nach langer Zeit wieder klingelte, öffnete ihm ein angestelltes Mädchen die Tür.

„Ciao“, grüßte Luciano und wollte vorbeigehen. Doch sie versperrte ihm den Weg. „Ich muss erst fragen. Du weißt doch …, dein Vater.“

Nach wenigen Augenblicken erschien die Mutter, umarmte und küsste ihn und führte ihn in ihr Zimmer. „Ich habe ihm schon gesagt, dass du hier bist. Er muss noch ein dringendes Telefonat führen, danach will er kommen.“

Sie warteten eine geschlagene Stunde. Gerade sagte Luciano, während er aufstand: „Hätte ich mir denken können …“, als die Tür forsch aufgestoßen wurde und der Vater, mehr als einen Meter achtzig groß und bärenstark, das Zimmer betrat. „Was willst du?“, knurrte er.

„Ich wollte dich fragen, ob wir Frieden schließen könnten. Ich habe eine gute Stellung und verdiene ordentlich Geld. Es reicht für mich.“

„Dann weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll. Wenn du vollkommen zufrieden bist, kannst du wieder gehen. Ich dachte schon, du brauchst Geld.“

„Nein, ich brauche kein Geld, ich wollte dich um Frieden bitten.“

„Muss ich mir erst überlegen. Lass uns ein andermal darüber reden, Ciao.“

„Bitte warte …“, bat Luciano. „Ich wollte dir noch sagen, dass ich gerne heiraten möchte. Maria Brisani, Salvatores Schwester, ich glaube du kennst sie.“

„Möchtest du sie gerne heiraten oder wirst du?“

„Ich werde!“

„Ja, ich kenne Maria. Sie ist ein hübsches Mädchen. Von mir aus heirate sie, ich werde an diesem Tag leider keine Zeit haben.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ Mutters Zimmer.

„Ich bin so traurig“, stöhnte Luciano, „warum ist er so zu mir?“

Die Mutter schüttelte den Kopf. „Er hat sich im Laufe der letzten Jahre verändert. Manchmal ist er mir richtig unheimlich. Viele seiner Leute, na ja, er nennt sie Freunde, fürchten ihn, wie auch ich.“

Luciano ließ den Kopf hängen. „Am liebsten würde ich aus Syrakus ganz verschwinden, dann bräuchte ich nicht dauernd an ihn denken.“

„Bitte überleg dir das, Luciano, bitte, bitte“, weinte die Mutter.

Es war eine der prachtvollsten Hochzeit in Syrakus. Viele Freunde waren geladen, die gesamte Verwandtschaft sowieso. Auch Lucianos Freunde und Verwandte feierten mit, sogar seine Mutter, auch wenn die Teilnahme sie erhebliche Überredungskunst gekostet hatte. Sein Vater ließ ausrichten, dass es ihm leidtäte und dass er aufgrund unaufschiebbarer Geschäfte verhindert sei.

„Das ist doch gelogen“, schimpfte Luciano.

„Natürlich ist es gelogen“, bestätigte seine Mutter. „Ich muss erreichen, dass er seinen Dickkopf überwindet. Gib mir noch etwas Zeit, Luciano.“

„Wie lange?“

Die Mutter schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“

Inzwischen war Luciano siebenundzwanzig Jahre alt, Maria war fünfundzwanzig. Salvatores Vater war überraschend an einem Herzleiden verstorben, Salvatore und Maria erbten das gesamte Vermögen, auch das Unternehmen. Salvatore wurde Chef von Syrafrutta und führte die Geschäfte weiterhin sehr erfolgreich. Lucianos Vater wollte trotz wiederholter Bemühungen seiner Frau noch immer keine Versöhnung mit Luciano. Vielleicht war das auch ein Grund, warum Luciano immer öfter mit Maria darüber redete, Sizilien für ein paar Jahre zu verlassen. Salvatore brütete seit einiger Zeit über Möglichkeiten einer Geschäftserweiterung. Eine Syrafrutta-Deutschland-Tochter beherrschte sein Denken. Damit überraschte er Luciano: „Was hältst du davon, wenn wir in Deutschland, und zwar in München, eine Niederlassung gründen. Täglich frische sizilianische Früchte, Obst und Gemüse. Wäre es nicht ein guter Vorschlag, wenn du und Maria die Geschäfte leiten? Maria ist meine Schwester, ihr würde das Geschäft natürlich gehören und damit auch dir.“

„Gefällt mir, Salvatore. Muss ich trotzdem vorher mit Maria besprechen.“

„Wenn du Syrakus verlässt, ist es ja nicht für immer. Eines Tages wird sich dein Vater besinnen und dann übernimmst du sowieso euer Ölgeschäft, wir vereinen dann unsere Unternehmen und werden die Größten im Lande. Nicht zu vergessen, wenn ihr wieder nach Hause kommt, sind eure Kenntnisse der deutschen Sprache für unsere beiden Unternehmen ein großer Vorteil. Bis dahin treffen wir uns sowieso regelmäßig, telefonieren und planen.“

Luciano gefiel dieser Vorschlag nach reiflicher Überlegung immer besser und auch Maria begeisterte sich schließlich für den Gedanken, für einige Jahre in die süddeutsche Großstadt München zu ziehen.

Als der Entschluss gefasst war, sagte Luciano: „Maria, ich versuche es ein letztes Mal. Morgen will ich noch einmal mit meinem Vater reden.“

„Ich wäre so glücklich, wenn wir uns mit ihm aussöhnen könnten“, antwortete Maria.

Lucianos Gespräch verlief anders als erhofft. Leider war sein Vater wieder nicht bereit, ihm wirklich freundschaftlich die Hand zu reichen.

„Ich bin überrascht“, sagte der Vater, sein Blick schien in die Ferne zu schweifen. „Mein Wunsch war es immer gewesen, dass wir eines Tages, wenn mir die Arbeit zu schwerfällt, einen Geschäftsführer für unser Olivengeschäft suchen. Du, mit deinen Fähigkeiten, hättest das Jurastudium ohne Schwierigkeiten geschafft. Als künftiger Chef, als Padrone, hättest du die allerbesten Voraussetzungen zur Leitung unseres Unternehmens. Kein Geschäftsführer könnte dich je betrügen, glaub mir, das ist in unserem Lande besonders wichtig.“

„Als Controller besitze ich heute bereits das erforderliche Wissen. Doch ich denke, dass es noch Jahre dauern wird, bis du bereit sein wirst, die Verantwortung auf mich zu übertragen. Wieso soll ich nicht für ein paar Jahre nach Deutschland gehen?“

„Ist doch mir egal!“, knurrte der Vater ärgerlich, er war keinen Widerspruch gewohnt.

„Sei nicht ungerecht. Du würdest mir niemals zu Lebzeiten die Leitung übertragen.“

„Ach so denkst du? Siehst mich wohl schon unter der Erde liegen?“

„Habe ich nicht gesagt.“

„Aber gedacht.“

„Auch nicht gedacht. Dreh mir nicht schon wieder die Worte im Munde um. Ich möchte nicht mit dir streiten, weil es sowieso keinen Sinn macht. Du gehst auch mit deinen Freunden, ich glaube, so nennst du sie, nicht viel besser um als mit mir.“

„Das sagst du, weil du von meinen Geschäften überhaupt keine Ahnung hast.“

„Habe ich schon.“

„Hast du nicht. Du weißt nicht einmal, welche Macht ich in Sizilien habe.“

„Was hat das mit unserem Olivenhandel zu tun?“

„Darüber kann ich mit dir nicht sprechen, noch nicht. Geh nach Deutschland und lass mich in Frieden. Ich habe jetzt ein paar wichtige Termine zu erledigen.“

Sprach´s, stand auf und verschwand.

Luciano verabschiedete sich von seiner Mutter und verließ traurig das Elternhaus.

Kurze Zeit danach verließen Maria und Luciano Syrakus, zuvor hatte ein internationaler Makler im Auftrag von Syrafrutta in München eine vornehme Wohnung in der Nymphenburgerstraße für sie gekauft. Später sollte Luciano das gesamte Haus gehören.

7.

Luciano und Maria gründeten also die deutsche Niederlassung von Syrafrutta und engagierten einen Lehrer zum Erlernen der deutschen Sprache. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wuchs und gedieh das Unternehmen.

Wann immer er nach Syrakus kam, um mit Salvatore über die Geschäfte zu sprechen, traf er seine Mutter in Salvatores Haus. Sein Elternhaus betrat er lange Zeit nicht mehr.

Im Laufe der Jahre bekamen die Tadoris in München vier Kinder. Alfredo, Luca, Mario und schließlich Renata, das Nesthäkchen. Nach Schulzeit und Ausbildung arbeiteten sie im elterlichen Unternehmen, Syrafrutta Deutschland, ausgenommen Renata. Sie ließ sich zur Übersetzerin ausbilden, Deutsch und Italienisch.

Nach etlichen Jahren der Abwesenheit rief Lucianos Vater an. Sein Ton war überraschend sanft: „Bitte besuche mich in Syrakus!“

„Sonst hat er nichts gesagt?“, wunderte sich Maria.

„Nein, er hat sofort aufgelegt.“

„Freust du dich?“

„Ich dachte, er besinnt sich nie mehr“, sagte er zu Maria.

„Bitte, sieh es positiv, Luciano, vielleicht geht es ihm nicht gut?“

„Oder er teilt mir mit, dass ich enterbt bin.“

„Glaube ich nicht.“

„Wie fremd mir hier alles vorkommt“, sagte Luciano zu seiner Mutter, als er sein Elternhaus wieder betrat. „Wie lange war ich eigentlich nicht mehr hier?“

„Das ist lange her“, bestätigte die Mutter, auch sie war alt geworden.

„Was will er von mir?“

„Es geht ihm nicht gut, Luciano. Er ist auch ein wenig ruhiger geworden.“

Luciano erschrak, als er seinen Vater erblickte. Von dem großen, stattlichen, selbstherrlichen Mann war ein müdes Häufchen Mensch geblieben.

„Es geht dir nicht gut?“, sagte Luciano vorsichtig zur Begrüßung, nachdem er sich vom ersten Schreck erholt hatte.

Doch Vaters kräftige Stimme war noch immer ungebrochen, auch wenn sie zum körperlichen Gesamteindruck überhaupt nicht mehr passte. „Setz dich!“, befahl er.

Luciano hatte beschlossen, das Gespräch ohne Emotionen, im Gegensatz zu früher, zu überstehen. Obwohl der scharfe Ton zur Begrüßung ihm das Blut in den Adern kochen ließ, blieb er ruhig und gefasst. „Worüber möchtest du mit mir sprechen?“
„Wie gehen die Geschäfte in München?“

„Gut, eigentlich sehr gut. Syrafrutta Deutschland hat sich in München einen hervorragenden Platz erarbeitet. Salvatore schickt uns nur beste Ware und das hat sich herumgesprochen. Oft können wir die Nachfrage kaum decken.“

„Das freut mich für dich. Machst du noch das Controlling?“

„Ach was. Ich mache alles, also fast alles. Maria ist mir eine sehr große Hilfe. Und Alfredo, unser Ältester, arbeitet inzwischen ebenfalls mit.“

„Ich möchte eure Kinder gerne einmal sehen.“

„Darüber würden Maria und ich uns sehr freuen. Wir machen einfach einen Termin aus, du sagst, wann es dir passen würde. War das alles?“

„Nein.“ Der Vater schüttelte den Kopf. „Dr. Sperlonga, unser Hausarzt, hat mir eröffnet, dass ich nur noch wenige Wochen zu leben habe.“

Luciano schwieg.

„Ich muss mit dir über die Zukunft unseres Olivengeschäfts reden. Über kurz oder lang wirst du der Padrone sein, wie auch immer das mit deinen Münchner Geschäften vereinbar ist.“

Luciano sagte wieder kein Wort, er hätte auch nicht gewusst, was er antworten soll.

„Ich habe unsere Geschäftsbücher dort drüben liegen. Heute und morgen Vormittag sollst du Einblick erhalten. Es wird dir nicht schwerfallen, damit zurechtzukommen, alles ist korrekt. Für morgen Nachmittag habe ich unsere wichtigsten Geschäftspartner eingeladen. Du sollst sie kennenlernen.“

Nach wenigen Arbeitsstunden war Luciano klar, dass sein Vater mit dem Olivenhandel eine wahre Perle geschaffen hatte. Die Geschäftsbücher waren klar und übersichtlich geführt, das Vermögen der Familie Tadori war überraschend hoch. Am nächsten Tag lernte Luciano wichtige Geschäftspartner kennen. Es waren überwiegend langjährige Geschäftsverbindungen, die inzwischen ergrauten Chefs kannte Luciano teilweise noch aus der Zeit, als er zu Hause gelebt hatte. Oft hatte er sie kommen und gehen gesehen.

Als er mit seinem Vater wieder allein war, sagte er: „Du hast wie selbstverständlich so geredet, als würde ich bereits morgen die Geschäfte übernehmen.“

„Das hast du missverstanden, Luciano.“ Wie lange hatte der Vater ihn nicht mehr mit seinem Vornamen angesprochen. „Aber der Tag wird bald kommen. Dann musst du bereit sein.“

„Ich bin froh, dass du zu mir so offen gesprochen hast. Ich werde mit Maria einen Plan erarbeiten, schließlich sollen unsere Geschäfte in München nicht leiden.“

„Das verstehe ich.“

„Alfredo ist bereits eingearbeitet, er leistet gute Arbeit. Luca und Mario werden, sobald sie die Schule beendet haben, ebenfalls Aufgaben bei Syrafrutta übernehmen.“

„Gut.“

Luciano war überrascht, dass sein Vater seinen bevorstehenden Abschied vom Leben so planmäßig vorbereitet hatte. Als er glaubte, dass ihre Gespräche zu Ende waren, sagte er: „Ich werde morgen nach München zurückfliegen. Bitte sage mir, wann du unsere Kinder sehen möchtest, wir bereiten alles vor. Nun möchte ich mich noch mit Mutter zusammensetzen, ciao.“

Der Vater schüttelte den Kopf. „Kannst du natürlich. Aber wir haben noch nicht alles besprochen.“

Luciano war verwundert, hoffentlich erwartete ihn nicht noch ein dickes Ende der üblichen Art.

„Ich habe mit dir ausführlich über das Tadori-Olivengeschäft geredet. Dieses Thema wirst du schnell im Griff haben. Doch für morgen habe ich noch eine Reihe besonderer Freunde zu mir gebeten. Über meine zweite Aufgabe will ich dich jetzt informieren.

Das folgende Gespräch dauerte viele Stunden. Luciano meinte immer wieder zu träumen. Als Vater geendet hatte, sagte er zuletzt: „Luciano, es ist doch klar, dieses Gespräch bleibt unter uns. Darüber erfahren weder deine Mutter noch deine Frau das Allergeringste. Dieses Thema bleibt unser beider strengstes Geheimnis.“

Luciano versprach es und verabschiedete sich. Er meinte, dass sich alles um ihn herumdrehte.

8.

In den Fall „Bank Mord Haidhausen“ vom vorletzten Jahr kam überraschend Bewegung. Eine Frau Willing meldete sich telefonisch und behauptete, den Mann auf den Plakaten zu kennen. Die Mitarbeiterin der Vermittlung verband das Gespräch zur Abteilung K3, es landete bei Lena.

„Guten Tag, Frau Willing.“

„Ja, Willing hier. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich den Mann auf dem Plakat am Alleebaum in der Kirchenstraße kenne …, glaube ich wenigstens.“

„Vielen Dank, dass Sie uns verständigen. Es ist für uns sehr wichtig, dass unsere Mitbürger aufmerksam durchs Leben gehen. Sie glauben, ihn zu kennen?“

„Ja, ich habe ihn schon zweimal im Supermarkt an der Ecke gesehen. Mein Mann behauptet auch, dass er dem Kerl auf dem Bild sehr ähnlich sieht. Mein Mann ist ihm gestern vorsichtig gefolgt. Der kann sich richtig blöd stellen.“

„Wie meinen Sie das mit blöd stellen?“

„Ach wissen Sie, wir sind Rentner und mein Mann war früher bei der Polizei. Der weiß, wie man sich so verstellen kann, dass der andere nichts von merkt.“

„Aha!“

„Der Otto schaut dann in die Luft oder auf ein Auto und in Wirklichkeit schielt er ganz woanders hin.“

„Das ist interessant.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752118469
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Schwabing Mord Großstadtatmosphäre Spannung Enthauptung München Krimi Ermittler

Autor

  • Ben Lehman (Autor:in)

Ben Lehman kommt aus dem Bayerischen Wald und lebte in München. Seit zehn Jahren ist der Starnberger See seine neue Heimat. Der Informatiker arbeitete als Programmierer und Systemanalytiker, auch in internationalen Unternehmen in New York und Northampton. Sein erfolgreiches Softwarehaus wurde vor einigen Jahren veräußert. Danach begann er seine ehrenamtliche Tätigkeit für die Peter-Ustinov-Stiftung bis zu dessen Tod, Schwerpunkt die Organisation der Peter-Ustinov-Mädchenschule in Afghanistan.
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Titel: ENTHAUPTET