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Der fantastische Kron

von Ben Lehman (Autor:in)
164 Seiten
Reihe: Die Alfas, Band 3

Zusammenfassung

Die jungen Alfas kommen aus dem Internat zurück in die Ferien und treffen wieder ihren Freund Josef. Doch das erste Treffen verläuft nicht gut, Josef bringt Philip, Ricky und Julia ganz schön in Erklärungsnot ihren Eltern gegenüber und die Alfaorganisation in Gefahr. Josef behauptet allen Ernstes, die Drei würden mit dem alten Lex unter einer Decke stecken, wegen eines mysteriösen Banküberfalls, der wie durch ein Wunder im Handumdrehen beendet wird. Die Tatsache jedoch, dass nur der alte Lex und sein Hund Rex in der Bank waren, gibt allen ein Rätsel auf. Nicht auszudenken, wenn auffliegt, wer der alte Lex wirklich ist! Die gesamte Alfaorganisation würde mit auffliegen! Und Alfas operieren natürlich nur im Geheimen. Nur so können sie selbst die größten Aufgaben lösen. Damit wäre dann Schluss! Zusätzlich taucht auch noch Jordan mit neuen Informationen auf: Im Bavaria gibt es viele Veränderungen, zum Beispiel den merkwürdigen Zwerg Prof. Tips, den AK2 und Engoal.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum:

Texte: © Copyright by Ben Lehman
Umschlag: © Copyright by Ben Lehman
Verlag: Ben Lehman

Waldstraße 32
82335 Berg
mail@benlehman.de

2.

Einst war es die große Liebe. Miriam und Markus lernten sich an ihrem Arbeitsplatz während eines pompösen, jedoch vor der Öffentlichkeit verborgenen Sommerfests so richtig kennen. Ihr Arbeitgeber, die international bekannte und weltweit operierende Harras-Bank mit Hauptsitz in München, ließ sich solche Events, die zweimal im Jahr stattfanden, eine stattliche Menge der unbegrenzt verfügbaren Kohle kosten. Man wusste warum. Solche Veranstaltungen schweißen Mitarbeiter langfristig mit dem Arbeitgeber und auch untereinander zusammen.

Miriam war Informatikerin, außerordentlich begabt und kannte sich im internationalen Zahlungsverkehr bestens aus. Sie entschied, welche Software im Bankhaus angeschafft oder sogar entwickelt werden musste, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. Auf ihre Empfehlung vertraute man auch in allerhöchsten Kreisen, bis hin zum Vorstand.

Markus war auf seinen gefragten Job wahnsinnig stolz. Er war Investmentbanker und kannte sich an Börsenplätzen der ganzen Welt fast so gut aus wie in seiner Westentasche. Er kaufte und verkaufte ohne Limit für sein Bankhaus unzählige Aktien, Optionen, Derivate und vieles mehr und entwickelte sogar neue Anlageprodukte für die rapide steigende Zahl der finanziell gut bis sehr gut ausgestatteten Kunden. Solche Geschäfte brachten seinem Arbeitgeber, wenn sie denn gut liefen, in der Regel fantastische Renditen ein. Markus wurde von anlagegeilen Kollegen gerne mit einem Schulterklopfen begrüßt: „He Mark, wie geht’s? Haste mal ‘nen heißen Tipp für mich?“

Nicht selten flüsterte er zum Beispiel einen interessanten Aktientitel zurück, der gerade kurz vor einer Übernahme stand, dessen Unternehmen ein Aktiensplit vorbereitete oder ein voraussichtlich extrem renditestarkes Medikament zulassen wollte.

„Aber nicht rumposaunen, sonst ist die Luft schnell raus“, rief er noch hinterher, bevor der andere eilig die Kurve kratzte.

Miriam und Markus kannten sich natürlich vom Sehen her lange vor dem Fest. Aus Zeitgründen war es bis dahin leider immer bei einem flüchtigen Hallo geblieben. Beide waren attraktive junge Leute mit moderner Ausrichtung. Nach einigen Tänzen an jenem Sommerfest wechselten die Gespräche schnell vom allgemeinen geschäftlichen Blabla zu persönlichen, später mehr und mehr vertraulichen Themen. Die entscheidenden ersten Sekunden des gegenseitigen Beschnupperns verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Tuchfühlung wurde enger und enger, der erste Kuss in einer etwas abgelegenen Ecke war noch prüfend, doch bald hatten sie nur noch Augen füreinander.

Nach wenigen Wochen beschlossen sie, es miteinander zu versuchen. Sie heirateten gerade mal drei Monate später. Es gab ein rauschendes Fest, bei dem zahlreiche Freunde sowie jede Menge netter Kolleginnen und Kollegen eingeladen waren. Zunächst wohnten sie beide noch in ihren eigenen kleinen Wohnungen.

Von den üppigen Provisionen, die Markus regelmäßig einsacken durfte, sowie Miriams stolzem Gehalt erwarben sie eine Wohnung in Münchens begehrtester Lage, in der Osterwaldstraße, mit direktem Blick in den Englischen Garten. Als sie einzogen, hing für sie der Himmel voller Geigen. Sie richteten ihre Wohnung sowohl modern, als auch feudal ein.

Die sechsundzwanzigjährige Miriam war nicht nur sehr intelligent, sondern auch eine korrekt und sorgfältig arbeitende Mitarbeiterin der Harras-Bank. Ihr Arbeitsstil war immer umsichtig und kontrolliert. Ihre Erscheinung war auch noch äußerst ansprechend. Sie war dunkelhaarig und trug eine moderne Kurzhaarfrisur, die immer perfekt saß. Das war für sie auch wichtig, da sie immer in Eile war und zu wenig Zeit hatte, um stundenlang vor einem Spiegel zu stehen. Auch aufgrund ihrer makellosen Züge, man könnte sagen goldener Schnitt, war sie ein echter Hingucker. Ältere Semester und junge Kollegen verdrehten regelmäßig ihren Kopf, wenn Miriam eiligen Schrittes, aber immer elegant, von einem Computerserver zum nächsten stöckelte.

Markus Deinreich war früher ebenfalls dunkelhaarig gewesen, leider verflüchtigte sich bereits in jungen Jahren seine Haarpracht immer mehr. Schließlich entschloss er sich zu einer radikalen Lösung und verabschiedete sich vom verbliebenen, schütteren Rest. Seitdem rasierte er regelmäßig nicht nur sein Gesicht, sondern auch die nachwachsenden Stellen des blanken Schädels. Zum Glück hatte er eine gefällige Kopfform. Wenn er im schwarzen Anzug, die Krawatte leicht auf Halbmast, an einem seiner Börsenrechner arbeitete, sah er mit seiner totalen Glatze wirklich ansehnlich aus. Manche Kollegin hatte mehr als ein Auge auf ihn geworfen. Seine überraschende Vermählung mit Miriam Meierhoff war für einige der Damen deswegen eine herbe Enttäuschung.

Wenn in Kollegenkreisen über M und M gesprochen wurde, wusste jeder, dass Miriam und Markus gemeint waren. Sie waren wegen ihres Wesens, ihrer bekannten Hilfsbereitschaft in geschäftlichen Notfällen und aufgrund ihres immer tadellosen Auftretens überall beliebt und gerne gesehen … und sie arbeiteten sich gerade in der Harras-Bank in einer steilen Karriere nach oben.

Nach der Hochzeit meldete sich bald Nachwuchs an, leider eine Zwangsunterbrechung, doch nur kurz. Das Kind, ein Mädchen, kam im Jahr darauf zur Welt. Sie nannten es, da beide global tätig waren, Malena, und riefen sie Sunny, ihr Sonnenschein. Das Kind war von Anfang an ihr ein und alles. Auch Markus nahm sich einige Monate Elternzeit, bis er vom zuständigen Vorstand, Dr. Mannheimer, dringend gebeten wurde, möglichst umgehend an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren, natürlich unter Übernahme aller Kosten durch die Bank für eine Nanni, gerne auch zwei. Also tauchte Markus wieder an seinem hektischen Arbeitsplatz auf, zog sein vornehmes schwarzes Jackett aus, krempelte die Ärmel hoch und kaufte und verkaufte wieder im Namen der Harras-Bank, was das Zeug hielt.

Nach sieben Jahren Ehe änderte sich einiges. Auch die Liebe hatte sich leicht abgekühlt. Miriam wunderte sich seit einiger Zeit, wieso Markus deutlich öfter als früher in London präsent sein musste. Als er eines Abends zu Hause noch schnell in die Dusche sprang, ließ er ungeschickterweise – ungeschickt wegen seiner ganz persönlichen Geheimnisse – sein Mobile auf dem Küchentisch liegen. Kaum hörte Miriam, wie die Tür zum Badezimmer einrastete, griff sie blitzschnell nach dem Telefon und schaffte es, die aktuellen Mails aufzurufen, bevor die automatische Sperre wirksam wurde. Und siehe da, der Grund vieler London-Aufenthalte hieß Carol. Die eindeutigen Mails erklärten alles.

Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung, mit klaren, unmissverständlichen Worten.

„Wie geht‘s eigentlich Carol?“, begann Miriam anfangs eher beiläufig.

„Ääähm, wie meinst du das?“

„Musst dich nicht verstellen, mein Lieber. Ich hab zufällig deine glühenden Mails gelesen.“

Markus knurrte böse: „Tja, dann weißt du ja alles. Dachte nicht, dass du so indiskret sein kannst.“

„Wer? Ich?“

Er schwieg, doch seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

Der nachfolgende heftige Streit endete mit dem Versprechen, dass Markus das Verhältnis zu Carol umgehend beenden würde.

Miriam sagte zuletzt: „Damit du dich darauf einstellen kannst. Beim nächsten Mal werde ich ohne eine weitere Szene zum Anwalt gehen.“

Leider kam es viel schlimmer. Markus musste angeblich weiterhin regelmäßig nach London reisen. Auch Miriam hatte weltweite persönliche Kontakte. Über solche geheime Drähte erfuhr sie von seinen wiederholten Treffen mit Carol in einem Londoner Luxushotel. Noch bevor sie den entscheidenden Schritt tat, bemerkte sie an ihrem Arbeitsplatz während des testweisen Einsatzes einer neuen Prüfsoftware geradezu Unglaubliches. Als Markus am nächsten Abend wieder zu Hause war, fragte sie ihn direkt und ohne Umschweife: „Kann es sein, dass du unerlaubt zockst?“

Sie kannte ihn gut genug und bemerkte, wie er leicht errötete, das geschah selten genug. „Wie meinst du das?“

„Genauso, wie ich es gefragt habe! Verzockst du heimlich das Geld unseres Arbeitgebers? Immerhin darfst du nicht auf Nahrungsmitteltermingeschäfte wetten!“

„Du bist ja verrückt! Lass mich mit diesen idiotischen Vorwürfen in Ruhe.“

„Ich werde dran bleiben, Markus!“

Wenige Tage später war es leider Gewissheit. Markus wurde zum Finanzvorstand Dr. Mannheimer gerufen. Nach wenigen Minuten kam er wieder heraus und war fristlos gekündigt. Der Schaden für die Harras-Bank belief sich auf etwa eine Milliarde Euro. Das musste natürlich geheim bleiben, um die Finanzmärkte nicht zu beunruhigen. Unter strenger Beobachtung eines Sicherheitsbeauftragten musste Markus auf der Stelle seine privaten Sachen zusammenpacken und wurde zum Ausgang begleitet. Damit war die hoffnungsvolle Karriere des Markus Deinreich beendet.

„Du hast unsere Ehe ruiniert und auch noch deine Karriere verspielt“, sagte Miriam am Abend mit versteinerter Miene, „ich werde für meine mit aller Kraft kämpfen. Bitte verschwinde umgehend aus unserer Wohnung.“

Am nächsten Tag reichte Miriam die Scheidung ein.

Markus verließ daraufhin, zuerst beleidigt, doch dann voller Scham die gemeinsame Wohnung und zog in ein Hotel. Später verlor sich für Miriam seine Spur.

Miriam dachte lange nach, wie sie ihr weiteres Leben als alleinerziehende Mutter bewältigen könnte. Schließlich beschloss sie, Sunny bei ihren Eltern in Pasing unterzubringen, um sich weiterhin mit vollem Einsatz ihrer Arbeit widmen zu können und ihren gehobenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Mutter war von Anfang an begeistert, der Vater fürs erste skeptisch, später liebte er die süße Sunny sehr. Von da an gehörten Miriams Wochenenden meistens ihrer Tochter ganz allein.

Nicht nur manchen Kollegen, auch Finanzvorstand Dr. Jörg Mannheimer gefiel Miriam ausnehmend gut. Nachdem er ihren Ehemann Markus wegen Betrugs gefeuert hatte, erfuhr er über die Personalabteilung, dass Miriam die Scheidung eingereicht hatte. Aus Mitleid, so beruhigte er sich, lud er Miriam eines Tages zum Abendessen in ein nobles Münchner Restaurant ein. Miriam konnte nicht ablehnen, als intelligente Frau ahnte sie natürlich den Braten, aber es handelte sich schließlich um einen der höchsten Bosse der Harras-Bank. Tatsächlich wurde es jedoch ein äußerst angenehmer Abend. Dr. Mannheimer war nett, witzig, amüsant und besonders aufmerksam. Er schlug eine Wiederholung ihres Treffens vor. Miriam konnte sein Werben wiederum nicht ablehnen.

Nach mehreren gemeinsamen Abendessen schaffte es Dr. Mannheimer eines Abends, Miriam in ihrer Wohnung zu besuchen, einen riesigen Blumenstrauß in der einen, eine Flasche edelsten Champagners in der anderen Hand. Kurze Zeit später hatte er sein Ziel erreicht: Miriam war seine Freundin geworden! Sunny fand er süß, wenn sie denn mal anwesend war.

Miriam besprach ihre schwierige Situation oft mit ihrer besten Freundin, Sandra Hofbauer.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll, Sandra. Natürlich ist er nett, aber viel zu alt für mich.“

Sandra verstand die Sorgen: „Du könntest doch eure Treffen nach und nach auslaufen lassen. Irgendwann begreift er bestimmt, dass du vor ihm deine Ruhe haben willst.“

„Hab ich schon versucht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du kennst doch Mannheimer, wenn der was will, setzt er es immer durch.“

„Und wenn du mit ihm offen redest? Oder wenn du ihm erklärst, dass du einen neuen Freund hast?“

„Leider geht das auch nicht. Hab ich schon mal angedeutet. Kannst du dir das vorstellen, dass ihm das völlig egal wäre? Er meint, dann müssten wir eben etwas sorgfältiger planen. Oder, falls der neue Freund mich eifersüchtig beobachte, könnten wir einfach unsere Nächte irgendwo in einem Hotel verbringen.“

„Also so was! Der hat aber wirklich keine Hemmungen!“

„Ich hab auch Angst. Wenn ich ihn fallen lassen, bin ich meinen Job los. Du weißt, wie sehr ich den liebe. Er könnte mich auch immer noch wegen Markus‘ Betrug vor den Kadi ziehen, du weißt schon, Markus und ich hatten keine Gütertrennung vereinbart. Tut er wahrscheinlich nicht, aber wer weiß schon, was in einem verletzten Gehirn so alles entstehen kann. Nein wirklich, Sandra.“

„Oh Gott, du bist wirklich nicht zu beneinden.“

Nach langem Gedankenaustausch beschloss Miriam, die weitere Entwicklung erst einmal auf sich zukommen zu lassen. Irgendwann würde sie vielleicht einen neuen Partner finden, oder auch nicht, in jedem Fall würde sie später weiter sehen. Bis dahin war Dr. Mannheimer, also Jörg, eine wertvolle private, wie auch berufliche Stütze. Was Miriam unangenehme Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass Jörg seit vielen Jahren verheiratet war und zwei Kinder hatte, bereits im Erwachsenenalter.

„Wenn die Kinder das rauskriegen“, meinte Sandra.

„Schlimmer ist es, wenn seine Frau davon erfährt. Ich schäm mich heute schon so sehr.“

„Aber dann wäre das Verhältnis wenigstens schnell beendet“, überlegte Sandra.

„Ich weiß mehr als du, Sandra. Mannheimer hat immer Freundinnen gehabt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass seine Frau das nicht längst ahnt …“

„… oder weiß und sich damit abgefunden hat.“

„Ja, auch möglich.“

3.

Bei der Mordkommission München in der Ettstraße, Abteilung K3, hatte es inzwischen einige Beförderungen gegeben. Hauptkommissar Sepp Wanninger war aufgrund besonderer Ermittlungserfolge Leitender Hauptkommissar, seine Assistenten und Mitarbeiter, die Inspektoren Lena Paulsen, Thomas Huber und Florian Moser, waren zu Oberkommissaren befördert worden.

Kurz, nachdem die Meldung eingegangen war, sausten sie mit Blaulicht los. Als Wanninger, Lena und Thomas in der feudalen Wohnung in der Osterwaldstraße eintrafen, waren die Spurensicherung, der Rechtsmediziner Dr. Heinrich Jablonka sowie einige seiner Mitarbeiter, die jeden Millimeter peinlichst untersuchten, bereits seit einiger Zeit tätig.

„Hallo Doc“, wunderte sich Wanninger, „ihr seid schon hier?“

Jablonka grinste: „Ja, wie du siehst. Wir sind eben von der schnellen Truppe.“

„So eilig haben wir es bei Mord nie. Aber schön, wenn ihr immer sofort aufkreuzt“, alberte Wanninger, „da können wir es gemütlicher angehen lassen.“

Dr. Jablonka wurde ernst: „Wir sind eben außergewöhnlich pflichtbewusst. Wir können nicht anders. Nützt zwar nichts, denn eine Leiche bleibt eine Leiche, egal wie schnell du am Tatort eintriffst. Nächstes Mal lass ich besser euch den Vortritt, mein lieber Sepp“, bemerkte er. „Die Zentrale hatte uns aufgefordert, sofort hierher zu kommen und unser übliches Werkzeug mitzubringen. Trotzdem mussten wir mindestens zwanzig Minuten warten, bis die angeforderten Spezialisten mit ihrem Dietricharsenal eintrudelten. Sie hatten dann trotzdem ihre liebe Not, die Tür zu öffnen. Es handelt sich hier um ein einbruchsicheres Spezialschloss. Wer hat euch eigentlich über den Mord informiert?“

Wanninger zuckte die Schultern: „Den Mord habt ihr festgestellt. Doch es wundert mich schon, dass ihr vor uns die Info erhalten habt. Zu uns wurde der Anruf einer Frau durchgestellt. Sie erklärte uns, dass sie diese … äääh“, er zog einen Zettel aus der Tasche, „Miriam Deinreich letzte Nacht nicht erreichen konnte, obwohl sie es immer wieder versucht hatte. Sie sei ihre beste Freundin und müsse angeblich ganz dringend etwas mit ihr besprechen. Auch Miriams Mutter hätte keine Ahnung, wo sie ist. Und da sie auch heute Morgen nicht am Arbeitsplatz erschienen ist, war sie total aufgelöst. Wir konnten sie kaum beruhigen, doch jetzt ...“

„Na ja, das könnt ihr ja in aller Ruhe nachholen“, grinste Jablonka. „Ist aber interessant, dass sie Frau Deinreich seit letzter Nacht nicht erreichen konnte. Deckt sich nämlich mit meiner vorsichtigen Schätzung, dass sie ungefähr seit Mitternacht tot sein muss.“

„War dieser eine Schuss tödlich?“, wollte Lena wissen.

„Ja, sieht so aus“, antwortete Dr. Jablonka. „Ich kann keine weitere Einschussstelle feststellen. Ihr müsst mir aber wenigstens bis morgen Zeit geben, ich beeile mich mit der Autopsie.“

„Also hat der Mörder sehr genau gezielt!“, sagte Lena.

„War doch ein Volltreffer aus nächster Nähe. Hatte wahrscheinlich nicht zum ersten Mal eine Pistole in der Hand.“

„Und? Die Tatwaffe?“, wollte Thomas wissen.

„Keine Ahnung“, Jablonka zuckte die Schultern, „hier ist sie jedenfalls nicht.“

„Gut, dann wollen wir mal loslegen“, nickte Wanninger seinen Mitarbeitern Lena und Thomas zu, während er sich die hauchdünnen Latexhandschuhe überstülpte.

Sie begannen systematisch jede Ecke und jeden Einrichtungsgegenstand zu untersuchen. Lena nahm sich den Kleiderschrank vor. „Was für eine ordentliche Frau“, murmelte sie nach wenigen Sekunden. „Da könnte ich mir ein Beispiel nehmen.“

„Ich hätte dich auch für ordentlich eingeschätzt“, grinste Thomas, der gerade die Türklinke mit einer Lupe überprüfte.

„Nicht mal halb so ordentlich“, reagierte Lena. „Schau dir das an. Wie mit einem Lineal ausgerichtet. Verheiratet scheint sie nicht zu sein, überhaupt keine Männerklamotten.“

Dr. Jablonka hatte mitgehört: „Am Türschild steht Miriam Deinreich. Ich frag mich, wie sich so eine relativ junge Frau diese sündhaft teure Wohnung leisten kann?“

„Nach Rotlicht sieht es hier nicht aus, oder Hobby“, bemerkte Thomas.

„Kann ich mir auch nicht vorstellen“, stimmte Dr. Jablonka zu. „Auf mich macht hier alles einen absolut ordentlichen und braven Eindruck.“

„Vielleicht arbeitet sie in einer hohen Position?“, überlegte Lena.

Thomas nickte zustimmend: „Ihre Freundin kann uns hoffentlich viel über sie erzählen.“

Inzwischen beschäftigte sich Wanninger mit dem kleinen Schreibtisch. Er hob den Inhalt des Ablagekorbs auf den Tisch und betrachtete jedes einzelne Blatt.

„Interessant“, er drehte sich zu seinen Kollegen um. „Seht mal her, was ich gefunden habe. Ein Foto von einem Mädchen, vielleicht 12 bis 13 Jahre alt.“

„Ja“, antwortete Thomas. „Sagte ich gerade. Ihre Freundin wird bestimmt verschiedenes aufklären.“

„Aha“, bemerkte Wanninger kurze Zeit später: „Eine ausgedruckte E-Mail …, Donnerwetter, der ist ganz schön verärgert.“

Lena und Thomas standen schon am Schreibtisch und reckten die Hälse.

„Hier“, Wanninger deutete auf das Schriftstück: „Miriam, du solltest dich wirklich schämen. Hast du deine eigenen Worte vergessen? Hätte ich von dir nicht gedacht. Pfui Teufel.“

„Kein Absender, keine Unterschrift. Vielleicht gesnipped und ausgedruckt“, sagte Thomas. „Wir nehmen den Computer mit, unsere Spezialisten werden den stinksauren Typen garantiert ermitteln.“

„Welchen Computer?“, fragte Wanninger, „ich sehe keinen.“

„Vielleicht in einem anderen Zimmer?“

„Hab schon nachgeschaut. Fehlanzeige!“

„Das wird unsere Arbeit nicht erleichtern“, murmelte Lena und schloss die Tür des Kleiderschranks. Anschließend verschwand sie im Bad und kam kurze Zeit später wieder heraus: „Da gibt es zwei Zahnbürsten und einen Rasierapparat. Sollte sich besser erst mal der Doc drum kümmern und auf Spuren untersuchen.“

„Wahrscheinlich ihr Freund“, vermutete Thomas, „war doch eine gut aussehende Frau. Ich schlage vor, sobald Doc Jablonka fertig ist, packen wir alles ein und besuchen die Freundin.“

Wanninger war einverstanden.

4.

Lena suchte die Telefonnummer von Sandra Hofbauer heraus, nach eigenen Angaben die beste Freundin der Ermordeten, und rief sie am Spätnachmittag an. „Grüß Gott, Frau Hofbauer. Hier Kriminalpolizei, Lena Paulsen“, meldete sie sich.

„Um Himmels Willen“, erschrak Frau Hofbauer, „wieso Kripo? Hoffentlich nichts Schlimmes mit Miriam.“

„Leider ja, Frau Hofbauer. Wir sollten uns treffen.“

„Was ist denn mit ihr?“ Sandra Hofbauer war entsetzt.

„Darüber würden wir gerne mit Ihnen persönlich sprechen. Sie ist leider tot.“

„Tot? Das kann nicht sein. Sie war doch bis gestern in Urlaub, da stirbt man doch nicht gleich.“

„Doch, leider ist es so. Wann können wir uns treffen?“

„Morgen? Vielleicht bei Ihnen?“

„Gerne, dann kommen Sie bitte morgen um 10 Uhr ins Polizeipräsidium in der Ettstraße. Fragen Sie beim Pförtner nach Lena Paulsen, ich werde Sie abholen. Auf Wiedersehen, Frau Hofbauer.“

Sie erschien am nächsten Tag pünktlich. Lena führte sie in das Besprechungszimmer, dort begrüßte sie auch ihr Kollege, Florian Moser: „Einen Kaffee, Frau Hofbauer?“

„Gerne“, nickte sie und nahm Platz.

„Also, wie gesagt, Frau Hofbauer, es tut uns schrecklich leid, Ihnen diese traurige Mitteilung machen zu müssen“, begann Lena.

„Ich kann es einfach nicht fassen.“ Sandra Hofbauer schüttelte immer wieder den Kopf. „Wer bringt denn so eine nette, so eine liebenswerte, so eine korrekte Frau um? Die hat doch niemandem irgendwas Böses getan.“

Florian stellte den Kaffee auf den Tisch: „Um den Täter zu finden, können Sie uns vielleicht wichtige Hinweise geben.“

„Schön wär‘s. So ein verdammtes Schwein“, fauchte Frau Hofbauer. „Doch ich fürchte, dass ich Ihnen überhaupt nicht weiterhelfen kann.“

„Sie sagten ‚so ein verdammtes Schwein‘? Denken Sie an einen Mann?“, hakte Florian nach.

„So einer ist doch ein Schwein, oder?“

„Haben Sie an eine bestimmte Person gedacht?“

Sie schüttelte traurig den Kopf: „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Und jetzt ist sie tot.“

Lena legte ihre Hand auf Frau Hofbauers Hände, die sie auf dem Tisch zusammengepresst verkrampfte: „Natürlich. Aber wir müssen jetzt viele Kleinigkeiten zusammentragen. Als Erstes möchten wir uns ein Bild von Miriam Deinreich machen. Irgendwo müssen wir ja beginnen und Sie, als ihre beste Freundin, können ganz sicher wichtige Details beitragen. Zum Beispiel, warum sie allein in der Wohnung lebte. Sie war ja bereits über dreißig, da ist so eine attraktive Frau meistens verheiratet oder hat einen festen Freund.“

„Oh je“, schnaufte Frau Hofbauer. „Da stechen Sie in ein echtes Wespennest.“

Florian hob aufmerksam den Kopf: „Sehr interessant. Wir sind äußerst gespannt. Bitte erklären Sie uns das Wespennest.“

„Tja, wo soll ich anfangen?“

„Im Augenblick interessiert uns alles“, antwortete Lena. „Am besten, von Anfang an.“

„Ach“, jammerte sie, „was war das mal für ein tolles Paar. Miriam und Markus. Ein echtes Trauerspiel.“

Frau Hofbauer erzählte, wie sich Miriam und Markus kennen- und lieben gelernt hatten, wie sie wenige Monate später heirateten und ein Jahr später ein Kind bekamen. Wie Jahre danach Markus plötzlich in London eine heimliche Freundin hatte und Miriam mit der Scheidung gedroht hatte. Dass Markus das Verhältnis später weiterhin aufrecht erhielt und Miriam herausfand, dass Markus auch plötzlich geschäftlich keine Grenzen mehr kannte. Dass er viele Millionen der Bank verzockt hatte, bis alles aufflog.

„Das hat Sie Ihnen alles erzählt?“, wunderte sich Florian.

„Natürlich“, Frau Hofbauer zuckte die Schultern. „Natürlich hat sie mir alles erzählt. Wir haben immer wieder darüber gesprochen. Aber ich habe ja auch den ganzen Schlamassel selbst miterlebt. Miriam, Markus und ich waren damals Kollegen in der Harras-Bank. Ich arbeite da immer noch, auch Miriam war da bis gestern angestellt.“ Leise fügte sie hinzu: „Jetzt nicht mehr.“

Lena nickte verständnisvoll: „Ich kann Sie so gut verstehen, Frau Hofbauer. Doch ich meine, dass im Augenblick jede Kleinigkeit für unsere Ermittlungen wichtig sein kann. Bestimmt werden Sie uns viele Hinweise geben können, damit wir so schnell wie möglich den Täter ermitteln.“

„Ja, hoffentlich.“

„Aber Sie sprachen vorhin von einem Wespennest“, ließ Florian nicht locker. „Bis jetzt haben wir da noch nichts Besonderes gehört.“

Frau Hofbauer nickte: „Ja, bis jetzt. Aber hören Sie weiter. Natürlich hat die Bank schnell herausgefunden, wo die vielen Millionen geblieben sind. Daraufhin wurde Markus von einer Stunde zu nächsten gefeuert. Er durfte nur noch unter Aufsicht seine persönlichen Sachen zusammenpacken. Dann war er weg, auf Nimmerwiedersehen.“

„Wurde er zur Rechenschaft gezogen?“, wollte Florian wissen.

Sie schüttelte den Kopf: „Wie denn? Das Geld war sowieso futsch. Wenn so was Unglaubliches passiert, schweigen sich große Banken aus, damit die Presse keinen Wind davon bekommt.“

„Und dann?“, wollte Lena wissen.

„Tja. Miriam hat schrecklich gelitten, sie war immer die Korrektheit in Person“, erklärte Frau Hofbauer.

„Das habe ich sehr wohl gesehen“, bestätigte Lena. „In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so einen ordentlichen Kleiderschrank gesehen.“

„Ja, so war sie. Und mit Markus‘ Verbrechen konnte Miriam absolut nicht weiterleben. Sie reichte unmittelbar danach die Scheidung ein und warf Markus aus der Wohnung.“

„Und das Kind?“, fragte Florian.

„Miriam musste doch Geld verdienen. Außerdem liebte sie ihren Beruf. Sunny, also die Tochter, durfte später zur Oma in Pasing ziehen. Dort lebt sie auch heute noch. Das Wochenende haben die beiden, ich glaube ohne Ausnahme, immer gemeinsam verbracht.“

„Und der Vater?“ Auch Florian war inzwischen gespannt auf Frau Hofbauers weitere Ausführungen.

„Der?“ Frau Hofbauer zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, was aus dem geworden ist. Sie hatten anfangs noch manchmal Kontakt, doch der brach nach und nach ab. Sie hat, glaube ich, seit Jahren nichts mehr gehört von ihm, wollte mit ihm auch nichts mehr zu tun haben.“

Lena hatte sich weit vorgebeugt: „Gab es sonst noch irgendwas, ääääh, das nach Wespennest aussehen könnte?“

„Und ob“, lächelte Frau Hofbauer ein wenig gequält: „Wissen Sie, Miriam war eine besonders attraktive Frau. Und plötzlich alleinstehend. Wer wird da wohl schnell aufmerksam? Sie ahnen es vielleicht, einer aus der obersten Etage, und zwar der Finanzvorstand.“

„Au weh“, Florian rutschte auf seinem Stuhl hin und her, „jetzt wird es richtig spannend. Ich gehe bestimmt richtig in der Annahme, dass der verheiratet war.“

„Er ist immer noch verheiratet“, korrigierte sie. „Miriam hat sich lange gewehrt, konnte sich aber später nicht länger verweigern. So ein hoher Boss erreicht immer, was er sich einbildet. Er hat ihr oft versprochen, sich scheiden zu lassen. Das tun die doch alle. Aber was sollte sie machen? Sie war nicht nur eine schöne Frau, sondern auch eine kluge und hatte eine sehr wichtige Position in unserer Harras-Bank. Und nun stellen Sie sich vor, dass plötzlich der oberste Boss alles unternimmt, um ein Verhältnis anzufangen. Weigert sie sich, ist sie bald weg vom Fenster. Er müsste doch sonst Angst haben, dass er im eigenen Unternehmen lächerlich gemacht wird. Lässt sie sich jedoch darauf ein, kann sie nachts nicht mehr ruhig schlafen, Miriam wenigstens nicht. Das können Sie sich doch bestimmt vorstellen. Und genau so ging es der armen Miri.“

„Teufel auch“, schimpfte Lena, „es gibt Männer, die könntest du …!“

„Wusste die Frau dieses tollen Chefs von seinem Verhältnis mit Miriam?“, unterbrach Florian sie.

„Keine Ahnung. Vielleicht. Wahrscheinlich aber nicht. So ein großer Boss hat immer tausend Verpflichtungen, da kann er ein Verhältnis leicht verbergen.“

Lena sagte: „Gut. Das werden wir herausfinden. Wie wurde dieses Verhältnis beendet?“

„Beendet? Keine Spur! Nicht mit Dr. Mannheimer. Das ging immer weiter. Soviel ich weiß, hatten sie sich erst kürzlich wieder getroffen.“

„Aha“, nickte Florian. „Das heißt wahrscheinlich, dass Frau Deinreich außer ihm keine weiteren, ääähm, sagen wir mal, keine weiteren Freunde hatte?“

„Ich glaube doch, weiß es aber nicht sicher.“ Frau Hofbauer verzog die Mundwinkel. „Seit einiger Zeit gab es vermutlich jemanden. Sie hat nicht rausgerückt mit der Sprache, wer es ist, ich weiß nicht warum. So geheimnisvoll tat sie sonst nie, also, ich meine, mir gegenüber.“

„Wer könnte darüber Näheres wissen?“, wollte Lena wissen, „vielleicht ihre Mutter?“

Sie schüttelte den Kopf: „Glaube ich nicht.“

„Fällt Ihnen sonst noch irgendwas Wichtiges ein?“, wollte Lena wissen.

„Jaaaa“, zögerte sie. „Eines vielleicht. Die Sache mit ihrem letzten Urlaub. Das ist zwar nichts Besonderes. Aber in diesem Falle möglicherweise schon, weil sie ja jetzt tot ist.“ Sie zog die Stirn hoch. „Sie war zwei Wochen weg und keiner weiß, was sie in dieser Zeit unternommen hat. Ist das nicht merkwürdig? Verschwindet heimlich und tut so, als wäre es ein Staatsgeheimnis. Kein Wort hat sie zu mir gesagt, obwohl ich mehrmals gefragt hatte. Sie sagte zuletzt: ‚Sandra, bitte bohr nicht weiter. Ich erklär dir alles später‘. Und jetzt ist sie tot.“

Lena nickte nachdenklich: „Was könnte da geschehen sein? Wahrscheinlich hat sie in diesen zwei Wochen ihren Mörder getroffen.“

„Was könnte da bloß abgelaufen sein?“, überlegte Florian. „Da gibt es ein riesiges Geheimnis um einen Urlaub und auf einmal ist alles zu Ende.“ Er wandte sich Frau Hofbauer zu: „Auf jeden Fall haben wir von Ihnen wirklich sehr viel erfahren. Bitte geben Sie uns noch die Adresse ihrer Mutter in Pasing.“

Frau Hofbauer jammerte: „Oh Gott, oh Gott, das arme Kind. Sunny weiß es noch nicht.“

„Da sollten wir beide möglichst sofort hinfahren“, sagte Florian zu Lena.

„Frau Hofbauer“, Lena begleitete sie bereits zum Ausgang, „was wollten Sie denn Frau Deinreich mitten in der Nacht so Wichtiges erzählen?“

„Ach wissen Sie“, antwortete sie, „zwei Dinge. Zum einen musste ich sie dringend vorbereiten. Eine Kollegin von uns hat anscheinend irgendetwas über ihr Verhältnis zu Dr. Mannheimer rausgekriegt. Ich dachte, Miri sollte das unbedingt wissen, bevor sie am nächsten Tag zur Arbeit erscheint. Damit sie nicht in eine Falle tappt. Die Kollegin ist nämlich echt raffiniert.“

„Aha!“

„Und dann wegen ihrer Geburtstagsfeier. Morgen, Vierzigster.“

5.

Miriams Eltern bewohnten in Pasing, in der Bodenseestraße, ein kleines Einfamilienhaus. Als Kommissar Wanninger klingelte, öffnete ein Mädchen die Tür.

„Hallo“, grüßte Lena, „wir würden gerne Herrn oder Frau Meierhoff sprechen.“

„Wollen Sie was verkaufen?“, fragte das aufgeweckte Mädchen.

„Nein, äääh“, zögerte Lena, „wir kommen von der Polizei. Sind deine Eltern denn zu Hause?“

„Sind nicht meine Eltern. Oma ist da“, antwortete das Mädchen und rief zur Küche: „Oma, da ist jemand von der Polizei.“

Die kam blitzschnell um die Kurve gesaust. „Ist was mit Miriam?“

„Ja leider …“, antwortete Wanninger, „dürfen wir reinkommen?“

„Um Gottes willen!“, rief Frau Meierhoff und schlug die Hände vors Gesicht. Das Mädchen schrie: „Was ist denn mit Mama?“

Frau Meierhoff trocknete mit einem Papiertaschentuch die Tränen: „Bitte treten Sie näher. Hoffentlich nichts Schlimmes!“

Als Wanninger die traurige Botschaft übermittelt hatte, brachen beide, Frau Meierhoff und besonders das Mädchen, wieder in Tränen aus.“

Frau Meierhoff zog das Mädchen zu sich: „Arme Sunny!“

Wanninger und Lena schwiegen lange Zeit. Als Frau Meierhoff sich einigermaßen beruhigt hatte, wollte sie wissen: „Wie ist es denn passiert? Es gibt doch niemanden auf der ganzen Welt, der Miriam etwas antun könnte.“

„Das sagt ihre Freundin, Frau Hofbauer, auch“, erklärte Lena. „Trotzdem.“

„Ach ja, die Sandra“, schluchzte Frau Meierhoff. „Ist auch eine ganz liebe. Warum hat Miriam nur mit diesem Jörg was angefangen?“ Frau Meierhoff konnte sich kaum beruhigen. „Ich habe sie so oft gebeten, von dem die Finger zu lassen. Aber sie sagte immer: Mutter, ich weiß nicht, was ich tun soll. Mir bleibt doch gar nichts anderes übrig. Miriam war nicht so eine, die das einfach wegsteckt. Die war immer ganz korrekt …, und vorausschauend. Genau wie Sandra, deswegen sind …, ich meine deswegen waren sie so gute Freundinnen.“

„Mit diesem Jörg werden wir in den nächsten Tagen natürlich ebenfalls ausführlich reden“, versuchte Wanninger den erneuten Tränenstrom der beiden einzudämmen. „Wir hätten gerne noch gewusst, wo Ihre Tochter die letzten zwei Wochen war. Frau Hofbauer behauptet, keine Ahnung zu haben. Aber Sie können uns da bestimmt weiterhelfen.“

Frau Meierhoff schüttelte traurig den Kopf: „Wenn ich das nur wüsste. Miriam hat früher mir gegenüber nie Geheimnisse gehabt. Bis auf dieses eine Mal. Ich weiß nicht warum, wirklich nicht. Hätte sie doch bloß …“

„Könnte es mit diesem Jörg zusammenhängen?“, wollte Lena wissen.

„Vielleicht, aber ich habe nicht die geringste Ahnung“, sie schüttelte immer wieder den Kopf.

Wanninger fragte weiter: „Wir haben auch festgestellt, dass sie nicht mit ihrem Auto gefahren ist, es steht in der Tiefgarage. Könnte sie geflogen sein?“

„Vielleicht ist sie geflogen, vielleicht auch nicht.“

Alles deutete darauf hin, dass Frau Meierhoff alles gesagt hatte, was sie wusste.

„Hast du auch keine Ahnung, wo deine Mutter diese zwei Wochen verbracht hat?“ Lena legte Sunny ihre Hand auf die Schulter, doch die schüttelte ebenfalls weinend den Kopf.

„Äääh, der Vater.“ Wanninger deutete auf Sunny.

Frau Meierhoff schüttelte wieder den Kopf: „Sie hatte ihn früher ab und zu noch getroffen, aber zuletzt …, ich glaube nicht.“

„Hattest du in letzter Zeit zu deinem Vater Kontakt?“, wollte Lena nun auch von Sunny wissen.

Schlagartig errötete sie und stotterte: „Nnnnein, nein, hatte ich nicht.“ Sie schüttelte wieder energisch den Kopf und weinte wieder.

„Dann können wir uns bei Ihnen nur noch bedanken“, sagte Wanninger schließlich. „Wenn Ihnen irgendetwas einfällt, das wichtig sein könnte, Frau Meierhoff …“

„Mir fällt noch was ein“, unterbrach Lena. „Ihre Tochter war Softwarespezialistin. Sie hatte doch zu Hause bestimmt einen Computer.“

„Ach was!“, winkte Frau Meierhoff ab. „Nicht nur einen. Ich weiß nicht genau wie viele. Den großen hat sie Sunny gebracht, keine Ahnung warum, bevor sie die zwei Wochen verschwunden ist. Ja, verschwunden, anders kann ich das beim besten Willen nicht ausdrücken."

„Sie sagten nicht nur einen Computer. In ihrer Wohnung haben wir überhaupt keinen gefunden.“

Frau Meierhoff zuckte die Schultern: „Eines ihrer Notebooks hat sie immer mitgenommen, wenn sie verreiste.“

„Wäre es möglich, dass wir uns diesen großen Computer für kurze Zeit ausleihen?“, meinte Wanninger vorsichtig. „Vielleicht finden wir da irgendetwas, das uns weiterhilft. Wir bringen ihn auch so schnell wie möglich wieder zurück.“

„Von mir aus“, seufzte Sunny.

Frau Meierhoff war ebenfalls einverstanden.

„Dann dürfen wir uns verabschieden.“ Die beiden Kriminalbeamten erhoben sich. „Ihr Mann, Frau Meierhoff, weiß wahrscheinlich auch nicht mehr als Sie?“

„Ganz bestimmt nicht. Andi ist mit seinem Büro verheiratet. Er ist ein vielbeschäftigter Rechtsanwalt.“

6.

Schwabing ist ein beliebter Münchner Stadtteil für moderne Menschen aus aller Welt. Natürlich gesellen sich auch junge Leute aus anderen Münchner Stadteilen dazu. Vorzugsweise am Abend bevölkern sie Straßencafés, Kneipen, Restaurants und natürlich die Straßen. Leider ist alles sündhaft teuer, wie auch in anderen trendigen Großstädten der ganzen Welt. Doch Schwabing hat ein besonderes, unverwechselbares Flair, von dem Alt und Jung aus Nah und Fern begeistert sind. Schwabinger Kneipen sind oft schon brechend voll, wenn die Sonne ihre letzten Strahlen über diese einmalige Metropole mit südländischer Ausstrahlung senkt.

Sie trafen sich regelmäßig jeden Freitag ab neun Uhr abends in ihrer Lieblingskneipe PERKEO in der Leopoldstraße, um sich vom Stress der Woche zu entspannen. Seit Jahren waren sie befreundet, obwohl sie in ganz unterschiedlichen Berufen tätig waren. Die jungen Mitarbeiter des erfolgreichen Hauptkommissars Sepp Wanninger, die zu diesem Freundeskreis gehörten, waren seit einiger Zeit Oberkommissare der Mordkommission München mit Sitz in der Ettstraße. Sie hießen Lena Paulsen, Florian Moser und Thomas Huber. Vor Jahren hatten sie beim Skifahren in den bayerischen Bergen die andere Gruppe kennengelernt, waren sich von Anfang an recht sympathisch gewesen und hatten daraufhin ein regelmäßiges Treffen nach anstrengender Wochenarbeit vereinbart und auch begonnen. Diese Treffen waren inzwischen Kult geworden. Vier der zweiten Gruppe waren Versicherungsmathematiker und arbeiteten bei einer internationalen Versicherung in der Kaulbachstraße, ebenfalls in Schwabing. Liane Haberland war die Gruppenleiterin und etwas älter als ihre Kollegen Sabine Schnell, Ralf Schubert und Martin Zellner. Liane war seit Jahren geschieden, und lebte seither als allein erziehende Mutter mit ihrem zweiundzwanzigjährigen Sohn zusammen, der an der Ludwig-Maximilian-Universität ebenfalls Mathematik studierte. Sabine war verheiratet und Ralf und Martin waren ledig, jedoch in festen Händen. Ein weiterer Kollege der vier Mathematiker hieß Sven Paulsen. Er behauptete immer, sehr gerne in München zu leben, obwohl der Beginn seiner beruflichen Tätigkeit in München mehr als abenteuerlich verlaufen war. Wenige Tage nach seinem Einzug in der Fallmerayerstraße in Schwabing wurde er aufgrund einer Verknüpfung unglaublich unglücklicher Zufälle wegen angeblichen Mordes an einer jungen Frau verhaftet. Erst Wochen später stellte sich seine Unschuld heraus. Bei seinem ersten Abend im Kollegenkreis im PERKEO hatte er das Geburtstagskind Lena, Ermittlerin bei Hauptkommissar Wanninger, kennengelernt und einige Zeit nach seiner Freilassung aus der Untersuchungshaft geheiratet. Danach hatte Sven seine kleine Wohnung in der Fallmerayerstraße aufgegeben und war in die sehr viel größere Wohnung zu Lena in der Bauerstraße, ebenfalls in Schwabing, gezogen.

Diese acht Freunde trafen sich auch an diesem Freitag im PERKEO zu einem fröhlichen Umtrunk mit Gedankenaustausch.

Das Ehepaar Lena und Sven Paulsen machte sich kurz vor neun Uhr zu Fuß von der Bauerstraße auf den Weg zum PERKEO in der Leopoldstraße. Es war gerademal ein Fußmarsch von zwanzig Minuten. Als sie die Tür zum Lokal öffneten, empfing sie echte Schwabinger Atmosphäre, mit einer Luft, die fast zum Schneiden war. Der Geräuschpegel war bereits deutlich erhöht. Liane, Sabine und Florian saßen schon wartend am Tisch, den die Bedienung Maria jeden Freitag ab neun Uhr abends für ihre sympathischen Gäste reservierte.

„Hallo zusammen“, grüßte Lena, „kommen Ralf und Martin auch?“

„Na klar“, antwortete Liane. „Werden gleich hier sein, dann fehlt nur noch Thomas.“

„Kommt auch, hatte noch was vor“, erklärte Lena. Die beiden quetschten sich auf die schmale Bank.

Thomas Huber kam zuletzt hereingestürmt: „Meine Freundin musste noch dringend Klamotten kaufen.“

„Und du hast mal wieder deinen fachmännischen Rat abgegeben?“, wollte Liane wissen.

Thomas winkte ab: „Nein, nein. Es ist nur, damit ich mich später nicht wieder aufrege. Sollte nur einen Blick drauf werfen. Habe ich hiermit getan.“

„Und, was hat sie gekauft?“

„Eine weiße Jeans und ein schwarzes T-Shirt.“

„Dann hattest du aber heute eine besonders schwere Aufgabe“, grinste Martin, „hoffentlich hast du dich nicht übernommen.“

„Jenny wollte eigentlich ganz was anderes kaufen, war aber in ihrer Größe nicht mehr vorrätig. Schluss jetzt, wo bleibt die Maria? Ich habe einen riesigen Durst.“

Maria rauschte gerade vorbei: „Schon gewählt?“

„Maria“, rief Thomas, „wenn wir dich nicht hätten, wären wir längst vertrocknet! Bitte ganz schnell ein Helles, bevor ich tatsächlich das Zeitliche segne.“

„Wenn’s weiter nichts ist. Bestell doch beim nächstes Mal telefonisch, dann steht dein Bier bereits hier, wenn du aufkreuzt.“

„Gute Idee, Maria“, warf Martin ein, „Thomas liebt schales Bier, der ist ganz wild darauf.“

„Na, dann eben nicht.“ Schon war Maria wieder verschwunden.

Sabine stupste Lena an: „Da war doch vor ein paar Tagen wieder so ein geheimnisvoller Mord. Stand in der Zeitung. Habt ihr damit was zu tun?“

„Und ob, Sabine.“ Lena zog die Augenbrauen hoch. „Immer, wenn es einen schwierigen Fall gibt, rufen die Kripochefs seit Neuestem unseren lieben Wanninger. Das kostet wieder mindestens eine Extraschachtel Gastritis-Tabletten.“

Thomas und Florian gackerten.

„Der Ärmste.“ Liane zog einen traurigen Flunsch. „Wie wär’s denn, wenn ihr auch mal ein wenig mitarbeitet?“

„Seit wann bist du denn so gemein, Liane“, regte sich Thomas auf. „Ohne uns kannst du den Wanni, ach was, die ganze Mordkommission vergessen. Wir drei sind nämlich die wichtigste Stütze der Münchner Kripo, verstanden?“

„Mann, der haut heute vielleicht aufs Blech“, rief Ralf Schubert. „Dann könntet ihr doch euren Wanni in den wohlverdienten Ruhestand schicken, oder?“

„Also, das geht mir jetzt echt zu weit“, erhob Lena Einspruch. „Wanninger ist immerhin der erfolgreichste Kommissar im Dezernat.“

„Ja, ja“, versuchte Thomas Lena zu besänftigen, „reg dich wieder ab!“

„Und? Was ist mit dem Mörder?“, wollte Sabine wissen. „Schon gefasst?“

Florian schüttelte den Kopf: „Es gibt nicht einmal einen Ansatzpunkt. So eine tolle Frau, das sagen alle. Wer sollte so eine ermorden? Ist wirklich sehr geheimnisvoll. Wir tappen noch im Dunkeln. Aber in den ersten Tagen sammeln wir immer nur Fakten.“

Lena widersprach: „Nicht ganz, Florian. Sobald wir den Ex gefasst haben und der widerliche Liebhaber vernommen worden ist, sind wir garantiert einen großen Schritt weiter.“

„Und wenn nicht“, grinste Martin Zellner, „dann gibt es doch eine ganz einfache Lösung.“

„Ach ja? Und die wäre?“ Florian fiel darauf herein.

„Ganz klar.“ Martin konnte sich vor Lachen kaum beherrschen: „Hier kommt mein Vorschlag, könnt ihr auch an euren Wanni weitergeben. Nehmt irgendjemanden fest, später löst sich der Fall von selbst.“

„Du spinnst ganz schön“, regte sich Florian auf. „Wieso kommst du auf so eine Schnapsidee?“

„Ich sag nur ein Wort“, Martin versuchte ernst zu bleiben. „Fischkopp Sven.“

„Hört endlich mit dieser ollen Kamelle auf“, schimpfte Florian. „Die Sache hat schon längst einen Bart, so lang wie beim alten Methusalem.“

„Außerdem waren das zwei Worte, Martin, als Mathematiker solltest du zählen können“, meldete sich auch Sven zu Wort. „Und über meine Geschichte braucht ihr nicht mehr zu diskutieren. Immerhin habe ich inzwischen jederzeit aktuellstes Wissen. So etwas kann mir nie wieder passieren.“

„Ach, deswegen hast du Lena geheiratet“, kicherte Liane. „Ich dachte allen Ernstes, dass du sie liebst.“

„Wie wär’s mit einem anderen Thema“, schlug Lena vor. „Wie geht’s denn euren Sterbetafeln?“

„Oh Gott“, jammerte Sabine. „Sind schon wieder neu. Es gibt Leute, die wissen wirklich nicht, was sie den ganzen Tag tun sollen und basteln dauernd daran rum.“

„Wieso jammerst du, Sabine“, grinste nun Florian. „Gestorben wird immer wieder. Jeder Tote muss doch in eure Sterbetafeln eingearbeitet werden.“

„Ja, ja“, nickte Liane, „das fehlte gerade noch. Das wäre genauso, wie wenn ihr für jeden geblitzten Autofahrer und jeden Strafzettel eine zehnköpfige Kommission einsetzen müsstet.“

7.

Am Montagmorgen rief Hauptkommissar Wanninger seine Mitarbeiter zur Fallbesprechung: „Schönes Wochenende gehabt?“, begann er.

Alle nickten.

„Gut! Ich habe den Obduktionsbericht von der Rechtsmedizin erhalten. Es war nur ein Schuss und der war tödlich. Kaliber 7,65 mm, wahrscheinlich eine Walther PP. Von der Waffe keine Spur. Der Schuss war aufgesetzt.“

„Aufgesetzt?“, überlegte Florian, „dann könnte es Selbstmord gewesen sein.“

„Genau“, nickte Wanninger grinsend, „aber nur, wenn wir davon ausgehen, dass die Leiche anschließend noch schnell die Waffe beiseite gebracht hat.“

„Riesenrindvieh“, murmelte Florian.

„Wer?“ Lena hob die Augenbrauen.

„Ich natürlich. Entschuldigt, ich war gerade in Gedanken woanders.“

Wanninger lächelte, ein Zeichen dafür, dass er besonders guter Laune war, sonst hätte er anders reagiert. Wahrscheinlich hatte auch er ein schönes Wochenende verbracht.

„Allerdings wurden auch Schmauchspuren an den Händen der Ermordeten festgestellt. Ist das angekommen, Florian?“

Der hob die Augenbrauen. „Mann, das ist ein Ding. Da ergibt sich ja eine ganze Reihe Möglichkeiten.“

„Eben“, nickte Lena, „der Mörder hielt ihr die Waffe an die Schläfe und sie wollte sie ihm aus der Hand reißen. Doch zu spät.“

„Kann gut sein. Bitte alles zusammenschreiben.“

„Mach ich“, nickte Florian.

„Doc Jablonka hat noch folgendes festgestellt“, fuhr Wanninger fort. „Es gibt am Hals zwei rote Flecken. Er meint, die könnten von einem Elektroschocker stammen.“

„Ich fasse es nicht!“ Lena schüttelte den Kopf. „Was muss diese arme Miriam Schreckliches erlitten haben, bevor sie sterben musste?“

„Außerdem hat anscheinend ein Kampf stattgefunden oder wenigstens ein heftiges Handgemenge. Unter Frau Deinreichs Fingernägeln konnten Spuren gesichert werden, wir müssen nur noch die Person finden, zu der die DNA passt. An ihrem linken Arm gibt es übrigens auch eine Kratzspur.“

„Die arme Frau“, murmelte Lena.

Wanninger überhörte die Bemerkung, er hatte in seinem Berufsleben so manches erlebt: „Wie sollen wir weiter vorgehen?“, wollte er von seinen Mitarbeitern wissen.

Thomas antwortete: „Ich würde vorschlagen, wir suchen den Ex und reden außerdem mit dem geilen Harras-Bank-Chef. Natürlich auch mit dessen Frau. Vielleicht wusste sie von seinem Verhältnis zu Miriam und ist damit nicht fertig geworden.“

„Ja, könnte ich mir auch vorstellen“, überlegte Wanninger. „Mir ist übrigens am Wochenende noch was eingefallen. Die Tochter, diese Sunny, hat wahrscheinlich nicht die Wahrheit gesagt. Lena, Sie haben bestimmt auch registriert, wie sie rot geworden ist, als wir sie nach ihrem Vater fragten?“

Lena nickte: „Natürlich.“

„Aber das Mädchen war so fertig, die hat mir richtig leidgetan. So ein junges Ding, wird erst vom Vater verlassen und verliert jetzt auch noch die Mutter. Leider weiß keiner, wo der Vater untergetaucht ist. Das Mädchen sollten wir äußerst behutsam anpacken. Bitte übernehmen Sie das, Lena.“

Lena nickte wieder.

„Thomas, Sie versuchen bitte, den Ex zu finden. Ich denke, das wird nicht ganz einfach werden.“

Thomas zuckte die Schultern. „Über die Meldebehörde komme ich vielleicht weiter.“

„Dann sollten Sie auch den Computer überprüfen, damit das Kind ihn bald wieder zurückbekommt. Holen Sie sich einen Experten von unserer Informatiktruppe. Wichtig ist, dass wir den Absender der Drohmail ermitteln können. Und Sie, Florian, gehen mit mir zu dem …, äääh“, er blickte auf seine Notizen, „Dr. Jörg Mannheimer. Mal schauen, was der so alles freiwillig herausrückt.“

„Dann bleibt die allerwichtigste Frage“, überlegte Lena. „Wo ist Miriam Deinreich die letzten zwei Wochen gewesen.“

„Hoffentlich beißen wir uns da nicht die Zähne aus“, knurrte Wanninger. „Ich hab so ein saudummes Gefühl.“

8.

Thomas Huber startete das polizeiliche Suchprogramm und gab ein: Markus Deinreich. Nach einiger Zeit war die Antwort da: letzte Adresse: München, Osterwaldstraße 112. Thomas schnaubte enttäuscht. „Ich dachte, da wird sorgfältiger gearbeitet. Soweit waren wir gestern schon.“

Daraufhin rief er bei der Meldebehörde an. Die nette Dame am Telefon hatte nach wenigen Augenblicken die Antwort parat: „Markus Deinreich, München, Osterwaldstraße 112, verzogen in die Ottobrunnerstraße 283.“

„Vielen Dank“, antwortete Thomas überrascht, stand auf und klopfte an Wanningers Tür. „Sie werden es nicht glauben, aber ich habe die neue Adresse von Markus Deinreich. Er wohnt jetzt in der Ottobrunnerstraße 283.“

Wanninger nickte zufrieden: „Ist fast in Neubiberg. Dachte nicht, dass das so schnell geht. Dann machen Sie sich mal auf den Weg.“

„Ich würde gerne Florian mitnehmen. Wer weiß, was mich dort erwartet.“

„Auch in Ordnung, Dann fahre ich inzwischen mit Lena zur Harras-Bank und besuche den sauberen Herrn Vorstand.“

Thomas und Florian setzten sich in ein Dienstfahrzeug und fuhren los. Die Ottobrunnerstraße 283 war ein großes Wohnhaus mit wahrscheinlich fünfzig oder mehr Wohnungen. Sorgfältig durchsuchten sie das riesige Klingelschild. Kein Markus Deinreich.

„Hier“, Florian deutete auf ein Namensschild, „hier wohnt der Hausmeister. Den fragen wir.“ Gleichzeitig drückte er den Klingelknopf.

Der Hausmeister wohnte im Erdgeschoss. Er war ein unwirsch dreinblickender, dicklicher, aber anscheinend kräftiger Mann. Die beiden Kriminalbeamten stellten sich vor. „Wir wurden informiert, dass hier ein gewisser Markus Deinreich wohnen soll. Kennen Sie den Herrn?“, begann Thomas.

„Markus wie?“

„Deinreich. Markus Deinreich.“

Der Hausmeister schüttelte den Kopf. „Habe diesen Namen noch nie gehört. Sind Sie sicher, dass der hier wohnt?“

„Die Meldebehörde ist es.“

„Ach so. Ja, dann wird es wohl so sein. Vielleicht wohnt er in Untermiete bei einer Freundin. Sie sehen ja, das ist ein großes Haus. Da kann ich nicht jeden kennen, der ein- und ausgeht.“

Thomas nickte: „Ja, ja. Kann ich verstehen. Wir suchen den Mann in einer dringenden Angelegenheit. Bitte finden Sie heraus, ob er hier wohnt.“

„Wie soll ich das denn machen? Muss schließlich den ganzen Tag arbeiten.“

Thomas drückte ihm seine Karte in die Hand: „Ganz einfach. Sie fragen in jeder Wohnung nach einem Markus Deinreich und informieren mich dann. Bis spätestens morgen Nachmittag erwarte ich Ihre Rückmeldung. Lässt sich das einrichten?“

Der Hausmeister schnaufte: „In jeder Wohnung? Mann! Also, wenn es sein muss …, ich kann‘s versuchen. Aber ob ich bis morgen jeden hier im Haus erreiche? Keine Ahnung.“

„Gut“, nickte Thomas. „Trotzdem erwarte ich bis spätestens morgen Nachmittag Ihren Anruf. Vielen Dank und auf Wiedersehen.“

Als sie zu ihrem Fahrzeug gingen, meinte Florian: „Das wäre wirklich zu schnell gegangen.“

Thomas schimpfte verärgert: „Blöder Affe! Ich hasse diese Art von Hausmeister.“

„Möchtest du vielleicht so einen Job machen?“

„Eher nicht.“

9.

Hauptkommissar Wanninger machte sich mit Lena auf den Weg zur Harras-Bank.

„Ich bin schon sehr gespannt, wie der sich rausredet“, murmelte Lena.

„Vielleicht gar nicht. Wenn er jedoch herumeiert, wird er uns schnell kennenlernen“, antwortete Wanninger scharf.

Die Harras-Bank machte den Eindruck eines Hochsicherheitsgefängnisses. Es gab nur eine massive Tür und die endete bei einem Pförtner vor einer wahrscheinlich schusssicheren Glaswand. Kommissar Wanninger zückte seinen Ausweis und hielt ihn an die Glasscheibe. Der Pförtner drückte auf einen Knopf, der den Lautsprecher einschaltete, und fragte: „Was kann ich für Sie tun?“

„Hauptkommissar Wanninger, meine Kollegin, Oberkommissarin Paulsen. Wir hätten gerne Herrn Dr. Mannheimer gesprochen.“

„Ich weiß nicht, ob der für Sie Zeit hat“, war die Antwort.

„Dann finden Sie das bitte heraus!“

Der Pförtner wählte eine Telefonnummer und landete anscheinend in einem Vorzimmer. „Hier sind zwei Herren von der Polizei, die möchten Herrn Dr. Mannheimer sprechen.“

Er nickte, dann wollte er wissen: „Sind Sie angemeldet?“

„Nein, wir sind nicht angemeldet. Und wir kommen auch nicht von der Polizei, sondern von der Mordkommission. Bitte richten Sie aus, dass wir Herrn Mannheimer ein paar dringende Fragen stellen müssen.“

Der Pförtner gab diese Information weiter und wartete. Nach wenigen Sekunden nickte er und legte auf: „Herr Dr. Mannheimer bittet um Verständnis, dass er nur sehr wenig Zeit hat. Die Chefsekretärin meint, höchstens fünf Minuten.“

„Das reicht fürs Erste“, brummte Wanninger.

Der Pförtner drückte auf einen Knopf und der Summer an der Tür ermöglichte das Betreten des Bankgebäudes. „Bitte nehmen Sie den rechten Lift und wählen Sie das 25. Stockwerk. Die Sekretärin erwartet Sie am Lift.

„Mann, ist das hier vornehm“, flüsterte Lena. „Hier traut man sich kaum laut zu sprechen.“

„Kommen Sie aber nicht auf die Idee, das mit unseren Büroräumen in der Ettstraße zu vergleichen. Hier ist nämlich das große Geld zu Hause.“

Im 25. Stock erwartete die beiden eine schick gekleidete, sehr schlanke Blondine auf hochhackigen Schuhen. „Bitte folgen Sie mir, Herr Dr. Mannheimer erwartet Sie“, flötete sie und stöckelte voraus. Sie betraten ein äußerst vornehmes Vorzimmer. Die Sekretärin nahm einen Hörer ab und meldete: „Herr Dr. Mannheimer, die Herren von der Polizei wären hier.“

Zu Wanninger und Lena gewandt, sagte sie: „Bitte treten Sie ein.“ Dabei deutete sie auf eine dick gepolsterte Tür.

Wanninger klopfte an, doch das Klopfen wurde von der Polsterung verschluckt.

„Einfach eintreten, meine Herren“, rief die Sekretärin.

Wanninger öffnete die Tür, beide traten ein. Dr. Mannheimer kam ihnen bereits entgegen gestürmt. Er war mindestens 1,80 groß, schlank und sportlich gestählt. Sein Alter konnte man nicht schätzen, aber jung war er offensichtlich nicht mehr.

„Bitte nehmen Sie Platz, meine Herren“, lud er sie ein. „Was kann ich für Sie tun? Kaffee? Tee? Wasser?“

Wanninger schüttelte den Kopf: „Wir hörten, dass Sie wenig Zeit haben. Aber Sie könnten uns vielleicht ein paar Fragen beantworten“, begann Wanninger vorsichtig. „Es handelt sich um Ihre Mitarbeiterin, Frau Miriam Deinreich.“

Dr. Mannheimer stöhnte laut und vernehmlich: „Ja, ja. Ich habe von der schrecklichen Sache heute Morgen gehört. Einfach unfassbar.“

„Dann wissen Sie es also?“ Wanninger zog die Augenbrauen hoch. „Woher?“

„Hat sich im Hause schnell herumgesprochen. Frau Deinreichs beste Freundin, Frau Hofbauer, hat uns heute die unvorstellbare Nachricht übermittelt. Wissen Sie denn schon, wer der Täter war?“

„Leider noch nicht“, antwortete Wanninger. „Deshalb müssen wir uns zunächst ein Bild von der Ermordeten machen. Kannten Sie sie gut genug, um uns einen kurzen Überblick geben zu können? Wenn nicht, gibt es vielleicht sonst noch eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter, der Frau Deinreich besser kannte? Ausgenommen Frau Hofbauer, die hatte uns ja informiert.“

„Natürlich kannte ich Frau Deinreich, hatte sie ja damals selbst eingestellt. Sie gehörte zu unserem Führungsstab, Schwerpunkt Softwareeinkauf, -einsatz, -entwicklung, praktisch alles, was für unser Bankinstitut im Bereich Software von Bedeutung ist oder in Planung genommen werden sollte.“

„Und welchen Eindruck hatten Sie von ihr?“

„Erstklassige Mitarbeiterin. Ein schrecklicher Verlust für unser Unternehmen. Sie war hier die von allen anerkannte Fachfrau.“

„Haben Sie irgendwelche Informationen zu Ihrem Privatleben. Da muss es schließlich etwas geben, das zu dem schrecklichen Verbrechen geführt hat.“

Dr. Mannheimer schüttelte bedauernd den Kopf: „Tja, so gut wie nichts. Ach ja, es war bekannt geworden, dass sie in Scheidung lebte, oder vielleicht bereits geschieden war, weiß ich jetzt nicht so genau.“

„Aber darüber haben Sie mit ihr wahrscheinlich nicht geredet?“

„Natürlich nicht.“ Er war ein perfekter Schauspieler. „Sie können sich sicher vorstellen, unser riesiges Unternehmen, die vielen Mitarbeiter.“ Seine Miene drückte großes Bedauern aus. „Wenn man so etwas geahnt hätte.“

Wanninger sprach inzwischen sehr leise, wer ihn kannte, wusste, wie gefährlich er dann sein konnte. „Dann haben Sie wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung, wer dieses Verbrechen begangen haben könnte oder warum sie ermordet wurde? Irgendwelche Bekannte, Freunde? Sie können sich vorstellen, dass wir solche Fragen stellen müssen, irgendwo beginnt für uns immer die schwierige Ermittlungsarbeit.“

Dr. Mannheimer machte plötzlich einen nervösen Eindruck. „Ach, wenn ich doch zur Aufklärung dieses schändlichen Verbrechens nur ein wenig beitragen könnte.“ Er schüttelte traurig den Kopf.

Lena bemerkte, dass Dr. Mannheimer auf irgendeine Stelle an seinem Schreibtisch drückte. Nur Sekunden später öffnete die flotte Blondine die Tür und sagte: „Herr Dr. Mannheimer, ich darf Sie erinnern, Ihr Flug geht in vierzig Minuten!“

„Um Gottes Willen, schon so spät, dann muss ich ja …“ Er schien ein wenig erleichtert.

„Wir verschwinden sofort, Herr Dr. Mannheimer. Noch eine letzte Frage: „Wer könnte uns im Hause irgendwelche hilfreichen Informationen geben, vielleicht Ihre Sekretärin?“

Er schüttelte wieder den Kopf: „Kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich biete Ihnen an, im Hause herumzufragen zu lassen. Vielleicht könnten Sie Ihre Karte hierlassen, wir rufen Sie umgehend an, sobald sich etwas Brauchbares abzeichnet.“

„Gut, Herr Dr. Mannheimer“, nickte Wanninger sehr langsam, Lena blickte ihn erwartungsvoll an. „Leider war das Gespräch für uns nicht so aufschlussreich, wie wir es uns erhofft hatten. Natürlich sollen Sie Ihren Flug nicht verpassen. Wann werden Sie wieder zurück sein?“

„Ääääh, heute? Nein, morgen, oder …, ach fragen Sie doch bitte meine Sekretärin, ich bin jetzt so in Eile.“ Gleichzeitig erhob er sich.

Auch Wanninger und Lena standen auf: „Dann möchten wir Sie bitten, Herr Dr. Mannheimer, uns umgehend nach Ihrer Rückkehr aufzusuchen.“

„Wieso denn? Haben Sie denn an mich noch weitere Fragen?“

Wanninger drückte ihm seine Karte in die Hand: „Es gibt noch viele Fragen, Herr Dr. Mannheimer. Sie haben uns ja gerade ein nettes Märchen präsentiert. Leider haben wir Ihnen kein Wort geglaubt. Wir erwarten von Ihnen eine wirklich hilfreiche Unterstützung in diesem Mordfall. Und vor allem, Herr Dr. Mannheimer, die Wahrheit. Wir wissen von Ihrer Beziehung zu Miriam Deinreich.“

Dr. Mannheimer war kreidebleich geworden: „Ja, warum sagen Sie das denn nicht gleich?“

„Auf Wiedersehen, Herr Dr. Mannheimer. Wäre für unsere weitere Arbeit wirklich sehr hilfreich, wenn wir uns verstanden haben.“

10.

Lena hatte beschlossen, nach Pasing zu fahren, um das schwierige Gespräch mit Miriam Deinreichs Tochter zu führen. Gerade als sie sich ihre Jacke überziehen wollte, klingelte ihr Telefon, es war Sandra Hofbauer, früher Miriams beste Freundin.

„Bitte entschuldigen Sie die Störung, Frau Paulsen“, begann sie. „Da ist so eine unangenehme Sache passiert. Ich bräuchte Ihre Unterstützung.“

Lenas Puls schlug sofort höher. „Jederzeit, wenn es mir möglich ist. Reden Sie doch einfach frei von der Leber weg“, antwortete Lena.

„Also, das ist folgendermaßen“, begann Frau Hofbauer. „Ich wurde gestern Nachmittag zu Dr. Mannheimer gerufen.“

„Gestern Nachmittag?“, wunderte sich Lena, „war er denn da?“

„Ja, natürlich, warum fragen Sie?“

„Äääh, hat nichts zu bedeuten. Um was ging es denn?“

„Also, das ist nämlich so. Dr. Mannheimer wusste, dass ich Miriams beste Freundin war. Einzelheiten über unsere vertraulichen Gespräche weiß er natürlich nicht, aber er kann sich zusammenreimen, dass ich über sein Verhältnis mit Miriam informiert war.“

„Ja, und?“ Lenas Spannung stieg.

„Dummerweise hatte ich Ihnen davon erzählt. Aber Miriams Mutter kannte natürlich die Sache ebenfalls und hat Miri immer wieder flehentlich gebeten, dieses ungute Verhältnis zu beenden. Dr. Mannheimer hat gestern sehr geschickt rumgeredet und mir zu verstehen gegeben, dass er auf meine Loyalität zählt und dass ich gegenüber der Polizei nicht irgendwelche Fantastereien äußern soll. Er würde das bei meinem weiteren Werdegang in der Firma auch entsprechend honorieren. Es war nicht schwer zu verstehen, wie er es meint.“

„Das ist aber schon sehr interessant“, bemerkte Lena.

„Und nun wollte ich Sie bitten, dass Sie von meiner Bemerkung über Dr. Mannheimer keinen Gebrauch machen. Das würde mir beruflich schrecklich schaden. Ich bin doch alleinstehend und brauch den Job ganz dringend. Meinen Sie, dass ich mich auf Sie verlassen kann?“

Lena überlegte kurz: „Frau Hofbauer! Super, dass Sie mich so ehrlich informieren. Ich verspreche Ihnen, dass wir mit Ihrer Aussage besonders sorgfältig umgehen werden. In den nächsten Tagen wird es noch ein Gespräch mit Dr. Mannheimer geben. Falls das Verhältnis zu Miriam Deinreich überhaupt zur Sprache kommen sollte, werden wir ganz deutlich erklären, dass diese Information von Frau Meierhoff gekommen ist. Sollte er in diesem Zusammenhang Ihren Namen erwähnen, werden wir das verneinen. Zufrieden, Frau Hofbauer?“

„Und wie. Ich danke Ihnen sehr. Sie wissen gar nicht, welcher Stein mir gerade vom Herzen fällt.“

„Deshalb sollten Sie sich wirklich keine Sorgen machen. Ich werde diese Angelegenheit auch mit Herrn Wanninger besprechen.“

Lena fiel ein, dass der Computer noch bei den Spezialisten der Kripo war und so rief sie dort an: „Hallo, wie weit seid ihr mit dem Computer im Mordfall Deinreich? Ich hatte versprochen, ihn baldmöglichst zurückzugeben.“

„Eigentlich wollten wir heute fertig werden. Doch da ergeben sich interessante Verbindungen, die euch vielleicht ein Stück weiterbringen könnten.“

„Was bedeutet das genau, interessante Verbindungen?“

„Natürlich IP-Adressen, die wir noch zuordnen müssen.“

„Okay, und bis wann?“

„Ich weiß nicht, morgen oder übermorgen.“

Lena klopfte an Wanningers Zimmertür, steckte den Kopf hinein und sagte: „Ich fahr dann mal nach Pasing zu der kleinen Sunny und rede mit ihr.“

„Wollen Sie nicht warten, bis der Computer zurückgegeben werden kann?“

„Besser nicht, weil ich vielleicht nochmal einen Grund zum Hinfahren brauche.“

„Ich bin gespannt, ob die Kleine den Mund aufmacht.“

Lena klingelte bei Meierhoff in der Bodenseestraße. Miriams Vater öffnete, Lena stellte sich vor: „Paulsen, Kripo München.“

„Hoffentlich haben Sie dieses Schwein bald gefasst“, schimpfte er und bedeutete Lena einzutreten.

Lena antwortete: „Sie müssen bitte Geduld haben. Wir tun wirklich alles, was in unserer Macht steht.“

„Ja, davon bin ich überzeugt.“ Seine Züge entspannten sich leicht: „Ist ja bekannt, dass unsere Polizei fast jedes Gewaltverbrechen aufklärt. Aber alle auch nicht. Und unsere Tochter kriegen wir damit auch nicht wieder zurück.“

„Nein, leider nicht“, Lena schüttelte den Kopf, „doch unser Hauptkommissar Wanninger hat bisher noch keinen Fall ungelöst abgelegt.“

„Eine große Beruhigung ist das nicht, aber wir werden ja sehen. Was haben Sie denn bisher herausgefunden?“

„Noch nicht so sehr viel. Wir stehen ziemlich am Anfang. Wir sammeln zunächst Mosaiksteinchen, mehr können wir solange nicht tun, bis wir eine erste heiße Spur haben. Aus der Wohnung Ihrer Tochter konnten wir eine ganze Reihe DNA-Spuren sicherstellen, inwieweit die uns weiterhelfen, müssen wir abwarten. Ihre Tochter wird von allen Freunden und Bekannten nur positiv beurteilt. Man kann sich kaum vorstellen, dass so eine tolle Frau einfach umgebracht wird.“

„Ja, das kann man sagen. Eine tolle Frau war sie wirklich“, nickte Herr Meierhoff traurig. „Ich kann mir auch überhaupt nicht vorstellen, was da geschehen sein könnte. Also, der Markus hat schon sehr viel Dreck am Stecken. Wenigstens zuletzt, bis er gefeuert wurde. Aber dass er Miriam umbringt? Kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Natürlich, Miriam hatte damals sofort die Notbremse gezogen, als seine Schweinereien herausgekommen waren. Vielleicht ein wenig zu schnell, für meine Begriffe. Aber so was konnte sie nicht ertragen. Trotzdem halte ich Markus nicht für den Mörder, auch wenn ich zurzeit mit ihm auf Kriegsfuß stehe. Das verstehen Sie gewiss?“

Lena hatte aufmerksam zugehört: „Ich würde heute gerne ein paar Worte mit Ihrer Enkelin reden. Der Computer ist noch in Arbeit, ich denke, dass ich ihn in ein paar Tagen zurückbringen kann.“

Herr Meierhoff schüttelte den Kopf. „Wenn Sie sich was erhoffen. Ich bin mir sicher, dass Ihnen Sunny keinen Schritt weiterhelfen kann. Versuchen Sie es ruhig.“

„Vielleicht lassen Sie mich mit ihr allein.“

„Ja, natürlich. Aber es wird nichts bringen. Sie ist noch immer total erledigt. Das arme Kind.“

Nachdem Sunnys Großvater sie vorsichtig vorbereitet hatte, führte er Lena in ihr Zimmer. „Hallo Sunny!“, begrüßte sie das Mädchen. „Ich darf doch Sunny sagen? Ich weiß, dass du eigentlich Malena heißt.“

„Ich mag Malena nicht so gerne“, antwortete sie.

„Ist doch ein schöner Name, kommt, glaube ich aus Argentinien“, wunderte sich Lena, „ich heiß Lena, das sind nur zwei Buchstaben weniger.“ Sunny lachte über diesen Witz, vielleicht das erste Mal seit Tagen.

„Nein“, erklärte sie schließlich, „manche nennen mich Marlena oder Marlene, andere sagen zu mir Magdalena. Inzwischen passiert das nicht mehr. Bei Sunny vertut sich keiner. Außerdem heißt außer mir keine so. Deswegen kennen auch alle in der Schule meinen Namen und brauchen nicht „he du“ zu sagen oder meinen Vornamen zu verdrehen.“

„Ja, das kann ich verstehen“, nickte Lena. „Übriges habe ich nachgefragt, unsere Informatiker sind mit deinem Computer fast fertig. Ich bringe ihn dir ganz schnell zurück. Versprochen.“

„Ja, ist schon okay. Jetzt gehört er ja mir“, sie seufzte.

„Wann warst du eigentlich das letzte Mal in der Wohnung deiner Mutter?“

„Weiß ich nicht. Bevor sie weggefahren ist.“

„Hast du auch einen Schlüssel?“

Sunny nickte: „Ja, der hängt draußen am Schlüsselbrett.“

„Ich würde dir gerne noch ein paar weitere Fragen stellen, außer du fühlst dich noch nicht stark genug.“

„Doch, geht schon.“

„Eigentlich ist es nur eine Frage. Ich hatte dich bei unserem letzten Besuch beobachtet. Ich denke, du hattest in letzter Zeit schon Kontakt zu deinem Vater. Vielleicht wolltest du vor deinen Großeltern darüber nicht reden.“

„Ja, stimmt schon“, nickte sie. „Meine Oma dreht durch, wenn ich über meinen Vater rede, wegen damals. Aber er ist doch mein Vater.“

„Ich bin ganz deiner Meinung. Nur weil jemand eine Dummheit begangen hat, auch wenn es eine riesengroße ist, soll man sich nicht endgültig abwenden. Vielleicht bereut derjenige das eines Tages und ist froh, wenn noch jemand mit ihm redet.“

„Meine Oma sieht das anders. Und der Opa ist auf Paps sowieso stinksauer. Doch, stimmt schon, ich war ihn ein paarmal besuchen. Er hat sich immer riesig gefreut und war so lieb zu mir. Er hat immer gesagt, dass er oft davon träumt, dass wir irgendwann wieder eine Familie sind.“

„Kann ich verstehen, dass du mit den alten Geschäftsproblemen deines Vaters nichts zu tun haben willst. Jetzt ändert sich sowie einiges.“

„Was meinen Sie?“ Sunny blickte überrascht auf.

„Nachdem deine Mutter tot ist, wird er bestimmt das alleinige Sorgerecht bekommen.“

„Das lässt Opa nie zu“, antwortete sie bitter.

„Ich weiß nicht, ob er da mitreden darf.“

„Glauben Sie wirklich?“

„Schon. Wir haben ab und zu mit solchen Familienverhältnissen zu tun. Aber das ist nicht mein Fachgebiet, da möchte ich nicht zu viel versprechen. Ich denke, das wird bald geklärt. Wo hast du ihn denn besucht?“

„In der Ottobrunnerstraße. Ist ziemlich weit von hier, erst mit der S-Bahn, dann mit dem Bus und noch ein Stück zu Fuß. Hab immer eine Ausrede gebraucht, damit meine Großeltern nicht misstrauisch werden.“

Lena hielt, ohne es zu wollen, die Luft an, als sie Ottobrunnerstraße hörte. Blitzschnell überlegte sie, wie sie die nächste Frage formulieren sollte. Dann sagte sie:

„Äääh, ja. Ottobrunnerstraße wissen wir inzwischen“, sagte sie schließlich.

„Ehrlich? Das sollte doch ein Geheimnis bleiben.“

„Nun Sunny. Das herauszufinden ist für uns nicht schwer“, lächelte Lena. „Wir sind doch die Kripo. Dein Vater ist dorthin umgezogen und das wird im Einwohnermeldeamt registriert.“

„Ach so“, nickte Sunny.

„Er hat aber dort keine eigene Wohnung, bei wem klingelst du denn?“

„Überhaupt nicht. Er wartet immer unten auf mich. Sein Name steht nicht am Klingelschild. Er wohnt bei einem Freund, der hat eine ziemlich große Wohnung.“

„Weißt du, wie der Freund heißt?“

„Klar. Der heißt Slim.“

„Slim? So einen Namen habe ich noch nie gehört.“

„Ja, weil er so dünn ist.“

„Ach so, er ist dünn und klein?“

„Nein dünn und groß“, sie lächelte leicht.

„Und wie alt?“

„Weiß ich nicht. Vielleicht so alt wie Paps.“

„Und sein Familienname?“

„Den weiß ich nicht, ist mir auch egal. Aber wir sind immer in den zehnten, nein, ich glaube in den neunten Stock gefahren.“

Lena war enttäuscht. Ein letzter Versuch: „Wenn ihr euch getroffen habt, hast du ihn angerufen, oder hat dein Vater hier angerufen?“

„Der darf hier nicht anrufen. Opa legt sofort auf. Nein, ich habe ihn immer angerufen.“

„Sagst du mir auch die Telefonnummer?“

„Ja.“ Lena schrieb die Nummer auf.

Sunny erklärte noch: „Aber er nimmt nicht mehr ab. Ich hab schon x-mal angerufen. Vielleicht will er nichts mehr von mir wissen.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Okay, Sunny, ich hab dich lange genug belästigt, jetzt verschwinde ich wieder. Morgen oder übermorgen bringe ich dir deinen Computer zurück. Darf ich dir eine Tafel gute Schokolade mitbringen, weil du so lange warten musst.“

„Eh, nein. Bloß keine Schokolade. Da werde ich ja noch dicker.“

„Wenn du dick ist, was bin dann ich?“

„Ist mir egal, ich mag keine Schokolade?“

„Vielleicht was anderes?“

„Höchstens Gummibärli, wenn‘s schon sein muss.“

„Okay.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752118407
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Freunde Technik Geheimnis Beamen Fantasy Spannung

Autor

  • Ben Lehman (Autor:in)

Ben Lehman kommt aus dem Bayerischen Wald und lebte in München. Seit zehn Jahren ist der Starnberger See seine neue Heimat. Der Informatiker arbeitete als Programmierer und Systemanalytiker, auch in internationalen Unternehmen in New York und Northampton. Sein erfolgreiches Softwarehaus wurde vor einigen Jahren veräußert. Danach begann er seine ehrenamtliche Tätigkeit für die Peter-Ustinov-Stiftung bis zu dessen Tod, Schwerpunkt die Organisation der Peter-Ustinov-Mädchenschule in Afghanistan.
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Titel: Der fantastische Kron