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Kaluga

von Ben Lehman (Autor:in)
168 Seiten

Zusammenfassung

Ausgerechnet an dem Tag, an dem David seinem besten Freund Jonas auf dem Heimweg von der Schule sein brandneues Handy vorführen möchte, wird Jonas von seiner Mutter mit dem Auto abgeholt. Also muss David die vielen Funktionen seines Handys allein testen. Er achtet gar nicht auf den Weg, als ihm plötzlich Zähne fletschend ein Hund entgegen rennt und zum Sprung ansetzt. Mitten im Sprung fällt der Hund zu Boden. Tot! Davids Leben ist gerettet, denn die Bestie hätte ihn zerfleischt. David zwickt sich ins Bein, so etwas kann doch gar nicht wahr sein! Plötzlich, er drückt gerade wahllos ein paar Tasten seines Handys, taucht die Zicke Lena aus seiner Schulklasse, die im selben Haus wie er wohnt, wie aus dem Nichts auf und behauptet, sie wäre nicht Lena, sie wäre Kaluga. Und wie sie gekommen ist, so verschwindet sie auch wieder. Wird einfach unsichtbar! David erzählt das sofort seinem Freund Jonas – der ihm natürlich kein Wort glaubt! Die Zicke Lena später darauf angesprochen, behauptet schließlich auch noch steif und fest, dass ihr der Name Kaluga nichts sagt – und zwar rein gar nichts! Das Rätsel Kaluga führt eine Gruppe von Kindern/ Jugendlichen zusammen, die vorher keine Freunde waren und nun zu Freunden werden. Ein abenteuerlicher Roman voller Rätsel, neuen Freundschaften und mit einem seltsamen Raben, der Spannung pur garantiert!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


KAPITEL EINS

So langweilig hatte sich David an diesem Tag seinen Heimweg von der Schule wirklich nicht vorgestellt. Ausgerechnet heute, wo es einige wichtige Dinge zu bequatschen gab. Nun ließ ihn sein bester Freund Jonas leider im Stich. Und warum? Weil dessen Mutter überraschend mit dem Auto vor dem Schulgebäude stand und ihn nervös zu sich winkte.

„Verdammt“, zischte David durch die Zähne und schüttelte seine langen blonden Haare, über die sich sein Vater regelmäßig aufregte: „Sag, dass du heute keine Zeit hast. Wir müssen doch wegen heute Nachmittag …“

Jonas winkte ab: „Ich muss mitfahren, sonst habe ich wieder Stress.“

„… und unser Plan?“

„Besprechen wir später.“

„Und mein neues Handy?“

„Auch später!“

„Mann, du nervst vielleicht!“

Immerhin hatten sie ausgemacht, am Nachmittag eine Radtour zu unternehmen. Und dann wollten sie Davids neues Handy eingehend unter die Lupe zu nehmen. Auch Jonas war auf so ein Teil versessen und nervte deswegen seine Eltern seit Wochen. Vergeblich. Stattdessen hatte nun er, David, dieses tolle Stück zum Geburtstag geschenkt bekommen. Darüber ärgerte sich Jonas, weil seine Eltern sonst auch nicht jeden Euro umdrehten. Genau genommen war er stinksauer.

„Tschuldige, David, dass ich mitfahren muss. Ich mach‘s wieder gut, versprochen“, murmelte er mit heruntergezogenen Mundwinkeln.

„Und was gibt’s ausgerechnet heute sooo Wichtiges?“

„Ach, schon wieder blödes Einkaufen angesagt. Meiner Mutter gefällt meine Jeans nicht mehr. Ich finde sie super“, murrte Jonas und deutete auf seine abgetragene Hose. Er öffnete die Tür und versank im Ledersitz des schwarzen Autos seiner Mutter.

„Bis später, okay?“ rief er durch das geöffnete Fenster, dann brauste seine Mutter rasant davon.

David schaute der Limousine nach, bis sie um die nächste Kurve verschwunden war. Dann setzte er sich langsam in Bewegung und machte sich auf den Heimweg.

Auch gut, dachte er, dann eben nicht.

Nach wenigen Metern zog er gespannt sein Handy aus der Tasche, um die vielen Funktionen auszuprobieren. Allein war das natürlich weniger reizvoll als mit seinem Freund.

Doch was dann geschah …!

„Ich glaub, mein Schwein pfeift!!!“, rief David total überrascht.

Aber besser der Reihe nach:

David und Jonas wohnten in Nachbarhäusern, die direkt aneinandergrenzten. Schon als sie noch klein waren, trabten sie immer gemeinsam zum Kindergarten, inzwischen seit Jahren morgens zur Schule und nach Unterrichtsende wieder nach Hause. Und das fast täglich, ausgenommen, besondere Anlässe verhinderten dies, wie ausgerechnet heute. Die beiden Jungen vertrugen sich ganz gut, auch wenn es manchmal zwischen ihnen krachte. So etwas ließ sich aber schnell ausräumen. Ist schließlich kein Beinbruch bei echten Freunden.

Die beiden Jungen hatten einiges gemeinsam. Ihre Eltern waren beide berufstätig. Davids Vater beklagte sich oft über seine stressige Tätigkeit bei der Kriminalpolizei und seine Mutter arbeitete jeden Tag als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei. Bei Jonas sah die Sache nicht viel anders aus. Beider Eltern verschwanden früh morgens und kamen dann erst am Abend erledigt nach Hause zurück. Deshalb wären die Nachmittage bestimmt eintönig gewesen, wenn sie einfach nur vor sich hingeträumt hätten, ohne irgendwelche zündenden Ideen. Zum Glück kamen die jedoch meistens von ganz allein.

Die Schule war einigermaßen in Ordnung. Die Lehrerin, Frau Bochsauer, auch. Die Mitschüler eigentlich auch, wenigstens die meisten. Ein paar waren ziemlich doof, wie zum Beispiel Lena, über die sich die zwei Freunde schon im Kindergarten oft geärgert hatten. Das heißt aber nicht, dass Lena blöd war – ganz im Gegenteil. Sie war echt pfiffig, genau genommen war sie raffiniert. Leider wusste sie schon im Kindergarten immer alles besser und quatschte ununterbrochen. Sie wohnte im selben Haus wie David, zum Glück zwei Stockwerke höher. David war darüber froh. Wenn er die Tür öffnete und Lena gerade heruntergestolpert kam – sie hatte es meistens sehr eilig –, warf er die Tür schnell wieder zu und wartete, bis das Übel vorüber war.

Es gab in der Klasse bereits einige stolze Handybesitzer. Nun gehörte David auch dazu. Begeistert hielt er es in der Pause hoch, damit es jeder besichtigen konnte. Besonders die Mitschüler ohne Handy wollten es ganz genau anschauen, um spätere Fehlkäufe auszuschließen. Für die Erfahrenen war der Vergleich mit dem eigenen Gerät wichtig. Auf jeden Fall wollte es jeder wenigstens einmal in die Hand nehmen.

„Kommt nicht in Frage“, entschied David, „wenn es kaputt ist, bin ich der Angeschmierte. Ihr habt doch Augen im Kopf.“

Bei dieser Bemerkung zog wieder Lena genervt die Augenbrauen hoch, wer sonst? „Mann, hab dich nicht so. Mein Handy ist sowieso viel schöner.“

„Dann mach doch deins kaputt“, pfiff David sie ärgerlich an.

„Kaputt, kaputt, ich hör immer nur kaputt“, äffte Lena ihn nach, „du redest mal wieder wie ein kleines, dummes Kind.“

David kniff die Lippen zusammen. Lena konnte nicht anders, sie war eben so. Er beschloss, einfach wegzuhören.

Frau Bochsauer bestand darauf, dass Handys im Unterricht ausgeschaltet blieben. Des lieben Friedens willen hielten sich ihre Schüler daran, die meisten wenigstens. Als jedoch gestern aus Sandras Schultasche ein peppiger Hit herausquäkte, ging ein unterdrücktes Kichern durch die Reihen. Jeder ahnte, was gleich geschehen würde.

Frau Bochsauers Blick erstarrte mehrere Sekunden lang.

Schließlich hob sie langsam wie eine Schildkröte den Kopf. Auch der faltige Hals erinnerte an dieses Urtier. Plötzlich stieß sie einen spitzen Schrei aus: „S a a a n d r a !!!“

Sie nahm ihre dunkle Hornbrille von der Nase, obwohl sie dann fast nichts mehr sah. Alle Schüler wussten, dass sie ohne Brille blind wie ein Maulwurf war. Wenn sie sich trotzdem zu dieser Geste entschloss, war höchste Gefahr im Anmarsch. Einige zogen vorsichtshalber die Köpfe ein. Frau Bochsauer bewegte sich im Zeitlupentempo auf Sandra zu. Alle Schüler schielten zu Sandra. Wie würde sie sich dieses Mal herausreden?

Sandra reagierte schnell: „Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid“, wisperte sie und zuckte entschuldigend die Schultern. Die Jungen glucksten hinter vorgehaltener Hand, am lautesten Johannes, der konnte sich selten beherrschen. Er war ziemlich dick, allerdings war er auch der Stärkste in der Klasse. Kein Wunder bei seinem Gewicht.

Frau Bochsauer ließ sich von der Unruhe in der Klasse nicht beeindrucken und verfolgte unbeirrt ihr Ziel. Schweigend blieb sie vor Sandra stehen, streckte ihre Hand aus und verharrte in dieser Stellung eine kleine Ewigkeit, fast wie eine Spinne, die auf eine Fliege lauert. Sandra behauptete später, es wären Stunden gewesen.

„Das war ein Versehen“, jammerte Sandra, „ich hab’s wirklich vergessen auszuschalten.“

Frau Bochsauer blieb so lange mit ausgestreckter Hand vor Sandra stehen, bis diese stöhnend das Handy aus der Tasche zog und es blitzschnell ausschaltete.

„Nie wieder …, ich tu’s nie wieder“, flüsterte sie, „ich schwör’s!“

Ohne ein Wort zu sagen, packte Frau Bochsauer das Handy, drehte sich um und ging zurück zum Lehrertisch.

„Diebstahl“, flüsterte Sandra, „… das war Diebstahl.“

„… darf sie gar nicht“, piepte die kleine Emily mit dem Spitzmausgesicht, die Klassenbeste war. Viele nickten zustimmend. Johannes rülpste unanständig und steckte einen Seitenhieb von seinem Nachbarn Erik ein.

Frau Bochsauer hatte Emilys Bemerkung gehört und drehte widerlich grinsend ihren Kopf schräg nach hinten. Sie hatte ihre Brille wieder auf der Nase, und antwortete: „Darf ich doch. Bis zum Ende des Unterrichts.“

David hasste jede Art von Stress. Deswegen war es für ihn von Anfang an klar, dass er sein Handy erst nach Verlassen des Schulgebäudes einschalten würde. So einem Theater wollte er unbedingt aus dem Weg gehen.

Nach Jonas überraschendem Abflug trottete David schließlich ganz allein und langsam nach Hause. Seine Stimmung war nicht die beste, eher gereizt. Murmelnd schimpfte er vor sich hin, zum Glück beobachtete ihn niemand. Er verwünschte sogar den mittelgroßen Stein, über den er versehentlich stolperte: „Verdammter Felsen, … mitten in der Stadt.“

Noch immer leise fluchend drehte er sich um und kickte ihn vom Bürgersteig.

Ein untersetzter Mann kam ihm entgegen. Neben ihm ein brauner, mittelgroßer, ziemlich kräftiger Hund. Ohne Leine! War das nicht verboten? Er sah aus wie ein Kampfhund, hoffentlich war es keiner. Leider doch, wie David wenige Sekunden später erschrocken erkennen musste. Unerwartet fletschte das ekelhafte Vieh die Zähne … und spurtete los. Genau in Davids Richtung. Der Mann konnte nicht schnell genug reagieren. Der Hund riss sein widerliches Maul auf, Schaum in den Winkeln. Mit einem gewaltigen Satz setzte er zum Sprung an.

David erstarrte.

In diesem Augenblick musste der muskulöse Hundekörper ihn umwerfen, oh Gott! Aber …, es passierte etwas ganz Anderes: Der Hund verharrte mitten im Flug, als hätte ihn der Blitz getroffen. David konnte es nicht fassen. Mit offenem Mund stand er da. Und der Hund? Er stürzte zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Inzwischen stand der Mann keuchend vor ihm. Erst starrte er sprachlos zu David, dann auf seinen Hund, der reglos vor ihm lag. Dann wieder zu David und zurück zum Hund.

„... wa…, was …“, stotterte er. „… ist passiert? Bist du verletzt?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, beugte er sich zu dem toten Tier: „Rambo! Los, steht auf! Rambolein. Bitte!“

Rambolein bewegte sich keinen Millimeter mehr.

„Was hast du getan?“, krächzte er und stierte David an.

„Nichts!“

David war sich nicht sicher, ob der Mann ihn oder seinen Hund meinte. Doch er beachtete David keine Sekunde mehr. Sein einziges Interesse galt seinem Hund, obwohl der gerade noch im Begriff gewesen war, David zu zerfetzen.

Als der Mann anfing, um sein wildes Tier bitterlich zu heulen, hatte David die Nase voll. Ärgerlich trat er einen Schritt zur Seite und ging weiter. Er drehte sich kein einziges Mal mehr um. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Er war sich sicher, dass er diesen Mann vorher nie gesehen hatte.

Nach einer Weile hörte sein Herz zu rasen auf. David beruhigte sich allmählich. Jedoch schüttelte er immer wieder ungläubig den Kopf. Was war ihm da widerfahren? Einfach schrecklich – warum war ihm nicht das Geringste passiert? Er musste sich ablenken. Deshalb zog er sein neues Handy aus der Tasche und hielt es nachdenklich in der Hand. Wenn ihn doch jetzt irgendjemand anrufen würde, mit dem er darüber reden könnte. Niemand rief an. Spielerisch drückte David verschiedene Tasten. Als er noch nicht einmal zwei Schritte weiter gegangen war, sagte eine Stimme neben ihm: „Kannst mich ja mal anrufen!“

David erschrak und drehte sich um. Neben ihm stand Lena, die Quasselstrippe aus dem oberen Stockwerk. Wie aus dem Nichts war sie aufgetaucht.

„Mann, Lena! Wo kommst denn du her?“, rief David entsetzt. Lena hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Ausgerechnet die hektische Lena. Wenn es wenigstens die nette Clarissa wäre.

„Wir haben doch denselben Weg“, lenkte Lena ab.

„Ach?“

„Ich darf doch …, oder …?“

„Meinetwegen, bist ja schon hier!“

David konnte im Augenblick nicht widersprechen. Er hatte noch nicht einmal den Schreck seines Lebens überwunden und jetzt auch noch Lenas überraschendes Auftauchen.

Deshalb sagte er nichts.

Warum auch. Lena ging bereits wie selbstverständlich neben ihm. Heimlich fluchte er wieder. Wieso hatte er nicht bemerkt, dass Lena plötzlich neben ihm stand. Sie musste hinterhergeschlichen sein. Aber warum? Das tat sie doch sonst nicht, weil sie meistens mit ihrer Freundin Emily nach Hause ging. Darauf war sie mächtig stolz, weil Emily so klug war und ihr immer bei den Schularbeiten half, wenn sie selbst nicht weiter wusste. Dann erinnerte sich David, dass er sich vor dem schrecklichen Erlebnis mit dem Hund sogar mehrfach umgedreht hatte. Er wusste bestimmt, dass er keinen Menschen hinter sich gesehen hatte, schon gar nicht Lena.

„Verstehe immer noch nicht, wo du herkommst“, murmelte er.

Lena grinste geheimnisvoll.

Er beschloss, ein paar nette Worte zu ihr zu sagen: „Hast du das gerade beobachtet? Das mit dem Hund?“

Lena hatte wohl nicht. Sie reagierte auf Davids Bemerkung gar nicht, sondern sagte unvermittelt: „Ich hab’ mich entschlossen, dich künftig öfter zu begleiten.“

„Oh Gott …“ David fehlten in dieser Sekunde die Worte. Er schluckte trocken und kniff die Augen zusammen. Als er die Fassung wiedergefunden hatte, wollte er wissen:

„Wo ist denn Emily? Die war doch heute in der Schule. Ihr habt bestimmt gestritten und jetzt willst du …“

Lena reagierte wieder nicht und meinte stattdessen: „Freust du dich ein wenig?“

„Jaaaa.“ David war am Ende.

„Ich verrate dir ein Geheimnis, David“, plapperte sie weiter.

„Bitte nicht“, winkte David ab.

Lena ließ sich nicht beirren: „Los, schau mich mal an.“

„Warum denn? Ich kenn dich doch!“ David überlegte krampfhaft, wie er Lena loswerden konnte. Dieses Geschwätz würde er bestimmt nicht lange aushalten.

„Wenn du mich nicht anschaust, verstehst du mein Geheimnis nicht“, fuhr sie fort.

David entschied sich nach kurzem Nachdenken für das Geheimnis. Langsam bewegte er seinen Kopf in Lenas Richtung, ein Auge leicht zusammengekniffen.

Lena grinste immer noch hinterhältig: „Jetzt“, sagte sie und schnalzte mit Daumen und Mittelfinger der rechten Hand.

Im selben Moment begannen die Umrisse ihres Körpers zu verschwimmen. Die ganze Lena wurde durchsichtig und … weg war sie.

David zuckte zusammen und wischte sich mit der rechten Hand über die Augen. Lena war tatsächlich weg, ein verdammter Trick. Er zwickte sich in die linke Hand – der Schmerz war deutlich zu spüren, also träumte er nicht.

„Mann, oh Mann“, murmelte er, „was ist denn heute bloß los?“

David stand eine kleine Ewigkeit wie erstarrt. Lena war und blieb unsichtbar. Unendlich langsam bewegte er das linke Bein einen Schritt vorwärts, anschließend das rechte. Nachdem er sich grübelnd zweimal im Kreis herumgedreht und nach Lena Ausschau gehalten hatte, schlug er behäbig, wie ein Großvater, den Weg zu seinem Elternhaus ein.

Immer wieder schüttelte er den Kopf. Es war ihm unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Was war heute geschehen? Von einem Geheimnis hatte Lena gequatscht, dann war sie weg gewesen. Welch raffinierten Trick hatte sie da gelernt! David musste anerkennend zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wie sie das hingekriegt hatte.

Zu Hause angekommen, fand er sein vorbereitetes Mittagessen im Kühlschrank. Nach drei Minuten Mikrowelle ließ er sich auf einen Küchenstuhl fallen. Eine willkommene Ablenkung.

Dann die Hausaufgaben.

Anschließend rief er bei Jonas an.

„Hast du schon deine Schularbeiten …?“ Er konnte nicht zu Ende reden, Jonas unterbrach ihn:

„Was meinst du, was ich vorhin erlebt habe?“

„Weiß ich doch nicht, du warst ja blitzschnell weg, … heute sogar mit Chauffeur. So was von vornehm. Im schwarzen Auto! Mir reicht’s! Ich mag heut wirklich keine Rätsel mehr raten!“, antwortete David.

Jonas reagierte darauf nicht: „Lena hat sich mit Sandra gestritten. Mit unserer vornehmen Sandra – was sagst du dazu? Öffentlich. Hast du gehört: öööffentlich!“

„… glaub ich ni…“

„Genau am Josefplatz. Vor allen Leuten. Weil sie im Unterricht das Handy nicht ausgeschaltet hatte. Dabei geht das Lena überhaupt nichts an. Oder, was meinst du?“

David schnaufte zuerst sehr tief, dann hielt er die Luft an. Das konnte doch nicht sein! Zu dieser Zeit hatte er doch seine seltsame Begegnung mit Lena! Und jetzt Jonas‘ angebliche Beobachtung? Er wusste im Augenblick nicht, was er sagen sollte.

„Hast du mich nicht verstanden?“, bohrte Jonas.

„Ich bin sprachlos“, schüttelte David den Kopf.

„Jetzt hör auf. Warum denn? … doch nicht wegen Lena?“

„Klar wegen Lena. Weil sie … bei mir war. Und dann …“, antwortete David.

„Ach, du bist ja …“

„Bin ich nicht. Los komm schnell runter, wir treffen uns hinten im Park.“

David warf den Hörer auf die Gabel und spurtete los.

Als er um die Hausecke sauste, wäre er beinahe mit Jonas zusammengeknallt.

„Uff“, erschrak er, „verdammt schnell!“

„Du hattest es doch plötzlich so eilig!“, keuchte Jonas.

„Das glaubst du erst recht nicht, was ich erlebt habe“, sprudelte David hervor, während sie den Park erreichten.

„Aber bestimmt nicht mit Lena“, warf Jonas ein.

„Aber genau mit Lena. Wenn du das hörst …“

David erzählte Jonas seine Erlebnisse auf dem Nachhauseweg. Jonas wurde immer nachdenklicher und blickte David kritisch an. Er kniff die Augen zusammen. Als David schließlich Luft holte, schüttelte Jonas den Kopf und tippte sich an die Stirn: „Ganz schön hirnrissig, was du dir da zusammenspinnst. Also die Sache mit dem Hund …, tot sagst du? Mitten in der Luft?“

„Ich träum doch nicht“, schrie David.

„Ehrlich …, ich weiß nicht. Dann noch dein Märchen mit Lena.

Ich weiß hundertpro, dass Lena mit Sandra in der Stadt am Josefplatz rumgekeift hat. Du wirst es morgen in der Schule hören. Sogar meine Mutter hat mich gefragt, ob das nicht die Lena aus meiner Klasse sei.“

„Wenn ich’s dir sag“, David wurde ärgerlich. „Lena stand plötzlich neben mir und dann ist sie vor meinen Augen verschwunden.“

„Ich glaub wirklich, du fantasierst heute. Wahrscheinlich, weil du allein gehen musstest. Oder weil du dauernd an dein neues Handy denkst, siehst du am helllichten Tag Gespenster. Hör jetzt endlich auf. Reden wir über was Anderes!“

Jonas wollte nicht länger diskutieren.

„Klar hatte ich mein Handy in der Hand. Deswegen bin ich doch nicht verrückt. Hättest du bestimmt auch gemacht. Aber du hast ja noch keins.“

„Eben. So ist das. Es reicht wirklich, David“, die Falte auf Jonas‘ Stirn wurde steil. „Vielleicht hast du telefoniert.“

„Hab ich nicht. Mich hat doch niemand angerufen. Ich habe nur rumgedrückt. Zum Beispiel auf die Rautetaste, hier, schau her.“

Er drückte, als wollte er es Jonas nachträglich beweisen, auf diese Rautetaste. Im gleichen Augenblick hörten sie ein Geräusch, so eine Art Pfeifen. Sie schossen herum …, da stand Lena hinter ihnen und grinste.

„Das glaub ich nicht“, jetzt war auch Jonas entsetzt. „Wo kommst du denn her, Lena?“

Zuerst sagte sie kein Wort. Sie grinste immer noch so ekelhaft, dass den Freunden die Zornesröte ins Gesicht schoss. Dann trat sie langsam einen Schritt auf sie zu, noch immer grinsend, und sagte:

„Wieso Lena, so heiß ich gar nicht.“

„Aha! Das ist neu“, kicherte Jonas. „Vielleicht heißt du jetzt Sandra? Nach dem Gezanke von heute Nachmittag. Ich dachte schon, ihr prügelt euch gleich.“

Davids Mund stand offen, er hatte vergessen, ihn zu schließen. Lenas Grinsen schien eingefroren, sie meinte mit unbewegter Miene: „Ich habe mit niemandem gestritten. Eure Sandra kenne ich sowieso nicht. Mein Name ist nicht Lena. Nennt mich einfach … Kaluga. Deinen Mund kannst du wieder zuklappen, David, wegen der Fliegen.“

„Wieso …, ich meine …“, stotterte David, „du bist doch Lena.“

Jonas wurde zornig: „Lass dich nicht für dumm verkaufen. Du kennst doch unsere Lena. Hat mal wieder eine neue verrückte Idee. Aber nicht mit mir!“

Lena schüttelte den Kopf: „Zum letzten Mal, ich bin nicht Lena, verstanden? Ihr sollt mich Kaluga nennen. Wir beide haben nämlich ein Geheimnis, David, du und ich. Du weißt es nur noch nicht.“

„… Geheimnis? … was für ein Geheimnis?“

„Bitte ein wenig Geduld. Du darfst keinem Menschen von mir erzählen!“

Nun hatte David die Nase gestrichen voll: „Ich geh jetzt nach Hause, Lena oder Kaluga. So ein dummes Gequatsche. Hast vielleicht noch nicht bemerkt, dass Jonas neben mir steht?“

„Hab ich doch“, antwortete Lena oder Kaluga kühl. „Jonas darf bei unserem Geheimnis mitmachen. Sonst niemand. Verstanden? Drück auf deine Rautetaste, wenn du mich brauchst. Einmal lang und zweimal kurz.“

Jonas schnaubte gekränkt und äffte hinterher: „… darf bei unserem Geheimnis mitmachen. Oh, wie großzügig.“

Die Freunde trauten ihren Augen nicht, als ihr Gegenüber erst langsam durchsichtig wurde und dann verschwand.

KAPITEL ZWEI

Der nächste Schultag begann ganz schön merkwürdig. David und Jonas waren einige Minuten früher als gewöhnlich im Klassenraum. Sie verhielten sich stiller als sonst. David glotzte wie ein Auto, allerdings deutlich langsamer. Jonas grinste hinter vorgehaltener Hand: „Mann, guckst du heute blöd.“

David knurrte unwillig: „Hast du vielleicht eine Ahnung?“

„Ich lass es mir aber nicht so anmerken, wie du“, antwortete Jonas. Dann begannen sie wieder zu tuscheln. Ihre Vermutungen drehten sich pausenlos im Kreis.

„Ich habe jetzt lange genug nachgedacht …“, entschied Jonas, „… und ich bleib dabei! Das ist ein hundsgemeiner Trick! Vielleicht aus einem Zauberkasten, … oder einem Zauberbuch. Gibt’s doch, oder nicht?“

„So ein Quatsch“, schimpfte David. „Zauberkasten …, Zauberbuch …, ich habe zu Hause auch ein Zauberbuch. Heute Nachmittag kannst du drin blättern. Da steht nur Blödsinn drin. So was doch nicht.“

„Mann, hör endlich auf“, zischte Jonas, „die gucken schon alle auf uns.“

„Ist doch mir egal. Zauberkasten! Ich habe jetzt die Schnauze voll.“

Der dicke Johannes schnaufte mit hochrotem Kopf in den Klassenraum.

Tessa schniefte und fragte: „Du bist doch heute nicht etwa gerannt? Muss ich sofort im Kalender eintragen.“

„Wieso gerannt?“, schnaufte Johannes.

„Weil dich sonst immer dein alter Herr mit dem Auto herumkutschiert“, kicherte Tessa gemein.

„Dummes Gequake! Lass mich in Ruhe. Wenn du sowieso alles besser weißt ...“

Er ließ sich erschöpft auf seinen Stuhl fallen, es knackste verdächtig. Sein Nachbar Erik war in Gedanken versunken und erschrak fürchterlich. Er schoss zur Seite und wäre beinahe vom Stuhl gekippt.

Tessa wollte Johannes noch ein wenig ärgern: „… oder musstest du vielleicht dem Auto deines Vaters hinterherlaufen? Stress zu Hause oder sportlich unterwegs?“

Johannes zog ein langes Gesicht und knurrte ärgerlich: „Lass mich endlich in Ruhe, doofe Gans.“

Moritz, der Streber, blickte kurz von seinem Matheheft auf und murmelte gedankenverloren: „Apropos Laufen! Sport ist heute in der fünften Stunde.“ Dann ließ er den Kopf wieder sinken und war geistig schon wieder weggetreten.

„Seid still, Moritz arbeitet bereits“, piepste Emily. Allerdings hörte niemand auf sie, weil in diesem Augenblick Clarissa lächelnd hereingeschwebt kam. Sie genoss immer ihren morgendlichen Auftritt. Sie hatte einen besonders schicken roten Pullover an, den sie zum ersten Mal trug. Vorsichtig, damit sie nirgendwo anstieß, schlängelte sie sich zu ihrem Platz. Johannes beobachtete interessiert ihre Verrenkungen. Die Mädchen bekamen lange Hälse.

Lena sagte: „Ah, Shopping gewesen? Ein neues Stück?“

„Gefällt er dir, Lena?“, wollte Clarissa wissen.

„Ich weiß nicht?“

Lena war oft neidisch, besonders auf Clarissa, weil sie schöner war als sie und fürchterlich reiche Eltern hatte. Zur Strafe blickte Clarissa etwas länger und wortlos auf Lenas T-Shirt, das sie im letzten Jahr schon so oft getragen hatte. Lena drehte sich beleidigt zur Seite. Leider stand Sandra hinter ihr.

„Oh Gott, du hier?“, entfuhr es ihr. Das war für Jonas genau der richtige Zeitpunkt, seinen vorbereiteten Plan in die Tat umzusetzen: „Ihr vertragt euch wohl wieder?“

Es war ihm anzusehen, wie er sich freute, diese passende Bemerkung loszuwerden. Jetzt musste ihm David glauben. Der nickte unmerklich.

Da keines der beiden Mädchen antwortete, fuhr er fort: „Ich habe euch gestern zufällig auf dem Josefplatz beobachtet. Meine Mutter war auch dabei. Ihr seid wirklich ganz groß rausgekommen. Zirkusreif!“

Heimlich schubste er David an und zwinkerte ihm mit einem Auge zu.

Sandra errötete: „Das war wirklich mehr als peinlich! Ich rede mit Lena nie wieder ein Wort.“

Ruckartig wandte sie sich zur Seite, setzte sich auf ihren Platz und schaute nachdrücklich in eines ihrer Bücher. Ihre Nasenspitze berührte fast das Buch. Dann bemerkte sie, dass sie es verkehrt herum aufgeschlagen hatte. Erschrocken drehte sie es um und versenkte ihre Nase noch tiefer. Lena hatte es bemerkt und gluckste vor Vergnügen.

Dann wandte sich Lena verlegen an Jonas: „Was hat denn deine Mutter gesagt?“

„Nichts Besonderes. Hat sich nur gewundert“, antwortete Jonas beiläufig.

Das war genau der richtige Zeitpunkt. David schoss, grinsend bis zu beiden Ohren, seinen Versuchsballon ab: „… und am Nachmittag hast du im Park deine Schau abgezogen! Beinahe hätte ich es dir geglaubt.“

Doch Lena blickte ihn erst verständnislos an, dann polterte sie los: „Aber wirklich nicht. Ihr könnt mir nicht alles in die Schuhe schieben. Gestern Nachmittag war ich bei meiner Tante Julia. Frag doch meine Eltern.“

Diese Antwort hatten David und Jonas nicht erwartet. Sie schauten sich überrascht an und setzten sich nachdenklich auf ihre Plätze.

„Und?“, meinte David, „was sagst du jetzt?“

„Weiß nicht! Echt neue Situation. Muss erst nachdenken.“

„Hm!“, sinnierte David.

„Glaubst du, sie hat die Wahrheit gesagt?“, überlegte Jonas.

„Vielleicht.“

Genau drei Tage überlegten die beiden Freunde. Ohne Ergebnis. Sie hatten noch immer keine Ahnung, mit welchem Trick sie Lena hereingelegt hatte. Das dumme Gefasel von Kaluga schien ihnen vollkommen abwegig. Sie waren noch immer überzeugt, dass Lena dahintersteckte, obwohl sie es strikt von sich gewiesen hatte. Denn Lena hatte immer wieder unglaubliche Ideen. Sie war in der Klasse dafür bekannt, Dinge zu tun, die sich andere Schüler niemals trauen würden, schon gar nicht der hochanständige Moritz. Die Kröte in einer grünen Schachtel mit Schleife auf Frau Bochsauers Tisch gehörte dazu, genauso wie ihr sorgfältig geplanter Aufschrei während des Unterrichts, als in Sandras Haar angeblich eine Vogelspinne herumkrabbelte. Doch noch nie hatte sie etwas Übersinnliches zustande gebracht.

„Du kannst mir viel erzählen. Aber so schlau ist Lena wirklich nicht“, brummte David. „Einen derart raffinierten Trick hat die niemals drauf. Das wäre hohe Zauberschule.“

„Ach was!“ Jonas schüttelte den Kopf. „Ich kann mir das vielleicht schon vorstellen. Sie ist ausgefuchst. Sehr sogar.“

„Kann schon sein“, stimmte David zu. „Bei Lena musst du immer auf der Hut sein. Manchmal hast du einen Gedanken noch nicht mal ausgesprochen, quasselt sie schon mit, als wäre es ihre eigene Idee gewesen.“

„Schoooon“, zögerte Jonas, „doch damit kannst du dich nicht unsichtbar machen.“

David zuckte mit den Schultern: „Tja. Stimmt auch wieder!“

Jonas ließ nicht locker: „Was glaubst du, wie lange Lena an diesem Trick geübt hat?“

David schüttelte den Kopf. „Das ist bestimmt sauschwer …, aber, weißt du was?“, schlug er schließlich vor, „wir reden mit Lena ganz offen über die Sache.“

„Dann weiß sie auf der Stelle, dass wir völlig im Dunkeln tappen und lacht sich halb krank“, meinte Jonas. „Ich blamier mich nicht so gerne. Erst recht nicht vor Lena!“

„Denkst du vielleicht ich?“ Auf Davids Stirn bildete sich eine steile senkrechte Falte, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte. „Wir kommen doch keinen Schritt weiter.“

„Schon, aber …“

„Was heißt aber?“

„… aber heißt aber!“

„Na super, darauf wäre ich nie gekommen. Trotzdem! Wir gehen einfach raffiniert vor, genauso, wie es Lena immer fertigbringt. Das kriegen wir doch hin, oder?“

David wollte sich von seiner Idee nicht mehr abbringen lassen. „… und wir lassen uns von ihr nicht aufs Glatteis führen.“

„Meinetwegen“, knurrte schließlich Jonas. Er war jedoch nicht so sehr überzeugt. „Wir können es ja mal versuchen.“

„Okay“, schnaufte David. „Sie soll uns morgen auf unserem Heimweg begleiten.“

„Und …?“

„Und was? Wir sehen dann weiter“, entschied David, „ich mach das schon!“

Kurz bevor zum Schulschluss alle Schüler aus dem Schulgebäude stürmten, rumpelte David mit Lena zusammen. Richtig zufällig war das nicht. Geschickt hatte er in dem Augenblick einen Haken nach rechts geschlagen, als Moritz ihm verträumt entgegenstolperte und sich Lena genau auf gleicher Höhe befand.

„He, David“, Lena zuckte zurück, „mach deine Augen auf.“

„Tschuldige Lena, das wollte ich wirklich nicht.“ David konnte ein überraschtes Gesicht aufsetzen, wenn er wollte. So wie gerade jetzt.

„War gerade ganz tief in Gedanken“, murmelte er.

„Ganz tief? Warum denn?“, antwortete Lena. David hatte richtig kombiniert. Lena wollte immer alles wissen.

„Ach …, so eine merkwürdige Sache. Kann ich nicht mit einem Satz erklären.“ David schielte zu Lena und beobachtete heimlich die Wirkung seines Satzes.

„Geht’s denn mit zwei Sätzen? Oder ist es ein Geheimnis?“, antwortete sie. David hatte damit gerechnet, dass Lena weiter fragen würde.

„I wo …, ist wirklich kein Geheimnis, äh, …, eigentlich ist es doch eins …, aber dir gegenüber nicht …, wäre auch blöd …“, murmelte David und überlegte dabei jedes einzelne Wort. „Ich erzähl’s dir unterwegs, wenn du willst.“

„Aber hallo“, Lena redete nicht nur schnell. Jetzt bestätigte sich wieder, dass sie auch eine Schnelldenkerin war. „Ihr erzählt mir doch sonst keine Geheimnisse. Emily und ich haben uns schon oft gewundert, warum ihr uns aus dem Weg geht.“

„Warum sollten wir?“, antwortete David scheinheilig.

„Was weiß ich?“ Lena war offensichtlich misstrauisch geworden. David war klar, dass er ab sofort noch geschickter vorgehen musste, um das mit Jonas vereinbarte Ziel zu erreichen. Deshalb sagte er beiläufig: „Musst ja nicht, wenn du nicht magst.“

„Doch, klar mag ich. Ich sag Emily nur noch schnell ‚Auf Wiedersehen‘. Ihre Mutter holt sie heute ab.“

„Also dann“, David nickte bewusst gelangweilt und folgte Jonas. Als er ihn eingeholt hatte, sagte er: „Es klappt. Sie kommt gleich, Emily wird heute von ihrer Mutter abgeholt, da kann die uns nicht dazwischenfunken.“

Wie immer schlenderten sie gemütlich dahin. Schon an der übernächsten Straßenecke keuchte Lena hinter ihnen her.

„Warum rennt ihr denn so?“ Sie war ziemlich außer Atem.

„Langsamer können wir nicht“, murmelte Jonas mit einem pfiffigen Seitenblick zu David.

Lena japste noch vor Anstrengung und wischte sich mit der Hand über die Stirn: „Lasst mich ausschnaufen, dann bin ich ganz Ohr.“

„Wusste gar nicht, dass du nicht gleichzeitig hören und atmen kannst“, feixte Jonas.

„Schon wieder ekelhaft, Jonas?“, reagierte Lena.

„Ich kann euer dummes Gequake nicht leiden.“ David machte ein ärgerliches Gesicht. „Jonas hör auf, ich möchte mit Lena was sehr Wichtiges besprechen.“

„Na bitte“, spielte nun Jonas den Beleidigten, „hier ist nicht mal ein harmloser Witz erlaubt.“

„Ein seltsamer Witz“, hakte Lena nach.

David wusste nicht, wie er dieses heikle Thema beginnen sollte. Nach einigen Schweigesekunden meinte Lena: „Ist aber sehr interessant, was du da mit mir besprichst, David.“

„Ich habe doch noch gar nichts gesagt.“

„Ach, tatsächlich?“

„Hast du es denn so eilig?“

„Überhaupt nicht“, grinste Lena. „Von mir aus kannst du so langsam denken wie in der Schule.“

David beschloss, darauf nicht zu antworten, sondern versuchte, einen Volltreffer zu landen. Glaubte er wenigstens: „Nun Kaluga, jetzt sprechen wir über unsere wichtige Angelegenheit.“

Lena drehte sich verdutzt um und peilte nach hinten: „Ist denn hier noch jemand?“

Überrascht antwortete Jonas: „Wir dachten, du kennst den Namen.“

„Wie kommst du darauf?“ Lena machte ein derart verständnisloses Gesicht, dass sich die beiden Jungen ratlos anstarrten.

Lena bemerkte es: „Ist was mit euch?“

Jonas stotterte ziemlich dumm: „Woran denkst du, wenn du … zum Beispiel den Namen Kaluga hörst?“

„Natürlich an nichts. Ich hör den Namen zum ersten Mal“, wunderte sich Lena. „Ihr wollt mir eine Falle stellen!“

„Würdest du dich gerne unsichtbar machen können?“, redete David weiter.

„Klar“, nickte Lena verwundert, „das möchte jeder gerne. Du etwa nicht?“

„So kommen wir nicht weiter“, antwortete David.

Jonas gab sich einen Ruck: „David …, vielleicht ist es besser, wenn wir Lena reinen Wein einschenken. Oder meinst du, dass es zu gefährlich ist?“

„Ich glaube nicht“, entschied David.

„Wieso reinen Wein? Ich versteh gar nichts mehr“, Lena blieb stehen.

„Also gut, Lena“, fuhr David fort, leider mit einer total unsinnigen Feststellung: „Du bist uns neulich erschienen.“

Erst blickte sie David regungslos an, dann Jonas. Schließlich schüttelte sie ein Lachanfall. Sie hüpfte von einem Bein aufs andere: „Mann …, David …, du bist ja ein richtiger Komiker, … erschienen …, ich bin euch erschienen. Im Traum? Hoffentlich kein Albtraum?“

„Wenn du mit deinem blöden Gegacker vielleicht mal fertig bist, können wir ernsthaft weiterreden“, unterbrach Jonas sie mit eisiger Stimme.

„Lasst mich erst noch zu Ende lachen.“

Als Lena die verärgerten Blicke der Jungen sah, beruhigte sie sich auf der Stelle: „Also gut. Bitte weiter.“

Sie hatte noch immer Mühe, sich zu beherrschen.

David erkannte, dass Lenas ernste Miene nicht lange anhalten würde, deshalb sagte er schnell: „Nur, weil ich ein dummes Wort gewählt habe, drehst du durch. Jetzt pass auf. Du bist plötzlich neben uns aufgetaucht. Wie aus dem Boden gewachsen. Als wir dich ansprachen, sagtest du: ‚Ich heiß nicht Lena, sondern Kaluga‘.“

„Soll ich gesagt haben?“, zweifelte Lena.

„Klar. Deswegen reden wir doch mit dir darüber“, meinte Jonas.

„So was Verrücktes“, murmelte Lena unsicher, „… und was soll das bedeuten?“

„Wissen wir noch nicht“, Jonas zuckte die Schultern.

„Wenn ich es noch mal probiere?“, zögerte David.

„Du meinst …, obwohl es ein Geheimnis ist?“, antwortete Jonas.

„Ist mir jetzt egal. Ich muss das wissen“, entschloss sich David und hatte auch schon sein Handy in der Hand. Natürlich war es eingeschaltet. Mit dem Daumen drückte er die Rautetaste, einmal lang und zweimal kurz. Gespannt beobachtete er das Display und Jonas machte einen langen Hals.

Es passierte nichts.

Lena verzog wieder ihr Gesicht zu einem Grinsen: „Na, war wohl nichts mit eurem Geheimnis?“

„Versteh ich nicht“, murmelte David.

„Ihr wollt mich auf den Arm nehmen. Habe ich mir gleich gedacht“, sagte Lena. „War aber ganz nett eingefädelt. Vielleicht ein wenig einfältig.“

„Nein, ganz bestimmt nicht“, schüttelte Jonas entschieden den Kopf.

Seit einigen Sekunden lief ein mittelgroßer schwarzer Hund neben ihnen her. Bisher hatten sie ihn nicht so richtig bemerkt. Lena schaute sich suchend um: „Na, wo kommst denn du her, so ganz allein ohne Frauchen? Wie heißt du denn?“

„So eine dumme Frage“, knurrte Jonas. „Seit wann reden denn Hunde?“

„Ach du!“, ärgerte sich Lena.

Der Hund suchte Davids Nähe. Plötzlich fing er an zu sprechen, ziemlich verständlich: „Warum drückst du die Raute, wenn ihr beide nicht allein seid?“

Alle drei erstarrten.

In Davids Gehirn rasselte es. Blitzschnell antwortete er: „Wer bist du?“

„Ich sag’s dir jetzt zum letzten Mal. Ich bin Kaluga“, antwortete der Hund, von seinen Lefzen tropfte Speichel.

In Davids Kopf zuckten verschiedene Blitze: „Die letzten beiden Male hast du ausgesehen wie Lena. Deswegen haben wir sie gefragt, warum sie plötzlich Kaluga heißt. Verstehst du das nicht?“

„Na gut“, antwortete der Hund Kaluga, „Lena ist pfiffig, ich kenne sie gut. Von mir aus darf sie auch mitmachen.“

Lena hielt seit geraumer Zeit den Atem an: „Ich glaub es nicht! Der Hund spricht!“

Jonas wollte den Hund Kaluga über das Fell streicheln. Er fasste jedoch ins Leere, als wenn der Hund eine Fata Morgana wäre. Er blieb wie angewurzelt stehen und hielt erschrocken die Hand vor den Mund.

Kaluga meinte: „Also dann. Ihr hört von mir.“

Alle drei starrten den Hund an, der nun angeblich ebenfalls Kaluga hieß, und sahen überdeutlich, wie er langsam, ganz langsam durchsichtig wurde und schließlich verschwand.

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll“, stöhnte Lena, „ich bin einfach sprachlos.“

„Bestimmt zum ersten Mal“, feixte Jonas. Lena überhörte es.

„Und was passiert beim nächsten Mal“, wollte Lena wissen.

„Wie meinst du das?“, fragte David.

„Der merkwürdige Hund hat doch gesagt: ‚Ihr hört von mir‘.“

„Keine Ahnung“, antwortete David.

„… und bei was darf ich mitmachen?“, wollte Lena wissen.

David und Jonas wussten auch auf diese Frage keine Antwort.

Die drei stierten noch lange auf jenen Punkt, an dem sich das merkwürdige Wesen in Luft aufgelöst hatte.

KAPITEL DREI

Es dauerte lange, bis sich ihre Betroffenheit über den sprechenden Hund löste. Lena bewegte sich zuerst. Sie schaute zuerst nach links, anschließend nach rechts, nach ein paar weiteren Sekunden drehte sie ihre linke Hand hin und her, als wollte sie ihre Körperfunktionen überprüfen, und schaute dabei sehr kritisch. Schließlich fasste sie sich entsetzt an den Mund. Nach einer weiteren Schrecksekunde öffnete sie den Mund einmal, zweimal, dreimal, ohne auch nur einen einzigen Ton herauszubringen. Schließlich schüttelte sie sich und sagte mit fester Stimme: „Warum guckt ihr mich denn so blöd an?“

Jonas schnaufte tief und schüttelte den Kopf: „Lena …!“

Mehr brachte er nicht über die Lippen.

„Endlich glaubst du uns …“, knarrte David, „… und dann stell dir unsere Überraschung vor: Du stehst uns gegenüber statt eines sprechenden Hundes. Dann behauptest du auch noch, dass es nicht wahr sei. Kein Wunder, dass sogar wir mit unserem Wissen am Ende waren.“

Lena blickte David erst kritisch an. Ganz sicher lag ihr eine böse Bemerkung auf den Lippen. Schließlich schüttelte sie den Kopf: „Was machen wir jetzt?“

In ihrem Gehirn schien es heftig zu arbeiteten. Sie klopfte nervös mit zwei Fingern der linken Hand auf ihre Schultasche.

„Nichts“, antwortete David, „wir können doch nichts tun.“

„Mann, seid ihr vielleicht langweilig! Wollt ihr jetzt lahm herumsitzen und Löcher in die Luft starren? Da mach ich nicht mit!“

Das war wieder die alte Lena.

„Nein, liebe Lena“, beruhigte Jonas, „erst denken, dann handeln. Schließlich wollen wir keine Fehler begehen. Wir machen das immer so.“

„Mein Gott, Jungens! Ihr wollt doch mal Männer werden!“, stöhnte Lena. Sie drehte sich um, setzte sich in Bewegung und sauste los: „Damit ihr’s wisst! Ich besprech‘ das auf der Stelle mit Emily.“

„Nein!!! Das darfst du nicht“, erschrak David. „Lena, hörst du, das darfst du wirklich nicht. Komm zurück.“

Zu spät. Lena hatte ihre Ohren bereits auf Durchzug geschaltet. Wie ein Wirbelwind verschwand sie.

„Verdammt!“, knurrte Jonas bitter, „das hätten wir uns denken können. Lena und ein Geheimnis für sich behalten. Da lachen ja die Hühner.“

Am Abend hatte David Glück. Sein Vater kam früher als üblich nach Hause. Er arbeitete gerade an einem schwierigen Kriminalfall. Er war keinen einzigen Schritt weitergekommen. Deswegen hatte er alles stehen und liegen gelassen und sich auf den Heimweg gemacht. Morgen wollte er die Sache frisch angehen. Manchmal erzählte er zu Hause über seine Fälle. Mutter konnte prima zuhören, David weniger.

An diesem Abend wollte Vater nichts von seiner Arbeit wissen und redete über belanglose Dinge. Das war eine günstige Gelegenheit. Seit David Englischunterricht hatte, nannte er seine Eltern Mom und Dad. Das hatte er in einer Fernsehserie gesehen. Er fand diese Anrede ziemlich cool. Erst zögerte er noch einen Augenblick, doch dann entschloss er sich zu fragen: „Kann jemand einfach verschwinden, Dad?“

Der Vater stutzte und blickte David irritiert an: „Klar, weißt du doch. Meine Verbrecher hauen immer wieder mal ab. Manche werden später gefasst, andere bleiben verschwunden. Dann findet sie oft kein Mensch mehr, sind einfach weg. Wieso fragst du?“

„Nein, nein“, schüttelte David den Kopf, „so mein ich das nicht.“

„Sondern?“

Plötzlich fühlte sich David nicht sehr wohl, seine Frage erschien ihm auf einmal idiotisch: „Ich meine anders. Du schaust einen Menschen an, auf einmal ist er weg.“

Der Vater grinste: „Also …“, antwortete er gedehnt, „also solche Typen gibt’s bei uns nicht. Unsere Verbrecher möchten das manchmal wirklich gerne. Ähh, wie wär‘s denn mit einem Zauberer. Ja, die können so manches!“

David beschloss, seinen Mund zu halten und erst einmal mehr über Kaluga herauszufinden.

Kurz vor Schulbeginn stürmte Emily, gefolgt von Lena, ins Klassenzimmer. Emily landete mit einem geschickten Satz auf ihrem Stuhl und grinste zu David und Jonas rüber. Sie wusste also etwas. Als Lena an David und Jonas vorbeisauste, zischte sie ihnen kurz zu: „Emily ist einverstanden. Sie macht mit und hat eine prima Idee.“

„Du bist verrückt, Lena.“ Jonas konnte sich nicht beherrschen. Mehrere Schüler hatten es gehört und drehten sich neugierig um. Johannes, der Lena weniger leiden konnte, grunzte vergnügt: „Ein wahres Wort, jawoll“, dabei nickte er vielsagend.

Frau Bochsauer hob den Kopf, nachdem sie ihr Klassenbuch sorgfältig umgeblättert und die Seite glattgestrichen hatte: „Jonas!!!“

Jonas zog den Kopf ein. Er hätte es gerne überhört, es nützte jedoch nichts.

„Jonas!!!“ Sie gab nicht auf.

„Ja, Frau Bochsauer.“

Es blieb ihm nichts Anderes übrig, deshalb antwortete er besonders freundlich, in der Hoffnung, dass es sich um etwas anderes als seine ungeschickte Bemerkung handelte. Irrtum.

„Warum ist Lena verrückt?“

David tuschelte ihm zu: „Sag nichts.“

Johannes grinste gemein und meinte leise: „… weiß doch hier jeder.“

Jonas stotterte: „Wieso …, also …, der Johannes …“

Alle lachten, am lautesten Tessa.

„Ich hätte es ebenfalls gerne gewusst, Jonas. Und zwar von dir! Bitte klär mich auf.“ Frau Bochsauer war manchmal richtig ekelhaft.

„Sag’s doch“, raunte ihm Johannes zu, „sei kein Feigling.“

„Ich warte“, erinnerte ihn Frau Bochsauer.

„Sag irgendwas“, flüsterte David.

„Also …“, begann Jonas. „… ich meine nur …, weil sie sich mit Sandra am Josefplatz so laut gestritten hat. Viele haben es gesehen, ich auch. Sogar meine Mutter hat sich gewundert.“

„Sehr gut“, flüsterte David, ohne die Lippen zu bewegen.

Johannes zischte: „Feigling!!!“

Die Mädchen begannen, diese Bemerkung lauthals als faule Ausrede zu kommentieren.

Tessa schüttelte den Kopf: „Ich habe das vorhin ganz anders gehört!“

„Ganz schön gemein“, kritisierte Emily.

Lena setzte sofort ihr beleidigtes Gesicht auf. Sandra hatte sich entschlossen, wegzuhören, sie überprüfte noch einmal blitzschnell ihre Hausaufgaben.

Clarissa spitzte verächtlich die Lippen: „Das ist wirklich nicht mein Stil.“

Frau Bochsauer blickte Jonas kritisch an: „Ach, das meinst du?“

Jonas hatte den Eindruck, dass sie ihm diese Ausrede nicht glaubte. Sie konnte es jedoch nicht beweisen. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und war froh, als Johannes murmelte: „Hör doch mit den ollen Kamellen auf. Das ist ja schon Tage her.“

„Klar“, antwortete Jonas. „Frau Bochsauer wollte es aber jetzt wissen.“

Während der Pause steckten sie die Köpfe zusammen und diskutierten: Lena, David und Jonas. Schließlich schob auch Emily ihren Kopf dazwischen.

Lena war ziemlich nachtragend und legte sofort los: „Damit du es weißt, Jonas: Ich bin nicht verrückt. Ich wollte aber nicht vor der ganzen Klasse ein Theater machen! Es reicht, wenn du dich nicht beherrschen kannst.“

„Wieso hast du Emily eingeweiht? Das war nicht ausgemacht“, schimpfte Jonas, „wenn jetzt Kaluga verärgert ist, dann …“

„Mann, du spinnst wohl“, zischte David entsetzt, „den Namen darfst du hier nicht nennen.“

„Musst dich nicht schon wieder aufregen. Hat doch sowieso keiner gehört“, schimpfte Jonas, „außer uns.“

David antwortete ärgerlich: „Wenn wir Pech haben, ist jetzt unser Geheimnis beim Teufel.“

„I wo, ist doch noch gar kein Geheimnis“, schüttelte Lena den Kopf. „Emily ist unser Schlaumeier, das geht schon in Ordnung. Drück doch die Rautetaste und frag nach.“

„Aber nicht hier“, erschrak David.

„Dann eben später. Ist doch mir egal.“

Lena war klar, dass sie zu weit gegangen war, sie wollte es jedoch nicht zugeben. Sie war froh, als die Glocke das Ende der Pause ankündigte, und eilte, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, so schnell wie möglich voraus. Als die Jungen das Klassenzimmer betraten, saß Lena bereits an ihrem Platz, mit dem Mathebuch in der Hand. Sie erweckte den Eindruck, als wäre sie vollkommen vertieft.

Wie erwartet schlossen sich auf dem Nachhauseweg Lena und Emily den beiden Jungen an. Jonas hatte vorgeschlagen, schneller als sonst zu gehen, damit es keine erneute Auseinandersetzung mit den Mädchen gab. Der Versuch misslang.

„Ihr habt es heute aber besonders eilig“, rief Lena, als die beiden Jungen gerade um die nächste Ecke flitzen wollten.

„I wo“, antwortete Jonas und blieb stehen, „eigentlich haben wir auf euch gewartet.“

David kicherte.

„Jetzt kannst du aber die Rautetaste drücken, David“, piepte Emily, „ich will Kaluga kennenlernen.“

„Ich weiß nicht, ob wir dich überhaupt aufnehmen dürfen“, maulte David.

„Lena hat mich gefragt, ob ich mitmachen will, und ich habe ja gesagt“, antwortete sie beleidigt.

„Lena hat nichts zu sagen. Das ist unser Geheimnis“, wollte Jonas nicht so schnell aufgeben.

„Ich habe schon was zu sagen“, schimpfte Lena, „Kaluga hat mich ausdrücklich aufgenommen.“

Emily jammerte: „Ihr könnt mich doch mitmachen lassen. Zu Hause muss ich immer alles Mögliche tun. Lauter unsinniges Zeug. Das ist manchmal die Hölle: ‚Hast du deinen Aufsatz fertig, Emily, zeig doch mal her.‘ ‚Deine Englischvokabeln, Emily, ich möchte dich abfragen.‘ ‚Wenn du fertig bist, kannst du den Müll runterbringen, Emily.‘ ‚Bedank dich bei Tante Marie für das schöne Geschenk, Emily.‘ ‚Pass auf deinen kleinen Bruder auf, Emily.‘“

„Sie hat’s wirklich nicht leicht“, nickte Lena und umarmte Emily freundschaftlich.

„Ist nicht unsere Schuld“, entgegnete Jonas.

„Jetzt hab dich nicht so“, maulte Lena. „Bis jetzt ist es noch nicht mal ein Geheimnis. Vielleicht ist alles nur heiße Luft.“

„… und Kaluga“, gab David zu bedenken. „Du warst dabei. War das vielleicht nicht geheimnisvoll?“

Lena wischte seine Äußerung mit einer Handbewegung zur Seite: „Vielleicht war das von euch irgendein raffinierter Trick. So richtig geglaubt hab ich das sowieso nicht.“

Jonas murmelte David zu: „… wir doch auch nicht.“

„Jetzt drück endlich“, beharrte Emily, „das dauernde Rumreden macht sowieso keinen Sinn.“

„Ich habe übrigens seit heute auch ein Handy.“ Grinsend zog es Jonas aus der Tasche, ein handliches Gerät mit lila Gehäuse.

„Das ist ja ein Mädchenhandy“, kicherte Lena.

„Du spinnst wirklich“, maulte Jonas. „Das ist total modern. Ich bin froh, dass ich es hab…, und es ist ganz neu“, und deutlich leiser fügte er noch hinzu: „… und ich finde es schön.“

Alle beobachteten gespannt, wie David auf die Raute seines Handys drückte: einmal kurz und zweimal lang.

Sie hielten den Atem an und verharrten. Es passierte nichts. Lena drehte sich suchend um: „Vielleicht kommt wieder der Hund.“

„Oder Lena Nummer zwei“, grinste Jonas.

Es kam jedoch niemand.

„Jetzt ist unser Geheimnis futsch“, schimpfte David, „… und du bist schuld, Lena.“

„Heul doch nicht gleich.“ Lena packte Emily am Arm und schob sie vorwärts. „Komm Emily, wir gehen, hier tut sich nichts mehr.“

Das Zwitschern kam vom nächsten Gartenzaun und wurde langsam verständlich: „Wieso seid ihr jetzt schon fünf?“

Sie schauten sich betroffen an. Emily drehte sich um: „Nanu, wer war denn das?“

Lena schaltete auf der Stelle: „Ich sehe aber nur vier.“

„Ich auch.“ David kratzte sich nachdenklich am Kopf.

Dann erreichten sie den Zaun, auf dem ein kleiner schwarzer Vogel saß, ähnlich einer Amsel. Mit stechendem Blick aus kleinen, flinken Augen beobachtete der Vogel die vier Schüler und bewegte den Kopf ruckartig hin und her. Selbst als sie direkt vor ihm standen, machte er keine Anstalten, wegzufliegen.

„Mehr als fünf geht nicht“, wiederholte er mit merkwürdig gurrender Vogelstimme.

„Wir sind doch nur vier“, entgegnete Jonas.

„Ich hab’s euch gesagt“, beharrte der Vogel.

„Ja, was denn?“ David gefiel dieses seltsame Gespräch überhaupt nicht. Er stellte sich direkt vor den kleinen Vogel, stemmte die Ellenbogen in die Hüften und fragte ziemlich unsinnig: „Wer bist du überhaupt?“

„Guten Morgen, David“, zwitscherte der Vogel.

„Vielleicht Kaluga?“

Was für eine dumme Frage. Lena verdrehte die Augen: „Mann, David!“

David gab nicht auf: „Ich will endlich wissen, was du uns gesagt hast! Hab’s immer noch nicht verstanden.“

„Na eben!“

„Hast du uns sonst nichts zu sagen.“ David war total genervt.

„Doch“, zwitscherte der Vogel, „wir reden über unser Geheimnis.“

„Wer ist wir?“, rief Lena.

Der Vogel antwortete nicht.

„Wann?“, wollte Emily wissen, „sag endlich, wann?“

„Bald!“

„Warum nicht gleich?“ Lena wurde nervös.

Wieder keine Antwort. Die Amselart breitete ihre Flügel aus und flog davon.

„Ganz normal, versteht ihr!“, urteilte Emily, „eine ganz normale Amsel. Das ist alles. Macht euch nicht verrückt.“

„… und seit wann sprechen Vögel?“, erwiderte Lena.

„Eben“, nickte Jonas.

Emily blieb stehen und fasste sich an den Kopf: „… Mann, ich bin vielleicht doof.“

Die Jungen grinsten.

KAPITEL VIER

David stapfte gedankenverloren die Treppe hinauf. Seine Eltern waren zu so früher Stunde von ihrer täglichen Arbeit noch nicht heimgekehrt. Er schloss die Tür auf und betrat sein Zimmer. Wie immer nahm er seine Hausaufgaben in Angriff. Schließlich knobelte er an der letzten Matheaufgabe. Vergebens. Kein Lösungsansatz in Sicht. David ärgerte sich, das passierte ihm selten. Da flatterte etwas hinter ihm. Erschrocken schoss er herum. Da saß ein Rabe auf seinem Bücherregal. In der linken Kralle ein Blatt Papier.

„Hallo David“, krächzte der Vogel.

„Du schon wieder?“, schimpfte David.

„Wer denn sonst? Hab doch mein Kommen angekündigt …“, der Rabe schlug mit den Flügeln.

„Da warst du aber eine Amsel. Wieso kommst du jetzt als Rabe?“

„Ist meine Sache.“

David maulte: „Bei mir kannst du ganz normal aufkreuzen. Hier sieht dich niemand. Ich weiß überhaupt nicht, wie du richtig aussiehst. Wenn du das lustig findest, bitte. Mir gefällt es überhaupt nicht. Meint Jonas auch.“

„Egal! Kümmere dich nicht darum.“

„Ich weiß nicht einmal, ob du Junge oder Mädchen bist.“

„Ja, ja!“

Warum gab ihm Kaluga keine richtige Antwort? Auf Davids Stirn zeichnete sich die ärgerliche Falte ab: „Was willst du überhaupt von mir? Du störst mich bei meiner Matheaufgabe. Komm später, wenn ich fertig bin“, brummte David. Er hatte noch immer keine Ahnung, wie er diese verflixte Aufgabe lösen sollte.

„Mein Geheimnis, verstehst du?“, gurrte der Vogel.

„Ich habe aber die Raute nicht gedrückt“, meinte David und stand unwirsch auf.

„Macht nichts, wir reden jetzt darüber. Sonst weißt du nicht einmal, warum ich überhaupt hier bin.“

David kratze sich nachdenklich an der Schläfe.

Der Vogel flatterte hoch, ließ über David sein Schriftstück fallen. Dann flog er zurück auf das Bücherregal. Das Blatt schaukelte genau auf Davids Schreibtisch. David hockte sich wieder auf seinen Stuhl und ergriff misstrauisch das Blatt. Es fühlte sich merkwürdig an, so ähnlich wie aus Pergament hergestellt. Die Oberfläche war rau. Auf der Vorderseite war eine Zeichnung, sah aus wie eine Medaille. Sie bedeckte die gesamte Seite. Die Zeichnung war bunt, in Farbtönen, die David noch nie gesehen hatte. Er drehte das Blatt um, die Rückseite war leer.

„Das soll ein Geheimnis sein?“, murmelte er.

Der Rabe bewegte sich nicht. Als David nach einiger Zeit noch immer starr auf die Zeichnung blickte, knarrte er: „Klar ist das ein Geheimnis. Mein Geheimnis. Guck nicht so dumm!“

„Was soll das überhaupt?“ David stand auf, ging auf den Vogel zu und blieb vor dem Bücherregal stehen.

„Hab ich doch gesagt“, antwortete Kaluga.

„Ich versteh’s aber nicht“, rief David wütend, „erklär’s mir endlich, Kaluga.“

„Das ist eine wichtige Urkunde“, antwortete Kaluga, „nur für dich. Ganz allein.“

„Eine Urkunde? Das soll eine Urkunde sein?“ David hob das Blatt hoch und fächerte damit vor dem Vogel. Ein paar Federn flatterten im Luftzug.

„Hör auf damit!“, reagierte Kaluga unwirsch. „Das ist meine Freundschaftsurkunde. Für dich!“

„Deine Freundschaftsurkunde? Ich versteh nur noch Bahnhof“, stöhnte David, „ich dachte, dass ich jetzt ein Geheimnis erfahre. Du verschaukelst mich.“

„Bei uns ist eine Freundschaftsurkunde ein wichtiges Dokument. Und ein großes Geheimnis. Bei euch nicht?“ Der Rabe schien unsicher.

„Ja …, nein …, das heißt, schon. Oder nein, ein Geheimnis ist das nicht. Ach, ich weiß es wirklich nicht“, zögerte David. „Bei uns darf jeder wissen, dass er der Freund eines anderen ist.“

„Und was ist, wenn er die Freundschaft bricht?“, wollte Kaluga wissen.

„Dann? Dann ist es aus mit der Freundschaft.“ David zuckte die Schultern, „… eben aus. Vielleicht bist du später traurig, vielleicht auch nicht. Jedes Mal anders.“

„Siehst du, David, so etwas gibt es bei uns nicht. Nie, nie, nie.“

Der Rabe flog auf den Schreibtisch und blickte David mit seinen scharfen Augen an. „Bei uns kann jeder über Freundschaft sprechen, das bedeutet noch nicht so viel. Wenn jedoch eine Freundschaftsurkunde übergeben worden ist – dann gilt sie bis …, bis …, bis …, also, wie lange, das sag ich dir ein andermal.“

„Von mir aus“, David beruhigte sich allmählich, „dann heb ich sie eben auf. Wie lange, sagst du mir ein andermal.“

Der Rabe klapperte mit dem Schnabel.

David wollte wissen: „Wann hast du eigentlich beschlossen, mich als deinen Freund auszuwählen?“

„Wann? Wieso fragst du?“, antwortete Kaluga.

„Weil ich es wissen will!“

„Das weißt du ganz genau!“, kam die merkwürdige Antwort.

„Eben nicht!“

„Dann denk nach“, kratzte der Rabe mit seinen scharfen Krallen unruhig hin und her, „hast du vergessen, dass dich mal ein Kampfhund zerfetzen wollte? Was glaubst du, wie du heute aussehen würdest, wenn …“

„… und was hat das mit dir zu tun?“ David schoss hoch: „Hattest du vielleicht die Hände im Spiel?“

„Rate mal, wer dich damals gerettet hat.“

„Aber nicht du!“ David wollte es nicht fassen.

„Wer denn sonst. Hast du denn noch andere Beschützer?“, krächzte Kaluga.

„Nein, solche nicht. Nein, habe ich wirklich nicht …“, antwortete David kleinlaut. „… und wie konntest du so schnell …?“

„Schnell? Schnell gibt’s bei uns nicht. Hab es gesehen …, und entschieden.“

„Aber du hattest doch nur eine Sekunde Zeit“, David wollte es nicht glauben. „In so kurzer Zeit kann doch kein Mensch …, äh ich meine …“

„Wir entscheiden sofort, wenn es dringend ist“, entgegnete Kaluga.

„Aber nicht in so kurzer Zeit!“

„Bei uns gibt’s das nicht, was ihr Zeit nennt.“

David saß einige Zeit still da und schüttelte immer wieder den Kopf. Wie oft hatte er sich gefragt, warum damals jener Hund mitten im Sprung tot zu Boden gefallen war. Seine Eltern hatten es ihm einfach nicht geglaubt und sogar Jonas schaute ihn lange nachdenklich an.

Schließlich schüttelte David die schrecklichen Erinnerungen von sich. Dann hatte er eine Idee: „Deine Freundschaftsurkunde, Kaluga. Gilt die auch jetzt schon?“

„Hab ich doch gerade erklärt.“

David war manchmal praktisch veranlagt: „Ja dann“, grinste er, „wenn du mein Freund bist, kannst du mir auch bei meiner Matheaufgabe helfen. Ich versteh nicht einmal die Aufgabe. Ist dir so was noch nie passiert?“

Kaluga, der Rabe, gab einen merkwürdigen, krächzenden Ton von sich und schlug nervös mit beiden Flügeln. Einige Blätter auf Davids Schreibtisch flatterten durch die Luft.

„Das hat überhaupt nichts mit Freundschaft zu tun. Vielleicht ist das eher das Gegenteil. Außerdem verstehe ich nichts von Mathe, ich weiß nicht einmal, was das ist.“

„Waaaaas?“, diese Antwort hatte David nicht erwartet, „du weißt nicht, was Mathe ist?“

„Sag ich doch.“

„Bist du denn nie zur Schule gegangen?“ David war restlos entsetzt.

„Das brauchen wir nicht. Warum sollte ich“, antwortete Kaluga.

„Das braucht ihr nicht? Und keine Ahnung von Mathe?“ David merkte, dass seine Fragen immer idiotischer wurden: „Dann bist du ziemlich dumm!“

„Bin ich nicht“, sein Ton wurde deutlich rauer, „keiner von uns ist dumm, merk dir das!“

David hob die Schulter und sagte ein wenig zerknirscht: „Entschuldige, Mann, ich wollte dich nicht kränken. Ich weiß ja eigentlich gar nichts von dir, nicht mal wo du herkommst.“

„Das würdest du sowieso nicht verstehen.“

Kaluga schienen Davids Fragen in eine unangenehme Richtung zu gehen. Er flatterte nervös in dem kleinen Zimmer herum und sagte: „Hör endlich auf, mir solche Fragen zu stellen. Die kann ich dir nicht beantworten. Darf ich auch nicht. Frag mich lieber etwas Anderes.“

Der Rabe flatterte noch immer aufgeregt durch das Zimmer.

David machte eine abwehrende Bewegung: „Mach nicht solchen Wind, du verwehst mir meine ganze Arbeit. Und wenn du mir bei meiner Matheaufgabe sowieso nicht helfen willst, kannst du auch wieder verschwinden. Ich muss weiterarbeiten. Außerdem versteh ich nicht, was deine Urkunde überhaupt bedeuten soll.“

Der Rabe saß wieder auf dem Bücherregal: „Jetzt pass einmal auf. Mein Teil unserer Freundschaft ist, dass ich immer weiß, wo du bist und was du tust. Tag und Nacht. Und wenn etwas Unerwartetes geschieht, wenn du meine Hilfe brauchst, wenn dir etwas zustößt, … dann bin ich bei dir.“

„Das klingt toll“, gab David zu, „dann muss ich dich doch gar nicht mit der Rautetaste rufen.“

„Wenn du mich brauchst, ruf mich. Ich kann dich überall beobachten, aber deine Gedanken kann ich nicht lesen.“

„Was ist denn mit meinen Freunden, ich meine hauptsächlich Jonas. Lena und Emily sind sowieso nicht so richtig meine Freunde, die haben sich bei uns reingeschmuggelt, wegen dir“, meinte David offen.

Kaluga antwortete: „Die können mich nicht rufen, auch wenn sie auf die Rautetaste ihrer Handys drücken. Aber ich pass auf sie ebenfalls auf. Das gehört zu meiner Freundschaft dir gegenüber.“

Er flatterte wieder auf Davids Schreibtisch und hockte nun direkt vor ihm, Auge in Auge.

David war irritiert: „Ich hätte noch andere Fragen, aber du machst mich nervös, wenn du immer in meinem Zimmer rumfliegst.“

„Ich habe jetzt alles gesagt. Heb meine Freundschaftsurkunde gut auf.“

Plötzlich war er verschwunden. Zwei kleine schwarze Flaumfedern schwebten zu Boden und lösten sich allmählich in Luft auf.

David blickte lange Zeit vor sich hin. Ins Leere. Dieses merkwürdige Gespräch musste er erst einmal verdauen. Wieso bietet ihm ein Vogel, der vorher als Lena oder als Hund oder Amsel auftaucht, eine Freundschaft mit Urkunde an. Und nicht nur ihm, sondern auch Jonas. Sogar Lena und Emily. Nur er, David, könne ihn per Handyraute jederzeit rufen. Was sollte das alles? Wie konnte das Wesen, das angeblich Kaluga hieß, in immer andere Menschen oder Tiere schlüpfen und zu ihm sprechen. Dann wieder behauptet er, von Mathe keine Ahnung zu haben. Andererseits will er alles wissen und sehen, kann jedoch nicht einmal bis vier zählen. Ob das nicht nur ein oberfauler Trick ist? Aber was steckt dahinter?

Er versuchte, seine Gedanken, die immer wieder ins Leere führten, abzuschütteln. Vergeblich. Er las die schwierige Matheaufgabe zweimal, dreimal und verstand sie danach erst recht nicht. Er merkte sogar, dass sich seine Augen nur automatisch über den Text der Aufgabe bewegten, ohne auch nur ein einziges Wort aufzunehmen. Er war ziemlich verzweifelt und beschloss, Jonas anzurufen.

„Hi, Jonas.“ Nach dem dritten Klingelton war der bereits am Apparat. „Hast du schon Mathe gemacht?“

„Klar, wieso fragst du?“

„Weil ich die letzte Aufgabe nicht verstehe“, das war David ziemlich peinlich.

„Hör mal“, antwortete Jonas, „die ist doch babyleicht. Ist was mit dir?“

„Schon“, zögerte David, „ich hatte gerade Besuch und jetzt bin ich total verwirrt.“

„Verwirrt? Warum?“

„Kaluga war bei mir“, sagte David vielversprechend. „Wenn du zu mir kommst, zeig ich dir, was er gebracht hat.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752118360
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Schule Geheimnisse unmöglich Gefahren Freundschaft merkwürdiger Rabe Rettung Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • Ben Lehman (Autor:in)

Ben Lehman kommt aus dem Bayerischen Wald und lebte in München. Seit zehn Jahren ist der Starnberger See seine neue Heimat. Der Informatiker arbeitete als Programmierer und Systemanalytiker, auch in internationalen Unternehmen in New York und Northampton. Sein erfolgreiches Softwarehaus wurde vor einigen Jahren veräußert. Danach begann er seine ehrenamtliche Tätigkeit für die Peter-Ustinov-Stiftung bis zu dessen Tod, Schwerpunkt die Organisation der Peter-Ustinov-Mädchenschule in Afghanistan.
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Titel: Kaluga