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Dorf ohne Gewissen

von Dana Smith (Autor:in)
324 Seiten

Zusammenfassung

Ines lebt in einem kleinen niedersächsischen Dorf. Ihr Leben ist geprägt vom Klatsch an der Kasse des elterlichen Dorfladens. Sie träumt schon lange davon, den Ort mit seinem boshaften Gerede und dem eintönigen Tagesablauf hinter sich lassen zu können. Als ihre beste Freundin und zweifache Mutter Susanne eines Tages nicht nach Hause kommt, vermuten die Bewohner des kleinen Ortes, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Schnell ist ein Schuldiger gefunden – Ines bester Freund Frank. Eine Hetzkampagne nimmt ihren Lauf, und Ines ergreift, zum Entsetzen ihrer Eltern und der restlichen Dorfbewohner, Partei für den Sonderling. Doch dann geschieht ein erschütterndes Unglück. Ines erkennt, dass Beistand alleine nicht reicht, wenn Menschen ihr Gewissen begraben, einen Einzelnen zum Täter erklären und ihn damit zum Opfer machen. "Dana Smith entfaltet in ihrem Werk eine spannende, mitreißende und zugleich humorvolle Geschichte, die eine ernste Botschaft so verpackt, dass sie einen ins Grübeln kommen lässt, ob man das wahre Leben lebt."

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

Dorf ohne Gewissen

 

 

 

Dana Smith

 

 

 

 

 

 

 

 

1.

 

When nothing goes right, go left.

Frank starrte auf die kleine Postkarte an seiner Zimmertür. Die hatte Ines ihm vor langer Zeit geschenkt. Sie hatte ihm erklärt, was das bedeuten sollte, denn er konnte kein Englisch. An seiner Schule hatte man ihm das nicht beigebracht.

Er war nicht auf der gleichen Schule gewesen wie die anderen Kinder im Dorf, er war auf die Sonderschule gegangen. Frank war immer noch überzeugt, dass das ›Sonder‹ für sonderbar stand, aber Mama hatte immer gesagt: »Sonder steht für besonders, denn das bist du, mein kleiner Junge.« Dann hatte sie ihm über den Kopf gestreichelt und gelächelt.

›Right‹ bedeutete im Englischen rechts oder richtig. »All right, Sir!«, sagte Ines immer, wenn er sie um etwas bat. Dabei knallte sie lustig die Hacken zusammen.

Wenn nichts richtig läuft, einfach die Richtung ändern. Das hat auch immer geklappt, wenn die anderen ihm auf dem Schulweg aufgelauert haben. Einfach die Richtung ändern und einen großen Bogen laufen.

Frank dachte an Ines. An ihre blonden Haare, die sie immer viel zu dünne Spaghetti nannte. Er mochte ihr Haar, es duftete so gut – wie frischer Sommerwind. Er würde sie vermissen, wenn er nicht mehr hier war, aber das konnte er jetzt nicht ändern. Es war an der Zeit, auf Reisen zu gehen und dieses Leben hinter sich zu lassen. Mama war schon früher los und sie hatte immer gesagt, dass sie nicht wüsste, wie lange die Reise dauern und wann sie sich wiedersehen würden. Frank hatte keine Lust mehr, zu warten. 43 Jahre war Mama bei ihm gewesen, und jetzt hatte sie plötzlich gehen müssen, einen Monat war er jetzt schon ohne sie, und das reichte ihm, er würde jetzt hinterher reisen. Hier im Dorf hielt ihn nichts mehr, er hatte keine Lust mehr auf den ständigen Ärger und die Boshaftigkeiten der Nachbarn. Außerdem verstand er immer noch nicht, was er eigentlich verbrochen hatte. Er hatte nichts zu tun mit dem plötzlichen Verschwinden von Susanne, aber das glaubte ihm ja keiner.

Frank atmete schwer aus und drehte den Kopf in Richtung Schreibtisch. Dort lag der Brief für Ines, in dem er ihr alles, so gut wie er konnte, erklärte.

Hatte er an alles gedacht, bevor es losging? Er hatte die Hintertür abgeschlossen und den Herd ausgeschaltet. Einstein, sein Kater, hatte genug Futter für die nächsten Tage. Zwar glaubte er, dass Ines heute noch käme, aber man wusste ja nie, und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, hatte Mama immer gesagt. Seine Kleidung war frisch und die Schuhe waren geputzt. Sein Blick wanderte zu den schwarzen Schuhen mit den leichten Kratzern auf den Spitzen. Die waren dort, seit er mit Mama und Ines auf der Feier gewesen und dort gefallen war. Auch mit der Schuhcreme hatte er sie nicht ganz wegbekommen. Wenn das Mama sah, dann wird sie den Kopf schütteln und sagen: »Bei dir halten die Sachen auch von zwölf bis Mittag.« Dann würde sie seinen Kopf in die Hände nehmen, ihn zu sich herunterziehen und ihn auf den Scheitel küssen.

Er freute sich auf seine Mutter. Die Aussicht, sie wiederzusehen, schmälert die Trauer über den Verlust von Ines.

Frank blickte sich noch mal um und prüfte, ob alles aufgeräumt war in seinem Zimmer. Er wollte nicht, dass die anderen einen falschen Eindruck von ihm bekamen. Dann klatschte er einmal in die Hände. »Auf, auf, keine Maulaffen feilhalten, Frank! Jetzt geht es los.« Er machte einen großen Schritt auf den Hocker. Dann legte er sich den Strick, welchen er schon am Morgen an dem Deckenbalken in seinem Zimmer befestigt hatte, um den Hals und zog die Schlinge zu. »Bis gleich, Mama«, flüsterte er, gab dem Stuhl einen beherzten Ruck, sodass er mit einem Schwung gegen die Wand prallte, und fiel ins Freie.

2. Ein paar Monate zuvor

 

»Ja, Mann, ich bin schon angezogen! Nerv mich nicht!«

Die ›dämliche Kuh‹, die Hannes hinterher schob, hatte Susanne auf der Treppe noch hören können. Sie biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten. Manchmal würde sie ihn am liebsten gegen die Wand klatschen. Warum entwickelten sich die lieben Kleinen in der Pubertät zu missgelaunten Arschlochkindern? Sollte das den Abnabelungsprozess erleichtern?

Am Fuß der Treppe angekommen, klopfte sie zaghaft an die Badezimmertür. »Mona?«

Keine Reaktion.

»Mona, Schatz? Bist du fertig? Ihr müsst euch beeilen, der Schulbus kommt bald.«

Als Antwort flog die Tür auf, und ihre Tochter stürmte heraus. »Mama, nerv nicht jeden Morgen rum!«

»Ich muss ja! Ihr trödelt immer derartig, dass ihr den Bus verpassen würdet, wenn ich nicht aufpassen würde.«

»Jaaaaaa, is’ klar, Mama.«

Susanne hasste es, wenn ihre Tochter so mit ihr sprach. Dieses langgezogene ›Ja‹ und die Betonung brachten sie in Rage. Sie war hier nicht der Depp für alle, mit dem man reden konnte wie mit einem Lui von der Straße.

»Dann fährst du uns halt. Wo ist dein Problem?« Mona schlenderte in die Küche und ließ ihre Mutter an der Badezimmertür stehen.

Susanne atmete tief ein und eilte ihrer Tochter hinterher. »Hör mal, so geht das nicht!«

»Hallo Papa«, sagte Mona und küsste ihren Vater auf die Wange.

»Guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?« Jürgen Rieker sah von seiner Zeitung auf und lächelte seine Tochter an.

Mona nickte und ging weiter zu ihrer Oma, trat hinter sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Hallo Omi.«

Hilde hob ihre knochige Hand und tätschelte die ihrer Enkelin. »Guten Morgen, mein Kind, setz dich und frühstücke noch etwas.«

»Nö, kein‹ Hunger.«

»Aber du musst …«, weiter kam Hilde nicht.

»Mona, ich habe mit dir gesprochen«, fuhr Susanne so vorsichtig, wie es ihr noch möglich war, dazwischen.

»Was willst du?« Der Ton ihrer Tochter verschärfte sich.

Jetzt nicht die Nerven verlieren, Susanne, provoziere jetzt keinen Streit, redete sie sich gut zu. »Du sollst ein für alle Mal begreifen, dass ihr morgens zeitig aufstehen müsst und dass ich euch nicht immer fahren kann, nur weil ihr hier in der Frühe nicht aus dem Quark kommt.« Sie hörte, wie Hannes die Treppe herunterkam und mit einem lauten Türknallen im Bad verschwand.

»Mein Gott, Susanne!« Hildes Stimme war scharf wie ein Rasiermesser. »Jetzt mach hier keinen Aufstand! Es kann ja wohl kein Problem darstellen, die Kinder morgens zur Schule zu fahren.«

»Misch dich da nicht ein, das ist eine Sache zwischen mir und meinen Kindern.« Susanne trat die Röte ins Gesicht.

»Nein, wenn ich mir dein Gezeter jeden Morgen anhören muss, dann ist es auch meine Sache.«

Das reichte! Susanne fühlte sich wie ein Kessel auf einer heißen Herdplatte, kurz vor dem Siedepunkt. Sie ging einen Schritt auf den Tisch zu und stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte. »Wenn dir die Atmosphäre in unserem Haus nicht passt, meine liebe Hilde, dann geh doch nach nebenan und iss in deiner eigenen Küche dein eigenes Frühstück.« Susanne funkelte ihre Schwiegermutter böse an, wunderte sich jedoch, dass sie es schaffte, einen ruhigen, wenn auch nicht ganz freundlichen Tonfall beizubehalten.

»Mama!« Monas Ton war vorwurfsvoll. »Omi isst immer mit uns Frühstück! Was soll das denn jetzt?« Sie drehte sich zu ihrem Vater. »Papa, sag du doch auch mal was. Mama will Omi rausschmeißen.«

Jürgen Rieker ließ die Nordsee-Zeitung sinken und sah die drei nacheinander an. »Der Einzige, der hier irgendjemanden rausschmeißt, bin ich«, sagte er, »und jetzt hört bitte auf, ich will meine Zeitung in Ruhe zu Ende lesen, bevor ich in den Hafen muss.«

»Das glaub ich alles nicht!«, flüsterte Susanne und stemmt sich mit einem so heftigen Ruck von der Tischplatte ab, dass der Kaffee aus den Tassen schwappte.

»Ach, Susanne! Tut das Not?«, hörte sie Hilde sagen, als sie aus der Küche stürmte.

Sie durchquerte das Wohnzimmer und öffnete die Terrassentür. Der kühle und feuchte Februarwind schlug ihr entgegen. Sie angelte nach der Packung Zigaretten in der Tasche ihrer Strickjacke. Nur noch zwei Stück.

Scheiße, dann muss ich gleich zu Tülze und neue holen, dachte sie. Der Edeka war zwar im Ort, jedoch so weit entfernt, dass laufen nicht in Frage kam – nicht bei dem Nieselregen.

Was für eine Scheiße!

Jeden Morgen derselbe Mist mit den Kindern. Jeden Morgen ihre Schwiegermutter, die zu allem etwas Schlaues zu sagen hatte. Jeden Morgen ihr Ehemann, den das alles nicht zu interessieren schien. Hauptsache, es gab Kaffee und die Tageszeitung und abends nach der Arbeit was Warmes zu essen und die Tagesschau. Sie zog an ihrer Zigarette und inhalierte den Rauch tief. Die Woche fing ja wieder richtig super an.

Hatte sie sich ihr Leben so vorgestellt?

Nein! Auf keinen Fall!

Als sie damals zu Jürgen und seinen Eltern nach Hasenbrönn gezogen war, hatte sie nicht geahnt, dass das Leben im Dorf einen derart krassen Gegensatz zum Stadtleben bot. Ebenso wenig hatte sie damit gerechnet, dass ihre Schwiegermutter nach dem Tod ihres Manns quasi bei ihnen einziehen würde. Sie war mehr bei Jürgen und Susanne als in ihrer eigenen Wohnung, die direkt nebenan, auf der anderen Seite des Hofes, lag.

Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie nicht ihren Mann geheiratet hätte, schwanger geworden und hierher aufs Land gezogen wäre?

Was wäre gewesen, wenn sie bei Mario, ihrem langjährigen Freund vor Jürgen, geblieben wäre? Er war zurückgegangen in das Geburtsland seiner Eltern und besaß heute in Sizilien ein kuscheliges Restaurant am Meer, das hatte sie im Internet recherchiert. Lange hatte sie gezögert und dann hatte sie ihn angeschrieben. Sie konnte nicht sagen, was sie damit bezwecken wollte. Letztendlich war es auch egal, denn er hatte sich nicht gerührt. Keine Antwort bis heute.

Susanne seufzte. Am Meer zu leben und zu arbeiten, das wäre schön gewesen. Sie nahm den letzten Zug von ihrer Zigarette und zündete mit dem Rest eine neue an. Dann zerknüllte sie die leere Packung in ihrer Hand.

»Scheiße!« Sie warf die Schachtel in die Forsythie, wo sie rot leuchtend auf dem laubfreien Erdreich liegen blieb. Sie betrachtete das Stillleben. Ja, so fühlte sie sich, wie ein Fremdkörper, der nicht hierhin gehörte.

Sie rauchte ihre Zigarette zu Ende, öffnete die Terrassentür und ging ins Wohnzimmer. Brutus, der viel zu dick geratene Familienlabrador, kam ihr entgegen und wedelte vor Freude beinahe die Deko vom Beistelltisch.

»Ja, mein Großer, du bist gleich dran, wenn ich die Gören in die Schule kutschiert habe.« Sie tätschelte ihm den Kopf, was er mit einem ausgiebigen Lecken ihrer Hand quittierte.

Susanne blieb einen Augenblick stehen und sah Brutus an. Eines Tages wären die Kinder aus der Pubertät heraus und ausgezogen. Im besten Fall war bis dahin ihr Schwiegerdrachen unter der Erde und dann würde ihr Leben bessere Formen annehmen. Vielleicht könnten Jürgen und sie in den Urlaub fahren, nach Mallorca oder Teneriffa, denn sie waren nie weiter als bis nach Österreich gekommen.

Susanne atmete aus und warf einen Blick auf die Uhr. Viertel vor acht, in fünfzehn Minuten war Schulbeginn. Als könnte sie Gedanken übertragen, hörte sie ihren Sohn aus der Küche brüllen: »Mama! Wo bist du denn schon wieder? Wegen dir kommen wir noch zu spät zur Schule!«

Susanne schloss kurz die Augen und atmete tief ein und aus. »Nützt ja nix«, flüsterte sie und verließ das Wohnzimmer.

 

Susanne parkte den Wagen am Straßenrand und blieb einen Augenblick hinter dem Steuer sitzen. Nachdem sich Hannes und Mona auf dem gesamten Weg zur Schule gestritten hatten, genoss sie die Ruhe und schloss die Augen. Was für ein Morgen! Sie lauschte dem fast unhörbaren Geräusch ihres Atems. Einatmen, ausatmen. Sie sollte wieder einen Yoga Kurs besuchen, das hatte ihr früher gutgetan. Du bist die Ruhe und die Kraft, sagte ihr ihre innere Stimme. Das Leben ist eines der schönsten und du wirst alles meistern, was dir im Leben …

»Hey! Schläfst du oder bist du tot?«

Jemand klopfte so heftig an die Scheibe ihres Autos, dass Susanne vor Schreck tief einatmete und sich dabei an ihrer eigenen Spucke verschluckte.

»Ines!«, krächzte sie und hustete, bis sie wieder halbwegs normal atmen konnte. »Bist du irre?« Susanne stieß die Wagentür auf und stieg aus dem Auto. »Ich hätte sterben können!«

Ines stütze sich an der Motorhaube ab und hielt sich vor Lachen den Bauch. »Du hättest dich sehen sollen!« Sie rang nach Luft. »Was machst du denn da? Ich dachte, du schläfst.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.

»Nein, Mann, ich hab die Ruhe genossen. Die Kinder rauben mir mit ihrer Lautstärke noch den letzten Nerv.«

»Ach du Arme! Wolltest du zu uns?«

»Ja, ich brauch Zigaretten.«

Ines hakte sich bei ihr ein. »Na, denn kommse ma’ mit, junge Frau.« Sie zog Susanne über die Straße in Richtung des kleinen Ladens. »Und sonst so?«

»Selbe Scheiße, anderer Tag«, entgegnete Susanne und drückte die Ladentür auf.

»SSDD.« Ines grinste.

»Was?«

»Selbe Scheiße anderer Tag. SSDD.« Sie folgte Susanne in den Verkaufsraum.

»Was’n das für ’n Quatsch?«

»Kein Quatsch, kommt doch aus einem Stephen King. SSDD haben die Kids ständig gesagt, für: ›same shit, different day‹. In der deutschen Übersetzung: selbe Scheiße, anderer Tag. Kannst du dich daran nicht erinnern?«

»Nee, ich hab das Buch nie gelesen, das war nur ein Spruch von meinem Ex.«

»Dein Ex, soso. Guten Buchgeschmack hatte er auf jeden Fall.«

Susanne seufzte theatralisch. »Nicht nur das.«

»Und warum ist es dann dein Ex?«

»Ach, lange Geschichte.« Sie winkte ab. »Ich hab mich damals echt dumm benommen und manchmal bereue ich das. Wäre ich bei ihm geblieben, wäre ich heute im warmen Sizilien und nicht hier, im kalten Norden.«

»Na, das klingt ja ganz spannend. Allerdings hätten wir uns dann nicht kennengelernt.« Ines verschwand hinter der Kasse und nahm eine Schachtel Zigaretten aus dem Regal. »Das wäre zumindest für mich ein echter Verlust.«

»Für mich auch, das kannst du mir glauben!« Susanne warf ihrer besten Freundin einen Kuss zu.

»Kommst du heute Abend auch?«

»Heute Abend?« Susanne runzelte die Stirn. »Was soll da sein?«

»Na wegen der 800-Jahr-Feier. Wir besprechen heute Abend, was gemacht werden soll, welcher Verein welche Aufgabe übernimmt und was jeder Einzelne machen kann.«

Susanne tippte sich gegen die Stirn.

»Ach, bitte! Komm doch, das wird bestimmt lustig.«

»Nö, da kann ich mir echt was Besseres vorstellen. Bevor ich mir das antue, schau ich mir mit meiner Schwiegermutter zusammen das Traumschiff im Fernsehen an.«

Ines rollte mit den Augen. »Wie lange bist du jetzt hier bei uns? Siebzehn Jahre? Und immer noch keinem Verein angeschlossen! Vielleicht solltest du es wenigstens bei den Landfrauen versuchen. Außerdem kannst du kein Traumschiff ansehen, das läuft nur noch zu Weihnachten.«

»Mach nur so weiter, dann bist du die längste Zeit meines Lebens meine Freundin gewesen.« Sie zwinkerte. Ines war eine der ersten Menschen, die Susanne in Hasenbrönn kennengelernt hatte. Die beiden Frauen, die fast im selben Alter waren, hatten sich auf Anhieb gut verstanden und sich schnell angefreundet. Ines war ihr Anker, wenn sie, wie so oft, das Gefühl hatte, ihr ganzes Leben würde aus dem Ruder laufen. Egal, ob es um Stress mit Hilde oder den Kindern ging oder um das eingefahrene, besser gesagt, verfahrene Eheleben mit Jürgen, Ines war immer für sie da.

»Du weißt, ich mag dich sehr, aber du solltest dich wirklich mehr in die Dorfgemeinschaft integrieren, du wirst sehen, das hat auch seine guten Seiten. Man muss sich hier etwas anpassen.«

»Wer sagt das? Du? Die vegane Metzgerstochter?« Sie legte zehn Euro auf den Tresen.

»Mein Vater ist kein Metzger, er verkauft die Wurst nur.« Ines lachte auf und gab das Wechselgeld raus. »Ja, das ist schon ein wenig verrückt. Wo hier doch Fleisch das beste Gemüse ist.« Ines schüttelte den Kopf. »Meine Oma versteht das immer noch nicht. Sonntag beim Grillen hab ich mich an meine veganen Kräuterschnecken und den Quinoasalat gehalten. Sie hat mich beobachtet und schließlich gesagt«, sie spitzte die Lippen und ahmte eine alte Frau nach, »Kind, ich hab das ja verstanden, dass du kein Fleisch mehr essen willst, aber iss doch wenigstens eine Wurst!«

»Hör auf, dich über deine Oma lustig zu machen!« Die Stimme ihres Vaters donnerte aus dem Nebenraum. Michael Tülze erschien in der Tür des winzigen Büroraums. »Das ist nicht witzig. Keiner versteht hier, was der ganze Quatsch mit diesem Tierschutz soll. Das halbe Dorf lebt von der Viehzucht und du fängst an, nur noch Körner zu fressen.« Er rauschte an ihr vorbei und würdigte Ines keines Blickes. »Moin Susanne!«, sagte er, bevor er durch die Ladentür nach draußen verschwand.

»Hauaha! Was war das denn?«

»Ach, du kennst doch meinen Vater. Irgendwann wird hoffentlich auch er begreifen, dass es lediglich um meine Ernährung geht. Ich frage mich, was er wohl getan hätte, wenn ich ihm stattdessen eröffnet hätte, dass ich lesbisch bin.«

Susanne lachte los. »Dann hätte er gebetet, dass der Herrgott den Boden öffnet und er darin versinken kann.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Gott, was für ein Kaff! Wie bin ich hier bloß gelandet?«

Ines zwinkerte verschwörerisch. »Such dir doch einen heißen Lover und verschwinde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Was meinst du, was dann hier los wäre? Da käme mal richtig Schwung ins Dorf.«

»Ich lass es mir durch den Kopf gehen, aber jetzt fahr ich erst mal nach Hause und mache die Wäsche.« Sie griff nach den Zigaretten und hob zum Abschied die Hand. »Wir sehen uns.«

 

Frank drückte die schwarze Erde über den frisch gesetzten Tulpenzwiebeln fest. Einstein lag im Beet und suhlte sich. Manchmal, dachte Frank, benimmst du dich wie ein Schweinchen, nicht wie ein Kater.

Seine Mutter kniete neben ihm im Beet und klaubte die toten Eichenblätter aus der Buchsbaumhecke.

Er beobachtet, wie sie sich immer wieder eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht wischte und mit ihren dürren Fingern das Laub in den Plastikeimer warf.

Mariechen Koslowski trug, so lange Frank denken konnte, die Haare hochgesteckt oder zu einem Dutt gedreht. Nur, dass diese im Laufe der letzten dreißig Jahre stetig dünner geworden waren, so wie die ganze Person.

Eigentlich war sie nur noch ein Persönchen.

Sie war bereits einundachtzig und ließ sich die Gartenarbeit noch immer nicht verbieten. Er sah ihr an, wie schwer ihr die Handgriffe mit ihren gichtgeplagten Händen fielen, wie stark ihr Kreuz unter der immerwährend gebeugten Haltung schmerzte, wie schwer es ihr fiel, wieder auf die Beine zu kommen.

»Lass gut sein, Mama!« Er stand auf und griff Mariechen, die lieber Marie genannt wurde, unter die Achseln, um ihr beim Aufstehen zu helfen.

Sie hasste ihren Namen, das wusste Frank. Bereits in ihrer Kindheit hatte man sie damit aufgezogen. Mariechen sagt zu Mariechen, lass mich ma’ riechen, Mariechen. Da ließ Mariechen Mariechen ma’ riechen.

Was für ein dummer Spruch, dachte Frank. Und woran sollte die eine die andere eigentlich riechen lassen?

»Geht´s?«

Seine Mutter rappelte sich auf und zog die Kittelschürze, die sie unter der dicken Wolljacke trug, zurecht. Dann tätschelte sie Frank die Hand. »Jümmers langsam mit de jungen Peer. Denn klappt das ooch.«

»Ja, Mama, immer langsam, so ist es richtig.« Er liebte es, wenn seine Mutter so sprach. »Damals nach dem Krieg haben wir nur so geschnackt«, sagte sie oft. Aber heute verstand das ja kaum noch einer. Auch Frank konnte so nicht reden, egal, wie viel Mühe er sich gab. Vielleicht lag das daran, dass er nicht der Gescheiteste war, aber letztendlich war es auch egal, er verstand sie, und das war die Hauptsache.

Einstein kam zu ihnen und strich seiner Mutter um die Waden.

»Na, kleiner Kater, wie geht es dir?« Sie bückte sich langsam und streichelte liebevoll das rote Fell. Einstein begann augenblicklich zu schnurren. Wie alt er geworden war, seit damals, als Frank ihn halb tot vor dem Bauern gerettet hatte. »Entweder du nimmst ihm mit oder ich erledige das heute Abend«, hatte der Bauer gesagt. Frank hatte das kleine Bündel in seinen Pullover gebettet und ihn mit nach Hause genommen. So war Einstein dem sicheren Tod entronnen und dankte es Frank mit jeder Minute seines Daseins.

»Was hältst du davon, wenn ich hier die Arbeit fertig mache und du uns einen Kaffee kochst? Dann können wir eine Tasse davon zusammen trinken. Okay?«

Sie sah ihn mit ihren wässrigen Augen an und strich mit dem Rücken ihrer knochigen Finger über seine Wange. »Was würde ich nur ohne meinen Jungen tun? Ich käme hier alleine gar nicht zurecht.«

»Mama! Ich bin doch da! So was darfst du nicht denken.« Er nahm sie in den Arm und drückte sie sanft an seine Brust.

Ganz vorsichtig, damit sie nicht kaputtgeht!

Er ließ sie los und lächelte. »Machst du Kaffee?«

Sie nickte, ging langsam zum Haus hinüber. »Komm, Einstein, wir gehen Kaffee kochen.«

Der Kater rannte los und einen Augenblick später verschwanden beide hinter der Eingangstür.

Frank atmete schwer ein. Was würde sie ohne ihn machen? Die Frage war wohl eher, was würde er ohne sie machen. Seine Mutter war seit dem Tod seines Vaters der einzige Mensch in seinem Leben, außer Ines vielleicht. Nachdem Heinrich Koslowski vor gut siebenundzwanzig Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war, hatten Mutter und Sohn sich aufeinander konzentriert. Der Unfall, so sollte er es nennen, hatte Mama damals gesagt, schweißte die beiden bis heute zusammen. Er hatte darüber nie reden dürfen, er hatte immer gesagt, dass er nicht im Garten gewesen sei und nichts gesehen hätte. Aber mit irgendjemandem hatte er nach dem schrecklichen Ereignis reden müssen und deshalb hatte er es in sein Tagebuch geschrieben. Ins Tagebuch schreiben war nicht reden und so hatte er auch nicht gegen die Weisung seiner Mutter verstoßen. Egal, wie es passiert war, es war gut, dass es passiert war.

Heinrich Koslowski war dem Alkohol nicht abgeneigt gewesen. Immer wenn er zu viel getrunken hatte, war er gemein geworden. Er hatte Frank und seine Mutter beschimpft, und das eine oder andere Mal hatte es eine Ohrfeige, oder Schlimmeres gesetzt. Marie Koslowski hatte die verbalen Attacken, die sich gegen sie richteten, ausgehalten, aber wenn sie Frank betroffen hatten, dann war sie zur Furie geworden.

Sie hatte ihren Jungen erst spät bekommen. Mit achtunddreißig hatte sie die Hoffnung auf ein Kind aufgegeben. Ob es ein Gottesgeschenk oder lediglich der Tatsache geschuldet war, dass sie einen Seitensprung mit dem Metzgerssohn gehabt hatte, das wusste sie nicht, und letztlich war es ihr auch egal, hatte sie Frank eines Tages erzählt. Auf jeden Fall war er der beste Unfall, den sie jemals gehabt hatte.

Er hatte nur gute Erinnerungen an die Kindheit mit seiner Mutter. Sie war die beste, die er sich vorstellen konnte. Immer liebevoll, immer für ihn da, und wenn sein Vater ungerecht geworden war, dann hatte sie sich immer dazwischen gestellt. So auch am Tag des Unfalls.

Frank ließ seinen Blick durch den Vorgarten schweifen. Nur noch die Blätter zusammenharken, und dann war die Arbeit getan. Er holte die Harke aus dem Schuppen und schlenderte zurück. Nachdem er gut eine weitere halbe Stunde das Laub zusammengerecht und in Säcke gestopft hatte, hielt ein roter Opel Corsa auf der anderen Seite der Straße, und das Fenster fuhr herunter.

»Hallo Frank, was machst du denn hier bei dem Schietwetter?«

Frank lächelte unsicher und sein Blick sank in Richtung Boden. »Hallo Susanne. Ich mach den Garten sauber.«

Sie lachte. »Ja, das sehe ich. Kannst du dir denn dafür kein besseres Wetter bestellen?«

Frank sah sie ernst an. »Das kann ich nicht! Gott macht das Wetter und da kann man nichts bestellen.«

Sie lächelte. »Ach, Frank.« Sie sah ihn eine Weile an. Es wurde ihm unangenehm, da sie nicht sprach. Er riskierte einen kurzen Blick auf ihre langen braunen Haare, die ihr so wunderschön um die Schultern fielen und seine Finger schlugen unruhig aneinander.

Diese Angewohnheit hatte er als Fünfjähriger entwickelt. Er tippte Daumen und Mittelfinger aneinander, als würde er Morsezeichen senden. Sein Vater hatte diese Angewohnheit gehasst. Er hatte ihm eines Morgens, Frank konnte sich nicht erinnern, wie alt er damals gewesen war, das Frühstücksbrett auf die Finger geschlagen und gebrüllt: »Lass den Scheiß, du siehst aus wie ein Spasti.« Dann verhielt er sich wie ein Behinderter und tat, als könne er nicht in die Hände klatschen. »Ey Franky-Boy, klatsch mal in die Hände, bekommst auch ein Eis«, sagte er. Nachdem er nach einigen Versuchen ein Händeklatschen zustande brachte, nahm er ein imaginäres Eis entgegen, welches es sich mit einem dümmlich klingenden »Danke!« an die Stirn donnerte. Dann lachte er und schlug sich auf den Oberschenkel. Frank war wütend aufgestanden und in sein Zimmer gelaufen. Von dort hörte er seinen Vater noch immer lachen. Seine Mutter hatte damals im Krankenhaus gelegen und es war niemand da, der ihn in Schutz nahm, und so hatte er sich unter seine Bettdecke gelegt und sich gewünscht, er könne sich in Luft auflösen.

Er erschrak, als Susanne ihn plötzlich aus seinen Gedanken riss. »Komm mal kurz zu mir.« Sie winkte ihn zu sich.

Frank stakste durch das Beet, stiefelte den langen, gepflasterten Weg entlang und öffnete ungeschickt die Gartenpforte. Nachdem er sich versichert hatte, dass kein Auto in Sichtweite war, überquerte er die Straße und blieb vor der Fahrertür stehen.

»Da bin ich.« Er drehte an einem der Zottel, die von seinem Schal herabhingen. Susanne griff nach seiner zappelnden Hand. »Frank, schau mich an.«

Er hob langsam den Blick, Scham und Unsicherheit standen in seinen Augen. Susannes Finger war warm und weich und es fühlte sich an, als würde seine Hand in ihrer verbrennen.

»Frank, hör mir gut zu! Du bist ein guter Mensch, verstehst du mich?«

Er nickte.

»Lass dir von keinem der Dösköppe hier im Dorf etwas anderes einreden. Die sind die Idioten, mit ihrem kleingeistigen Getue, nicht du! Du und deine Mama, ihr seid gute Menschen!« Sie lächelte ihn an. »Und jetzt sieh zu, dass du fertig wirst, du bist ja schon ganz nass.« Sie ließ seine Hand los, winkte zum Abschied, schloss das Fenster und fuhr los.

Frank hob die Hand und eilte zurück auf den Bordstein vor seinem Haus. Er sah den Rücklichtern hinterher, bis sie am Ende der Straße verschwunden waren.

Er warf einen Blick auf die Uhr am Handgelenk. Auf dem Zifferblatt war der DeLorean DMC-12 aus seinem absoluten Lieblingsfilm Zurück in die Zukunft zu sehen. Wie Marty McFly, hatte er schon in seiner Jugend sein wollen und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Allerdings zweifelte er an seinem Wunsch, seit er sich bei seinem ersten Versuch, wie Marty Skateboard zu fahren, den Arm gebrochen hatte.

Kurz nach halb vier, jetzt war es wirklich Zeit für einen Kaffee.

 

Ines hockte zwischen zwei Regalreihen, neben sich den Rollwagen mit der Ware für diese Woche, als sie hörte, wie die Ladentür aufging.

»Huhu, ich bin’s! Jemand daaaa?«

Gott bewahre, dachte Ines, die alte Schumann.

Anneliese Schumann war die Besitzerin der einzigen Kneipe im Dorf, die den wahnsinnig einfallsreichen Namen »Die Kleine Dorfkneipe« trug, und war das größte Klatschweib am Platze.

Das Lokal, welches ein paar Straßen entfernt lag, war der Dreh- und Angelpunkt im Dorf. Dort trafen Jung und Alt, Arm und Reich und jeder, der Neuigkeiten hatte oder hören wollte, aufeinander. Ines fand, dass es die gruseligste Kaschemme war, die sie jemals betreten hatte. Aber was sollte es, nach ein paar Bieren und Körnchen sah sogar diese Spelunke super aus. Dann merkte man auch nicht mehr, dass man am Tresen kleben blieb, weil Anneliese wieder zu faul gewesen war zum Abwischen.

Ein eigenes Lokal, das war der Traum von Ines und Susanne. Wenn sie könnten, wie sie wollten, hätten sie vor langer Zeit eines eröffnet. Eine gemütliche Kneipe mit Livemusik am Wochenende. Ines seufzte verträumt, klemmte eine Strähne ihres dünnen Haars hinters Ohr und stellte eine Dose Bohnen ins Regal. Die Realität sah leider anders aus. Sie hockten beide in diesem Kaff fest. Auf Geld oder moralische Unterstützung konnten sie nicht hoffen. Ines Vater hatte sich mit dem Finger an die Stirn getippt. »Der Laden ist in dritter Generation in unserer Familie. Oma und ihre Eltern konnten froh sein, dass die Amerikaner sie nicht ausgebombt haben. Du wirst das Geschäft in vierter Generation führen, damit das klar ist. Was die Amis nicht geschafft haben, werden nicht deine Hirngespinste vollenden.« Mehr hatte er zu dem ganzen Thema nicht gesagt. Gerda Tülze hatte nur genickt und hinzugefügt: »Hör auf deinen Vater, Kind!«

Was für eine Familie.

Susanne erging es nicht besser. Mit ihrem Mann, der sich aus allem raushielt und einer Schwiegermutter, die den vorlauten Kindern ständig die Hand vor den Arsch hielt. Susanne kämpfte an allen Fronten. Sie hielt das Haus in Schuss, kümmerte sich um den riesigen Garten des alten Hofes und versuchte, die Kinder in der Spur und sich die Schwiegermutter von Hals zu halten.

»Haaallooooo!« Annelieses Gequietsche riss sie aus ihren Gedanken. Gerade, als sie aufstehen wollte, vernahm sie die Stimme ihrer Mutter.

»Ich eile, ich eile, Anneliese! Wie geht es dir heute?«

»Gut, meine liebe Gerda, sehr gut! Ich brauche nur ein paar Kekse für meinen Besuch. Um 16 Uhr kommen die Landfrauen zum Kaffee. Ich hab also nicht viel Zeit.«

Ines rollte mit den Augen und verstaute zwei weitere Dosen Bohnen.

»Kein Problem, meine Liebe, du weißt ja, wo sie stehen.«

Im Regal neben der Kasse, du dusselige Kuh, dachte Ines.

»Die Koslowskis sind auch schon wieder im Garten zugange. Ich weiß nicht, wie die Alte das macht. In ihrem Alter sollte sie nicht mehr im Garten herumkriechen. Aber ihr missgebildeter Sohn ist ja auch zu nichts in der Lage.«

»Ach, Anneliese«, Gerda klang empört, »das ist jetzt aber auch ein bisschen hart, findest du nicht? Er ist zwar nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber missgebildet ist er ja nun wirklich nicht.«

»Wie auch immer, dumm bleibt dumm, da helfen keine Pillen.«

Ines biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuspringen und der Alten an die Gurgel zu gehen. Sie hasste es, wenn die Dorfbewohner so über Frank sprachen. Er war zwar nicht mit einem hohen IQ gesegnet, dafür war er der liebevollste und netteste Mensch im ganzen Dorf.

»Dass du ihn in Schutz nimmst, nach dem, was er mit deiner Tochter angestellt hat! Das verstehe ich nicht, Gerda.«

»Ach, Ines hat ja keinen Schaden zurückbehalten. Ich denke, es wäre ungerecht, wenn wir ihm das noch immer nachtragen würden.«

»Keinen Schaden? Von irgendwas muss ja dieser Blödsinn mit der Ernährung kommen.«

»Anneliese!«, entgegnete Gerda vorwurfsvoll und tippte Beträge in die Kasse.

»Die Psyche eines Menschen geht komische Wege, meine Liebe. Da kann ein sexueller Übergriff auch zu einer Essstörung führen.«

Ines ballte die Fäuste. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Am liebsten wäre sie nach vorne gerannt und hätte der Alten etwas gepfiffen. Aber wenn sie jetzt aufsprang, dann würde die Situation mit Sicherheit eskalieren und einen riesen Streit mit ihrem Vater nach sich ziehen. Der war um jeden Kunden besorgt und heulte deshalb permanent mit den Wölfen.

»Ines hat doch keine Essstörung!«

»Ach nein? Und wie würdest du dann die Abneigung gegen Fleisch nennen? Wie auch immer, auf den muss man aufpassen.«

Ines hörte, wie sie die Kekse in ihre Einkaufstasche stopfte.

»Eben habe ich gesehen, wie er sich an die Frau vom Jürgen rangemacht hat.«

»An Susanne?«

»Ja, ja, Susanne. Schöne Augen hat er ihr gemacht, als sie mit ihrem Auto vor seinem Haus gehalten hat.«

Ines überlegte, wie sie das auf die große Entfernung gesehen haben wollte. Franks Haus lag ein ganzes Stück die Straße runter. Die Kneipe lag in die komplett andere Richtung. Das konnte sie auf dem Weg zum Laden oder vor dem Geschäft nicht gesehen haben.

»Schöne Augen? Bist du sicher?« In Gerdas Stimme lag Zweifel.

»Wenn ich es dir sage. Ich hab es im Rücken, aber nicht mit den Augen. Die sehen wie die eines Adlers.«

Du hast es nicht im Rücken, sondern im Kopf. Vielleicht sollte sie die nächste Dose werfen, statt sie ins Regal zu stellen.

»Wie auch immer, ich denke, er ist gefährlich. So, und nun muss ich los, damit die Damen nicht vor verschlossener Tür stehen.«

Anneliese verließ ohne ein weiteres Wort das Geschäft und Ines betete, dass sie eines Tages dieser verlogenen Spießerhölle würde entkommen können.

 

»Susanne! Ich bin wieder da!« Jürgen schloss die Eingangstür hinter sich und hängte den Parka an den Haken. Er hob sein Bein und zog an einem seiner Schuhe. Nach Gleichgewicht suchend griff er nach der Kommode. Der Schuh flog mit einem Poltern auf den Boden, zeitnah gefolgt von dem zweiten. Er ging fröhlich pfeifend ins Bad und wusch sich die Hände. Mit feuchten Fingern fuhr er sich durch das dünner werdende Haar, um es ein wenig zu richten. Er formte mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole und zeigte mit einem geräuschvollen Zungenschnalzen auf sein Spiegelbild. »Gut siehst du heute wieder aus, mein Freund.« Er zwinkerte sich zu und verließ das Bad in Richtung Küche.

»Susanne, ich bin wieder da! Was gibt es heute zu essen? Ich hab einen …« Er verstummte, als er die leere Küche betrat, und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Susanne?«, wiederholte er leicht verunsichert. Er ging zur Treppe und sah nach oben. »Susanne!«, brüllte er, damit man ihn im Obergeschoss hörte.

Monas Tür ging auf. Sie trat an den Treppenabsatz und kämmte sich weiter ihre langen blonden Haare. »Papa, schrei nicht so rum. Mama ist nicht da.«

»Wie? Sie ist nicht da? Was soll das heißen?«

Mona rollte mit den Augen. »Nicht da heißt nicht da.«

»Ja, aber wo ist sie denn?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Ist sie beim Sport?«

»Nee, heute ist Montag, und außerdem geht sie doch immer erst nach dem Abendbrot.«

»Hm, stimmt.« Jürgen polterte die Treppe nach oben und klopfte an die Tür am Ende des Flures. »Hannes?«

Keine Reaktion.

Er drehte sich zu Mona. »Ist er auch nicht da?«

»Doch, eigentlich schon.«

Jürgen klopfte stärker an die Tür. »Hannes!«

Keine Reaktion.

Er öffnete. Hannes saß mit einem großen Kopfhörer auf den Ohren im Bett und tippte auf seinem Handy. Jürgen war es unbegreiflich, dass er es schaffte, mit zwei Daumen so flink über das Display zu fliegen, aber beim Abräumen des Abendbrottisches zum Bewegungslegastheniker mutierte.

»Hey, Hannes!« Er zeigte auf seine Ohren. »Nimm ma’ die Dinger ab.«

Hannes hob die Kopfhörermuschel vom linken Ohr. »Was?«

»Nicht Fass, Tonne rollt besser.« Jürgen machte eine Pause. »Das heißt wie bitte.«

»Oh, Papa! Nerv nicht, was willst du?«

»Wo ist Mama?«

»Das wüsste ich auch gerne. Wir mussten heute mit dem Schulbus nach Hause fahren! Zusammen mit den ganzen Losern aus der Schule.«

»Na, na, so schlimm wird es ja wohl nicht sein.«

»Doch, ist es! Und es wird auch so bleiben, wenn ich nicht endlich meinen Lappen machen darf.«

Hannes war seit gut vier Monaten siebzehn und lag seinen Eltern täglich mit dem Führerschein und begleitetem Fahren in den Ohren.

»Klär das mit Mama«, versuchte sich Jürgen aus der Affäre zu ziehen. »Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte?«

»Nee, aber es wird Zeit, ich hab Hunger.«

»Wem sagst du das?«, stöhnte sein Vater und zog die Zimmertür zu. Nachdem er die halbe Treppe hinter sich gelassen hatte, hörte er, wie die Eingangstür ins Schloss fiel. »Das wird aber auch Zeit, Susanne! Die Kinder und ich haben …« Am Fuß der Treppe blieb er enttäuscht stehen. »Mama! Ach, du bist es!«

»Wen hast du denn erwartet?«, entgegnete Hilde. Sie schlüpfte aus ihren Straßenschuhen und zog ihre Hausschuhe an, die sie schon vor geraumer Zeit bei Jürgen und Susanne einquartiert hatte. »Es ist Abendbrotzeit!«

»Ich fürchte, das fällt heute aus.«

Hilde blieb wie vom Donner gerührt stehen und schob ihre Brille zurück auf die Nasenwurzel. »Was soll das denn bitte heißen?«

»Susanne ist nicht da und ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Papperlapapp! Hast du in den Kühlschrank gesehen, ob sie was vorbereitet hat? Vielleicht ist sie ja endlich zur Vernunft gekommen und nimmt heute Abend an dem Treffen für die 800-Jahr-Feier teil.« Sie marschierte zum Kühlschrank. »Konnte ja auch nicht ewig so gehen, irgendwann muss sie sich ja fügen und sich in die Dorfgemeinschaft einbinden.« Sie öffnete mit einem Ruck die Kühlschranktür. »Die Leute reden schon!« Ihr Blick wanderte abschätzig über den Kühlschrankinhalt, während sie ihre Brille zurück in ihre Position schob. »Kruzitürken! Sie hat tatsächlich nichts zu essen gemacht!«

»Mutter! Fluch hier bitte nicht rum. Was soll ich denn jetzt machen? Kannst du nicht etwas kochen?«

»Da wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben. Du und die Kinder, ihr müsst ja versorgt werden.« Hilde ging kopfschüttelnd durch die Küche und inspizierte die Lebensmittel im Küchenschrank. Sie griff nach einer Dose und hielt sie in die Höhe. »Kannst du mir bitte verraten, was man mit«, sie warf einen zweiten Blick auf das Etikett und las erneut, »Kichererbsen anstellen soll?«

Jürgen zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich kann auch zum Imbiss fahren.«

»Ich denke, das ist das Beste. Es ist ja nichts Essbares im Schrank«, mäkelte sie und legte eine Packung Glasnudeln zurück. »Hol uns und den Kindern was. Susanne kann dann zusehen, was sie isst, wenn sie nach Hause kommt.«

 

»Meine Güte! Wo bist du denn gewesen?«, Marie Koslowski schlug die Hände vor der Brust zusammen, »ich habe schon geglaubt, dir sei etwas passiert!«

Frank stand mit hängenden Schultern im Flur.

Nachdem er seine Gartenarbeit beendet hatte und ins Haus gegangen war, um mit seiner Mutter Kaffee zu trinken, hatten sie beide festgestellt, dass ihnen die Milch ausgegangen war.

Da Frank es hasste, im örtlichen Edeka einkaufen zu gehen, hatte er seiner Mutter den Vorschlag gemacht, mit dem Zug in die nahegelegene Stadt zu fahren. So könne er noch ein wenig Gebäck und frisches Jägermett für das Abendbrot mitbringen, hatte er sein Vorhaben begründet. Außerdem führe der Zug jede Stunde und er wäre zeitig wieder zu Hause.

Seine Mutter hatte ihm Geld gegeben und er hatte sich auf den Weg nach Bremerhaven gemacht. Dort war der den kurzen Weg vom Bahnhof zum Supermarkt gelaufen. Er hatte gewusst, wenn er sich beeilte, dann würde er den nächsten Zug zurück nach Hasenbrönn bekommen und würde nicht mal eine Stunde brauchen. Er wäre gegen fünf, zu einem späten Kaffee, wieder zu Hause.

Nun war es neunzehn Uhr und seine Mutter hatte sich zu Recht Sorgen gemacht.

»Frank! Jetzt steh da nicht wie ein begossener Pudel! Wo bist du gewesen? Ist etwas passiert?«

Frank zuckte hilflos mit den Schultern. »Nein, es ist nichts passiert.«

»Aber warum hat das so lange gedauert?«

Wieder ein Schulterzucken. »Ich hab jemanden getroffen und wir haben uns unterhalten. Dann bin ich zum Bahnhof gegangen und der Zug kam nicht.«

»Ja, ist denn da kein Münzfernsprecher? Du hättest ja wenigstens anrufen können«, warf sie ihm vor.

»Ich hab mich nicht getraut, das Gleis zu verlassen. Wenn dann der Zug gekommen wäre, hätte ich ihn verpasst.« Frank hob die Schultern und ließ sie gleich wieder sinken. »Mama! Ich kann doch nichts dafür, wenn die Bahn nicht fährt. Sei bitte nicht böse auf mich.«

Marie betrachtete ihren Sohn einen Augenblick, ging schließlich zu ihm rüber, legte ihre Hände auf seine Oberarme und schaute ihn von unten an. »Ich bin dir doch nicht böse, mein Jung. Ich wusste nur nicht, ob du alter Dröömbaddel wieder die Zeit vertrödelt hast oder dir etwas zugestoßen ist.«

»Aber Mama, wenn was mit mir wäre, dann würde dich doch jemand anrufen! Deine Telefonnummer ist doch in meiner Brieftasche«, protestierte er.

»Nu’ ist ja gut! Für Kaffee ist es zu spät. Lass uns Abendbrot machen. Komm, zieh dich aus und dann ab in die Küche mit dir.«

Einen Augenblick später saßen sie am Küchentisch und schmierten sich Jägermett auf das Schwarzbrot. Frank schnitt seine Scheibe in der Mitte durch, biss hinein und betrachtete das Brotmesser. Es war eines dieser alten Messer mit der gebogenen Klinge, die oben rund und nicht spitz waren und einen Horngriff besaßen. Die dürfen nicht in einen Geschirrspüler, hatte Mama ihn einst aufgeklärt. Er war nach dieser Aussage verwirrt gewesen, da sie noch nie ein solches Gerät besessen hatten. Mama hatte nur sichergehen wollen, dass er das wusste, da sie ja eines Tages nicht mehr da sein würde.

Verträumt kaute er auf seinem Bissen Brot, als ihre Stimme ihn zurück ins Diesseits holte.

»Wo bist du denn nur wieder?« Sie lächelte ihn an.

Frank zog entschuldigend seine markanten Augenbrauen nach oben. »Entschuldige. Hast du etwas gefragt?«

»Ja, ich wollte wissen, wen du getroffen hast.«

»Getroffen? Wo?«

»Frank!«, ihr Ton war vorwurfsvoll. »Du hast mir doch vorhin erzählt, dass du jemanden beim Einkaufen getroffen hast.«

»Ach so, das!« Er schob mit dem Zeigefinger sein Brot auf dem Brett hin und her. Das karierte Muster darauf war vom vielen Abwaschen kaum noch zu erkennen.

»Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«

»Ach, nur jemand von früher, mit dem ich mal zusammen gearbeitet hab.«

»Frank, sieh mich mal an!«

Er hob langsam die Augen und versuchte, dem prüfenden Blick seiner Mutter standzuhalten.

»Flunkerst du etwa?«

»Nein, Mama, wirklich nicht. Es war ein alter Kollege, mit dem ich zusammen gearbeitet habe. Ich habe bestimmt keine Frau getroffen.«

»Na gut.« Ihre dünnen Finger holten zitternd eine weitere Scheibe Brot aus der Tüte. »Du weißt, was das damals für ein Desaster war mit der Kleinen von den Tülzes. Du musst dich in Acht nehmen vor den Weibern. Halt dich von ihnen fern, die bringen nichts als Scherereien. Ich will nicht, dass du dich mit ihnen triffst oder mit ihnen sprichst.« Sie tätschelte ihm liebevoll die Hand. »Ich will nur das Beste für dich, mein Junge.«

Er lächelte sie an und dachte an Ines. Das war eine schlimme Geschichte gewesen damals. Wenn er daran dachte, wie traurig seine Mutter wegen ihm gewesen war … Jeden Abend hatte sie geweint, und gelacht hatte sie auch nicht mehr. An zwei Tagen hatte sie sogar im Bett bleiben wollen. Frank hatte große Angst um sie gehabt. Es hatte Wochen gedauert, bis sich alles wieder halbwegs normalisiert hatte und das alles, weil er Ines gerne mochte. Sein Magen krampfte sich zusammen und es fühlte sich an, als wolle er durch den Hals nach oben steigen. Schnell schob er die Erinnerungen zur Seite. Er wollte sich nicht die Laune verderben. Sie hatten genug gelitten.

Er kniff kurz die Augen zusammen, als ob er die Erinnerungen so abschalten könnte, und legte seine Hand auf die seiner Mutter. »Ich weiß doch, Mama, ich weiß doch.«

 

Eine Stunde, nach dem sie mit dem Essen fertig waren, saß Jürgen noch immer am Küchentisch und starrte auf die leeren Plastikteller, die Reste von Jägersoße, Mayonnaise und Ketchup zierten. Seine Kinder waren nach dem Essen wortlos in ihre Zimmer verschwunden. Keiner von den beiden war auf die Idee gekommen, den Tisch abzuräumen, und sogar seine Mutter war, ohne einen Finger zu rühren, in ihre Hälfte des Hauses verschwunden. Jürgen holte tief Luft, stand auf und räumte ab. Da er nicht wusste, wann Susanne nach Hause kam, würde er nolens volens selber aufräumen müssen.

Als die Teller im Müll lagen und das Besteck seinen Weg in die Spüle gefunden hatte, entschied er, sich noch ein Bier in der Kneipe zu gönnen. Das tat er sonst nie, da er wusste, dass seine Frau Kneipengänge missbilligte. Selbst, wenn sie dienstags und donnerstags im Fitnesscenter war, ging er dort nicht hin. Susannes Stimme hallte in seinem Kopf wider. »Da musst du nun wirklich nicht hin. Wenn das erst mal losgeht, dann reißt das irgendwann ein und du sitzt jeden Abend wie die anderen Assis in der Kneipe. Pass auf, mit sechzig sind die alle Alkoholiker.« Und so weiter und so fort. Was war er bloß für eine Lusche, dass er sich von seiner Frau einen Abend in der Kneipe verbieten ließ? Sie tat, als würde er sich dort stetig die Birne wegschießen und nicht wissen, wann genug war! Heute würde er sich gar nichts verbieten lassen!

Die Kleine Dorfkneipe war nur wenige Straßen von seinem Haus entfernt, und so fand er sich zehn Minuten später an der Theke wieder.

»Jürgen, mein Liebchen«, Anneliese strahlte ihn an, »was kann ich dir Gutes tun?«

»Ein Bier und ein Korn.« Er zog seine Jacke aus und setzte sich auf einen der verschlissenen Barhocker am Tresen. Die Kneipe gab es, solange er denken konnte. Vor Anneliese hatte sie ihren Eltern gehört und Jürgen war als Kind oft dort gewesen. Im Auftrag seiner Mutter hatte er den Alten abgeholt.

Die Einrichtung hatte sich seitdem nicht geändert und sogar der Geruch war noch derselbe. Es roch nach abgestandenem Bier und jahrzehntealtem, kaltem Rauch, gepaart mit modriger, uralter Vertäfelung. Die alten Lampen aus Kupferblech zierte eine Staubschicht und Glasränder verschiedener Jahrzehnte schmückten die Thekenplatte. Er wollte nicht wissen, wie alt die grün karierten Stoffbezüge der Stühle waren und was sie alles gesehen oder geschluckt hatten. Ihn schüttelte es.

Ein Bierdeckel flog vor ihm auf den Tresen und kurz darauf stellte Anneliese mit einem Knall das Bierglas hin. »Hier, Schätzchen, das Körnchen kommt gleich und geht auf mich, da du der Einzige heute Abend bist.«

»Wo sind denn die anderen?«

»Alle auf der Sitzung zur 800er-Feier.« Sie stellte zwei Gläser Korn ab. »Los, nich’ lang snacken, Kopp in Nacken.«

Als Jürgens Glas leer war, hatte sie ihres wieder gefüllt und hielt ihm auffordernd die Flasche entgegen.

»Nee, das reicht.«

»Stell dich nicht so an. Bist du ein Mann oder ein Mädchen?«

Er gab auf. »Ein Mann.« Er hielt ihr das Glas hin. Welcher echte Kerl wollte als Mädchen bezeichnet werden?

»Na also! Und was für ein Prachtbursche!« Sie kippte Korn in sein Glas. »Soll ich uns ein bisschen Musik anmachen? Dann können wir eine Runde schwofen, jetzt, wo mein Mann nicht da ist.« Sie drückte die Hände links und rechts gegen ihre dicken Brüste und hob sie so weit in die Höhe, dass oben im Ausschnitt zwei fleischige Wölbungen zu sehen waren. Jürgen erinnerte der Anblick an einen zu fetten Hintern.

Er schüttelte den Kopf. »Nee, Anneliese, lass ma’. Ich hab doch meine Susanne.«

Sie ließ ihre Brüste los, die mit einem Ruck nach unten sackten und nachschwangen. »Ach! Susanne, Susanne, Susanne. Dass die dich heute überhaupt rausgelassen hat, ist ein wahres Wunder.«

Jürgen wollte zum Protest ansetzen und seine Frau verteidigen, als hinter ihm die Tür aufging und der harte Kern der Kneipenbesucher den Raum betrat.

Als Erstes Michael Tülze, auch Edeka-Michi genannt, da ihm der Supermarkt gehörte, gefolgt von Herbert Schumann, dem Ehemann von Anneliese. Bei seinem Anblick war Jürgen heilfroh, dass er sich nicht auf einen Tanz mit der Wirtin eingelassen hatte. Zum Schluss betraten die Ganter den Raum. Das waren Gisbert Gans und seine drei Söhne Gustav, Georg und Günther. Herbert hatte die Vier vor vielen Jahren als die Gänse betitelt, woraufhin Gisbert ihm ein blaues Auge geschlagen und gebrüllt hatte: »Willst du uns vielleicht noch als dumm bezeichnen?«. Seit dem Zeitpunkt verwendeten alle die männliche Form und aus den Gänsen waren die Ganter geworden.

Anneliese zapfte sechs Bier und die Männer nahmen ebenfalls an der Theke Platz. Sie stellte jedem ein leeres Schnapsglas hin, goss in jedes, auch in Jürgens und ihr eigenes, einen Korn und prostete den Männern zu.

Nachdem alle ihr Glas geleert und mit einem Knall auf den Tresen gestellt hatten, drehte sich Edeka-Michi in Jürgens Richtung. »Na, hat deine Olle dir heute Ausgang gewährt?«

Die anderen lachten.

Jürgen ließ den Kopf sinken. »Nicht direkt, sie ist nicht da.«

»Na, dann sieh ma’ zu, dass du vor ihr zu Hause bist«, antwortete Michael und schlug Jürgen auf die Schulter.

Sein Blick wanderte zu seinem Bier und er drehte den Tropfenfänger hin und her. »Ich weiß gar nicht, wo sie ist. Eigentlich wollte ich euch fragen, ob ihr sie gesehen habt.«

Alle schüttelten den Kopf, nur Anneliese wurde hellhörig. »Was soll das heißen? Du weißt nicht, wo sie ist?«

»Sie war nicht da, als ich von der Arbeit gekommen bin, und die Kinder hat sie auch nicht von der Schule abgeholt. Keinem hat sie etwas gesagt.«

Die Wirtin schlug mit der flachen Hand auf den Tropfkasten unter dem Zapfhahn, dass es nur so schepperte. »Ich wusste, dass man dem Typen nicht trauen kann.«

Die Runde sah sie fragend an, nur in Jürgens Blick lag mehr Schreck als Neugierde.

»Na, der Koslowski! Ich hab gesehen, wie er sich heute an Susanne rangeschmissen hat. Die stand mit ihrem Auto vor seinem Haus und hat sich mit ihm unterhalten.«

»Was will die denn von dem?«, schaltete sich Gustav dazwischen und sah abwechselnd zu Anneliese und zu Jürgen.

Sie hob die Hände vor die Brust und drehte den Kopf zur Seite. »Das kann ich dir nicht sagen.«

»Na ja, ich auch nicht«, entschuldigte sich Jürgen. »Was hast du denn genau gesehen?«

»Sie saß im Auto am Straßenrand und er stand an der Fahrerseite und hat sich mit ihr unterhalten und dann«, sie tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe, »dann hat er ihre Hand genommen.«

»Er hat was?« Jürgens Stimme überschlug sich. »Wieso grabbelt der meine Frau an?«

Schulterzucken von Anneliese.

»Hast du sonst noch was gesehen?«, wollte Michael Tülze wissen.

»Na ja, ich bin zu deiner Frau in den Laden. Wenn ich genau überlege, dann meine ich, dass er auf die andere Seite des Wagens gegangen ist.«

»Ist er eingestiegen?«, fragte Gisbert und kniff die Augen zusammen.

»Das weiß ich nicht mehr so genau, ich bin ja in den Laden. Ich brauchte noch Kekse für die Landfrauen, die …«

»Ja, ja, Anneliese, das will jetzt keiner wissen«, fuhr Herbert Schumann dazwischen, »manchmal redet sie zu viel, ihr kennt sie ja.« Er zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Schenk mal lieber noch einen ein.«

»Also, ich denke, den Koslowski-Burschen muss man im Auge behalten. Vor allem nach dem, was er mit deiner Tochter angestellt hat, Michael.«

»Erinner’ mich nicht daran«, sagte Edeka-Michi und hielt ihr sein Schnapsglas entgegen.

»Was war denn mit Ines?« Jürgen runzelte die Augenbrauen.

»Ach, das ist schon einige Jahr her, der Perverse hat damals versucht, meine Tochter zu vergewaltigen.«

»Was?«, in Jürgens Blick lag Ungläubigkeit. »Das kann ich mir von dem gar nicht vorstellen. Das ist doch so ein Unscheinbarer.«

»Hast du nicht Psycho gesehen?«, meldete sich Günther zu Wort. »Norman Bates war auch so ein unscheinbarer Normalo und hinten rum war er ein eiskalter Killer.«

Seine Brüder nickten zustimmend.

»Was ist denn passiert?« Jürgen sah Michael an.

»Na ja, das war bei uns. Das muss man sich mal vorstellen, im eigenen Haus! Meine Frau ist zufällig und gerade noch rechtzeitig ins Zimmer gekommen, als sich das Schwein auf Ines gewuchtet hatte, um sich an ihr zu vergehen.« Michael Tülze schüttelte sich bei dem Gedanken. »Die beiden kannten sich von der Schule und Ines hatte ja schon immer eine schwache Ader für Bedürftige oder Minderbemittelte, und so hat sie sich öfter mit dem getroffen. Bis zu dem Tag, ab da war Schluss.« Seine flache Hand glitt durch die Luft, wie die von einem Dirigenten, der sein Orchester zum Schweigen brachte.

»Was ist dann passiert? Habt ihr ihn angezeigt?«

»Wir waren bei der Polizei, aber Ines hat alles abgestritten und ihn auch noch in Schutz genommen. Wir haben vermutet, dass das der Schock war und sie einfach nicht wahrhaben wollte, was ihr da fast passiert wäre. Da sie sich weigerte, ihn zu belasten, ist das Ganze im Sande verlaufen.«

»Boah, üble Geschichte!« Jürgen kippte den Korn runter und spülte mit einem Schluck Bier nach. Seine Augen weiteten sich, als er die beiden Geschehnisse kombinierte. »Meint ihr, Susanne ist was passiert?«

Schulterzucken bei allen anderen.

»Auszuschließen ist das nicht, das sag ich euch«, wandte Anneliese ein.

»Nu’ lass uns mal nicht die Pferde scheu machen«, entgegnete Herbert. »Warte bis morgen, vielleicht ist sie dann ja wieder da.«

Michael klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Du weißt doch, wie die Weiber manchmal sind. Wer weiß, was ihr in den Kopp gekommen ist. Sie ist morgen wieder da.«

»Na dein Wort in Gottes Ohr«, antwortete Jürgen.

3. Einen Tag nach Susannes Verschwinden

 

Als Jürgen am Dienstagmorgen die Augen öffnete, wusste er im ersten Augenblick nicht, ob er leben oder sterben sollte. Sein Schädel fühlte sich an wie ein Fesselballon und in seinem Mund hatte es sich ein toter Hamster gemütlich gemacht. Sein Magen drehte sich verdächtig und drohte, jeden Augenblick die Reste des gestrigen Abends preiszugeben. Als ob das in Summe nicht schon genug Strafe wäre, flog die Schlafzimmertür auf und seine Mutter stand zeternd im Rahmen.

»Kannst du mir mal sagen, was hier los ist? Es ist bereits sieben Uhr und alle liegen noch im Bett! Die Kinder müssen gleich zur Schule. Wo ist eigentlich Susanne? Sie hat noch nicht mal den Tisch gedeckt!«

Jürgen hob abwehrend die Hand und signalisierte seiner Mutter, dass sie schweigen solle.

Hilde schien die Geste nicht deuten zu können oder ignorierte sie absichtlich und jammerte weiter: »Jürgen verdammt, ich möchte frühstücken. Was ist denn hier los? Ist Susanne noch immer nicht zurückgekommen?« Sie schob ihre Brille hoch.

Jürgen rappelte sich mühsam auf und setzte sich auf die Bettkante. Sein Magen quittierte dies mit einem erneuten Rebellieren. Durch seinen Schädel zuckte eine Welle des Schmerzes und die Welt drehte sich. »Mutter, bitte!«, flüsterte er.

»Hast du gesoffen?« Hildes Stimme überschlug sich und klingelte in seinen Ohren.

Verdammt, was hatte Anneliese gestern bloß ausgeschenkt? War das Zeug selbstgebrannt oder gepanscht? Am Ende würde er noch blind werden von dem Fusel.

»Mutter, bitte! Gib mir ein paar Minuten.«

»Du hast keine paar Minuten, die Kinder müssen aus dem Bett und …«

»Mutter!« Jürgen hätte nicht gedacht, dass er in seinem Zustand eine derartige Stimmgewalt entwickeln konnte, aber genug war genug.

Hilde öffnete den Mund wie ein Karpfen auf dem Trockenen. Sie drehte sich um und verließ nach einem kurzen »Tz« das Schlafzimmer.

Jürgen stand langsam auf und war zwei Schritte weit gekommen, als sein Magen sich entschied, das Kommando zu übernehmen und den Inhalt kurzerhand nach oben zu befördern. Er stürzte aus dem Schlafzimmer, rannte die Treppe hinunter, verpasste die vorletzte Stufe und glitt über die Kante. Er fing sich wieder und presste die Lippen zusammen, da die ersten Bröckchen die Speiseröhre hochkamen. Er schubste seine Mutter, die vor der Badezimmertür stand und ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, zur Seite, hechtete mit einem Satz zur Schüssel und kotzte auf den geschlossenen Klodeckel.

Er sank vor dem WC zusammen. Wenn diese Situation eine Sahnetorte war, dann war die herablassende Stimme seiner Mutter die Kirsche: »Na, den Dreck kannst du alleine wegputzen, mein Lieber. Ich geh die Kinder wecken.«

Sie rückte ihre Brille zurecht, sah ihn missbilligend an und verschwand nach oben.

Mein Gott! Konnte sie nicht endlich zum Optiker gehen? Dieses ewige Geschiebe ihrer Brille nervte ihn urplötzlich. Jürgen seufzte und rollte einen Berg Klopapier von der Rolle. Beim Beseitigen der Misere wurde er mehrfach von erneuten Brechreizen geschüttelt, doch er schaffte es, das Bad in einen halbwegs soliden Zustand zu versetzten, auch wenn sein Schädel es ihm nicht dankte. Bevor er sich unter die Dusche stellte, warf er zwei Aspirin ein, um einen klaren Kopf zu bekommen. Als er eine halbe Stunde später in der Küchentür erschien, saß seine Mutter am Tisch und schlürfte ihren Kaffee.

»Wo sind die Kinder?«

»Die hab ich zu mir ins Bad geschickt und anschließend zum Schulbus gescheucht. Ich verstehe nicht, wo Susannes Problem ist. Wenn man ihnen ein bisschen Feuer unterm Hintern macht, schaffen sie es auch pünktlich zum Bus. Deine Frau ist zu luschi mit dem beiden.«

»Hm.«

»Wo ist sie eigentlich? Hast du schon was von ihr gehört?«

»Nein.« Er setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. »Ach Mutter, was soll ich denn jetzt machen?«

»Erst mal solltest du dich anziehen. In Unterhose am Frühstückstisch!«

»Mutter, bitte.«

»Hast du sie schon angerufen?«

»Natürlich! Aber es geht niemand ran, immer nur der Anrufbeantworter.« Ihn überkam der Wunsch, sich in die Ecke zu setzen und zu weinen. Er legte die Stirn auf die Tischplatte und ließ die Arme Richtung Boden baumeln.

»Mein Gott, Junge! Lass dich nicht so hängen. Das ist ja schrecklich! Geh zum Edeka und frag die Ines, die weiß vielleicht was. Die ist doch ganz dicke mit Susanne.«

»Meinst du?«, brummelte Jürgen in die Blumen der Wachstuchtischdecke. Er hob den Kopf und ließ sich nach hinten in die Stuhllehne fallen. »Die Anneliese hat gestern erzählt, dass Susanne am Nachmittag mit dem Koslowski gesprochen hat. Sie glaubt, dass er in ihr Auto gestiegen ist. Mutter, was will die von dem?« Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Der ist bei ihr ins Auto gestiegen?« Ihre Augen wurden weit und dann verengten sie sich zu schmalen Schlitzen. »Der Perverse?« Sie stellte ihre Tasse mit einem leichten Knall auf den Tisch. »Dann solltest du da auch nachfragen. Vielleicht weiß der ja was.«

Jürgen seufzte. »Ich geh erst mal zu den Tülzes.« Er schlurfte aus der Küche und schleppte sich nach oben ins Schlafzimmer. Er kramte seine Hose vom Vortag aus der Ecke eines Cocktailsessels, nestelte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und wählte Susannes Nummer, in der Hoffnung, sie jetzt zu erreichen.

Das Freizeichen ertönte. Ein paar Sekunden später sang dieser muskulöse und tattooübersäte Südamerikaner irgendwo in seiner unmittelbaren Umgebung. Jürgen hasste den Klingelton, aber Susanne war Feuer und Flamme für das Lied. Despacito oder so ähnlich hieß es und er verstand die Sprache nicht, aber er war sich sicher, dass der Typ über irgendwas Perverses sang.

Er nahm sein Telefon vom Ohr und ging dem Lied nach. Jürgen hob Susannes Kissen an, dann warf er einen Blick unter das Bett. Als er wieder hochgekommen und seinen Schwindel langsam unter Kontrolle gebracht hatte, sprang die Mailbox an. Genervt legte er auf und wählte erneut. Das Gedudel ging von vorne los. Es kam aus der Schublade von Susannes Nachtschränkchen. Jürgen öffnete sie und die Lautstärke nahm zu. Er grinste sich selber an. Sein Bild war auf dem Display des Smartphones zu sehen und als er auflegte, erlosch es.

Ihr Telefon lag hier! Ohne das ging sie nie aus dem Haus. Plötzlich überkam ihn ein schlechtes Gefühl und das erste Mal zog er ernsthaft in Betracht, dass seiner Frau etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte.

 

Ines sprühte Glasreiniger auf das Band vor der Kasse und befreite es von Krümeln und Wasserrändern, als die Ladentür aufging und Jürgen Rieker hereinkam. Susannes Mann war noch nie eine Schönheit gewesen. Ines fand, dass er aussah wie eine Mischung aus Reinhard Mey und Guido Westerwelle und ohne jegliches Charisma ausgestattet war, geschweige denn, eine tolle Stimme besaß. Er war stets langweilig angezogen und erfüllte alle Anforderungen an einen unscheinbaren Menschen. Heute Morgen kam hinzu, dass er bleich war und dunkle Ringe unter den Augen hatte.

»Mein Gott, Jürgen! Ist alles in Ordnung? Du siehst aus, wie der Tod auf Latschen«, entfuhr es ihr.

Jürgen lächelte gequält und kam langsam zu ihr rüber. »Jaja, geht schon. Hatte gestern bei Anneliese wohl ein paar Kleine zu viel.« Er zuckte mit den Schultern und machte eine Figur wie ein Junge bei einem Schulverweis.

»Na, da wird Susanne aber schwer begeistert gewesen sein!« Ines lachte und warf das Küchentuch gekonnt in den Mülleimer hinter der Kasse. Sie ballte eine Faust, zog den Ellenbogen nach hinten und das Knie nach oben. »Strike!«

Jürgen sah sie verwirrt an.

»Ich hab den Mülleimer getroffen«, klärte sie ihn auf.

Er schien noch verwirrter zu sein. »Äh«, stammelte er, »okay.«

»Ach, Jürgen, ist schon gut.« Ines winkte ab. »Kann ich was für dich tun?«

»Allerdings. Ich vermisse Susanne seit gestern. Kannst du mir sagen, wo sie ist?«

Ines riss die Augen auf. »Was soll das heißen, du vermisst sie?«

»Na, was soll das wohl heißen? Ich hab sie seit gestern Morgen nicht mehr gesehen. Sie ist nicht nach Hause gekommen, heute auch nicht. Hast du sie vielleicht gesehen oder weißt etwas?«

»Nein«, sie runzelte die Stirn, »ich hab das letzte Mal mit ihr gesprochen, als sie sich gestern Morgen Zigaretten gekauft hat.« Sie überlegte einen Augenblick. »Aber Anneliese war gestern Nachmittag noch hier und meinte, dass sie Susanne bei Frank vorm Haus gesehen hätte.«

»Ja, das hat sie mir gestern auch erzählt. Dass er sich mit ihr unterhalten hat und dann in ihr Auto gestiegen ist.«

»Frank? In Susannes Auto? Warum sollte er das tun?«

»Was weiß denn ich? Ich dachte, du könntest mir da weiterhelfen.«

»Das ist doch Quatsch!«, sie tippte sich an die Stirn. »Jürgen, glaub den Tratschweibern nicht alles. Gestern im Laden hat sie erzählt, dass die beiden miteinander gesprochen haben und jetzt ist er schon in ihr Auto gestiegen.«

»Willst du behaupten, ich lüge?«

»Nein«, beschwichtigte sie ihn, »aber sei vorsichtig mit den Dingen, die du den Leuten glaubst.«

Jürgen sank in sich zusammen und zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich geh mal rüber zu den Koslowskis, vielleicht komme ich da ja weiter.« Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, verschwand durch die Ladentür und ließ eine perplexe Ines zurück.

 

Frank trug das Frühstücksgeschirr zum Spülbecken hinüber und ließ Wasser ein. Er hatte seiner Mutter gesagt, dass er den Abwasch alleine schafft und dass sie sich ein wenig im Wohnzimmer auf das Sofa legen sollte. Sie war in letzter Zeit nach dem Frühstück oft müde. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie nachts schlecht und wenig schlief. Seine arme Mutter, sie wurde auch nicht jünger.

Er überprüfte die Temperatur des Wassers und ließ kaltes nachlaufen. Er spritzte einen Schuss Spülmittel ins Becken und wusch ab. ›dem Bräutigam‹ stand in altdeutschen, goldenen Buchstaben auf der Tasse. Er hielt sie hoch und wischte den Schaum von den verblichenen gold-blauen Muster. Es war ein Wunder, dass sie nach all den Jahren und den unendlich vielen Waschgängen nicht vollständig weiß geworden war.

Jeden Morgen trank Marie daraus und bis heute hatte er das Gefühl, dass ein Triumph in ihren Augen lag, wenn sie den ersten Schluck nahm.

Diese Tasse hatte einst seinem Vater gehört. Sie hatten zwei davon zur Hochzeit bekommen, eine für die Braut und eine für den Bräutigam.

Dem Bräutigam.

Der Bräutigam war kein guter Mensch gewesen, mit dem vielen Alkohol und den vielen Boshaftigkeiten. Frank hasste ihn, obwohl er schon lange tot war. Er war immer schlecht zu ihm und seiner Mutter gewesen. Mama hatte mal gesagt, dass der Krieg daran schuld sei. »Der hat die jungen Männer um den Verstand gebracht«, hatte sie gesagt. Aber das sei eine Erklärung und keine Entschuldigung, betonte sie. Kein Vater hat das Recht, sein Kind schlecht zu behandeln oder gemeine Sachen zu sagen, das hatte er kapiert.

Er spülte die Tasse mit klarem Wasser ab und stellte sie auf das Abtropfgitter, ohne den Blick von ihr zu wenden.

Mamas Tasse hatte Vater gegen die Wand geworfen und sie war in tausend kleine Teile zersprungen. Frank hatte gesehen, wie traurig seine Mutter darüber gewesen war und deshalb versucht, jedes Teil wiederzufinden, damit er sie kleben und Mama zurückgeben konnte. Aber alle Mühe war umsonst gewesen, denn es hatte ein daumennagelgroßes Teil gefehlt, ausgerechnet aus dem Boden der Tasse. Er hatte sich noch so viel Mühe beim Suchen geben können, er hatte es einfach nicht gefunden und schließlich waren die restlichen Stücke im Ascheneimer gelandet, denn eine Tasse ohne Boden war nicht zu gebrauchen.

Als Vater gestorben war, hatte Mama seine Tasse übernommen und sie war bis heute dabeigeblieben. Sie sagte, das sei ausgleichende Gerechtigkeit, dass die Tasse seinen Vater überlebt hatte und nicht umgekehrt.

Frank lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er dachte nicht gerne an den Tod von Heinrich. Er war daran schuld, das wusste er. Er alleine und sonst niemand. Und nachts, wenn er alleine in seinem Zimmer war, dann fühlte er, wie sich die Angst auf seinen Brustkorb setzte und ihm die Luft abschnürte. So wie der Sohn vom Bäcker, der auf dem Schulhof immer auf seinem Oberkörper gesessen hatte. Der hatte die Knie auf Franks Arme gestützt und ihn alles Mögliche essen lassen.

Er hatte sich lange nicht getraut, zu schlafen und Angst gehabt, dass sein Vater ihn in seinen Träumen besuchen, ihn und Mama zu sich holen und alles von vorne anfangen würde. Frank schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen.

Ja, er war schuld.

Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass er nichts gesehen hätte, aber er hatte alles gesehen. Alles hatte er gesehen, auch das Blut, überall Blut.

Die Zeit richtet alles, sagte sie immer. Und je häufiger sie ihm einredete, dass er nichts gesehen hätte, desto mehr wurde es zur Wahrheit, und irgendwann hatte er es selber geglaubt. Nur sein Tagebuch wusste, was wirklich geschehen war.

Sie hatte nicht mehr ertragen, wie Vater mit ihm gesprochen hatte. Behinderten Spasti hatte er ihn immer genannt oder Wichskrüppel. Deine Mutter hat dich wohl zu oft vom Wickeltisch fallen lassen, war einer seiner Lieblingssprüche gewesen. Eines Tages war es zu viel geworden und jetzt trank sie jeden Morgen aus seiner Tasse.

Es klingelte an der Tür. Frank erschrak und ließ die Spülbürste ins Wasser fallen, Schaum spritze hoch.

»Ich geh schon, Mama!«, rief er und trocknete sich die Hände mit dem verschlissenen Geschirrhandtuch ab. Er kam gleichzeitig mit seiner Mutter zur Tür und sah sie tadelnd an. Ihr Blick antwortete: »Lass gut sein, ich wollte sowieso gerade aufstehen«. Sie lächelte und öffnete die Tür.

Frank kannte den Mann, der vor der Tür stand. Allerdings sah Jürgen heute aus - wie Jesus auf seinem Kreuzgang. Er war aschfahl und sah aus, als würde er die Last der Menschheit tragen.

»Moin!«, sagte er.

»Guten Morgen«, antwortete Marie.

Frank nickte.

Jürgen nestelte an dem Reißverschluss seiner Jacke. »Es ist mir sehr unangenehm«, stammelte er, »ich muss Sie etwas fragen.«

Mariechen Koslowski nickte ihm aufmunternd zu.

»Ich vermisse meine Frau, die Susanne, und Anneliese Schumann hat mir erzählt, dass du, Frank, dich gestern mit ihr unterhalten hast, hier vor der Haustür.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter.

Maries Kopf flog herum und zwei kleine wässrige Augen funkelten ihn an.

Frank sah sie erschrocken an und schüttelte heftig den Kopf. Panik stieg in ihm auf und er bekam schlagartig Angst. Der Projektor in seinen Gedanken sprang an und zeigte einen Film aus längst vergangenen Zeiten. Seine weinende Mutter, die tagelang nicht sprach und nicht mehr aus dem Bett wollte, und das alles wegen der dummen Sache mit Ines. »Nein! Ich hab mich mit niemandem unterhalten!« Auf keinen Fall durfte er seine Mutter wieder so traurig machen!

»Frank«, Maries Stimme hatte einen warnenden Unterton, »du sollst immer die Wahrheit sagen!«

Er nickte heftig, seine Finger tippten wild aneinander. Sein Blick wanderte zu Jürgens Schuhen. »Ich sage die Wahrheit! Ich … ich … hab mit niemandem gesprochen. Nur mit meiner Mama.«

Jürgen runzelte die Stirn. »Das ist komisch, denn Anneliese war sich sicher, dass sie gestern gese…«

»Sie haben gehört, was mein Sohn gesagt hat!«, unterbrach ihn Marie. »Können wir sonst noch etwas für Sie tun?«

»Äh«, seine Augen wanderten suchend umher, »nein, das war’s eigentlich schon«, stammelte er.

»Dann ist’s ja gut. Schönen Tag noch Herr Rieker.« Marie schloss die Tür. Sie drehte sich zu Frank. »Sieh mich an!«, sagte sie leise, damit der Besucher sie von draußen nicht hörte.

Frank hob langsam seinen Blick.

»Was hab ich dir gesagt?«

Reumütig ließ ihr Sohn die Schultern hängen.

»Ich hab’s dir gesagt, die Weiber bringen immer nur Ärger! Hör auf deine Mutter und lass die Finger von denen!« Sie drehte sich um, marschierte ins Wohnzimmer und ließ einen schuldbewussten Frank zurück.

 

»Mein Gott, Mutter!«, pure Verzweiflung lag in Jürgens Stimme. »Was soll ich denn bloß machen?«

»Tja, wenn sie nicht wiederauftaucht, dann wirst du zur Polizei gehen müssen.« Hilde hob den Blick von ihrem Strickzeug und sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an. Wenn sie ihn so beäugte, sah sie aus wie Fräulein Rottenmeier. Jürgen saß wie ein Haufen Elend in einem ihrer Sessel und pulte etwas Dreck unter seinen Fingernägeln hervor.

»Ja, das werde ich wohl tun müssen. Aber Mutter, was mache ich denn, wenn sie nicht wiederkommt?«

Hilde sah ihren Sohn verständnislos an.

»Wie soll ich das alles schaffen? Den Haushalt und den Garten und die Kinder?« Er sah sie erwartungsvoll an.

»Was siehst du mich so an?«

»Ich hab keine Ahnung, was ich tun soll! Ich hab momentan ein paar Tage frei, aber dann muss ich wieder arbeiten. Wie soll ich jeden Tag für die Kinder kochen?« Er zuckte hilflos mit den Schultern.

Seine Mutter blicke ihn wortlos an.

»Ich weiß nicht mal, wie man Kartoffeln kocht«, seine Augen weiteten sich, »oder wie man die Waschmaschine bedient! Ich hab noch nie Wäsche gewaschen! Darum hat sich immer Susanne gekümmert.« Er sank noch mehr in sich zusammen.

In Hildes Blick schlich sich Mitleid.

»Kannst du dich nicht darum kümmern?« Seine Stimme war so leise, dass sie Mühe hatte, ihn zu verstehen.

Sie atmete tief ein und ließ die Luft mit einem Seufzen wieder hinaus. Insgeheim hatte sie gehofft, dass er sie um Hilfe bitten würde, denn seit dem Tod ihres Mannes fühlte sie sich nutzlos in diesem Haus. »Habe ich eine Wahl?« Sie legte ihr Strickzeug beiseite. »Na gut, mein Junge, ich kümmer’ mich um den Haushalt. Ist vielleicht auch mal ganz gut, wenn jemand kommt, der was vom Putzen versteht. Susanne ist diesbezüglich ja keine Leuchte.«

Jürgens Miene hellte sich auf. »Machst du mir Jägerschnitzel mit Petersilienkartoffeln?«

Sie lachte und nickte.

»Dann fahr ich jetzt einkaufen!«

4. Zwei Tage nach Susannes Verschwinden

 

Am nächsten Tag scheuchte Hilde ihren Sohn zur Polizei.

»Du kannst nicht ewig mit der Anzeige warten, irgendjemand muss was unternehmen und sie finden. So kann das ja nicht weitergehen«, hatte sie zu Jürgen gesagt und ihm die Autoschlüssel in die Hand gedrückt.

Nun befand er sich auf dem Weg zur Polizeidienststelle in Boothsdorf. Jürgen war sich nicht sicher, was er dort erzählen sollte. Susanne war weg und das Auto auch? Alle Kleidungsstücke waren, soweit er das beurteilen konnte, noch da? Das Handy ebenfalls? Komisch an der ganzen Situation war lediglich, dass sie sich am Tag ihres Verschwindens mit dem Koslowski unterhalten hatte und er zu ihr ins Auto gestiegen war. Er persönlich traute dem Hirni nicht zu, dass er seiner Frau etwas angetan hatte, aber man wusste ja nie.

In Boothsdorf angekommen, stieg er aus dem Auto und ging auf den Eingang der Dienststelle zu, die sich im Erdgeschoss eines Wohnhauses befand. Als er vor dem roten Backsteingebäude stand, holte er tief Luft und zog die Tür auf.

Gleich im Eingangsbereich befand sich ein Tresen mit zwei Schreibtischen dahinter. Der Beamte sah vom Bildschirm auf und nickte freundlich. Jürgen schätzte ihn auf Mitte fünfzig und war erstaunt über die gute Figur, die zum Vorschein kam, als er sich aus dem Schreibtischstuhl erhob. Da konnte er mit seinen vierzig Jahren und seinem nicht ganz dicken, aber dennoch wohlgeformten Bauch nicht mithalten.

Der Mann kam zu ihm und lehnte sich an den Tresen, ein leichter Geruch von Zigaretten wehte zu ihm rüber. »Moin! Was kann ich für Sie tun?«

Jürgen warf einen Blick auf das Namensschild an seiner Brust.

»Guten Morgen Herr Hillebrandt. Mein Name ist Jürgen Rieker und ich möchte meine Frau als vermisst melden.«

»Dann erzählen Sie doch mal, Herr Rieker.« Hillebrandt griff nach einem Block und einem Kugelschreiber.

»Erzählen?«

»Ja. Seit wann wird sie vermisst? Was ist vorgefallen? Die Daten Ihrer Frau.«

»Ach so, na ja, sie ist vorgestern, also am Montag, nicht zu Hause gewesen, als ich von der Arbeit kam. Die Kinder haben mir berichtet, dass sie auch nicht da war, als sie aus der Schule gekommen sind.«

Hillebrandt nickte. »Haben Sie denn eine Ahnung, wo sich Ihre Frau aufhalten könnte?«

»Nein, wenn ich das wüsste, dann wäre ich ja nicht hier, sondern würde selber nach ihr sehen.«

»Hat sie irgendwas mitgenommen? Fehlt Bekleidung, Geld, irgendwas, das auf ein geplantes Verlassen ihres Lebenskreises deuten lässt?«

Jürgen war empört. »Was wollen Sie damit andeuten? Wollen Sie sagen, dass meine Frau absichtlich abgehauen ist? Hören Sie, wir haben zwei Kinder, die würde sie nicht einfach alleine lassen!«

»Ich möchte gar nichts andeuten«, versuchte Hillebrandt ihn zu beschwichtigen. »Unsere Erfahrung zeigt jedoch, dass die meisten als vermisst gemeldeten Personen nach einer Weile wiederauftauchen.«

»Nein, alle Sachen sind noch da, sogar ihr Handy. Nur das Auto ist weg. Es sieht aus, als wäre sie kurz weggefahren und dann nicht wiedergekommen. Ich bin mir sicher, dass etwas passiert ist.«

»Sie war also mit dem Pkw unterwegs.« Hillebrandt drückte hinten auf den Kugelschreiber. »Wie lautet denn das Kennzeichen?«

»Das Kennzeichen?«

»Ja, das Kennzeichen von dem Wagen Ihrer Frau. Ich nehme an, es beginnt mit CUX. Wie geht es weiter?«
Jürgen überlegte einen Augenblick und nannte dann die Buchstaben und Zahlen. »Es ist ein roter Corsa.«

Der Beamte notierte sich das Fabrikat und nickte.

»Herr Rieker, gibt es Anlass, dass im Fall Ihrer Frau Gefahr für Leib und Leben besteht?«

Jürgens Augen wurden groß. »Was soll das denn heißen? Gefahr für Leib und Leben?«

»Nun, es ist so, wir können keine Fahndung einleiten, wenn nicht von einer unmittelbaren Gefahr für Ihre Frau ausgegangen werden kann. Ist Ihre Frau selbstmordgefährdet?«

»Was? Nein! Um Gottes willen!«

Hillebrandt nickte. »Liegt Grund zur Annahme einer Straftat vor?«

»Wie? Straftat?«

»Könnte es sein, dass Ihre Frau Opfer einer Straftat geworden ist?«

»Äh, na ja, Straftat? Ich weiß nicht, ob ich es so nennen kann. Aber die Wirtin aus unserem Dorf hat Susanne nachmittags noch gesehen. Da hat sie sich aus ihrem Auto heraus mit dem Koslowski unterhalten und Anneliese, also die Wirtin, glaubt, dass er in ihren Wagen gestiegen ist.«

»Das ist keine Straftat und lässt nicht auf eine solche deuten.«

»Sie kennen den Koslowski nicht. Der hat sie nicht alle.« Jürgen drehte den Zeigefinger neben seiner Schläfe im Kreis. Dann beugte er sich ein wenig zu Hillebrandt rüber und roch neben Zigaretten noch ein herbes After Shave. »Der hat mal versucht, die Ines Tülze zu vergewaltigen. Dem trau ich alles zu.«

»Ines Tülze? Die Tochter von Michael Tülze, dem der Edeka gehört?«

»Ach, Sie kennen sie?«

»Nein, das heißt, ja, also nur flüchtig, aber Michael kenne ich gut.«

»Dann können Sie ihn ja mal fragen, was der Frank für einer ist.«

»Hm«, Hillebrandt tippte sich mit dem Kugelschreiber an die Unterlippe. »Wir machen das so, Herr Rieker: Ich nehme jetzt die Daten Ihrer Frau auf und alles, was ich sonst noch als wichtig erachte, und dann werden wir weitersehen.«

Er schob einen Stuhl an die Seite seines Schreibtisches und ließ sich in seinem Schreibtischstuhl nieder. »Setzen Sie sich doch bitte.«

Jürgen ging um den Tresen herum und setzte sich auf den angebotenen Stuhl. Hillebrandt schob eine Schachtel Zigaretten beiseite und begann mit der Datenerfassung.

Chesterfield, dachte Jürgen, sind das nicht Mädchenzigaretten?

Es dauerte eine Weile, bis Hillebrandt alle Daten erfragt und in das Formular auf seinem Computer eingetragen hatte.

Als sie fertig waren, druckte er alles aus. »Entschuldigen Sie, wenn es nach mir ginge, dann würden wir noch heute mit Block und Bleistift arbeiten. Ich kann mich an diese Rechner einfach nicht gewöhnen.« Er nahm einen Bogen Papier aus dem Drucker und gab es Jürgen. »Bitte überprüfen Sie, ob alles korrekt ist.«

Er las und nach einer Weile nickte er. »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Ich werde zuerst nachsehen, ob es Unfälle gegeben hat, in die Ihre Frau verwickelt gewesen sein könnte. Ich habe ja Ihre Telefonnummer. Bis heute Abend haben Sie eine Rückmeldung von mir.«

Jürgen nickte und stand auf. Er reichte Hillebrandt die Hand. »Vielen Dank noch mal.«

»Nicht dafür, Herr Rieker. Bis später.«

Er verließ die Polizeiwache und hoffte, dass nichts Schlimmeres passiert war. Susanne und abhauen, das glaubt der doch wohl selber nicht, dachte er und machte sich auf den Weg nach Hause.

 

Hillebrandt hatte Wort gehalten und kurz vor dem Abendessen angerufen. Seine Nachforschungen hatten nichts ergeben. Kein Unfall, keine unbekannten Toten, keine nicht identifizierte und hilflose Person. Jürgen war verzweifelt.

»Was passiert denn jetzt?«, wollte Mona wissen und griff nach den Gurkenhappen.

»Nichts.«

»Wie? Nichts?«, klinkte sich Hannes ins Gespräch ein und sah von seinem Handy auf.

»Pack das Ding wenigstens beim Essen weg!«, bat Hilde.

»Oma …«

Sie schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Verdammt und zugenäht, weg jetzt mit dem Eumel!«

Ohne ein weiteres Wort steckte Hannes das Smartphone in die Tasche seines Hoodies und sah zu seinem Vater.

»Nun ja«, begann Jürgen, »Herr Hillebrandt hat mich darüber aufgeklärt, dass Erwachsene, die im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte sind, die Freiheit haben, ihren Aufenthaltsort selber zu bestimmen und dass es unter den gegebenen Umständen keine Veranlassung gibt, nach ihr zu fahnden.«

»Susanne war noch nie im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte«, murmelte Hilde.

»Mutter!«

»Ach, ist doch wahr. Wenn sie wirklich abgehauen ist und dich mit den Kindern hier sitzen lässt, dann kann sie nicht mehr alle beisammenhaben!«

»Omi, so darfst du nicht über Mama reden.« Monas Augen füllten sich mit Tränen.

»Entschuldige, mein Kind«, sie tätschelte Monas Hand, »mich macht das nur so wütend.«

»Wenn ihr doch etwas zugestoßen ist?« Sie sah hilflos zu ihrem Vater und wischte sich mit der freien Hand eine Träne von der Wange.

»Ach, Mona, das glaube ich nicht. Sie taucht bestimmt wieder auf.«

»Die Dicke von der Kneipe hat heute im Edeka erzählt, dass der Spasti an ihrem Verschwinden beteiligt ist.«

Alle sahen Hannes an. Hilde war die Erste, die die Fassung wiedererlangte.

»Wie kommt sie denn darauf?«

»Kein’ Plan.« Hannes zuckte mit den Schultern. »Sie hat gesagt, dass dem alles zuzutrauen ist und dass er Mama und der Ines immer hinterhergesehen hätte. Sie ist sich sicher, dass er was von beiden wollte.«

Mona verzog das Gesicht.

»Und er sei bei ihr ins Auto gestiegen. Vielleicht hat er sie ja um die Ecke gebracht, hat sie gesagt. Dann hat sie mich gesehen und die Klappe gehalten.«

»Das ist absoluter Quatsch!«, empörte sich Jürgen.

»Papa, wenn der Mama was getan hat, dann bring ich ihn um, das schwöre ich dir.«

»Hannes, jetzt hör aber auf«, entgegnete Hilde und warf Jürgen einen eindringlichen Blick zu. »Der Frank hat als Kind zu nah an der Wand geschaukelt, aber der ist doch kein Frauenmörder«.

»Da geb ich Mutter recht und jetzt wechseln wir das Thema. Ich werde mich schlaumachen, wie wir weiter nach eurer Mutter suchen können, und solange wir nichts wissen, gehen wir erst mal vom Besten aus.«

 

Nach dem Essen hatte Jürgen es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht, aber das Programm rausche nur an ihm vorbei. Schließlich drückte er den roten Knopf der Fernbedienung und stand mit einem Ruck auf. Er zog seine Jacke an und ging nach oben, um den Kindern Bescheid zu sagen, dass er noch ein Bier in der Kneipe trinken würde.

Hannes sah ihn missbilligend über den Rand seines Laptops hinweg an. »Muss das sein? Jeden Abend saufen in der Kneipe?«

»Hör mal! Werd’ nicht frech, ja. Das muss ich mir von dir nicht sagen lassen. Abgesehen davon saufe ich nicht jeden Abend.«

»Pff«, Hannes verdrehte die Augen, »wer’s glaubt, wird selig.«

»Sieh du lieber zu, dass du rechtzeitig ins Bett kommst, damit du morgen nicht wieder bis in die Puppen schläfst.« Die Diskussion war für ihn beendet. Er schloss die Tür und murmelte: »So weit kommt das noch, dass die Kinder jetzt anfangen wie die eigene Ehefrau, ich glaub, ich spinne!«

Als er in die Nacht hinaustrat, wehte ihm der kühle Wind durch das dünne Haar und er fühlte sich plötzlich ungewöhnlich lebendig. Susanne hatte es gehasst, wenn er abends in die Kneipe ging und um Streit zu vermeiden, war er jeden Abend zu Hause geblieben. Abendessen, Vorabendprogramm, Tagesschau, Abendprogramm. Jeden Abend derselbe eintönige Trott. Goodbye Deutschland, Rizzoli & Isles, CSI und Law & Order und was sonst noch an Mist lief. Im Bett war schon lange tote Hose und es machte nichts aus, wenn er um neun im Sessel einschlief und sich eine Stunde später ins Bett schleppte, um dort weiterzuschlafen. Die Möglichkeit, abends in die Dorfkneipe zu gehen, löste ein Hochgefühl in ihm aus, und so schlenderte er fröhlich pfeifend drauf los.

Wenn mich jemand so sieht, dachte er. Die Frau seit ein paar Tagen verschwunden und der Alte geht pfeifend durch die Straßen. Er verstummte und setzte seinen Weg schweigend fort.

Bei Anneliese empfing ihn ein Stimmengewirr, als er die Tür öffnete. Er schob den dicken, nach Staub riechenden Vorhang, der die Gäste vor Zugluft schützen sollte, zur Seite und trat in den Gastraum.

Die Stimmen verstummten.

»Moin!« Jürgen grinste in die Runde und steuerte auf einen der leeren Barhocker zu. »Was’n hier los? Alle still plötzlich?« Er sah in die Gesichter, die beschämt in ihre Gläser starrten.

Anneliese brach das peinliche Schweigen: »Und Jürgen? Möch’st ’ne lütsche Laach?«

Jürgen sah sie irritiert an. »Was will ich?«

»Na, ein Bier und ein Körnchen«, sie schüttelte den Kopf, »du Kulturbanause.«

Jürgen nickte. »Was ist denn los? Hab ich euch bei irgendwas unterbrochen? Störe ich?«

»Quatsch!«, Edeka-Michi klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

Er sah die Theke runter. Alle starrten weiter in ihre Gläser, die Ganter, Annelieses Mann Herbert und auch Willi, der wahrscheinlich älteste Gast, der heute Abend da war, sprachen kein Wort.

Jürgen bekam seine Getränke. »So Leute, jetzt mal Butter bei die Fische! Was ist hier los? Worüber habt ihr geredet?«

Günther war der Erste, der das Schweigen brach. »Na, über Susanne.« Dann verstummte er wieder.

»Na los, lasst euch doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«

»Na ja, wir haben halt überlegt, was passiert sein könnte«, meldete sich Gisbert zu Wort.

»Ja und? Zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben überlegt, ob sie abgehauen sein könnte.«

Jürgen griff nach seinem Korn und kippte ihn in einem Zug hinunter. Er knallte das Glas auf den Tresen. »Mach ma’ die Luft raus, Anneliese.« Und dann fügte er, an alle gewandt, hinzu: »Das ist doch nicht euer Ernst! Glaubt ihr wirklich, dass sie die Kinder alleine lassen würde? Bei uns war absolut, aber wirklich absolut alles in bester Ordnung.«

Willi lachte laut auf. »Wo gibbet denn so was? Eine Ehe, in der alles in Ordnung ist. Das ist doch utopisch. Glaub mir, mein Junge, ich bin jetzt achtundsiebzig Jahre alt und über fünfundfünfzig Jahre verheiratet. Ich weiß, wovon ich rede. Das gibt es nicht.«

»Na ja, die ein’ oder andere Reiberei hatten wir schon ab und an, aber das ist noch lange kein Grund, mich sitzen zu lassen.« Jürgen trank das Schnapsglas leer. »Sogar im Bett lief es super.«

»Na, dann bist du ein echter Glückspilz, bei mir läuft nichts mehr in der Kiste seit der Einführung der fünfstelligen Postleitzahlen.« Gisbert lachte und schlug die Hand auf den Tresen.

»Och, Vaddern! Das wollen wir wirklich nicht wissen!«

Gustav und Georg stimmten ihrem Bruder mit einem energischen Kopfschütteln zu.

»Nein, Susanne ist niemals freiwillig abgehauen. Sie hat sogar schon die Festlichkeiten für unsere Porzellanhochzeit im nächsten Jahr geplant. Ich bin mir sicher, dass ihr etwas Schreckliches zugestoßen ist.«

»Warst du denn schon bei der Polizei?«, wollte Anneliese wissen.

Jürgen schilderte seinen Besuch und das Telefonat vor ein paar Stunden. »Sie können also nichts machen, kein Verdacht auf ein Verbrechen.« Er ließ den Kopf sinken und starrte in sein Bier, als könne er dort die Antwort auf Susannes Verschwinden finden.

»Aber das kann doch nicht sein! Wenn der Koslowski damit was zu tun hat, dann müssen die doch ermitteln. Vielleicht hat er deine Frau noch in seiner Gewalt oder er hat sie irgendwo verscharrt.« Für Anneliese schien die Sachlage klar wie Korn zu sein.

»Lieschen, so was darfst du nicht sagen. Wir wissen doch gar nicht, ob der Frank was gemacht hat«, versuchte ihr Mann, etwas Dampf aus ihrer Aussage zu nehmen.

»Ach, du immer mit deinen Beschwichtigungen! Der Fall von dem Mädchen, damals, ich glaub, 1989 war das, ist auch nicht aufgeklärt worden. Und nenn mich nicht Lieschen, du weißt, dass ich das hasse!«

»Was war denn damals?« Anneliese hatte Günthers Neugierde geweckt.

»Na, die ist nachts von der Disco in Bremmel los nach Hause und nie in Lunemünde angekommen. Irgendwann, Monate später, hat man erst ihr Fahrrad und schließlich die Leiche gefunden. Bis heute ist nicht geklärt, was da passiert ist.«

»Das ist ja ein Knaller, das wusste ich gar nicht.« Günthers Leidenschaft für Horror- und mysteriöse Geschichten war geweckt.

»Ich könnte mir vorstellen, dass der Koslowski was damit zu tun hatte.«

»Anneliese!« Herbert riss entsetzt die Augen auf. »Der war da höchstens fünfzehn!«

Günther kratzte sich am Bart. »Da muss ich Herbert recht geben, die meisten Serienkiller töten nicht in der Jugend. Ich kenne jedenfalls keinen.«

»Du kennst Serienkiller?«, wollte Willi wissen. Günther winkte ab und fuhr fort: »Sie quälen und misshandeln andere Lebewesen. Sie töten kleinere Tiere, aber keine Menschen.«

Gisbert klopfte seinem Sohn stolz auf die Schulter. »Was du alles weißt! Du hättest zur Polizei gehen sollen.«

»Ha!«, rief Anneliese. »Dann wissen wir jetzt auch, wo die ganzen Katzen geblieben sind. Von wegen überfahren!« Sie hielt triumphierend die Kornflasche in die Höhe und füllte alle Gläser auf dem Tresen bis zum Anschlag.

»Aber Leute, das ist doch Blödsinn. Glaubt ihr nicht, es wäre uns aufgefallen, wenn wir einen Mörder in unserem Dorf hätten?« Jürgen kratzte sich an der Stirn.

»Das ist bei Jeffrey Dahmer auch nicht aufgefallen«, fachsimpelte Günther. »Der hat Leute umgebracht und sie in seiner Mietwohnung in Säure aufgelöst und teilweise gegessen.«

»Iiiiih«, entfuhr es Anneliese spitz.

»Quatsch, das geht nicht!« Willi schüttelte heftig den Kopf.

»Doch, wenn man eine starke Säure, wie Salpetersäure oder Salzsäure, nimmt. Damit kann man Blut, Gewebe und sogar Knochen auflösen, ohne, dass DNA zurückbleibt.«

Gisberts Augen leuchteten. »Das ist mein Junge!«

»Das hat Dahmer mit siebzehn Schwulen gemacht.«

»War das ein Schwulenhasser?«, wollte Willi wissen.

»Nee, der war selber schwul. Ich glaube, er wollte nicht, dass die ihn verlassen, und wenn sie doch gehen wollten, hat er sie umgebracht.«

»Das ist völlig bescheuert! Jemanden umbringen, von dem man nicht verlassen werden will«, meldete sich jetzt Gustav zu Wort und hielt Anneliese sein leeres Bierglas hin.

Willi runzelte irritiert die Stirn. »Der Frank ist schwul?«

Georg knallte die flache Hand auf die Theke. »Das erklärt, wofür der die blauen Tonnen in seinem Garten braucht.«

»Blaue Tonnen?«

»Ja! Hinten im Garten stehen drei oder vier von den Dingern. Die kann man von der Straße aus sehen.«

»Arme Susanne!«, flüsterte Anneliese, während sie mit einem Plastikspatel den Schaum vom Glas schob, um einen letzten Schuss Bier nachzuzapfen.

»Jetzt ist aber Schluss!« Jürgens Stimme klang wütend. »Hört ihr euch eigentlich zu? Ihr redet hier von meiner Frau. Niemand hat sie aufgelöst, schon gar nicht der Koslowski.« Er griff in seine Hosentasche, zog einen Zwanziger hervor und knallte ihn auf den Tresen. »Schönen Abend noch!« Er verschwand durch den Vorhang und ließ die Tür krachend ins Schloss fallen.

5. Acht Tage nach Susannes Verschwinden

 

Ines starrte auf den Kalender hinter der Kasse. Es war Dienstag und Susanne war nun acht Tage verschwunden. Ihr Kopf schwirrte vor Fragen.

Wo war sie geblieben?

Was war passiert?

Ging es ihr gut?

Lebte sie noch?

Ines konnte sich nicht vorstellen, dass Susanne etwas passiert war. Wenn man sie gefragt hätte, was keiner tat, dann hätte sie geantwortet, dass ihre beste Freundin mit Sicherheit abgehauen war, dass sie das gut verstehen könne und sie ebenfalls das Weite suchen würde, wenn sie die Wahl hätte. Das Kaff und seine ganzen Intrigen und das Altweibergeschwätz hinter sich lassen. Irgendwo was Neues beginnen und einfach glücklich sein.

Das Getratsche war für Ines das Schlimmste. Nichts konnte man in diesem Dorf tun, ohne, dass es sofort jeder wusste, und immer wurde noch etwas hinzugedichtet. Da war ein Kuss auf die Wange plötzlich ein hemmungsloses Geknutsche und Gefummel, eine harmlose Hand auf der Schulter ein Griff an beide Brüste.

»Wenn man vom Teufel spricht«, flüsterte sie und dann so laut, dass ihre Mutter es hören konnte, »Mama, Kundschaft.« Sie ging in den hinteren Teil des Ladens, um das Gemüse zu sortieren, als die Tür aufging.

»Huhu! Ich bin es!«

»Hallo Anneliese!«, empfing sie Gerda. »Na, was gibt es Neues?«

»Alles wie immer, meine Liebe«, und dann kam sie ohne Umschweife zur Sache. »Ach, der arme Jürgen, seine Frau ist ja noch immer nicht nach Hause gekommen. Ich glaube, die lebt nicht mehr.«

»Meinst du?«

»Ach, bestimmt, die armen Kinder, was für ein Trauma, wenn die eigene Mutter so früh verstirbt.«

»Hat die Polizei denn irgendwas herausgefunden?«

»Nein, die sagen ja, sie wären dafür nicht zuständig, aber wenn nicht die Polizei, wer denn dann?«

»Werner wollte sich das noch mal ansehen«, Gerda klang nachdenklich.

»Werner?«

»Ja, Werner Hillebrandt, der Polizist, bei dem Jürgen war. Michael ist mit ihm im Schießverein. Als er mitbekam, dass Jürgen bei ihm auf der Wache war, hat er versprochen, Werner zu fragen, ob da nicht doch ein paar Nachforschungen möglich wären.«

»Ich glaube, dass man da nicht groß forschen muss. Die sollten einfach den Koslowski überprüfen. Ach, siehst du, wenn man vom Teufel spricht, ist er nicht weit.«

Ines erblickte Frank und seine Mutter an der Bank auf der anderen Straßenseite. Marie Koslowski wechselte gerade die Seite.

»Jetzt kommt die auch noch hierher. Na ja, ihr könnt ja auch jeden Kunden gebrauchen.«

Ines kam hinter den Regalen hervor.

»Ach, Ines, du bist ja auch hier.«

»Richtig, Anneliese, ich arbeite hier.« Sie warf Anneliese ein säuerliches Lächeln zu und ging zur Tür, um der alten Frau den Eintritt zu erleichtern. Nachdem sie diese geöffnet hatte, beugte Ines sich leicht vor. »Einen wunderschönen guten Tag, Marie«, warf sie der Frau lachend entgegen.

»Ich wusste gar nicht, dass deine Tochter so nett zu Kunden sein kann«, flüsterte die Wirtin.

»Hallo mein Kindchen«, Marie griff ihre Hand und drückte sie, »geht es dir gut?«

Ines nickte. »Und dir?«

»Ach, du weißt ja, das Alter. Aber ich will nicht klagen, es hat auch seine Vorteile.«

»Und die wären?«

»Dir tun die Zähne nicht mehr weh und man hört nicht mehr all das dumme Zeugs, das rings um einen geredet wird.«

Marie zwinkerte Ines an.

»Ach Gott, Marie, dann wünsche ich mir auch, alt zu sein. Aber nicht wegen der Zähne.«

Die beiden Frauen lachten und Ines winke Frank zu, der sich auf der Bank niedergelassen hatte. Er wartete dort immer auf seine Mutter, denn er betrat den Laden nicht gerne. Seit dem Vorfall in ihrer Jugend mied er den Kontakt zu Ines Eltern. Für ihren Vater war dies immer die Bestätigung gewesen, dass Frank tatsächlich vorgehabt hatte, sie zu vergewaltigen. Ines wusste, dass das Quatsch war, doch beide waren diesbezüglich absolut wahrheitsresistent, und sie hatte wenig Lust gehabt, die Anschuldigungen immer wieder richtigzustellen. Hauptsache war, dass sie selber wusste, was wahr war und was nicht.

»Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid, ich bin hinten beim Gemüse.«

Marie nickte lächelnd und machte sich auf, ihre Einkäufe zu erledigen.

Ines hörte nicht mehr, was Anneliese und ihre Mutter sprachen, da beide zum Tuscheln übergegangen waren, und letztlich war es ihr auch egal. Wegzuhören oder zu schweigen oder am besten beides, war in diesem Dorf oft die beste Lösung. Meistens verliefen die Dinge von alleine im Sand.

Als sie die Tomaten gestapelt hatte, hörte sie von draußen einen spitzen Schrei. Und gleich darauf fing Anneliese an zu zetern. »Was macht der denn auch da? Der soll meine Tochter in Ruhe lassen!«

Ines sah in das erschrockene Gesicht von Marie, die gerade ein paar Kartoffeln in einer Plastiktüte verstaute. Ines hob ihren Finger und signalisierte der alten Dame, dass sie bleiben sollte. »Ich kümmer’ mich.« Ein paar Sekunden später war sie an der Kasse. »Anneliese, du bleibst hier, ich geh schon!« Sie hoffte inständig, dass sie ihren Worten Folge leisten würde, und trat hinaus auf den Bürgersteig, wo sich ihr ein eigenartiges Bild bot.

Tatjana Schumann, Annelieses Tochter, stand mit ihrer Kinderschar auf der anderen Seite der Straße. Auf dem Gehweg waren Äpfel verteilt und Tatjana schrie Frank an, der bis an den Zaun zurückgewichen war und offensichtlich nicht wusste, wohin er sollte. Sein Blick war auf den Boden gerichtet und er hielt seine Tasche wie ein kleines Schild vor die Brust. Das kleinste der sechs Kinder saß im Kinderwagen und brüllte mit der Mutter um die Wette.

Ines konnte nicht verstehen, worum es im Detail ging, da Tatjana irrsinnig laut kreischte. Wie der Herr, so’s Gescherr, dachte Ines und überquerte die Straße.

»Was ist denn hier los?«, wollte sie von Tatjana wissen.

»Das perverse Schwein! Er wollte mich angrabbeln. Kommt einfach hierher und belästigt mich! Und das, obwohl ich meine Kinder dabei hab!«

»Tatjana! Beruhige dich!«

»Ich? Ich soll mich beruhigen? Wie soll ich das denn machen? Wer weiß, was der mit mir gemacht hätte!«

Ines überlegte kurz, ob sie ihr eine Backpfeife verpassen sollte, damit sie die Klappe hielt, entschied sich aber, die Hysterische erst mal kreischen zu lassen, und drehte sich zu Frank. »Was ist denn passiert?«

Frank drehte die Augen zu ihr, ohne den Kopf zu heben, und schielte sie an.

»Frank, was war los?« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Die Tüte mit den Äpfeln ist gerissen«, er atmete tief ein, »und ich wollte nur helfen. Als ich mich umgedreht habe, um ihr einen Apfel zu geben, hab’ ich sie aus Versehen berührt.« Franks Blick wanderte wieder in Richtung Boden.

»Aus Versehen? Aus Versehen, sagst du? Er wollte mir an die Brust fassen!« Tatjana krakeelte so laut, dass mit Sicherheit noch im Laden jedes Wort zu hören war.

Ines Blick wanderte zu Tatjanas Brust, die unter der dicken Daunenjacke und dem Schal kaum auszumachen war. »Mein Gott, jetzt krieg dich mal wieder ein!« Sie rollte mit den Augen. »Das war mit Sicherheit keine Absicht.« Sie bückte sich nach einem Apfel, als Annelieses Tochter wieder anfing zu zetern.

»Und ob er das wollte! Wer weiß, was der mit mir gemacht hätte! Vielleicht wollte er mich hier ins Gebüsch ziehen!« Sie wedelte mit den Armen in Richtung der unbelaubten Büsche und zog eines ihrer Kinder zu sich heran. »Und das alles vor den Kiddies.«

Ines warf einen Blick auf die Kinderschar, die um die Mutter herumstand und sie mit großen Augen ansah.

»Mach mal einen Punkt!« Sie hielt Tatjana einen Apfel hin.

»Ich soll einen Punkt machen? Du weißt doch selber, wie der ist.« Sie zeigte auf Frank. »Der wollte dir doch auch schon an die Wäsche!«

Ines hatte das Gefühl, dass die Welt um sie herum gefror und alles in Zeitlupe lief. Der Apfel rollte ihr aus der Hand, schlug auf dem Boden auf. Saft spritzte aus der beschädigten Schale und Ines wunderte sich, wo man zu dieser Jahreszeit solch saftige Äpfel herbekam. Das gute Stück rollte in den Rinnstein. Dann beobachtete sie, wie sich ihre rechte Hand hob und diese mit einem geräuschvollen Klatschen mitten in Tatjanas Gesicht landete. Hui, das hatte gesessen!

Das Gezeter verstummte und ein Augenpaar sah Ines ungläubig an. Frank hatte den Kopf gehoben. Seine Augen waren groß wie Untertassen und sein Mund ging immer auf und zu. Ines packte ihn am Ärmel, kontrollierte, ob kein Auto kam, und zog ihn hinter sich her. Auf der anderen Seite trat Marie Koslowski aus dem Laden. Sie hatte wässrige Augen und trug ihren leeren Einkaufsbeutel in der Hand.

Ines hatte das Gefühl, jemand rammte ihr eine geballte Faust in den Magen, als sie die alte Frau sah.

»Marie, was ist passiert? Weinst du?«

Eine Träne löste sich und rann die Wange hinunter.

»Mama!«, hörte sie die entsetzte Stimme hinter sich und registrierte, dass sie Frank immer noch am Ärmel festhielt.

»Komm, mein Junge«, sie winkte ihren Sohn zu sich heran, »wir gehen!«

»Marie!«, die Verzweiflung in Ines Stimme war nicht zu überhören.

Die alte Frau drehte sich um und tätschelte ihr die Wange. »Du bist ein gutes Mädchen, nicht so ein boshaftes Weib wie der Rest hier im Dorf. Bewahr’ dir das gut.« Dann ging sie langsam die Straße hinunter.

Frank sah Ines Hilfe suchend an, lief schließlich hinterher und hakte sich bei ihr unter, um seiner Mutter das Gehen zu erleichtern.

»Was ist hier passiert?« Ines schrie ihre Mutter fast an, als sie den Laden betrat. »Was habt ihr mit Marie gemacht? Sie hat geweint!«

Ines Mutter schüttelte den Kopf.

»Mama! Sag was, verdammt!«

»Wenn man die Wahrheit nicht vertragen kann, dann hat man ein Problem.«

Ines drehte sich zu Anneliese. »Was soll das heißen?« Ihre Augen waren nur noch schmale Schlitze und ihre Stimme zischte wie die einer Python.

»Also wirklich Ines, auf welcher Seite stehst du hier eigentlich?«

»Auf meiner eigenen und jetzt sag mir, was du mit der Wahrheit meinst.«

Anneliese schnaufte. »Na ja, ich hab sie gefragt, ob sie wüsste, was ihr Sohn so in seiner Freizeit treibt und ob ihr klar ist, was er Susanne angetan hat.«

Ines kochte innerlich. Wie konnte sich diese Person nur so widerlich benehmen? Einer Mutter zu sagen, dass man ihren Sohn für einen Verbrecher hielt, und das ohne den geringsten Beweis. »Was hast du noch gesagt?« Ines ging einen weiteren Schritt auf Anneliese zu und schien bedrohlich zu wirken, denn die Schumann wich ein Stück zurück und stieß gegen das Regal mit den Süßigkeiten.

»Was soll ich schon gesagt haben? Die Wahrheit natürlich! Was ist denn mit dir los?«

Ines packte sie am Oberarm und drückte zu. Sie spürte, wie sich ihre Finger in das speckige Fleisch gruben. Anneliese quiekte wie ein Ferkel.

»Aus! Du tust mir weh! Gerda! Was ist denn in deine Tochter gefahren?«

Ines starrte sie an. Sie sah die schlitzigen Augen über den speckigen Wangen und die feinen roten Äderchen, die sich über Wange und Nase zogen, wie die verästelten Flüsse der Everglades. »Was hast du zu Marie gesagt?«, flüsterte sie.

»Dass ihr Sohn ein Vergewaltiger und Mörder ist! Du weißt doch selber, was er dir antun wollte, und seinen Vater hat er bestimmt auch um die Ecke gebracht. An die Unfalltheorie glaubt doch keiner im Ort.«

»Sicher glaubt die keiner mehr, dafür hast du alte Hexe ja gesorgt.« Ines ließ den Oberarm los und sah Anneliese verächtlich an. »Du alte Giftspritze! Was ist dein Problem? Ist dein Leben so unbefriedigend, dass du ständig in dem der anderen herumwühlen musst? Du bist der letzte Abschaum!«

Anneliese sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ines hätte ihr am liebsten eine gescheuert. Aber körperliche Gewalt war keine Lösung und deshalb holte sie noch mal zum verbalen Schlag aus. »Du bist für dieses Dorf wie eine Hämorrhoide am Arsch – störend, unnütz und sorgst immer für ein mieses Gefühl. Ich hoffe, dich trifft der Blitz beim Scheißen!«

»Ines!«, hörte sie ihre Mutter kreischen.

Dann drehte sie sich um und verließ den Laden, ohne Anneliese und ihrer Mutter weitere Beachtung zu schenken. Sie fühlte sich das erste Mal in ihrem Leben leicht. So etwas hatte sie noch nie getan. Einfach den Mund aufmachen und jemandem sagen, was man von dem Gerede hielt. Das war gut! Richtig gut!

 

»Mama, was ist im Laden passiert?«, wollte Frank wissen, nachdem er seiner Mutter aus der Jacke und in ihren Sessel geholfen hatte.

»Das ist unwichtig, mein Junge.« Marie rieb sich die Augen.

»Nein, ist es nicht, du hast geweint. Sie waren böse zu dir. Was haben sie gesagt?«

»Was soll das nützen?« Sie ergriff Franks Hand und drückte sie. »Dann sind wir nur gemeinsam traurig. Das macht erst recht keinen Sinn.«

Frank sah betroffen auf den Boden und schien nach weiteren Argumenten zu suchen. Plötzlich erhellte sich seine Miene. »Ines hat mal zu mir gesagt, dass Schmerz nur noch halb so schwer wiegt, wenn man ihn geteilt hat. Wenn du mir also erzählst, was los war, dann geht es dir nur noch halb so schlecht.«

Seine Mutter lächelte ihn an. »Weißt du, womit du mir wirklich eine Freude machen kannst?«

Er schüttelte den Kopf.

»Mit einem Tee.«

Frank nickte und verschwand in die Küche. Während er Wasser in den Kocher füllte, dachte er über den Vorfall nach.

Er hatte Tatjana wirklich nicht berühren wollen. Das war ein Versehen gewesen, obwohl er zugeben musste, dass er den Blick nicht von ihren großen Brüsten hatte abwenden können, als sie die Straße heruntergekommen war. Schon oft hatte er sich gefragt, wie sich eine große Brust anfühlte, und manchmal wünschte er sich, seinen Kopf an eine solche lehnen zu dürfen. Das war bestimmt ein angenehmes und weiches Gefühl. Natürlich hatte er sich als Kind an die Brust seiner Mutter gelehnt, aber das war nicht vergleichbar, denn ihre Brust war klein und außerdem war sie seine Mutter.

Er nahm den blubbernden Wasserkocher hoch, goss das sprudelnde Wasser in die Tasse für den Bräutigam und holte einen Teebeutel aus dem Küchenschrank. Dann machte er sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Als er um die Ecke kam und gerade verkünden wollte, dass der Tee fertig sei, sah er, dass seine Mutter eingeschlafen war. Er stellte die Tasse auf dem Tisch ab und griff nach der Wolldecke, die auf der Sofalehne lag. So vorsichtig er konnte, breitete er diese über ihr aus, immer darauf bedacht, sie nicht zu wecken. Er schlich aus dem Wohnzimmer und wollte gerade nach oben in sein Zimmer gehen, als er eine Bewegung vor der Haustür wahrnahm. Leise öffnete Frank die Tür und lugte durch den Spalt. Er konnte Ines gerade noch davon abhalten, den Klingelknopf zu drücken, indem er den Zeigefinger vor den Mund hielt. »Pssst! Mama ist gerade eingeschlafen!«, flüsterte er.

»Ach so, okay!«, flüsterte Ines zurück. »Darf ich trotzdem reinkommen?«

Frank nickte. Er öffnete die Tür so weit wie nötig. »Die quietscht doch so«, sagte er entschuldigend, als sich Ines durch den schmalen Türschlitz quetschte. »Geh nach oben in mein Zimmer.«

Ines schlich vorsichtig die alte Holztreppe nach oben. Die dritte Stufe auslassend und auf der zehnten nach Linksaußen tretend, das hatte sie schon in ihrer Kindheit gelernt. So vermied man, dass sie knarrte. Zu der Zeit, zu der Franks Vater noch unter den Lebenden geweilt hatte, war man gut beraten gewesen, wenn man keine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Ines betrat Franks Zimmer, das auf der rechten Seite des Obergeschosses lag. Man konnte noch heute erkennen, dass es sich um eine Hälfte des ehemaligen Heubodens handelte. Das dicke Gebälk hatte man offengelassen und den Rest des Daches notdürftig gedämmt und verkleidet. Sie war lange nicht mehr hier gewesen, mindestens zwanzig Jahre war es her, und in dieser Zeit hatte sich der Raum kaum verändert. Der alte Schreibtisch mit den Asterix-Sammelaufklebern von Duplo und Hanuta, davor der alte Rollstuhl mit der niedrigen Lehne, die immer etwas schief hing, die geblümte Couch, die zu einem Bett ausgeklappt werden konnte, das durchgelegene Metallbett, über dem ein fast einen mal anderthalb Meter großer Starschnitt von Michael J. Fox prangte. An der Wand gegenüber hingen seit dem Kinostart in den Achtzigern die Poster der Zurück-in-die-Zukunft-Trilogie und darunter ein Bild vom DeLorean.

Ines hatte ebenfalls das Gefühl, eine Zeitreise gemacht zu haben. Nichts hatte sich verändert. An dem Schreibtisch hatte sie Frank bei seinen Mathehausaufgaben geholfen und auf dem Bett hatte sie gesessen und mit dem alten Radio-Kassettenrekorder von Sony die neuesten Chartstürmer aufgenommen, immer in der Hoffnung, dass der dusselige Moderator nicht dazwischen quatschen und die Aufnahme versauen würde. Das Zimmer sah aus wie damals, nur die Gardinen und die Bettwäsche waren etwas moderner geworden, was eher dem Verschleiß als modischen Maßnahmen zu verdanken war.

Ines staunte noch immer, als Frank hinter ihr das Zimmer betrat, in den Händen je ein Glas mit einem Softgetränk.

»Hier, für dich. Orangenbrause. Trink.«

Wie süß, er sagt sogar immer noch Brause. Ines salutierte und schlug die Hacken zusammen. »All right, Sir!«

Auf Franks Gesicht erschien augenblicklich ein Strahlen.

Sie nahm das Glas entgegen und trank einen großen Schluck. »Danke dir.«

Frank ging zum Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl, der ein ächzendes Quietschen von sich gab. Seine gut dreißig Jahre waren ihm deutlich anzusehen. An einer Stelle war der Bezug durchgescheuert und der Schaumstoff kam zum Vorschein.

Mein Gott, dachte Ines, wir waren damals so jung und ich war tatsächlich ein wenig verliebt in Frank. Heute wunderte sie sich, dass sie einst derartige Gefühle für ihn gehabt hatte. Vermutlich war es darauf zurückzuführen, dass man Frank in seiner Jugend sein Defizit nicht angemerkt hatte. Dass er weniger intelligent war als die meisten Menschen, war erst später zutage getreten, als alle anderen weiterführende Schulen besucht hatten und ihr Bildungsgrad im Laufe des Lebens gestiegen, während Frank stehen geblieben war.

Ines störte es nicht. Sie hegte zwar keine schwärmerischen Gefühle mehr für ihn, mochte ihn aber immer noch ausgesprochen gerne. Er konnte ja nichts dafür und abgesehen davon war er der liebste Mensch, den Ines je kennengelernt hatte. Immer ehrlich, nie bösartig, ganz im Gegensatz zu seinem Vater, dem verlogenen und gewalttätigen Bastard.

»Mama hat geweint.« Frank riss sie aus ihren Gedanken.

»Ja, ich weiß, ich hab es gesehen und es tut mir unendlich leid.«

»Sie wollte mir nicht sagen, was passiert ist.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und betrachtete die Kohlensäurebläschen, die an der Glaswand abperlten. »Dabei weiß ich, dass Anneliese Schumann dumm ist und immer schlimme Dinge erzählt, die nicht wahr sind. Ich würde es nicht glauben, aber trotzdem wollte sie nichts sagen.«

Ines überlegte einen Augenblick. Sie war sich nicht sicher, ob sie erzählen sollte, was der alte Drachen Frank vorwarf. Wenn sie es nicht erzählte, dann würde er es mit Sicherheit von jemand anderem erfahren. Und hatte das Gerücht erst mal die große Runde gemacht, wäre es nicht mehr möglich, Frank vor diesen Vorwürfen zu schützen.

»Sie hat behauptet, dass du Susanne etwas angetan hast, dass du erst mit ihr gesprochen hast und dann zu ihr ins Auto gestiegen bist.«

Franks Augen wurden groß. »Was?« Er schüttelte so heftig den Kopf, dass ein wenig Limo aus dem Glas schwappte. »Nein! Das ist gelogen! Ich mag Susanne, ich würde ihr nie etwas antun, ich habe nur kurz vor der Tür mit ihr geredet, und dann hab ich sie nie wiedergesehen.« Er redete hastig und seine Stimme überschlug sich.

»Ich glaub dir.« Ines überlegte. »Was bedeutet, du magst sie? Würdest du jemandem etwas antun, den du nicht magst?«

Frank schüttelte wieder den Kopf. Er stellte das Glas auf den Schreibtisch und leckte sich die Limo von den Fingern.

»Sie behauptet, dass dein Vater nicht bei einem Unfall gestorben ist.«

Frank zupfte mit einer Hand an dem herausquellenden Schaumstoff des Drehstuhls. Die Finger seiner anderen schlugen hektisch gegeneinander.

Ines erinnerte dieser Tick immer an die hektischen Bewegungen eines Telegrafisten und sie kannte Frank lange genug, um zu wissen, dass er dies immer dann tat, wenn er nervös war.

Sie glaubte den Anschuldigungen von Anneliese nicht und dennoch hegte auch sie, tief in ihrem Inneren, Zweifel an der Geschichte um den Tod von Heinrich Koslowski. Er war ein niederträchtiger Mensch gewesen und Ines war von Anfang an der Ansicht gewesen, dass die Welt ohne ihn ein besserer Ort wäre. Er hatte Frank bei jeder Gelegenheit beleidigt, beschimpft oder sich über ihn lustig gemacht. Ines hatte nicht erlebt, dass Heinrich seinen Sohn körperlich misshandelt hatte. Als umso schlimmer hatte sie die seelischen Grausamkeiten wahrgenommen.

Heinrich hatte Frank mal dabei erwischt, als er aus reiner Neugier einen Perlonstrumpf seiner Mutter angezogen hatte. Daraufhin war der Alte so ausgerastet, dass er seinen Sohn gezwungen hatte den zweiten auch noch anzuziehen und in einen Rock sowie in eine Bluse seiner Mutter zu schlüpfen. Anschließend hatte er ihn in dem Aufzug und in Hackenschuhen durchs Dorf laufen lassen. Immer wieder hatte er gebrüllt, dass er es allen zeigen sollte, wenn er eine Schwuchtel sei. Irgendwann hatte Marie von dem Spektakel Wind bekommen und war mit Sandalen in der einen und einem Bademantel in der anderen Hand ihrem Sohn zur Hilfe geeilt. Ihr Eingreifen hatte den Spuk zwar beendet, aber die tatsächliche Hexenjagd hatte erst am nächsten Tag in der Schule begonnen.

»Frank«, sie ging zu ihm rüber und nahm seine Hand in ihre, »was ist damals wirklich passiert?«

»Nichts!« Er schüttelte den Kopf.

»Nichts ist ja nicht ganz richtig.« Ines lächelte ihn an.

»Papa war auf dem Heuboden und dann ist er runtergefallen. Er hatte zu viel getrunken und ist auf dem Ballenspieß gelandet. Mama hat immer gesagt, dass das Gesaufe ihn irgendwann das Leben kosten wird und dass ich nicht über den Tag reden soll.«

»Sie hat gesagt, dass du nicht darüber reden sollst?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739497655
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Dorfkinder Niedersachsen Familiendrama Dorfgeschichten Krimi Norddeutschland Familiengeschichte Frauenroman Beste Freundin Urlaubslektüre Thriller Spannung

Autor

  • Dana Smith (Autor:in)

Dana Smith, Jahrgang 1974, lebt mit ihrer Hündin und ihren zwei Katzen in einem kleinen Haus am Waldrand. Vor fünf Jahren ließ sie ihr altes Leben hinter sich und reduzierte alles auf ein Minimum. Geprägt von viel Natur und wenig Zwängen setzten sich geistige Kapazitäten frei und zwei Romanmanuskripte entstanden. Durch ihr Leben im Dorf, die Arbeit mit alten Menschen und die Geschichten, die ihr dort jeden Tag zu Ohren kommen, entstand ihr Debütroman »Dorf ohne Gewissen«.
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Titel: Dorf ohne Gewissen