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MARTHA

Anarchie

von Franziska Szmania (Autor:in)
379 Seiten
Reihe: Selvia-Reihe, Band 2

Zusammenfassung

Die Insel Selvia, kurz nach der Rebellion gegen das männliche Herrschaftssystem unter Präsident Adam. Martha sieht sich endlich am Ziel. Ihr Kampf gegen die männlichen Unterdrücker scheint erfolgreich. Doch dann wird ihr der lang ersehnte Studienplatz an der Hochschule für Medizin verwehrt. Weil sie eine Frau ist. Der Herrscher ist gestürzt. Das System besiegt. Wo die meisten Geschichten enden, beginnt diese! Kann ein jahrhundertelanges System so einfach ersetzt werden? Sind die Männer wirklich bereit ihre Patriarchat aufzugeben? Kann es Freiheit und Wohlstand für alle geben? <p>MARTHA ist Teil der Selvia-Reihe und kann unabhängig von EVA gelesen werden. Abgeschlossenes Ende. Enthält Szenen mit Angst, Tod und Gewalt.<p>

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über das Buch

Die Rebellion scheint erfolgreich. Präsident Adam ist gestürzt und die neue Regierung verspricht umfassende Änderungen, um die Stellung der Frau anzugleichen. Doch egal, was die neue Regierung verspricht, für einige Männer besteht das Herrschaftsrecht auf der Insel Selvia weiter. Der Kampf scheint noch nicht zu Ende. Ein Verrat in den eigenen Reihen lässt Martha zweifeln. Wem kann sie noch trauen und wie weit muss sie gehen, damit sich endlich etwas ändert?

Enthält Szenen mit Angst, Gewalt und Tod.

Für Martin.

Den Mann an meiner Seite.

Alles, aber nicht das.

Es ist tiefseestill. Niemand sagt ein Wort. Nur das Dröhnen des Busmotors ist zu hören. Die Mienen meiner Mitfahrer sind angespannt. In meiner Brust ballt sich die Angst zu einem Klumpen zusammen. Ich sitze neben Felix. Er hat mit sich gehadert, ob er Éli allein zurücklassen kann. Aber Éli wird als Techniker in der Kommandozentrale gebraucht.

Froh, dass er sich entschieden hat, mich zu begleiten, lasse ich meinen Kopf gegen seine Schulter fallen. Mein Magen gluckst und mir ist leicht übel. In mir brodelt es wie das Meer vor einem Vulkanausbruch. Entweder werde ich explodieren oder zusammenbrechen. Ich konzentriere mich auf unser Ziel und starre durch die Scheibe.

Bis auf den inneren Stadtring haben wir ganz Selvia eingenommen.

Aaron und die anderen sind vor einer Woche los, um Präsident Adam zu stürzen. Hinter mir liegen sieben Tage elendes Warten auf eine Nachricht. Bangen, hoffen und beinahe verrückt werden. Lebt Aaron noch? Ist er verletzt?

Bis endlich eine Drohne mit dem Rebellenzeichen aufgetaucht ist, doch Éli hat nicht viel herausgefunden. Die Drohne war kaputt und unsere Technik ist zu marode. »Bitte kommen!«, war alles, was er entziffern konnte.

Wer und wohin genau wir kommen sollen, konnte er nicht in Erfahrung bringen. Also habe ich mich mit einem Rettungsteam aufgemacht, um Aaron und die anderen zu suchen und herauszufinden, ob sie erfolgreich waren. Ist Präsident Adam besiegt? Das Warten hat ein Ende, aber die Freude darüber, endlich etwas tun zu können, wird Stück für Stück von Angst aufgelöst. Was erwartet mich?

Das hier ist nicht nur ein Kampf um Essen, sondern ein Kampf um eine ganze Insel. Ein Kampf gegen alle, die sich unserem Ziel nicht verschrieben haben. Bürger, die meinen, wir Frauen sollten keine Rechte bekommen. Bürger, die glauben, es sei richtig, dass andere hungern, damit sie im Reichtum leben können. Ich umklammere die Waffe, die auf meinem Schoß liegt. Hoffentlich schwimmen wir in keine Falle. Ich hätte mehr üben sollen.

In meinem Hirn suche ich nach den Funktionen der Knöpfe am Griff, die Aaron mir oft genug auf dem Schießstand erklären musste.

Mein Verstand sträubt sich. Ich ziehe meine Hände zurück und schiebe die Waffe auf meinen Schoß weit von mir. Der Geschmack von Blut breitet sich in meinem Mund aus. Ich löse die Zähne von den Lippen und bewege meinen Kiefer hin und her. Es knackt. Felix spekuliert leise mit unserem Sitznachbarn darüber, was vorgefallen sein könnte.

Ich blende es aus, empfinde es als nervenaufreibend. Es schürt meine Angst, die mir kalte Schauer über den Rücken schickt, nur noch mehr.

Wir wissen nichts. Sind unvorbereitet. Trotz der Waffen vom Festland, von Abels wichtigsten Verbündeten.

Lillits Worte, das dies seinen Preis haben wird, klingeln mir in den Ohren. Aber das kann ich jetzt nicht mehr ändern. Ich muss mich auf die bevorstehende Mission konzentrieren.

Ich lockere meine Schultern. Reiß dich zusammen, Martha!, weise ich mich selbst zurecht und ignoriere den Klumpen in meiner Brust. Wenn ich mich jetzt von der Angst überwältigen lasse, bin ich niemandem eine Hilfe. Der Bus rumpelt und holpert und ich halte mich an dem Griff neben mir fest.

Wir fahren an grauen Gebäuden vorbei. Mehr erkenne ich nicht. Zu milchig ist die Scheibe.

Jemand schreit und ich zucke zusammen. Ich springe auf, um den Grund herauszufinden. Auch Felix steht auf und ich lehne mich schwankend an ihn. Er ist zwei Köpfe größer als ich und um einiges schwerer. Ihn wirft so schnell nichts um. Durch die Frontscheibe erkenne ich riesige graue Paläste.

Wir nähern uns dem Zentrum.

Ruinen und Trümmer säumen unseren Weg. Menschen stehen apathisch an der Straße und starren den Bus mit leeren Augen entgegen.

Die Häuser weisen große Einschusslöcher auf oder sind in sich zusammengebrochen. Die Menschen haben keinen Zufluchtsort.

Womit wurde hier gekämpft? Unsere Waffen hätten diese Zerstörung nie anrichten können.

Vieles habe ich mir vorgestellt. Dass die Straßen leer sind. Die Menschen sich vor uns verstecken. Dass die Schutzpolizei die Straßen kontrolliert und die Rebellen gefangen genommen wurden.

Alles habe ich erwartet.

Dass wir gewonnen haben. Mit Glanz und Gloria.

Dass wir verloren haben. Sang- und klanglos.

Alles, aber nicht das.

Und plötzlich zerreißt mich die Sorge um Aaron. Mein Herz schlägt schmerzend in meiner Brust. Ich setze mich und atme tief ein. Versuche, mich zu beruhigen. Halte mich an dem Gedanken fest, dass er auf sich aufpassen kann, auch wenn das bei dieser Zerstörung bedeutungslos ist.

Stotternd bleibt der Bus stehen.

»Wir müssen aussteigen. Die Straße ist versperrt«, ruft Thomas, unser Fahrer.

Geschäftiges Chaos bricht aus. Alle greifen nach ihren Taschen und drängen zur Tür. Mein Atem geht keuchend und vor meinen Augen flimmert es. Der Geruch von Verbranntem dringt in meine Nase. Ich werde von Felix nach vorne geschoben und zwänge mich durch die Schiebetür.

Draußen atme ich die stickige Luft ein und schaue mich um. Ich war noch nie zuvor in der Stadt. Mein Weg hat mich nie weiter als bis zu den Versorgungszonen gebracht. Die Hitze des Sommers umhüllt mich und legt sich mit dem Rauch auf meine Haut.

Für einen Moment habe ich das Gefühl, nicht atmen zu können.

Die Häuser müssen vor ihrer Zerstörung einen übermächtigen Eindruck gemacht haben. Auch halb vorhanden, schüchtern mich die eingestürzten Gebäude aus festem Gestein ein. Funkelnde Scherben liegen zu meinen Füßen. Ich hebe eine auf und schneide mich prompt an einer Ecke. Glas. Echtes Glas.

»Was ist hier passiert?«, frage ich mich selbst und lasse das Stück fallen.

Felix kommt an meine Seite. Schweißperlen rinnen sein Gesicht hinunter und seine blonden Haare hängen ihm bereits nass in die Stirn.

»Suchen wir unsere Freunde«, sage ich etwas lauter zu ihm.

»Alles klar!«, antwortet er und schultert seinen Rucksack. Orange leuchtend fällt er in der grauen Welt auf.

»Ich wette, so haben sich Aaron und Chamuel das nicht vorgestellt«, rede ich, ohne eine Antwort zu erwarten.

Abel und seine engsten Vertrauten sind von einer schnellen Übernahme ausgegangen.

Wir gehen langsam durch die Straßen. Die Stadtbürger, die scheinbar aus den Häusern fliehen konnten, haben sich in die Ruinen zurückgezogen. Sie drängen sich in den Schatten, um der beißenden Sonne zu entkommen. Halb versteckt zwischen zerbrochenen Mauern, spüre ich ihre Blicke unangenehm auf meiner Haut. Sie sagen kein Wort, was die Situation umso gespenstischer wirken lässt. Ihre Gesichter und Kleidung sind mit grauem Staub bedeckt. Mit meiner Zunge fahre ich mir über die trockenen Lippen. Ich traue mich nicht, meine Flasche aus der Tasche zu holen und etwas zu trinken. Haben wir genug, um alle zu versorgen?

Einer unserer Sanitäter geht auf eine kleine Gruppe Bürger zu, die müde und zusammengesunken in einer engen Gasse zusammenstehen, doch sie weichen zurück. Eine Frau schreit.

Wovor haben sie Angst?

Ein Surren lenkt meine Aufmerksamkeit nach oben. Überrascht erkenne ich Drohnen, die ziellos über den Himmel fliegen. Dröhnend nimmt die rechte Kurs auf eine Häuserreihe. Mein Mund steht offen. Ich will ›stopp‹ schreien, doch sie kracht, ohne zu bremsen, in die Häuserwand und zerschellt in Einzelteile.

Erschrocken ziehe ich den Kopf ein. Was auch immer passiert ist, die Schaltanlage für die Drohnen ist nicht mehr unter Kontrolle. Ein gutes Zeichen? Ein schlechtes?

Ich fühle mich beobachtet und stelle mich dichter zu Felix.

Ein Kind versteckt sich hinter den Beinen einer Frau. Seine Kleidung wirkt trotz des Schmutzes feiner als meine beste Hose. Ein Kind im Anzug. Ein Erwachsener im Miniaturformat.

Ich konzentriere mich auf meine Aufgabe. Dränge das ungute Gefühl, welches sich zu dem Klumpen Angst in meiner Brust gesellen will, weg und ergreife die Hand von Felix. Auch er hat bisher kein Wort gesagt.

Die Ungewissheit um Aaron, die bizarre Situation vor Ort und eine böse Vorahnung treiben mich an. Ich möchte etwas tun. Irgendwas.

Wir marschieren los, arbeiten uns Schritt für Schritt vor. Klettern über Trümmer und umlaufen Autos, die zum Teil umgeworfen auf der Straße liegen. Hier hat keine Übernahme stattgefunden, sondern ein Krieg.

Eine weitere Drohne fliegt über unseren Köpfen hinweg. Eine mit dem Rebellenzeichen. Irritiert schaue ich ihr nach. Sie fliegt in Zickzack-Kurven zwischen den Dächern. Ist sie kaputt? Oder sucht sie etwas?

Greifarme fahren aus der Unterseite. Nein, keine Greifarme, sondern längliche Rohre. Ich bleibe stehen. Die Stangen schwenken hin und her, als suchten sie etwas. Die Menschen um uns herum rennen los. Das Kind weint und die Bürger rufen durcheinander.

Es knallt und ein zerstörtes Haus fällt komplett in sich zusammen. Das Beben fährt mir in die Glieder und ich strauchle. Ich halte mich an Felix fest, der ebenfalls beinahe gestürzt wäre. Hustend ziehe ich ihn von der aufkommenden Rauchwolke weg. Meine Augen tränen und ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll. Was ist passiert? Doch mein Verstand verweigert mir die Antwort.

Die Drohne zielt und feuert immer weiter auf die Trümmer. Das Zeichen der Rebellion prangt groß auf dem Fluggerät. Der Lärm ist ohrenbetäubend und vermischt sich mit den Schreien der Menschen um mich herum.

»Wir müssen weg«, schreie ich Felix an und renne. Er stolpert mir hinterher und ich umfasse seine Hand fester, um ihn nicht zu verlieren.

Mit der anderen taste ich durch Luft, um nicht gegen ein auftauchendes Hindernis zu rennen.

Ein einziger Gedanke schießt mir durch den Kopf: Was haben wir getan!

Wir rennen und rennen. Überall um uns herum brummen die Motoren der Drohnen. Sie schwirren über unseren Köpfen und feuern wahllos auf Häuser. Der Qualm nimmt nicht ab. Hustend und mit tränenden Augen falle ich über einen dicken Brocken, der sich im Rauch vor mir versteckt hat. Ich lande unsanft auf der Seite.

Ich erhebe mich stöhnend. Rufe tönen aus einem zertrümmerten Gebäude.

»Was ist das? Wer ruft da?«, brülle ich.

»Egal! Wir müssen weg. Bevor wir getroffen werden.« Felix greift meinen Oberarm und will mich wegziehen.

Die Schreie werden lauter. Jemand kreischt eindeutig »Hilfe«.

Ich wende mich von Felix ab und dränge in Richtung des Hilferufs. Kurz fasst Felix mich fester, doch ich reiße mich vom ihm los.

Diese Menschen waren vor einem Wimpernschlag meine Feinde, aber das habe ich nicht gewollt.

Wir sind hier, um zu helfen. Unsere Wut hat sich auf die Regierung und seine Anhänger gerichtet. Nicht auf Familien und Kinder. Mag sein, dass sie im Luxus gelebt haben, während ich zusah, wie meine Mutter verhungerte. Mag sein, dass sie ihren goldenen Käfig geliebt haben, während ich beinahe meinen Körper verkaufen musste.

Aber ich bin nicht wie die Männer der Regierung – Monster, aufgestiegen aus den Untiefen des Meeres, um alles zu vernichten.

Ich steige durch ein Loch in einer Häuserwand auf der Suche nach dem Ursprung der Rufe. Dankbar nehme ich wahr, dass Felix mir folgt.

Drinnen ist es dunkel, nur schemenhaft erkenne ich eine Wohnung. Zu Bruch gegangene Möbel versperren uns den Weg. Ich klettere über einen Tisch, der in zwei Teile zerbrochen ist – nie wieder als Sammelplatz für familiäre Abendessen herhalten wird.

Die Schreie werden lauter und ich zwinge meine Gedanken wieder zu unserem Vorhaben.

Felix reicht mir seine Hand und gemeinsam kämpfen wir uns durch die Wohnung.

Ein Schrank liegt umgekippt auf dem Boden. Eine Bewegung lässt mich näher herantreten und ich entdecke eine Frau unter dem Koloss. Ich begutachte ihren Körper, der ab dem Rumpf vom Möbelstück bedeckt ist. In den Armen hält sie ein Baby. Mit schmerzverzerrter Miene hebt sie mir ihr Kind entgegen. Tränen fließen ihre Wangen herunter und verfangen sich in ihrem strähnigen Haar.

Wie lange liegen die beiden bereits hier?

»Bitte«, flüstert sie. Ich hocke mich hin und ergreife den leblosen, kleinen Menschen. Er ist kalt und starr. Ich schlucke und lege es behutsam zur Seite. Felix hievt den Schrank hoch. Ich greife der Frau unter die Arme und ziehe sie heraus.

»Mára«, schluchzt sie.

Wahrscheinlich das Baby. Sie langt mit den Armen in Richtung ihres Kindes. Aufstehen kann sie nicht. Ihre Beine liegen merkwürdig verrenkt auf den Boden.

Es genügt ein Blickwechsel mit Felix und er bricht schweigend ein Brett aus dem kaputten Schrank.

In diesem Zustand ist es nicht gut, die Mutter über den Tod ihres Kindes aufzuklären. Stattdessen lege ich ihr das Baby in die Arme.

»Alles wird gut«, lüge ich sie an, weil mir nichts Besseres einfällt.

Mit Felix hebe ich die Frau auf die improvisierte Trage. Gemeinsam schaffen wir es, sie auf die offene Straße zu bringen. Unschlüssig bleibe ich stehen. Das Surren der Drohnenmotoren entfernt sich. Es ist immer noch nebelig, aber sie haben aufgehört, zu schießen.

»Was ist? Wir müssen weg von der Straße!« Felix Stimme klingt drängend.

»Wohin sollen wir?« Ich weiß nicht, wo es sicher ist. Die Drohnen könnten wiederkehren.

Langsam legt sich der Rauch und ich erkenne die Umgebung besser.

»Dorthin, wo keine Gebäude stehen. Die Drohnen haben es anscheinend auf sie abgesehen.« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Felix sich zu orientieren versucht.

Wir marschieren weiter. Meine Schultern verkrampfen wegen der schweren Last und ich beiße die Zähne aufeinander. Bloß nicht loslassen, Martha.

Die Frau wiegt ihr totes Baby und singt unverständliche Lieder. Bei jeder zu harten Bewegung unterbricht ein Schmerzenslaut ihre wirren Worte.

Erleichtert entdecke ich unsere Leute, die ebenfalls verletzte Bürger die Straße hinaufbegleiten.

Thomas kommt uns entgegen. »Wir benutzen den Bus als Anlaufstelle«, erklärt er uns und weist mit der Hand in die Richtung des Fahrzeugs. Dort wurden Zelte aufgebaut. Hoffentlich ziehen sie nicht die Drohnen auf uns.

Keuchend überwinden Felix und ich mit der Trage die letzten Meter bis zum Bus.

Wir legen die Trage ab und ich hocke mich daneben, suche den Blick der Mutter. »War noch jemand im Haus?«

Sie schüttelt wimmernd den Kopf, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mich verstanden hat.

»Lass es, Martha. Wir müssen zum Regierungszentrum, Abel und die Jungs finden.« Felix zieht mich von ihr weg.

Mein Blick fährt über die Menschen, die vorsichtig nähertreten. Ich sehe mit Schaudern die vielen zerstörten Häuser. Wie viele sind noch darin eingeschlossen?

»Nein, Felix. Ich bleibe. Ich kann die Menschen nicht einfach zurücklassen.«

»Denen helfen wir später.« Felix legt seine Hände auf meine Schultern und erzwingt meine Aufmerksamkeit.

Ich schüttle ihn ab. »Später werden die meisten unsere Hilfe nicht mehr brauchen.« Ich nicke zu dem toten Baby.

Er sieht an mir vorbei zu der Frau. »Was ist mit Aaron?«

Ich verkrampfe. »Johannes und Esther werden sie aufspüren können. Sie kennen sich hier am besten aus.«

Ich drehe mich nach den beiden ehemaligen Städtern um.

Felix seufzt. »Gut. Wir bleiben.«

»Danke.«

Ich gebe die Anweisung, dass Johannes und Esther und ein weiterer Sanitäter nach unseren Freunden suchen sollen. »Wir restlichen Sechs durchkämmen die Häuser und versorgen im Bus die Verletzten.«

Es gibt keine Diskussion und ich bin erstaunt, dass die anderen tun, was ich ihnen sage.

Die aufkommende Dämmerung sorgt für Erleichterung. Dankbar sehe ich zu, wie die Sonne vom grauen Himmel verschlungen wird. Die Luft kühlt ab.

Felix und ich kehren in unser provisorisches Lager zurück.

Mittlerweile haben die meisten Bürger verstanden, dass wir hier sind, um zu helfen. Dennoch werden wir von vielen argwöhnisch betrachtet. Einige haben uns gefragt, ob wir von der Regierung geschickt wurden oder zu den Rebellen gehören.

Dass ich keine Antwort gebe, entsetzt mich und macht mir die Situation klar. Könnten wir die Bösen sein?

»Wir sind zum Helfen da«, wiederholt die Sanitäterin namens Sára immer wieder.

Wir legen Verbände an und verteilen Proviant.

Viele Wunden sind verschmutzt und entzündet. Fliegen fallen in Scharen über uns her. Es mangelt an Wasser, um die Verletzungen zu säubern und den Durst aller zu stillen.

Ich falle müde gegen die Buswand und sinke auf den Boden. Eine kurze Pause. Nicht mehr.

Ich schrecke hoch, als das Mondlicht sich durch die Wolken kämpft. Mein Blick fällt auf eine Bewegung die Straße hinunter.

Dunkle Gestalten tummeln sich dort, sind auf dem Weg zu uns.

In meinen Gedanken schrillen die Alarmglocken. Ich rapple mich auf, obwohl meine müden Beine sich beschweren und mein Kopf sich nach Schlaf sehnt. Wir haben keinerlei Sichtschutz aufgebaut. Ein Fehler, der uns teuer zu stehen kommen könnte. Ich presse die Zähne aufeinander. Vielleicht schon jetzt.

Felix kommt an meine Seite und hebt seine Waffe.

Wo ist meine?

Die anderen stellen sich in einem Halbkreis vor uns und den Bürgern auf. Die Läufe ihrer Waffen schimmern im Mondlicht. Ich presse mich gegen den Bus.

Ach ja. Meine Waffe liegt auf meinem Platz. Wie konnte ich nur so dumm sein?

Ich hocke mich hin und lege die Finger auf meine Lippen. Die Gespräche unserer Patienten verebben.

Alle Blicke richten sich auf die Ankömmlinge. Ein Kind weint.

Ich halte den Atem an.

Das Elend meiner Hütte …

Die Nacht legt sich über die Siedlung und das fahle Licht der Sonne schwindet. Das Elend meiner Hütte versteckt sich in der Dunkelheit, als ob es sich schämen würde. Ich wälze mich hin und her. Mein Rücken schmerzt vom harten Boden.

Vorgestern Nacht hat mir jemand die Matratze gestohlen. Der Ärger drückt wie ein spitzer, schwerer Stein in meinem Magen. Könnte aber auch Hunger sein. Ärger und Hunger vertragen sich nicht gut.

Ich recke mich und strecke den Kopf unter der Decke hervor. Der Fetzen Stoff, der meinen dünnen Körper umhüllt, hat diesen Namen eigentlich nicht verdient. Meine Füße sind eiskalt und eine Gänsehaut überzieht meine Haut.

Es wird Herbst. Am Tag schafft die Sonne es, meine Behausung aufzuwärmen, doch sobald sie untergegangen ist, wird es eiskalt.

Ich stehe auf und schlurfe durch den Raum auf eine Schüssel Wasser zu. Von gestern ist eine kleine Pfütze übrig. Zu schmutzig, um es zu trinken, aber noch gut genug für das Gesicht. Das eiskalte Wasser weckt meine letzten Lebensgeister und ich überlege, wo ich etwas zu essen herbekomme.

Als ich aus meiner Hütte trete, stelle ich fest, dass es zu spät ist. Die Dunkelheit hat sich meine Siedlung einverleibt. Bald werden die ersten Kunden erscheinen. Keine Zeit mehr, Ada um etwas zu essen zu bitten.

Sie meint immer: »Schlafen können wir, wenn wir tot sind.«

Doofer Spruch. Der Schlaf ist die einzige Zeit, in der ich diesem Alptraum vom Leben entkommen kann.

Ich verschließe meine provisorische Tür und laufe an den letzten Blechhütten der Siedlung vorbei. Der schwarze Boden unter mir ist steinig und ich stoße mir immer wieder die Zehen. Die Zone, in der ich lebe, verdankt ihren Namen diesem Lavagestein. Die schwarze Zone. Bewohnt vom menschlichen Abfall der Insel. Abfall wie mir.

Ich verdiene meinen Lebensunterhalt dort, wo meine Mutter sich einst verkauft hat. Im fahlen Licht weniger Laternen erwartet mich das Sündenhaus wie ein Monstrum in der Dämmerung. Ich ziehe die Schultern hoch, als ob ich damit mein Gesicht verstecken könnte, und schiebe die schwere Eingangstür auf.

Ein muffiger Geruch weht mir entgegen. Drinnen verbreiten die nackten Glühbirnen ein unangenehmes Licht. Kalt und blass wirken die mir entgegenblickenden Gesichter.

Laute Stimmen erfüllen die Eingangshalle. Die ersten Freier warten bereits am Tresen. Am häufigsten sind die männlichen Bürger vertreten. Anzüge und gezwirbelte Schnurrbärte.

Menschen aus den anderen Zonen können sich die Dienstleistungen dieses Hauses kaum leisten. Ab und zu verirrt sich jemand von dort hierher. Graue Arbeiterklüfte werden von den Dirnen aber nicht gern bedient. Ihre Bezahlung fällt meist wesentlich geringer aus.

Matschige Fußabdrücke säumen meinen Weg zum Tresen. Ich schnappe mir rasch den Wischmopp, beseitige die Spuren, ehe die Herrin des Sündenhauses mein Zuspätkommen bemerkt. Ich führe den Mob in Schlangenlinien über den Boden und meide, so gut es geht, den Kontakt mit den Schuhen der Freier.

»Pass doch auf!«, raunzt mich ein Mann an. Etwas fliegt an mir vorbei und Spucke landet vor meinen Füßen. Ich zucke zusammen, halte aber den Blick fest auf den Boden gerichtet.

»Entschuldigung«, murmle ich und wische angewidert weiter, erlaube mir erst, aufzusehen, als ich den kleinen Flur auf der anderen Seite vor den Zimmern säubere. Durch die fehlende Tür habe ich einen guten Blick auf das Treiben am Tresen.

Ein kalter Lufthauch weht durch die Eingangshalle des Sündenhauses und die Tür knallt ins Schloss. Drei junge Männer betreten das Sündenhaus und setzen sich direkt an die Theke. Einer von ihnen ist ein grauer Anzug. Stadtbürger. Ich betrachte das Dreier-Gespann genauer. Selten kreuzen Jungs ihren Alters alleine hier auf. Meist sind sie in Begleitung ihrer Väter.

Zwei blaugraue Augen mustern mich. Augen wie das stürmische Meer. Für einen Moment glaube ich, der Junge winkt mir zu, doch seine Hand streicht nur durch seine dunklen Haare. Sie sind perfekt geschniegelt.

Verwundert stelle ich fest, dass er keinen Anzug trägt. Eine Hose und ein schlichtes Oberteil lassen nicht erahnen, zu welchem Ring er gehört.

Vom anderen Flur winkt mir Ada zu. Erschrocken suche ich den Raum nach Frau Chogla ab. Sie ist nicht da. Ich atme erleichtert aus. Nicht auszudenken, was mir geblüht hätte, wenn sie mein Starren bemerkt hätte. Ich raffe meine Putzsachen zusammen und eile zu Ada.

Mit gesenktem Kopf gehe ich an den Jungs vorbei.

»He Du!«, ruft jemand hinter mir, aber ich drehe mich nicht um. Das gehört noch nicht zwingend zu meinen Aufgaben. Erst in zwei Jahren. Ich gehe weiter und tauche hinter den Frauen, die auf Freier warten, ab.

Im rechten Flur angekommen, drehe ich mich um. Der schwarzhaarige Junge mit den Sturmaugen steht an der Seite eines Rotschopfes, der einen Kopf größer ist und ein wenig trainierter wirkt. Auch er trägt nur eine Hose und einen schwarzen Pullover. Für Städter ungewöhnlich lässig.

Die Jungs fordern etwas zu trinken.

Éli hat wieder Tresendienst. Sicher hantiert er mit den Gläsern und Flaschen und wirkt wie die Ruhe selbst. Die meisten schätzen ihn wegen seines Aussehens jünger als seine 16 Jahre ein. Er ist einer der wenigen männlichen Bewohner, die einen Broterwerb haben, bei dem sie ihren Körper nicht verkaufen oder Müll sammeln müssen. Dennoch muss er sich hier eine Menge gefallen lassen. Auch jetzt prasseln Beleidigungen auf ihn ein.

»He Schwuchtel, komm her und bediene uns. Aber wehe du schaust mich dabei an.«

Ist das der Junge? Nein, der Anzugträger. Meine Erleichterung darüber fühlt sich seltsam an. Sind das die Hormone, von denen Ada immer spricht?

Éli ignoriert die Bemerkungen und schenkt ihnen nacheinander ein Bier aus.

»Was soll das für ein Gesöff sein? Wir wollen was Richtiges. Whiskey!«, mault der Anzugträger.

Was glauben die, wo die hier sind? Whiskey. Das gepanschte Bier ist das höchste aller Gefühle. Woher Frau Chogla das bekommt, will ich gar nicht wissen. Von der Farbe her könnte es genauso gut Urin sein.

Ein Herr grabscht mir an den Hintern. Ich unterdrücke ein Quieken und sehe auf.

Der Mann glotzt mich aus kleinen Augen an, die tief eingesunken in einem fetten Gesicht liegen. Mit der Zunge leckt er über seine Lippen und wandert mit den Augen über meinen Körper. Der Ekel überrollt mich wie eine Welle aus Algen und Schlamm. Ich stelle mir vor, was er sieht. Ein dürres Mädchen, in Lumpen gekleidet. Zerzauste braune Locken, die herabhängen, weil sie schon länger kein Wasser gesehen haben. Die Narbe im Gesicht, die von meinem rechten Auge bis zu meinem Kinn reicht. Sie senkt meinen Preis. Oder steigert ihn. Je nachdem, wonach es den Männern gelüstet.

Meine Hand ballt sich zu einer Faust. Am liebsten möchte ich ihm eine klatschen und mich gleichzeitig übergeben.

Meine Mutter hat mich schwören lassen, dass ich dieses Haus nie betreten werde. Sie arbeitete hier, um uns durchzubringen. Aber mir sollte diese Zukunft nie bevorstehen. Sie legte großen Wert auf eine gute Erziehung. Stets sollte ich mich gewählt ausdrücken und mich sorgsam kleiden. Wofür weiß ich bis heute nicht. Die meisten lachen über meine Ausdrucksweise und schimpfen mich Möchtegern-Bürgerin, wenn ich in die Sprache meiner Mutter verfalle.

Nach ihrem Tod blieb mir keine Wahl. Der Hunger trieb mich zu Frau Chogla. Warum auch immer, gab sie mir eine Anstellung als Mädchen für alles – außer dem Schmutzigen, sagte sie damals. Dafür musste ich ihr versprechen, meinen Körper ihrem Haus mit sechzehn Jahren zur Verfügung zu stellen. Was das bedeutet, habe ich erst mit der Zeit begriffen.

Zum Glück hat mich die Dirne Ada unter ihre Fittiche genommen. Ohne sie wüsste ich nicht, wo ich heute stünde. Ich vermisse meine Mutter. In meiner Kehle bildet sich ein Kloß. Ich flüchte in das erstbeste Zimmer und vertreibe die Gedanken an sie.

Schwer atmend greife ich nach dem schmutzigen Laken und zerre es von der fleckigen Matratze. Meine Gedanken wirbeln wie ein Tornado. Soll das mein Leben sein?

Hastig klemme ich mir den Stoff unter die Arme. Wenn ich zu lange brauche, gibt es Ärger, also bringe ich ihn in die kleine Wäschekammer und kehre an den Rand der Eingangshalle zurück.

Die Jungs sitzen weiterhin am Tresen. Noch lauter als zuvor, doch offensichtlich traut sich keiner von ihnen, eine Dirne anzusprechen.

Flautenbengel.

Mein Mund ist trocken und ich hadere mit mir, brauche dringend etwas zu trinken, ehe ich mich dem nächsten Zimmer zuwende, die im Moment laut Schildern sowieso alle besetzt sind.

Ich versuche, mit der Umgebung zu verschmelzen und unerkannt zum Tresen zu gelangen, rutsche an die äußerste Ecke und winke Éli zaghaft zu.

Er schenkt mir ein Glas Wasser ein und reicht es mir. »Alles gut, Martha?«

Ich nicke nur, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, und schiele über den Rand meines Glases zu den Jungs.

Ich betrachte den schwarzhaarigen Jungen. Er hat wirklich schöne Augen. Sein Lächeln wird breiter. Er hat gemerkt, dass ich ihn anstarre. Oh, wie peinlich! Mir wird heiß und ich möchte am liebsten im Wasserstrudel verschwinden.

»Mensch Aaron, hast du dir eine ausgesucht?«, brüllt der Anzugträger und schlägt ihm so derb auf die Schulter, dass er vom Stuhl fällt.

Der Junge namens Aaron schüttelt heftig den Kopf, doch sein Freund hat mich ins Visier genommen.

»He Schlampe, komm her. Mein Freund will was von dir.« Er lacht schallend auf und ich sehe, wie seine Spucke auf Aarons Haare fällt.

Ich überlege, so zu tun, als ob ich ihn nicht gehört hätte, aber Frau Chogla kommt gerade die Treppe hinter dem Tresen herunter. Sie sieht zu mir rüber und bewegt ihren Kopf hektisch hin und her.

Zwar muss ich mich nicht anfassen lassen, aber ansonsten ist der Kunde König. Ansehen dürfen sie mich, wenn sie wollen.

Selten bin ich die erste Wahl. Mein Körper hat noch nicht die erforderliche Form, die den Männern gefällt. Ich würge und schlucke sauren Speichel hinunter. Langsam gehe ich zu ihnen an den Tresen.

Bei diesen weichgekochten Jünglingen brauche ich mich nicht anzustrengen, die kommen wahrscheinlich schon beim Anblick von etwas nackter Haut.

Ich kann mir ein hämisches Grinsen nicht verkneifen und stelle mich breitbeinig vor die Möchtegern-Männer.

»500 Taler für ’ne Stunde«, sage ich und strecke die Hand vor Aaron aus. Mir sinkt das Herz auf den Meeresboden, aber ich unterdrücke die Angst und hoffe, meine Stimme zittert nicht.

Was, wenn sie mit mir in ein Zimmer verschwinden wollen? Ich hoffe, Frau Chogla wird rechtzeitig eingreifen.

»500 Taler, um ein Brett wie dich flachzulegen?«, schimpft sein Freund mich von der Seite an. Die anderen Gäste grölen.

Aaron und sein rothaariger Nachbar werden rot im Gesicht.

»Ich will nicht dich, sondern die da hinten«, sagt der Brüllende und zeigt auf jemanden hinter mir.

»Lass es gut sein, Kaleb«, versucht der Rothaarige seinen Kumpel abzuhalten.

Ich drehe mich um, sehe die Neue. Sie ist vor einer Woche 16 Jahre alt geworden und schaut mich verängstigt an. Ich muss den Jungen von ihr ablenken. Aber wie?

Frau Chogla schubst sie in unsere Richtung. Dummerweise ist sie keine Jungfrau mehr. Die Jungfräulichkeit verkauft Frau Chogla immer an den Höchstbietenden.

Zoar kommt, den Blick auf den Boden gerichtet und am ganzen Körper bebend, an meine Seite.

»Sie kostet mehr«, sage ich leise, damit Frau Chogla es nicht hört. Ich hoffe, der Junge lässt von ihr ab und bleibt bei seiner Protzerei.

Er schüttelt den Kopf: »Ist mir egal.« Er nimmt seine Plakette und hält sie an seine Uhr.

Sie dient als Zahlungsmittel. Ein Ersatz für die DV-Uhren, die sich niemand in dieser Zone leisten kann.

Es piept und der Junge schmeißt Zoar die Plakette zu. Sie fällt klappernd zu Boden. Er lacht auf.

»Die ist so scharf auf mich, die will nicht mal mein Geld«, kreischt er und die anderen lachen verhalten mit.

Ich bücke mich und hebe die Plakette auf. 75 Taler zeigt sie an. Mist!

Er greift nach ihrem Arm und zerrt sie hinter sich her.

Für einen kurzen Moment treffen ihre angsterfüllten Augen meine. Ich kann ihr nur aufmunternd zulächeln und hoffen, dass dem Jungen schnell die Puste ausgeht.

Frau Chogla weist ihnen eine Kammer zu und schaut dann erwartungsvoll zu mir. Sie zeigt auf das Zimmer, aus dem Ada und ein Freier herauskommen.

Ich eile in das mir zugewiesene Zimmer und mache mich als erstes am Bett zu schaffen. Es riecht leicht faulig. Sofort steigt Mitleid und Wut in mir auf. Ada muss sich mit diesen schmutzigen Männern abgeben. Ich verstehe nicht, wieso sie das verdient hat.

Ich wische mit einem fleckigen Lappen Haare und anderes von der Matratze.

Eins ist mir klar: Ich will niemals auf einer dieser Matratzen liegen.

Mit spitzen Fingern hebe ich nasse Tücher vom Boden auf und lasse sie in einen Eimer neben der Tür fallen. Ich falte die Decke und wische zum Abschluss den grauen Boden.

Im Flur will ich in das nächste offene Zimmer gehen, aber Zoars schmerzerfüllte Schreie lassen mich innehalten.

Was macht diese Gräte mit ihr? Ich wende mich zu der Tür, in der sie verschwunden sind, und balle die Fäuste. Am liebsten würde ich ihr zur Hilfe eilen und diesen Kerl verprügeln!

Ich werfe einen Blick über meine Schulter. Frau Chogla sitzt auf ihrem Stuhl und unternimmt nichts, scheint es nicht einmal zu hören. Langsam wende ich mich zur Tür.

Soll ich? Soll ich nicht? Wie groß wäre der Ärger? Ich will die Arbeit nicht verlieren oder auch diese Sachen machen müssen. Meine Hand schwebt über dem Türgriff. Eine Bewegung am Tresen lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich.

Aaron und sein rothaariger Freund springen von ihren Hockern und stürmen auf mich zu. Haben sie Mut gefasst und wollen mitmachen?

Die Jungen schubsen mich zur Seite und ich stolpere nach hinten. Ich greife nach ihnen, um sie aufzuhalten, doch ich bin zu langsam. Sie reißen bereits die Tür auf und stürmen hinein.

Zoar kauert auf dem Bett und wimmert. Der Junge schlägt mit flachen Händen auf sie ein. Zoars Rücken und Po sind dunkelrot.

Aaron packt Kaleb, bevor er sich erneut an Zoar vergreifen kann. Mit Hilfe seines rothaarigen Freundes schleift er ihn hinaus.

Wild fluchend tritt Kaleb um sich. »Hör auf, Kaleb!«, brüllt Aaron und nimmt Kaleb in den Schwitzkasten.

Alle Achtung, so stark habe ich ihn gar nicht eingeschätzt.

Gemeinsam zerren sie ihn aus dem Sündenhaus. Ich stehe da, unfähig, die Situation zu begreifen.

Haben sie Zoar gerade geholfen? Oder ist die Plakette nicht gedeckt und sie müssen abhauen?

Ein Schluchzen reißt mich aus der Starre und ich stürze zu Zoar. Sie weint, zittert und ich helfe ihr hoch.

»Komm«, flüstere ich und verlasse mit ihr das Zimmer.

Ihr Kleid hängt zerrissen an ihren Schultern und sie blutet im Gesicht.

Frau Chogla kommt mit finsterer Miene auf uns zu. Die Herren in der Eingangshalle haben sich uns zugewandt und verfolgen mit einem ekligen Grinsen das Schauspiel, welches sich ihnen bietet.

Ich würde ihnen am liebsten allen ins Gesicht spucken.

»Haut ab!«, schnauzt Frau Chogla uns an.

»Unseren Lohn«, verlange ich und wundere mich, woher dieser Mut kommt. Ich halte meine Hand zögerlich ausgestreckt. Ohne Geld werde ich den nächsten Tag hungern müssen.

Sie wirft mir zwei Plaketten entgegen und ich halte sie mit den Füßen auf, bevor sie wegrollen.

»Das wird ein Nachspiel haben!«

Ich halte lieber den Mund und verschwinde mit Zoar und den Plaketten in die Kühle der Nacht.

Die Jungen stehen auf dem Parkplatz vor dem Sündenhaus und telefonieren.

Schleunigst zerre ich Zoar in die andere Richtung, drehe mich aber noch einmal um.

Er sieht mich an, öffnet den Mund und wendet sich dann ab. Erleichtert, verwirrt, und auch ein wenig froh flüchte ich mit Zoar in die Dunkelheit. Vielleicht ist er wirklich nicht wie die anderen Anzugträger.

Seeigel!, schimpfe ich mit mir selbst. Das sind nur deine Hormone! Der Junge verdreht dir den Kopf!

Er ist wie alle anderen Jungen und Männer. Vielleicht freundlich von außen, aber ein Monster von innen.

Hast Du Hunger?

Der Morgen naht und ich atme tief ein. Alles ist in Nebel getaucht. Die eng aneinander gebauten Unterkünfte, die schief und elend auf nacktem Gestein stehen, wirken wie verwaist. Die meisten Bewohner kommen erst jetzt nach Hause. Das Leben in dieser Zone findet im Dunkeln statt. Wenn die Drohnen wegen der nächtlichen Besucher im Sündenhaus Pause haben.

Hinter der Wohnsiedlung ragt das Selvia-Gebirge wie ein Schutzwall auf. Ich stelle mir vor, wie das Meer an die Küste schwappt. Manchmal weht der Wind den salzigen Geruch des Wassers zu uns hinüber. Nur zwei Stunden Bootsfahrt entfernt liegt das Festland.

Da will ich hin. Eines Tages, falls die vermeintlichen Freunde von meinem Schützling, Isaak, recht behalten.

Laut den selbsternannten Rebellen ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Regierung gestürzt wird.

Ich knacke mit den Fingergelenken. Als Isaak mir das erste Mal von den Plänen der selbsternannten Rebellen erzählt hat, war ich voller Hoffnung. Mittlerweile zweifle ich immer mehr an ihrem Vorhaben. In all dieser Zeit ist nichts passiert. Ich lebe noch immer in dieser Zone und meine Zukunft scheint festgeschriebener denn je.

Der Geruch einer neuen Müllzufuhr weht über die Siedlung. Isaak wird bestimmt dort sein.

Ich fahre mit dem Daumen über die Plakette in meiner Hand und gehe los in Richtung Schwarzmarkt. Danach werde ich meinen Schützling suchen, er hat bestimmt noch nichts gegessen.

Ich schultere den Beutel, nicht ohne mir vorher einen weichen, braunen Apfel in den Mund zu stecken. Matschiges Fruchtfleisch läuft mir das Kinn hinunter, während ich kaue. Ich esse ihn bis auf den Stiel auf und wische mir die Hand am Kleid ab. Das muss genauso dringend gewaschen werden wie mein Körper. Meine Oberschenkel kleben beim Gehen aneinander und verursachen klatschende Schmatzgeräusche. Meine Mutter hatte immer viel Wert darauf gelegt, dass ich sauber und meine Kleidung geflickt war. Ich merke selbst, wie sehr ich seit ihrem Tod vor einem Jahr verwahrlose.

Meine Füße finden nur mühsam einen Weg über den steinigen Untergrund. Die spitzen Steine bohren sich in meine nackten Fußsohlen und reißen mir die Haut auf. Ich brauche dringend Schuhe, aber ich kann mir nichts Neues leisten. Dass ich nicht einfach aufhöre, zu wachsen!

Ich denke an meine Mutter, die nie geklagt hat, wenn ich neue Kleidung oder Schuhe brauchte. Es macht mich wütend. Weil ich wachse und weil ich so leben muss.

Die Sonne geht auf und färbt meine Umgebung orangerot.

Ich passiere ein Plakat an einem grauen Pfahl. Ein vollgeschmiertes Gesicht schaut mich durchdringend an. Präsident Adam. Ich verbinde nichts außer Wut und Abneigung mit ihm. Es ist nicht die Armut, die mich ihn hassen lässt, sondern die Angst vor seinen Taten. Mit Schaudern denke ich daran, dass die nächste Säuberung bald wieder ansteht.

Auch ohne die Schrift lesen zu können, weiß ich, was da steht. Er bietet uns die Reinigung unserer Sünden an.

Viele glauben, man würde umgebracht werden, andere, dass man durchgehend in den Fabriken arbeiten müsste. Dennoch nehmen viele sein Angebot an, um nicht zu verhungern. Was diese Sünde genau sein soll, hat mir bisher niemand erklärt, nicht einmal meine Mutter. Ich nehme an, es ist das, was im Sündenhaus passiert. Sonst würde es nicht so heißen.

Ob solche Plakate auch in den reichen Wohnsiedlungen der Bürger hängen?

Ich lasse die letzten Hütten hinter mir und betrete die Mülldeponie. Die Nachbarzone. Ich steige über die Reste eines kaputten Maschendrahtzauns, der platt auf dem Boden liegt. Er sollte die Steinmauer stopfen, die die Zonen voneinander trennt.

Ich betrete eine Welt aus Rohstoffen, welche weggeworfen von den Inselbewohnern einen Großteil unseres Überlebens sichern.

Eine Matratze liegt am Wegesrand und erinnert mich an mein Vorhaben, mir meine wiederzuholen. Diese sieht ganz okay aus. Nur ein großer Fleck ziert den Stoff. Prüfend taste ich über den Bezug. Leicht feucht. Nichts, was ein paar Tage Sonne nicht trocknen könnten. Ob sie stinkt, kann ich angesichts des umliegenden Mülls nicht einschätzen. Alles wird hier von einem muffigen Geruch überlagert. Er ist vertraut.

Ein riesiger Müllfresser zieht in sicherer Entfernung an mir vorbei. Die Staubwolke, die er aufwirbelt, hüllt mich ein. Hustend bleibe ich stehen und verdecke mein Gesicht. Langsam zieht die riesige Maschine ihre Bahnen und zerkleinert den Müll. Hinter ihm fährt ein Mülltransporter, welcher die zusammengepressten Reststoffe zu der Recyclinganlage transportieren wird.

Es ist nicht ungefährlich, sich hier aufzuhalten. Müllsortierer, Roboter mit Zangen, suchen im Müll nach bestimmten Wertstoffen und die Müllfresser verschlingen alles, was ihnen unter die Schaufeln kommt. Egal ob Möbelstück oder Mensch. Hier läuft alles automatisch.

Der Staub legt sich und ich gehe weiter. Hinter einem weiteren Müllberg entdecke ich Isaak und zwei weitere, hagere Gestalten, die auf einem der größeren Hügel herumklettern. Issak hat irgendwas Schwarzes in den Händen. Hoffentlich etwas Brauchbares.

Hier muss man schnell sein. Alles auf der Insel wird recycelt und lagert nur vorübergehend an diesem Ort. Wer sich weigert, seinen Körper zu verkaufen, ist gezwungen, auf der Müllhalde nach Material zu suchen, um es an die Bewohner der Schwarzen Zone zu verhökern. Habe ich auch mal gemacht. Aber die Arbeit bei Frau Chogla bringt mehr.

»Isaak!« Ich winke mit meinem Beutel. »Hast du Hunger?«

Er richtet sich auf und kommt heruntergeklettert. Mein Schützling redet nicht viel. Das ist in Ordnung. Er tut es nicht aus Respektlosigkeit, sondern weil er stottert. Aus seinem Mund kommen nur die nötigsten Wörter.

Seine Augen werden bei den Haferflocken und einigen Maden, die ich aus der Tasche befördere, immer größer. Schon sind seine Freunde, ein junger Mann und ein dürres Mädchen, das mindestens zwei Jahre jünger ist als ich, bei uns.

Ich zögere. Ich kann mir Teilen nicht erlauben. Das Essen muss für länger als einen Tag reichen. Wer weiß, ob Frau Chogla mich die nächsten Nächte bezahlt.

Das Mädchen sieht mit fiebrigen Augen zu mir. Ihr Gesicht ist trotz der Kühle von einem Schweißfilm bedeckt. Das gibt den Ausschlag.

»Langt zu«, fordere ich sie auf und greife zu den Maden. Sie bewegen sich kaum und daher werfe ich sie mir, ohne nachzudenken, in den Mund.

Eine heiße Flamme der Wut …

Eine riesige Hütte taucht vor mir auf. Sie liegt versteckt hinter einem großen Felsen und ist gut abgesichert. Jegliches Material wie Kunststoff, Felsen und anderes von der Mülldeponie, das ein wenig härter ist, haben die selbst ernannten Rebellen verbaut.

Die Männer und Frauen, die hier hausen, haben sich Großem verschrieben: dem Sturz der Regierung. Bisher sind sie diesem Ziel nicht einen Schritt nähergekommen. Die Schwierigkeit, hier überhaupt zu überleben, und der Mangel an Möglichkeiten haben jeden Plan vereitelt.

Isaak ist dennoch hellauf begeistert von ihnen. Ich stelle mich ihm nicht in den Weg. Ein klitzekleiner Teil von mir hofft, durch sie aufs Festland zu gelangen.

Ich reiße die Tür auf und betrete eine dämmrige und stickige Halle. Laut rufe ich nach Isaak.

Einige Köpfe schnellen in die Höhe. Unter ihnen ist ein Mann mit weißen Haaren.

Die Rebellenhütte ist in zwei Bereiche eingeteilt. Vorne die sogenannte Versammlungshalle – oder wie ich sie gerne bezeichne, das Auffangbecken für primitive Plattfische. Abgetrennt durch eine Kunststoffwand liegt hinten der private Bereich von Abel. Er ist der selbsternannte Rebellenführer.

»Martha, was soll das? Wir sind mitten in einer Besprechung«, beschwert dieser sich prompt mit leiser, aber drohender Stimme. Er steht mitten auf einer kleinen, erhöhten Bühne, gefertigt aus Müll. Es ist absurd und beinahe lache ich.

Ich ignoriere ihn und schaue mich um. Beleuchtet werden die wenigen Anwesenden – gerade mal zehn Personen – von Öffnungen in der Wand. Sie wirken alle grau und blass. Kaum voneinander zu unterscheiden.

Endlich finde ich ihn. Abseits von den Erwachsenen hockt Isaak mit anderen Kindern links von mir an der Wand.

Ich gehe an Abel vorbei und drücke meinen Schützling. Er versteift sich. Seit dem Tod seiner Freundin ist er noch stiller geworden, noch verschlossener.

»Hab dir was mitgebracht«, raune ich ihm zu und greife in meine Tasche. Verdeckt lasse ich die Tüte mit den Haferflocken in seine Hand gleiten.

Sofort reckt er mir seine schmutzigen Finger entgegen. Er hat Hunger.

Eine heiße Flamme der Wut erfüllt mich. Ich springe auf und wende mich dem Anführer zu. »Du nimmst nur, ohne zu geben, Abel!«

Er weiß genau, was ich meine. Es ist nicht das erste Mal, dass ich ihm vorhalte, sich nicht genug um die Kinder zu kümmern.

»Wir sind kein Wohltätigkeitsverein. Jeder muss für sich selbst sorgen.«

Als Antwort spucke ich auf den Boden und balle die Fäuste.

»Wenn das alles war, würdest du dann bitte gehen, Martha? Wir haben hier Wichtigeres zu tun.« Er zieht jedes einzelne Wort in die Länge und spricht, ohne mich anzuschauen.

Ich könnte kotzen. Wenn sie jemanden brauchen, der sich mit Heilpflanzen auskennt, kann ich nicht schnell genug da sein! Ansonsten bin ich ihnen lästig.

»Oh, da bin ich gespannt. Einen Mülltransporter überfallen? Feine Rebellion, die du hier anzettelst. Alle Macht dem Müll!« Ich schreie ihn an, ohne es zu wollen, und spüre die Blicke der Anwesenden.

Mein Herz rast unregelmäßig in meiner Brust. Ich will ja, dass ihre Rebellion gelingt, aber sie geht mir zu langsam! Die Leute machen hier nichts, außer zu reden und zu reden.

Bis sie etwas bewegen, bin ich weit über sechzehn und das bedeutet …

Abels Stimme donnert durch den Raum. »Du willst mir vorwerfen, dass ich handle und Möglichkeiten suche, uns aus dieser Zone zu bringen? Du willst mir vorwerfen, dass ich die wenigen Mittel die wir haben, benutze, um uns voranzubringen?«

Wie immer sind seine Worte aufgeblasen, aber leer.

»Ich werfe dir vor, nur zu reden und nicht zu handeln! Unsere Zeit mit sinnlosem Plündern zu verschwenden, um dich daran zu bereichern!«

Ein Stöhnen geht durch die mageren Reihen.

Wie ich sie verabscheue. Sie sind doch nur hier, weil es hier sicher ist. Weil sie hoffen, dass ihnen jemand Essen abgibt.

»Du weißt, wo die Tür ist, Martha. Niemand hat dich eingeladen. Du siehst nur, was du sehen willst und nicht das große Ganze.« Abel wendet sich den anderen zu.

»Ich sehe, dass du bisher nichts durch die Welle gebracht hast. Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.« Mit diesen Worten setze ich mich provokativ neben Isaak.

Abel schüttelt den Kopf, lässt mich jedoch in Ruhe.

Ich knacke meine Fingergelenke. Dem habe ich es gezeigt!

»Es geht auf den Winter zu. Die neuen Datenrechner werden verteilt und die alten weggeschmissen. Das ist der perfekte Zeitpunkt für unseren nächsten Überfall. Denn die brauchen wir.« Abel streicht sich geschäftig mit den Händen über seine saubere Kleidung.

Erbärmlich nenne ich das. Das alles. Die ganze Diskussion.

Abel meint, die Rebellen bräuchten Kapital. Wie das helfen soll, die Regierung zu stürzen, ist mir ein Rätsel.

»Dann müssen wir uns beeilen. Die Drohnen kommen bald und säubern die Zonen«, wirft jemand ein.

Mich schaudert es und ich verkrampfe. Niemand weiß genau, wann sie erscheinen. Sicher ist nur, dass sie bei Tageslicht und im Spätherbst anrücken.

Wenn es so weit ist, müssen wir uns tagelang in den Hütten verstecken und können nur bei Nacht raus. Die Regierung will ja nicht ihre Bürger verletzen. Sie will nur uns – die Anzahl der Bewohner in der schwarzen Zone unter Kontrolle halten. Die Drohnen erfassen jeden, der keinen Chip im Nacken trägt – wie mich oder Isaak.

»Das ist doch alles Riffbruch, Abel! Wir müssen was starten, was den Anzügen wehtut!«, tönt eine bekannte Stimme aus der Mitte der Anwesenden. Der Sprecher steht auf und schaut von einem zum anderen.

Es ist Felix. Der Freund von Isaak.

Ich bin nicht überrascht, ihn hier zu sehen. Seitdem ich ihn in der Mülldeponie kennengelernt habe, begegne ich ihm öfters. Er ist oft an Isaaks Seite und teilt sein Essen mit uns. Seitdem er meinen Schützling vor anderen Mülldieben auf der Müllhalde gerettet hat, vertraue ich ihm. Fast könnte man sagen, ich mag ihn.

Und selbst wenn nicht. Spätestens mit seinen Widerworten gegen Abel hätte er mich von sich überzeugt.

»Wir reden nur und tun nichts. Wie soll es helfen, einen Mülltransporter zu überfallen?« Felix’ Stimme ist rau und der unterdrückte Zorn hörbar.

Abel dreht sich zu ihm: »Wir brauchen Kapital. Ohne Kapital keine Waffen. Nur dann können wir was ausrichten.«

»Und der Müll soll uns Waffen bescheren? Wie lange willst du uns diese Märchen auftischen?«

»Er hat recht«, brüllt ein anderer dazwischen. »Die Überfälle auf die Mülltransporter und das Sammeln auf der Mülldeponie sichern unser Überleben, aber sie bereiten keine Rebellion vor! Wir brauchen etwas anderes. Wir brauchen mehr!« Der Mann steht auf und andere tun es ihm nach. Ein wütender Schwarm, der hungrig mit den Füßen trampelt.

Genugtuung pulsiert in meiner Brust. Ich bin gespannt, wie der Rebellenführer die wieder ruhigstellen will.

»Wo sind denn die Waffen, die aus dem Kapital gebaut werden sollen?«, schreit eine Frauenstimme.

»Wie oft müssen wir noch unser Leben in Gefahr bringen, nur um Müll zu klauen?« Ein alter Mann fuchtelt mit einem Stock in der Luft und trifft seinen Nachbarn, der laut aufschreit.

Es ist witzig. Wahnwitzig. Das sind die Erwachsenen?

»RUHE!«, brüllt Abel.

Sofort sind alle leise. Auch die Kinder.

»Ich verstehe euch. Doch ohne Technik – funktionierende Technik – kämpfen wir mit leeren Händen. Außerdem benötigen wir die Hilfe der anderen Zonen. Hat jemand Kontakte zu Bewohnern aus den anderen Zonen?«

Niemand sagt etwas.

Abels Gesicht verzieht sich zu einer triumphierenden und zugleich abfälligen Miene. »Solange keiner einen anderen Plan hat, schlage ich vor, machen wir weiter wie bisher.«

Ich beiße mir auf die Lippen und springe auf. Abel bemerkt es nicht oder ignoriert mich, aber ich habe nichts zu verlieren und will, dass diese lächerliche Rebellion endlich vorangeht.

»Ich kenne Menschen, die Kontakt zu anderen Zonen haben.«

Alle Köpfe drehen sich zu mir, selbst Abels. Ich habe die volle Aufmerksamkeit der Rebellen.

»Wen?«, blafft Abel schnaubend.

»Die Dirnen!« Ich verschränke die Arme vor der Brust.

Er lacht auf. »Die sind weder unsere Zielgruppe noch die Unterstützung, die wir suchen und brau-«

»Die Männer haben Frauen. Und Dienstmädchen. Hier und da eine Nachricht in der Kleidung der Freier – Frauen kümmern sich um die Sachen ihrer Männer – Dienstmädchen waschen die Kleidung ihrer Dienstherren. Unter Umständen finden sie die Nachrichten.«

Für einen Wimpernschlag ist es still. Dann sind alle auf den Beinen und brüllen durcheinander, diskutieren und gestikulieren.

Abel ruft etwas, aber seine Stimme geht im Lärm der anderen unter. Er kneift die Augen zusammen, fixiert mich – ich grinse.

Scham überspült mich.

Ich sitze mit Ada auf dem Felsen, der meine Hütte beschützend umstellt, und schaue über die steinige Landschaft, die mein Zuhause ist. Ein armseliges Zuhause, voll Schmutz, Armut und Sünde. Ich habe die Stimmen der Freier in den Ohren. Wie sie über die Dirnen sprechen. Über die Frauen. Manchmal bin ich verwirrt. Denken sie nur über uns Frauen aus der Zone so oder über alle Frauen? Was heißt das eigentlich, Sünde?

Die Religion der Insel ist mir befremdlich. Mutter hat mich im Glauben an die alte Göttin großgezogen. Sie wurde vom Einzigen und Wahren verstoßen und nun soll es verboten sein, sie anzubeten. Doch hier in der schwarzen Zone ist es möglich. Weil es niemanden kümmert, woran wir denken und glauben.

Ich kenne die Regeln der Insel und die Gebote des Einzigen und Wahren. Drohnen fliegen jeden Sonntag über die Zone und halten Gottesdienst. Laut plärrend verkünden die Lautsprecher, wie schmutzig wir seien und dass wir unser Leben dem Einzigen und Wahren schenken müssten, um nach dem Tod ins Paradies zu gelangen.

Die Gebote zu kennen, heißt aber nicht, sie zu verstehen.

Der Präsident redet von Vergebung und davon, dass wir uns in die Dienste der Insel stellen sollten. Das würde uns reinwaschen. Die ewige Leier, ohne je konkret zu werden.

Niemand ist bisher zurückgekehrt, wenn er sich einmal entschieden hat, für die Regierung zu arbeiten.

Am Horizont erkenne ich die riesigen Schatten der Mülldeponieanlagen. Ich ziehe ein Stück Lumpen über meine Schultern. Auch wenn die Sonne scheint, der Winter naht. Die Strahlen wärmen mein Gesicht, aber der Boden und die Luft sind kühl.

Mein Atem bildet Rauch vor meinen Augen. Ein Schaudern überkommt mich. Dieses Wetter ist mein größter Feind. Es gab im letzten Jahr Nächte, da habe ich so gefroren, dass ich glaubte, nicht mehr aufzuwachen, wenn ich einschlafe. Die Rebellion ist meine einzige Hoffnung, diesem Leben zu entkommen.

Die überwältigende Rückmeldung auf unsere versteckten Nachrichten hat dieser wieder Nahrung verschafft.

Ada ist nicht ganz so optimistisch. »Was wollen die eigentlich ändern? Wird Abel dann Präsident?«

»Ich geh aufs Festland. Da ist alles anders«, sage ich kauend.

Der letzte Apfel von meinem Einkauf auf dem Schwarzmarkt verschwindet Stück für Stück in meinem Mund. Er ist faulig süß.

Ich schlucke herunter und rede weiter. »Dort sind die Frauen den Männern gleichgestellt und nicht sündig. Nicht wie hier auf Selvia.« Mein Magen knurrt und ich lecke mit der Zunge über meine Zähne. Ihr Belag macht auch nicht satt.

Ada schaut mich skeptisch an. »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Gleichberechtigung. Was soll das sein? Männer, die ihre Macht teilen?« Sie lacht trocken auf. »Außerdem herrscht auf dem Festland Krieg.«

Ihre Worte dämpfen meine Zuversicht. Die Männer im Sündenhaus berichten immer wieder von einem Krieg auf dem Festland. Ich weiß gar nicht, wie man kämpft. Körperlich kämpft – und ich will es auch gar nicht wissen.

Lachende Kinderstimmen schallen in unsere Richtung.

Wir stehen verwundert auf. Diese Geräusche passen hier so wenig hin wie meine Hoffnung auf ein besseres Leben. Was macht die Kleinen so übermütig?

Eine Gruppe Halbwüchsiger kommt hinter einer Hütte hervor. Sie springen um einen Fremden herum und ich erstarre, habe das Gefühl, dass mir jemand einen Eimer eiskaltes Meerwasser über den Kopf schüttet.

Was macht er hier? Allein, dass ich ihn wiedererkenne, ist schlimm genug. Nie habe ich einen Freier im Kopf. Nie erinnere ich mich an irgendein Gesicht. Aber seine blaugrauen Augen. Die schwirren mir durch die Gedanken. Tagein, tagaus. Was mich rasend macht.

Sie bewerfen ihn mit Steinen und schreien: »Schnösel!« Er reagiert nicht, sondern schreitet unbeirrt weiter.

Drei von ihnen werden besonders dreist und bespritzen ihn mit Matsch. Er duckt sich, was nicht viel hilft.

Dann tauchen größere Jungs auf. Jetzt wird es ernst und Ada eilt in meine Hütte. Sie will nicht Ziel der Schikane werden.

Eine ganze Ladung Dreck landet auf Aarons Rücken, was ihn straucheln lässt. Braune Suppe durchnässt seine Haare und fließt ihm das Gesicht hinab. Die Halbwüchsigen umzingeln ihn, rufen: »Her damit!«.

Womit?

Ich kann ihn nicht mehr erkennen und wippe auf meinen Füßen hin und her, treffe eine Entscheidung.

Ich renne zu der Menschentraube, quetsche mich durch die Jungs durch und greife Aarons Hand. Sofort schließt sie sich fest und warm um meine.

»He, was soll das!«, knurrt ein Kerl in meinem Nacken.

Ich schlüpfe in die entgegengesetzte Richtung aus dem Kreis und ziehe Aaron hinter mir her. Wir rennen bis in meine Hütte. Sofort entreiße ich ihm meine Hand.

Krachend fliegt etwas gegen die Tür. Ich vermute Steine, warte ab und reiße sie wieder auf.

»Haut ab oder ich reiße euch die Gedärme raus!«

Sie wissen um meine medizinischen Kenntnisse. Ich habe mal jemandem den Bauch zugenäht, nachdem ich seine Innereien zurückstopfen musste. Das Bild werden sie wohl nie vergessen und haben jede Menge Respekt vor mir, auch wenn der Patient damals nicht überlebt hat.

Ada sieht mit geweiteten Augen zu mir und hebt die Hand.

Ich will nicht, dass sie geht, aber sie quetscht sich an mir vorbei, scheucht die Kinder auseinander und verschwindet zwischen den Hütten.

Steif drehe ich mich zu meinem ungebetenen Gast.

»Danke«, flüstert er. Blaugraue Augen blicken mir entgegen. Erfreut und vorsichtig zugleich. Fragend. Oder spiegele ich mich nur in ihnen wider?

»Was willst du hier?« Meine Hand streicht wie fremdgesteuert über meine Narbe im Gesicht. Ein Tick, wenn ich nervös bin.

Ich fühle mich erschöpft, misstrauisch, neugierig, ablehnend. Alles gleichzeitig. Das hier kann nicht richtig sein. Ein Freier in meiner Hütte. Martha, was machst du?

»Ich wollte Sie sehen.« Seine Mundwinkel zucken.

Entsetzt starre ich den Jungen in seinen piekfeinen Klamotten an, von denen der Matsch auf den Boden tropft. Er wischt sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn und verschmiert dabei den Schlamm in seinem Gesicht.

Wie, warum, was … macht er hier? Es ist eine Sache, dass er jede Nacht im Sündenhaus auftaucht und mich beobachtet. Versucht, mit mir ins Gespräch zu kommen, was ich, sobald Frau Chogla nicht hinsieht, abwürge. Es ist eine andere Sache, bereits am Abend aufzutauchen und mich außerhalb des Gebäudes anzusprechen.

Ich bringe keinen Ton raus. Er kommt näher und stellt einen Korb, der mir erst jetzt auffällt, ab. Überrascht ziehe ich die Luft ein. Er ist randvoll mit Essen gefüllt.

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«

Neben seiner Höflichkeit irritiert mich auch die Wärme in seiner Stimme.

Er zeigt auf den Korb. »Wie versprochen.«

Versprochen? Versprochen!

Er hat gestern Abend gefragt, warum ich im Sündenhaus arbeite. Ich habe nur die Augenbrauen hochgezogen. Was dachte er denn?

Weil ich gerne fege und Betten beziehe? Meine Antwort war ein Zähnefletschen.

Dummerweise knurrte in dem Moment mein Magen. Er hat die Augen aufgerissen und gemeint: »Tut mir leid, das war eine dumme Frage. Ich werde es wiedergutmachen.« Mit diesen Worten gab er mir eine Plakette und ging.

Was für ein seltsamer Junge. Wer bezahlt eine zukünftige Dirne dafür, dass sie mit ihm redet? Das geht mir nicht in den Kopf.

Ich starre ihn an, weiß nicht, was ich sagen soll.

Alle Gedanken haben sich aus meinem Gehirn verabschiedet – das Wort »Wieso« ist alles, was meinen Mund verlässt.

»Weil …« Er schluckt und senkt den Blick gen Boden. »Ich würde Sie gerne kennenlernen.« Seine Stimme ist fest und entschlossen.

Ich öffne den Mund, um etwas zu entgegnen, schließe ihn aber wieder. Die Überraschung weicht der Wut. Will er mich kaufen? Mit Essen? Hitze wärmt meine Wangen.

Er lächelt weiterhin.

Scham überspült mich. In meinem Bauch brodelt es. Ich wusste es! Er will mich kaufen!

Ich gehe einen Schritt nach hinten. »Ich bin nicht zu kaufen!«, zische ich ihm zu. Was mache ich, wenn er Gewalt anwendet?

»Nein, so meinte ich das nicht.« Aaron hebt seine Hände und weicht ebenfalls zurück. »Ich mag Sie. Nicht mehr. Wirklich. Ich …«

Ich spüre die Wand in meinem Rücken.

»Ich mag Sie!« Dann wendet er sich zur Tür. »Auf Wiedersehen.«

Hat er ›auf Wiedersehen‹ gesagt? Er muss verrückt sein. Irre! Hat zu lange ins Wasser geschaut. Wir werden uns nicht wiedersehen.

Ich schlucke und höre, wie seine Schritte sich entfernen, reiße den Korb hoch und werfe ihn vor die Hütte. Wütend pfeffere ich die Tür zu. Die Wände beben und für einen Moment halte ich erschrocken den Atem an.

Ich setze mich auf die Matratze. Speichel füllt meinen Mund und ich starre die Tür an, stehe auf, um mich gleich wieder hinzusetzen. Ich lasse mich nicht so einfach kaufen. Wer weiß, was er verlangt? Vielleicht will er, dass ich mich ausziehe. Nein!

Es ist nicht das erste Mal, dass ich Hunger habe. Außerdem hatte ich gerade einen Apfel. Das halte ich aus.

Ich atme schwer, versenke den Kopf zwischen meinen Knien. »Ich bin stark. Ich bin stark …«

Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen und ich beiße mir auf die Unterlippe. Blut benetzt meine Zunge.

Ruckartig springe ich auf, ziehe die Tür auf und da steht er. Verlockend und wohlriechend. Ich schaue mich um. Niemand zu sehen. Ich lausche. Stille. Vorsichtig gehe ich einen Schritt hinaus, aber Aaron ist weg. In meiner Brust sticht und brennt es. Gut so.

Ich schnappe mir den Korb und schließe die Tür.

Ehe ich eine Antwort auf alle Fragen finde, die in meinen Gedanken kreisen, greife ich den Laib Brot und beiße hinein. Er schmeckt köstlich.

Daneben liegt eine Dose. Ich reiße sie auf. Kekse! Ich stopfe sie mir ebenfalls in den Mund.

Ein scharf-süßer Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus. Ich huste, halte die Lippen aber geschlossen, um keinen Krümel zu verschwenden.

Was ist das? Ich schlucke und probiere noch einen. Nach sechs Keksen habe ich mich an die Schärfe gewöhnt und kann gar nicht mehr aufhören. Ich esse, bis ich Bauchschmerzen bekomme.

Kauend packe ich den Rest wieder ein und mache mich auf den Weg zu Ada. Was erzähle ich ihr bloß?

Die Wahrheit …

Ein neuer Winter steht mir bevor. Dasselbe Leben.

Missmutig denke ich an die Möchtegern-Rebellen, die zu einer Versammlung gerufen haben.

Ich bin müde von der Nacht und würde mich am liebsten hinlegen, aber die Hoffnung auf gute Nachrichten zieht mich zu der Sitzung.

Die Welle vom ersten Erfolg im letzten Jahr ist schnell abgeflaut. Die Menge an Nachrichten aus den Ringen und anderen Zonen sind überwältigend gewesen. Den großen Worten sind aber keine Taten gefolgt. Uns fehlen schlicht und ergreifend die Möglichkeiten.

Ich stampfe durch den ersten Schneematsch. Der Herbst hat es dieses Jahr besonders eilig zu verschwinden. Frierend umarme ich mich selbst. Die geschenkte Jacke von Aaron liegt gut versteckt in meiner Hütte. Die Gefahr, dass sie im Sündenhaus geklaut wird, war mir zu groß.

Die Aussicht auf etwas Wärme und Essen verleiht mir Kraft und ich werde schneller, konzentriere mich aber auf den Boden, um nicht zu fallen. Es ist glatt und ein gebrochenes Bein kann ich mir nicht erlauben.

Eine Bewegung schreckt mich auf. Jemand steht vor meiner Hütte. Alarmiert bleibe ich stehen. Diebe? Eine Drohne der Regierung? Dann erkenne ich ihn. Habe ich mich verrechnet? Heute ist nicht sein Tag. Der wäre erst morgen. Er muss mich gehört haben, denn er dreht sich um. Obwohl ich überrascht bin, lächle ich.

Er hat keinen Korb mitgebracht. Das ist gut, das Essen wird noch einige Tage reichen.

»Martha«, begrüßt er mich. Zum Glück lässt er das mit dem Fräulein. Einige blaue Flecken hat es ihn aber gekostet. Ich kam mir immer so albern vor.

»Aaron …« Kurz vor ihm bleibe ich stehen.

Er hebt seine Hand, fasst mich aber nicht an. Immer halte ich mir vor Augen, was er sieht.

Ein schmutziges Mädchen, das seinen Lebensunterhalt in einem Sündenhaus verdient. Er ist nicht einverstanden, wie die Welt auf der Insel funktioniert. Was das mit mir zu tun hat, kann ich nicht nachvollziehen. Seiner Schwester könnte er anders beistehen.

»Du wirkst überrascht?«, unterbricht Aaron meine Gedanken.

»Ja, ich habe erst morgen mit dir gerechnet.« Ich gehe an ihm vorbei in die Hütte.

»Zu Hause gab es eine Planänderung und morgen hätte ich es nicht geschafft.« Er folgt mir in meine armselige Behausung und schließt die Tür hinter uns. Dann schiebt er den dicken Vorhang davor, damit es nicht zieht. Ebenfalls ein Geschenk von ihm. Am liebsten würde ich nichts von ihm annehmen. Aber Ada und Isaak haben mich überredet, seine Mitbringsel zu behalten. Für meinen Schützling lasse ich meinen Stolz da, wo er hingehört.

Ich krame nach der Jacke und ziehe sie an. Aaron beobachtet mich dabei.

»Was für eine Planänderung?« Ich beiße mir auf die Zunge, will es doch gar nicht wissen. Ich will mich nicht weiter in diese seltsame Beziehung mit ihm verstricken. Wohin soll das führen? Ein Anzugträger und ein Mädchen aus der schwarzen Zone. Das ist unmöglich. Ein Fehler. Bestimmt auch eine Sünde in den Augen des Einzigen und Wahren.

»Meine Schwester hat Geburtstag.«

Ich stutze.

»Und da ist mir aufgefallen, dass ich gar nicht deinen Geburtstag weiß.« Er greift in seine Manteltasche.

»Ist nicht wichtig. Wir feiern hier keine Geburtstage.« Ich senke den Kopf und knöpfe meine Jacke langsam zu.

Seine Schwester. Er hat schon oft von ihr gesprochen und jedes Mal macht das was mit mir. Ich weiß nur nicht was.

»Schade. Ich habe auch ein Geburtstagsgeschenk für dich.«

Ich schaue hoch und er lächelt. Ein kleines Päckchen liegt in seiner Hand.

»Heute habe ich auf jeden Fall keinen Geburtstag.« Ich schiebe seine Hand entschlossen weg.

»Ist ein nachträgliches Geschenk, weil ich deinen letzten Geburtstag verpasst habe.« Er streckt mir erneut die kleine Kiste entgegen. »Ist komplett nutzlos, wie es sich für Geschenke gehört.« Er grinst schelmisch und ich bewundere seine weißen Zähne.

Sofort verschließe ich meinen Mund. Meine sind eher gelb und schief gewachsen.

Nutzlos? Meine Neugierde siegt und ich nehme das Geschenk.

Unter dem Deckel glitzert und funkelt es. Ich erkenne nicht, was das sein soll, und hebe es heraus.

»Es ist eine Haarklammer.« Aarons Stimme ist leise. Beinahe vorsichtig. Hat er Angst, sie gefällt mir nicht?

Sie ist bestimmt wertvoll, so wie sie aussieht. Ada würde sagen, sie ist schön und Dinge, die schön sind, sind selten auf der Insel. Das Ziel aller Produkte ist ihre Zweckdienlichkeit.

Die Haarklammer hat den Zweck, Haare aus meinem Gesicht zu halten. Dass sie glitzert und funkelt, wäre dafür nicht nötig gewesen.

»Ich finde sie … äh, schön.« Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt.

»Darf ich?«

Ich nicke, ohne darüber nachzudenken, was er meint, bin mir seiner Gegenwart überwältigend bewusst. Das Gefühl, ihm nahe sein zu wollen, ist verwirrend und allmählich verliere ich immer öfter den Kampf dagegen.

Mein mieses Herz lacht darüber nur. Es will Aaron. Doch ich wehre mich, so gut es geht. Vertraue ihm noch nicht ganz.

Er nimmt die Haarklammer und geht langsam einen Schritt um mich herum.

Seine Hand nähert sich meinem Gesicht. Ich bleibe stehen und halte den Atem an.

Dass ich nichts sage, reicht ihm als Antwort. Er hebt eine Haarsträhne hoch und befestigt die Haarklammer.

Sein Atem kitzelt an meinen Hals, ich rieche seinen herben Duft. Ich nicke verspätet, mein Mund ist ganz trocken.

»Herzlichen Glückwunsch nachträglich und …« Er verstummt.

Mein Herz klopft so laut gegen meine Brust, dass ich mich wundere, dass es nicht durch meine Rippen springt. Aaron lächelt und beugt sich vor.

Die Tür knallt auf und wir schrecken auseinander.

»Ma-a-rtha!« Isaak steht im Türrahmen, keuchend und sich die Seiten haltend. Er muss den ganzen Weg gerannt sein. Ist er weggelaufen?

Abel taucht hinter ihm auf. Isaak wollte mich wohl warnen.

»Guten Abend«, grüßt uns der Rebellenführer und betritt die Hütte.

Ich balle die Fäuste. »Komm doch rein, Abel!«

Er ignoriert mich und stellt sich vor meinem Besucher auf.

»Guten Abend«, begrüßt ihn Aaron. Er streckt seinen Arm aus, um dem älteren Mann die Hand zu schütteln, doch Abel verschränkt seine Arme ungerührt vor der Brust. Abschätzig mustert er meinen Freund.

Wie oft in letzter Zeit trägt Aaron einen maßgeschneiderten, grauen Anzug. Die Haare sind streng nach hinten frisiert. Aaron lässt seine Hand wieder sinken. Seine Augen werden schmal und er presst seine Lippen zusammen. Ist er wütend?

»Möchtest du mich nicht vorstellen?«, fragt Abel, ohne den Blick von dem jungen Bürger zu nehmen.

Er ist ganz in Schwarz gekleidet und bildet mit seinen weißen Haaren einen starken Kontrast zu Aaron.

Woher wusste er von seinem Besuch?

»Äh …«

»Ich bin ein Freund von Martha«, antwortet Aaron selbst.

»So, so. Ein Freund.« Abel zieht seine linke Augenbraue hoch und ich möchte am liebsten in sein Gesicht schlagen. Was denkt er sich eigentlich?

»Und Sie sind?«

»Das hat Sie nicht zu interessieren.« Mit diesen Worten wendet Abel sich mir zu. »Draußen, sofort«, sagt er und verlässt meine Hütte.

Ich koche vor Wut. Ich hasse es, wenn er mir Befehle erteilt. Dennoch folge ich ihm.

»Wer ist das und was will er hier?« Abel nickt mit dem Kopf Richtung Hütte.

Was geht ihn das an?

»Ein Freund«, wiederhole ich und baue mich breitbeinig vor ihm auf.

»Ein Freund oder ein Kunde?«

Meine Hand landet schneller in seinem Gesicht, als er ›Sündenhaus‹ sagen kann.

Er hält sich die Wange und funkelt mich aus verengten Augen an. »Erkläre mir, wieso ein Bürger mit einem Mädchen aus der schwarzen Zone befreundet sein sollte?«

Die Ohrfeige wird Folgen haben, aber die Frage scheint ihm gerade wichtiger. Und mir auch. Wieso will Aaron mit mir befreundet sein? Und wieso habe ich keine Antwort?

Ich zucke mit den Schultern und kicke einen Stein weg.

»Entschuldigung!« Aaron kommt an meine Seite. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber lassen Sie sich sagen, dass ich nicht zulassen werde, dass Sie Martha wehtun. Ich werde Sie sonst überprüfen lassen.«

Es ist beinahe lächerlich, wie der Junge dem alten Mann droht.

»Warum solltest du, Anzugträger, auf dieses Mädchen aufpassen wollen?« Abel verzieht die Lippen und reibt seine Hände aneinander. Ist ihm kalt oder freut er sich? Die Situation entgleitet mir.

»Weil …« Aaron schaut mich an. Fragend. Bittend. »Weil ich sie mag.« Seine Wangen färben sich rot und er streicht sich durch die Haare. Von seiner bedrohlichen Pose ist nichts mehr zu sehen.

Ich erstarre. Mein Herz macht einen Hüpfer. Das hat er jetzt nicht laut gesagt, oder? Dieses Thema will ich ganz bestimmt nicht vor Abel ausbreiten.

»Aus welchem Ring stammst du?«, fragt der, ohne die Antwort zu kommentieren.

Ich konzentriere mich auf Aaron. Was geht in seinem Kopf vor sich? Jetzt nimmt Aaron mich noch weniger ernst als vorher schon! Dieser Anzugträger!

»Aus dem Mittleren.«

»Ich denke, dein Freund sollte mitkommen.« Abel dreht sich um und verschwindet in Richtung der Rebellenhütte.

Aaron umfasst seinen linken Arm mit der rechten Hand und reibt darüber. Sein Mund öffnet und schließt sich wieder.

Ich seufze. »Das hättest du nicht sagen sollen.«

Aber jetzt ist es zu spät. Abel weiß von Aaron und er will was von ihm. Was, werde ich nur herausfinden, wenn ich ihm folge.

Was Aaron angeht – er muss sich entscheiden. Mitkommen oder gehen. Ich gehe los – langsam – um ihm Zeit zu geben. Schließe die warme Jacke bis zum Hals und stecke meine Hände tief in die Taschen.

Sagt er jetzt Lebewohl? Für so höflich würde ich ihn glatt halten.

Aaron kommt dicht an meine Seite. »Wohin gehen wir?« Selbst durch die dicke Jacke spüre ich seine Wärme.

Ich beiße mir auf die Lippen. Die Wahrheit könnte uns alle ins Verderben stürzen.

Wenn er von der Rebellion erfährt, könnte er uns verraten.

Aber Abel hat ihn schließlich eingeladen.

»Zu einer Versammlung«, erkläre ich.

Aaron wird nicht langsamer, er schweigt erwartungsvoll.

»Wir wollen den Präsidenten stürzen.«

Für eine neue Zukunft.

Für viele ist heute ein feierlicher Tag. Für andere ein Tag der Niederlage. Heute wählen wir – Frauen wie Männer – einen neuen Präsidenten.

Die Stimmen der Gegner dieser Wahl und unserer Rebellion sind laut und übertönen den Jubel der Feiernden.

»Diese Wahl ist eine Lüge. Es gibt keine Wahl. Keinen Sieg dem Eroberer«.

Ein ungutes Gefühl erfasst mich, doch ich verdränge es.

Heute ist kein Tag zum Zweifeln. Für diesen Tag habe ich gekämpft – um hier zu stehen, im Zentrum der Insel, um die gleichen Rechte zu erlangen wie die Männer.

Die rauschende Kulisse begleitet mich auf meinem Weg zur Stimmabgabe. Ich schreite durch das große Eingangstor des Regierungsgebäudes und werde von einem Mann auf die rechte Seite gelotst. Die Tür schließt sich wieder und das Geschrei der Menge verstummt.

Die feindlichen Worte klingeln mir in den Ohren.

Dafür sind Familie und Freunde gestorben.

Die Schlange vor den Wahlboxen ist lang. Ich stelle mich an und lasse meinen Blick schweifen. Die riesige Eingangshalle wird von zwei gewaltigen Treppen gesäumt, die sich nach oben ranken. Links und rechts gehen große Glastüren ab. Über der einen Tür steht: Präsident Adam. Das Adam ist durchgestrichen.

Diese Imposanz schüchtert mich ein. Ich brauche all meine Kraft, um hierzubleiben. In diesem riesigen Gebäude fühle ich mich so fehl am Platz wie in der restlichen Stadt.

Nach und nach rücke ich vor.

Es gibt keine große Entscheidung zu treffen. Der Sieger steht fest. Es gibt keine Alternative, nur Abel.

Drei Monate ist es her, dass er Präsident Adam mithilfe der Rebellen gestürzt hat, und seitdem hat er die Insel geleitet.

Ob gut oder schlecht lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Alles wirkt zerbrechlich wie das Glas, von dem ich hier im Regierungszentrum umgeben bin.

Das Zentrum mit dem Regierungsgebäude und anderen wichtigen Bauten ist im Gegensatz zum inneren Ring von den Drohnen verschont geblieben. Der mittlere und der Randring haben ebenfalls nichts abbekommen.

Mir wird klar, dass das Inselsystem auf einer verworrenen Klassenzugehörigkeit aufbaut. Wie eine Spirale ist das Zentrum von Ringen umgeben, jede einzelne ist einer Berufsgruppe und damit einer bestimmten Stellung und einem entsprechenden Verdienst vorbehalten.

Der Stadtrandring ist von den vier Zonen umschlossen. Energie, Landwirtschaft, Produktion und Kommunikation. Dahinter befindet sich im Westen die Arbeitersiedlung und weit im Abseits die Mülldeponie und die schwarze Zone. All diese Bereiche muss Abel vereinen und gleichstellen.

Eine schier unvorstellbare Aufgabe meinen viele, aber auf dem Festland funktioniert es, oder? Und daran halte ich mich fest, auch wenn Lillit und Ada dies nicht so rosig sehen und viel Kritik gegenüber dem Festland äußern. Am Ende können wir uns nur ein Beispiel nehmen und es besser machen.

Die Frau vor mir verschwindet hinter einer grauen Kunststoffwand und kommt wenig später wieder heraus.

Ich bin dran und gehe hinter die Abtrennung. Dort finde ich einen kleinen Tisch, darauf Datentafel und Stift. Eine Anleitung weist mich an, auf den roten Kreis zu drücken. Auf dem Bildschirm erscheint der Stimmzettel.

Ich atme tief durch und nehme die Geräte zur Hand, setze mein Kreuz hinter Abel. Die anderen Felder sind leer.

Unsere Feinde haben recht. Es gibt keine Wahl. Abel oder niemand.

Ihm war es wichtig, offiziell gewählt zu werden – als politisches Signal für eine neue Zukunft.

Draußen erwartet mich eine jubelnde Gruppe von Frauen. Eva und Klara drehen sich tanzend im Kreis. Die kurzen Haare lassen die beiden wie Schwestern wirken. Eine Gemeinsamkeit, die sie aus dem Umerziehungslager mitgebracht haben. Dort sollten sie zu folgsamen Inselfrauen gedrillt werden. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und sie wären an der täglichen Folter und Gehirnwäsche zerbrochen.

Ich konnte sie rechtzeitig befreien. Eine Heldentat, die einen schalen Beigeschmack hat. Ich habe es für Aaron getan. Weil er seine Schwester für mich zurückgelassen hat. Sie musste leiden, weil ich ihm wichtiger war. Ich schaffe es nicht, das zusammenzubringen. Mein schlechtes Gewissen kämpft mit mir. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Herz rast, um im nächsten Moment auszusetzen.

Liebe mache krank, meinte meine frühere Herrin Frau Chogla immer.

Ich schiebe die Gedanken weg. Heute ist ein Tag zum Feiern, nicht zum Zweifeln.

Eva macht es vor. Ihre Augen strahlen und ihre Haare sind frisiert zu einer attraktiven Kurzhaarfrisur. Sie ist kaum wiederzuerkennen.

Ich lasse mich von der Freude anstecken und finde mich in den Armen meiner neuen und alten Freunde wieder.

»Was für eine Farce«, unterbricht Lillit unsere Jubelstimmung. »Wofür sollen wir dankbar sein? Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir Frauen wählen dürfen. Dafür haben wir doch gekämpft. Jetzt lässt sich Abel feiern, als ob das allein sein Verdienst wäre und er uns einen Gefallen täte.« Sie spuckt auf den Boden. Lillit ist wie Eva mit sechzehn Jahren zu jung zum Wählen. Vielleicht ärgert sie das. Sie kommt mir oft viel älter vor.

»Ach, Lillit. Wir feiern doch nicht Abel. Wir feiern, dass endlich eine neue Zeit anbricht. Eine Zeit, in der wir Frauen dem Mann gleichgestellt werden. Diese Wahl ist der Anfang. Ein eindeutiges Zeichen.« Eva legt einen Arm um die dünnen Schultern von Lillit und schiebt sie lachend durch die Menge, offensichtlich nicht bereit, sich von ihrer schlechten Laune den Tag vermiesen zu lassen. Sie verschwinden in dem Meer aus grauen Hüten und Mänteln.

Ich erlaube mir kurz, mich auf meine Zukunft zu freuen. Nach monatelanger Wartezeit ist es hoffentlich bald soweit und ich kann endlich Medizin studieren.

Wind kommt auf und bläst mir kalte Luft ins Gesicht. Ich ziehe meinen Mantel enger um mich. Der Winter steht vor der Tür.

Für einen Moment überfällt mich Angst. Ein Gefühl, welches unwiderruflich mit der kalten Jahreszeit über mich kommt, obwohl ich schon lange nicht mehr in einer zugigen Hütte schlafen musste.

Manche Gewohnheiten, Instinkte, bleiben.

Vielleicht liegt es auch an den Menschen um mich herum, die ihre Wut herausbrüllen. Weil sie nicht damit einverstanden sind, dass sich alles grundlegend ändern wird? Wieso bereitet mir das Sorgen? Es ist vorbei. Oder?

Ich werde von einer Gruppe Männer zur Seite geschoben, die mit wutverzerrten Gesichtern die Fäuste in die Luft recken und »Nieder mit den Verrätern« brüllen.

Die Frauen neben mir weichen zurück, werden aber nicht leiser: »Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit.« Die Hand mit dem überkreuzten Zeige- und Mittelfinger halten sie wie ein Schutzschild vor sich. Unser Zeichen der Freiheit und Schwesterlichkeit.

Das wird ein hartes Stück Arbeit für den neuen Präsidenten.

Die Bewohner der Zonen, welche die Stadt umgeben und den Großteil der Insel ausmachen, existierten bisher nur, um die Bürger zu ernähren.

Werden diese zukünftig auf ihren Reichtum verzichten können? Werden die Arbeiter dieselben Chancen haben wie die Städter? Ich darf die Hoffnung darauf nicht aufgeben. Sonst sind die Opfer der Rebellion umsonst gestorben. Mein Herz zieht sich zusammen. Ich wünschte, Isaak wäre hier und könnte mitfeiern.

Er wäre jetzt sechzehn Jahre alt.

Ich schüttle den Kopf und verdränge den Gedanken an mein früheres Leben, konzentriere mich auf meine neue Zukunft. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich, wie ich in einem Behandlungszimmer stehe und Patienten empfange.

Die Politik ist nicht meine Sache. Darüber dürfen sich andere Gedanken machen.

»Viel Erfolg, Abel«, flüstere ich und folge Eva und Lillit aus der Menge raus.

Das braucht seine Zeit.

Ich stöhne auf und vergrabe den Kopf in meinen Armen. Nicht nur die Tatsache, dass ich eine Frau bin, sondern auch meine Herkunft werden dafür sorgen, dass der Weg mehr als steinig wird.

Um Ärztin zu werden, muss ich studieren. Und da haben wir das Problem. Das Lesen. Das Schreiben. Ich kann es, aber nicht gut genug. Meine Datentafel, ein Geschenk von Aaron, präsentiert mir Wörter, die ich nicht kenne, geschweige denn schaffe, auszusprechen. Die Anmeldestatuten der Hochschule für Medizin sind ein einziges Riff.

Ich beiße die Zähne zusammen und versuche, die Voraussetzungen zu verstehen.

Jemand betritt die Küche und ich schaue auf.

Eva. Sie lächelt zaghaft. Ihr gelbes Kleid fordert mich geradezu heraus. Die Farbe passt nicht zu meiner Stimmung.

Ich selbst trage immer schwarz, fühle mich damit am wohlsten. Evas Farbenliebe ist mir befremdlich. Es passt nicht zu ihrem eingeschüchterten Wesen. Wenn ich an sie denke, habe ich die Farbe Grau vor Augen. Vielleicht, weil ich sie mir so immer vorgestellt habe. Eine graue, verwöhnte Prinzessin.

»Ähm«, fängt sie an.

Ich reagiere nicht, zu genervt davon, dass ich nichts verstehe. Ich habe oft das Gefühl, dass sie sich ertappt fühlt. Dabei ist das ihr Zuhause. Eine Wohnung über zwei Etagen in einem mehrstöckigen Haus im mittleren Ring. Ihr Vater war ein Kaufmann und daher gut bezahlt.

Ich bin nur Gast, obwohl Aaron mir zu verstehen gegeben hat, dass es nun auch mein Zuhause ist. Sollten ihre Eltern wieder auftauchen, kann sich das schnell ändern.

Eva senkt den Kopf und schleicht zurück zur Tür. Auf halbem Wege dreht sie um und greift nach der Keksdose.

Ich unterdrücke ein Augenrollen.

»Hast du sie probiert?«, fragt sie mich. »Ich habe sie gestern selbst gebacken.« Stolz schwingt in ihrer Stimme mit. Sie hält mir einen Keks hin und ich lege die Tafel auf den Tisch.

»Danke«, sage ich, nehme das Gebäck entgegen und beiße ab. »Mhm, lecker«, gebe ich zu und spucke Krümel.

»Ist es falsch, dass ich erleichtert bin, nicht gleich mit den Jungen zur Schule gehen zu müssen?«, fragt Eva mit leiser Stimme. Sie lehnt an der Arbeitsfläche und dreht den Keks in ihrer Hand.

Ich bin hin und her gerissen zwischen den Gefühlen, sie trösten oder anschreien zu wollen.

Ja!, will ich rufen. Wenn wir Frauen jetzt nicht zusammenhalten und darauf bestehen, in allem gleich behandelt zu werden, wird das nie was mit der Gleichberechtigung!

Aber ihr Blick und wie sie ihre Hände verkrampft vor ihrer Brust hält, ihr Versuch, ihr altes Selbstbild mit dem Kleid zu überdecken, lässt mich innehalten.

Ich gebe zu, ich mag sie. Sie hat mich einige Male überrascht. Wie sie mit der neuen Situation zurechtkommt, beeindruckt mich. Jeden Tag war sie draußen und hat geholfen. Egal bei was. Sie war sich für keine Arbeit zu schade. Wie im Versorgungszentrum. Dort hat sie mit der alten Frau namens Rahab in der Wäscherei gearbeitet. Das imponiert mir. Sie ist so anders, als ich es vor ein paar Jahren erwartet hätte.

»Nein Eva!«, antworte ich endlich. »Die Jungs müssen ebenfalls lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Das geschieht nicht gleich alles an einem Tag.« Mir vorzustellen, wie die Jungs sie belagern, ist mir zuwider. »Aber warum willst du überhaupt zur Schule?«

Die Schulpflicht auf Selvia gilt für Mädchen nur bis 14 Jahren. Oder hat Abel das geändert?

»Ich will das Abitur machen, um studieren zu können.« Sie strahlt mich an. »Journalismus und Literatur.«

Ich höre nur das eine Wort. Abitur. Das stand in den Aufnahmeregelungen. Ich suche auf meiner Datentafel.

»Abitur, das brauche ich auch«, sage ich und merke zu spät, dass ich laut geredet habe.

»Ja, klar. Du wirst direkt die Prüfung machen, oder?«

»Geht das denn?« Einmal mehr komme ich mir vor, wie ein blinder Krebs, der nach Schnecken sucht.

»Ja, das ist doch Abels zweites Bildungsgesetz, damit wir Frauen das Abitur ablegen und studieren können. Bei entsprechendem Vorwissen kannst du direkt die Reifeprüfung absolvieren.«

Ich begreife gar nichts mehr.

»Das ist nur ein anderes Wort für Abitur«, erklärt sie mir rasch. Sie muss das Fragezeichen über meinem Kopf gesehen haben.

Es klingelt und sie schaut erschrocken auf. Dann geht eine Verwandlung durch ihren Körper. Ihre Schultern straffen sich und mit festen Schritten schreitet sie zur Tür.

Ganz die Inselfrau.

Ich schüttle den Kopf. Eine einzige Frage füllt meinen Verstand aus. Habe ich das nötige Vorwissen? Ich suche nach Abitur und Reifeprüfung und bei dem ersten Eintrag wird mir klar: Nein.

Chamuel und Eva betreten die Küche und er grinst mich an. »Hallo Martha.«

»Hallo«, murmle ich. Mit meinen Gedanken bin ich noch beim Abitur.

»Setz dich, Chamuel, ich koche uns einen Tee«, weist Eva ihren Besuch an und drückt Chamuel auf den Stuhl.

Ich kann mich bei dem Gerede nicht konzentrieren und lege die Tafel weg.

»Das musst du nicht machen, Eva. Ich kann genauso gut Tee kochen. Erzähl mir lieber, wie dein Tag war«, sagt er und macht Anstalten, aufzustehen.

Eva hält ihn auf und ich muss ein Lachen unterdrücken. Es ist zu lustig. Die unscheinbare Eva hat den großen, muskulösen Einundzwanzigjährigen komplett in ihrer Hand.

Chamuel ist Aarons bester Freund und schon eine Weile in Eva verliebt. Eva in ihn noch viel länger. Sie hat da mal was angedeutet.

»Nix da, ich habe ein neues Rezept und das will ich ausprobieren. Außerdem ist das hier meine Küche.«

Chamuel seufzt, gibt nach und wendet sich mir mit rotem Kopf zu.

Ich weiß, dass es ihm total unangenehm ist, wie der typische Selvia-Mann am Tisch zu sitzen und bedient zu werden. Eva durfte früher nie in die Küche. Das gehörte sich nicht als Kaufmannstochter. Jetzt möchte sie das offenbar anders handhaben und sie kann sehr durchsetzungsfähig sein.

Ich grinse.

Zum Abendbrot gesellt sich Lillit überraschenderweise zu Eva, Chamuel, Aaron und mir. Sie lässt sich selten sehen und ich freue mich.

Schade, dass Felix und Éli nicht hier sind. Und Ada. Meine Freunde fehlen mir. Aber sie haben sich alle dazu entschlossen, einen anderen Weg zugehen. Die Vorstellung, sich dem geregelten Leben anzuschließen, war ihnen ein Gräuel. Ada ist im Versorgungszentrum Südwest geblieben. Éli und Felix wollten die Insel erkunden. Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört.

Ich sitze mit meiner neuen Familie am großen Esstisch zusammen. Das Esszimmer ist ein trostloser Raum, der nur mit einem Tisch und zehn Stühlen gefüllt ist. In Grau, versteht sich. Wie alles auf der Insel. Manchmal fehlt mir das schwarze Gestein meiner Zone. Das war intensiv und schenkte mir das Gefühl von Freiheit. Wenn auch ein trügerisches.

Aaron erzählt, wie viel er für Abel in der Regierung zu tun hat. Er redet so schnell, dass ich kaum etwas verstehe. Vor Begeisterung fahren seine Hände durch die Luft und mir wird ganz schwindlig beim Versuch, ihnen zu folgen.

»Was machst du denn da genau?«, fragt Lillit und legt ihr Besteck auf den leeren Teller.

Eva hat sich an einem Auflauf versucht. Mir schmeckt alles, schließlich hat mein Körper nicht vergessen, wie sich Hunger anfühlt.

»Ich leite die Geschicke Selvias.«

Ich verziehe das Gesicht. Aaron kann so ein Angeber sein.

Lillit verdreht die Augen. »Also viel sinnloses Gelaber?«

»In erster Linie schreiben, Verordnungen und so ändern«, brummt Aaron und greift nach seinem Besteck.

Da hat Lillit ihn wohl an der falschen Stelle getroffen.

»Hast du das Gefühl, Abel meint seine Versprechungen ehrlich?« Lillits Stimme klingt lauernd. Wie ein Hecht auf Beutejagd.

»Ja, klar! Alles braucht halt seine Zeit. Aber die Schulgesetze wurden bereits verändert. Jetzt müssen noch die Gegebenheiten vor Ort angepasst werden.« Aaron stopft sich den Mund mit Gemüse voll und weicht uns allen aus. Er wirkt nicht mehr ganz so überheblich. Ist er nicht überzeugt von Abels Absichten?

»Hast du Zweifel daran, Lillit?«, frage ich und lasse meine Gabel ruhen. Angst schießt in mir hoch, wie eine böse Vorahnung. Ich drücke meine Hand auf mein Herz und erinnere mich selbst, dass es vorbei ist. Alles ist gut.

Lillit lehnt sich zurück. »Ich kenne ihn und ich habe genügend Geschichten über Männer wie ihn gehört.«

»Über Bürger, Lillit«, widerspricht Aaron. »Männer, die wie Chamuel und ich aus der Stadt kommen. Aber Abel stammt aus der schwarzen Zone. Woher willst du ihn kennen? Unter seiner Führung haben wir schon viel verändert.«

Was ist das für ihn? Eine politische Debatte? Sie ist sechzehn und kein Regierungsmitglied.

»Sicher. Würde ich auch so machen.« Lillit schiebt mit ihrer Hand die Gabel weg und schnaubt verächtlich. »Zuerst meine Macht stärken. Mich mit Anhängern umgeben.« Sie trinkt einen Schluck Tee und knallt ihre Tasse ein wenig zu heftig auf den Tisch.

Ich zucke zusammen. Kopfschüttelnd richte ich mich auf. »Glaubst du, dass Abel uns die ganze Zeit belogen hat, Lillit?« Ich habe für Abel gekämpft. Ihn zu kritisieren, bedeutet die Rebellion, in der ich gekämpft habe, zu kritisieren. Ich umgreife das Besteck und in meinen Handgelenken knackt es. »Ich mag ihn auch nicht, aber dass er uns hintergeht? Ich denke, du bist ein wenig paranoid.«

»Wir sollten nicht allzu leichtgläubig sein, Lillit, da gebe ich dir recht«, mischt sich Chamuel ein und gießt allen noch eine Runde Tee ein.

Lillit schiebt ihre Tasse von sich und setzt sich auf. »Was tut er dafür, dass die Frauen ihre neuen Chancen auch nutzen können?«

Eva wird blass und Aaron nimmt eine leichte rote Gesichtsfarbe an.

Ich trinke einen Schluck, in der Hoffnung das der Tee mich beruhigt, aber der Auflauf stößt mir auf.

Lillit nimmt ihre Gabel in die Hand und hält sie hoch. »Wir haben einen erheblichen Nachteil, was unsere Bildung angeht. Außerdem werden die Männer nicht von heute auf morgen ihr Denken ändern. Was tut Abel also dagegen?« Sie fuchtelt mit der Gabel in der Luft und spricht genau das aus, was mir Kopfzerbrechen bereitet.

Ich denke an meinen Wunsch, zu studieren, und die Voraussetzungen, die ich nicht annähernd erfülle.

»Das braucht seine Zeit. Wir müssen die Veränderungen Stück für Stück angehen. Das geschieht nicht von heute auf morgen. Wir wollen ja keine zweite Rebellion auslösen!« Aaron spricht nicht mehr ganz so eindringlich. Will er uns beruhigen, einlullen?

»Also was denn nun? Können wir Abel trauen oder nicht?«, fragt Eva und schaut von einem zum anderen. Sie streicht über ihre Haare – eine Geste übriggeblieben aus dem Umerziehungslager. Das Gespräch macht anscheinend auch sie nervös.

»Sicher können wir ihm trauen. Aber das heißt ja nicht, dass er alles sofort hinbekommt.« Aaron lächelt Eva zu. »Deswegen schauen wir ihm ein wenig auf die Finger. So eine Insel zu leiten, ist ja nicht leicht.« Er widmet sich wieder seinem Essen.

Das war jetzt nicht wirklich ermutigend. Aber ich halte den Mund. Das Gespräch hat mir schon genug auf den Magen geschlagen.

»Wenn ihr das sagt.« Eva legt steif ihr Besteck weg und schiebt ihren halbleeren Teller von sich. »Lillit, möchtest du Nachtisch?«

»Nein, danke. Ich mache mich jetzt auf und werde für eine Weile verschwinden. Etwas zur Ruhe kommen. Vielleicht bin ich ja wirklich paranoid. Vielleicht auch nicht. Wir werden es sehen.« Sie drückt sich vom Tisch weg und steht auf. Von der eben gezeigten Kampfeslust ist nichts mehr übrig. Ihr spitzes, blasses Gesicht sieht müde aus. Sie könnte durchaus etwas Ruhe gebrauchen.

Eva erhebt sich. »Aber wieso?«

Lillit umarmt ihre Freundin, die noch immer wie zu Stein erstarrt dasteht. Eine Antwort bleibt sie ihr schuldig. Mit einem Blick in unsere Runde klopft sie auf den Tisch und verschwindet aus dem Raum. Dem Knallen der Wohnungstür folgt ein unangenehmes Schweigen im Esszimmer.

»Wieso?«, fragt Eva erneut.

»Ach, typisch Lillit. Lass ihr Zeit, sich an die neuen Umstände zu gewöhnen.« Chamuel schiebt Eva den Stuhl zurecht und sie lässt sich darauf fallen. Seine Hand streicht über ihren Arm und sie lehnt sich ausatmend an ihn.

Die innere Unruhe der letzten Tage packt mich mit voller Wucht. Ich kann sie nicht ganz greifen, weiß nicht, was sie zu bedeuten hat.

Ich hätte auch gerne eine Auszeit.

Machen Sie sich nicht lächerlich.

Ich werde das Abitur nicht bestehen können.

Auf keinen Fall.

Ich sitze am Küchentisch vor den Fragen für die Prüfung und habe bei mindestens der Hälfte nicht die geringste Ahnung. Ach, was denke ich, bei allen!

Zwar haben sich meine Lese- und Schreibkenntnisse enorm verbessert – Eva hat mir viele ihrer elektronischen Bücher geliehen – aber für Fragen zu Physik reicht es nicht. Die Panik vor dem Versagen überflutet mich und ich spüre, wie mein Magen rebelliert. Mir ist seit Tagen schon schlecht.

Ich werde mit Aaron sprechen müssen.

Zu allem Überfluss habe ich Gerüchte auf der Arbeit gehört, dass der Dekan der Hochschule für Medizin die Anforderungen erhöht hat, damit Frauen es nicht schaffen, sich einzuschreiben. Was für ein Fischkopf!

Vielleicht sollte ich aber nichts auf das Geschwätz meiner jungen Kolleginnen geben. Sie suchen gewiss nur eine Ausrede, um sich nicht für das Studium anzumelden.

Meine DV-Uhr am Handgelenk piept. Die Schicht im Krankenhaus fängt gleich an.

Leider zählen meine Erfahrungen als Krankenschwester bei der Bewerbung nicht. Nur reine Zahlen auf Papier. Zahlen, die meine Leistungen in Schulfächern bewerten sollen, von denen ich noch nie zuvor in meinem Leben gehört habe. Physik. Literatur. Mathematik. Biologie. Ich weiß, wie man Infusionen legt, ein gebrochenes Bein schient und wo die Organe im Menschen liegen, aber das ist anscheinend nicht so wichtig.

Ich rümpfe die Nase und stehe auf. Aus Frust esse ich einen weiteren Keks von Eva. Sie wird sich freuen, dass die Dose leer ist, und neue backen.

Sie wird nächstes Jahr das Abitur machen, aber ich will nicht warten und mit ihr gemeinsam lernen. Ich will nicht noch ein Jahr als Krankenschwester vergeuden. Mich nervt es gewaltig, dass ich vieles nicht darf, weil mir angeblich die Qualifikation fehlt.

Ich betrete die hochglänzende Eingangshalle des Gesundheitszentrums. Ein einzelner Tresen füllt diesen sonst leeren Raum.

Das Krankenhaus im mittleren Ring hat im Vergleich zu dem im inneren Ring überlebt. Ein kleines Wunder, aber es muss nun mehr Patienten aufnehmen, als es eigentlich versorgen kann.

Ich habe einige munkeln hören, dass sich hier sowieso bald vieles ändern wird.

Abel ist nicht gut auf die ehemaligen Bürger zu sprechen. Immer häufiger spricht er davon, dass diese ihren Preis für die Ungerechtigkeiten der letzten Jahrzehnte zahlen müssen. Was das bedeutet und wie sich das auf unsere Arbeit auswirkt, kann ich mir nicht vorstellen. Aber es verstärkt das ungute Gefühl in mir. Ich wische meine schwitzigen Hände an meiner Hose ab und atme tief durch. Alles wird gut.

Gefasster gehe ich ins Schwesternzimmer und kleide mich um. Der weiße Kittel behagt mir nicht. Lieber würde ich eine Hose tragen. Heute soll ich auf der Kardiologie aushelfen und fahre mit dem Fahrstuhl hoch. Meine Uhr zeigt mir an, dass eine Kollegin ausfällt. Vielleicht ist das meine Gelegenheit.

Oben angekommen begrüßt mich meine heutige Kollegin, Vasti. Ihr strenger Dutt und die tiefen Falten um ihren Mund täuschen über ihren humorvollen Charakter hinweg.»Doktor Rimmon ist heute im Dienst«, klärt sie mich auf und ich seufze. Ich straffe die Schultern und gehe in sein Sprechzimmer, um meine heutigen Anweisungen zu erhalten.

»Guten Morgen, Doktor Rimmon.«

Vor mir sitzt ein schmächtiger Mann mit einem langen herabfallenden Schnurrbart. Er ist kein ehemaliger Bürger, sondern stammt aus der Nordwestzone und hat dort im Versorgungszentrum gearbeitet. Für ihn ein Aufstieg.

Für mich ist die Arbeit an diesem Krankenhaus ein absoluter Tiefpunkt meiner medizinischen Karriere. Ich durfte im Rebellenlager unter widrigsten Bedingungen mehr Patienten behandeln als hier unter Aufsicht von erfahrenen Ärzten.

»Morgen«, murmelt er, ohne aufzusehen, und tippt weiter auf seiner Datentafel herum. Er versinkt beinahe in seinem Schreibtischstuhl.

»Steht heute etwas Besonderes an?«, frage ich voller Hoffnung, endlich einer OP beiwohnen zu dürfen.

»Der OP-Saal muss vorbereitet werden. Um 17 Uhr ist eine Herztransplantation geplant. Sorgen Sie dafür, dass sie pünktlich beginnen kann.«

»In Ordnung. Schwester Hagar ist heute ausgefallen. Könnte ich stattdessen dem Arzt bei der OP assistieren?« Ich beiße mir auf die Lippen und bete um eine positive Antwort. Ich muss mich nur einmal beweisen können.

Er hebt seinen Blick von der Tafel. Sein Schnurrbart zittert und er faltet seine Hände zusammen. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Der Arzt braucht jemanden, der sein Handwerk versteht, und nicht irgendein dahergelaufenes Mädchen von der Straße.« Der Doktor schüttelt seinen Kopf und wendet sich wieder seiner Tafel zu. »Zum Bettpfannen leeren und Infusionen legen sind Sie zu gebrauchen«, spricht er weiter, »aber den Rest schlagen Sie sich aus dem Kopf.«

Seine Worte sind wie eine Ohrfeige. Ich würde ihm am liebsten seinen Schnurrbart aus dem Gesicht reißen. Aber ich verdiene hier mein Geld. Ich brauche diese Arbeit.

Mit Vasti zusammen bestücke ich den Medikamentenwagen. Bevor wir fertig werden, leuchtet ein Symbol auf einer großen Datentafel auf. Zimmer 91 benötigt Hilfe.

»Ich gehe, Vasti.« Ich mache mich auf dem Weg zu dem Patienten.

Auf dem Flur rennen zwei Kollegen an mir vorbei, die wahrscheinlich in den Operationssaal gerufen wurden. Ich schlucke und beiße mir auf die Zunge, um nicht zu schreien. Wenn ich erstmal dieses doofe Studium machen kann …

»Martha?«, höre ich Eva rufen, noch bevor ich durch die Tür bin. Ich antworte nicht. Zu müde.

Achtlos streife ich meine Schuhe von den Füßen und tapse in die Küche, wo sie am Herd steht und mit irgendwelchem Gemüse hantiert.

»Martha!«

»Jetzt nicht, Eva«, wehre ich sie ab.

»In der Schule habe ich von Frauen gehört, die gemeinsam für die Reifeprüfung lernen. Sie sind wie du der Meinung, dass ihnen erhebliche Vorkenntnisse fehlen«, redet sie weiter, ohne auf meinen Einwand einzugehen.

Ich blicke auf und vergesse meine Müdigkeit.

»Jedenfalls treffen die sich immer in unserer Schule, und ich habe sie gefragt, ob du dazu kommen kannst. Sie meinten: ›Ja sicher, wir Frauen müssen immerhin zusammenhalten‹.« Jetzt grinst sie mich an.

»Das klingt großartig. Danke, Eva. Weißt du, wann und wo sie sich treffen?«

»Unregelmäßig, weil sie zum Teil arbeiten wie du. Hier hast du die Kontaktdaten von Helene.« Eva tippt auf ihrer Uhr und meine leuchtet auf.

Ich sehe den Namen mit einer Nummer auf dem Bildschirm erscheinen und verschwinde nach oben.

»In zehn Minuten gibt es Abendbrot«, ruft Eva mir hinterher.

Ich fühle mich besser. Die Nachricht von der Frauenlerngruppe und eine Dusche haben meine Stimmung gehoben.

Ich eile nach unten und höre Aaron mit jemanden reden. Suchend sehe ich mich um. Seine Stimme schallt nicht aus der Küche, sondern aus dem Herrenzimmer seines Vaters.

Die Tür ist einen Spalt breit offen und er sitzt mit dem Rücken zu mir auf dem Schreibtisch. »Chamuel, ich will ihm ja vertrauen, aber ich habe langsam Zweifel, ob er weiß, was er da tut.« Er streicht sich durch seine Haare und verstummt.

Ich brauche ein bisschen, um zu begreifen, dass er telefoniert. Leise komme ich näher und bleibe an der Tür stehen.

»Ja, sicher hat er die Versorgung schnell wiederhergestellt.«

Hat Abel die Grundversorgung wirklich überall zugänglich gemacht? Ich denke an meine alten Freunde in der schwarzen Zone.

Leider höre ich Chamuels Antwort nicht. Er muss mit einem Kopfhörer im Ohr telefonieren.

»Aber eben genau diese Planwirtschaft macht mir Sorgen. Wer hat die Kontrolle über die Logistikunternehmen, in denen ausgerechnet wird, wie die Lebensmittel unter allen aufgeteilt werden können?«

Arbeitet Chamuels Schwester nicht in einem Logistikunternehmen, um die Nahrung gerechter zu verteilen?

Die Erinnerung an ein rotgelocktes Mädchen taucht vor meinem inneren Auge auf. Ich mag Ariel nicht. Chamuels Schwester hatte sich noch vor dem Ende der Rebellion von uns abgeseilt, weil sie glaubte, für was Besseres und Wichtigeres bestimmt zu sein.

Ich weiß noch, wie sie über Eva und ihre Arbeit in der Wäscherei hergezogen ist. Kaum zu glauben, dass sie mit Chamuel verwandt ist.

Ich räuspere mich, doch Aaron ist so konzentriert, dass er nicht reagiert.

»Ich befürchte eher, dass die Fabrikinhaber und ehemaligen Bürger bald auf die Barrikaden gehen, wenn ihnen alles weggenommen wird oder sie viel weniger für ihre Waren erhalten.«

Wieso macht er sich um diese Schnösel Sorgen? Abel hat doch jetzt die Macht, oder? Sie sollten alle zufrieden sein mit dem, was sie haben.

Ich gehe ins Zimmer und warte vor dem Schreibtisch.

»Sie sind ein Teil des Wirtschaftssystems der Insel, Chamuel. Wir müssen vorsichtig an die Sache herangehen. Abel ist mir da in vielen Dingen zu voreilig.«

Was heißt denn zu voreilig? Für Menschen, die hungern, kann es nicht schnell genug gehen!

»Die Produktionsketten dürfen nicht unterbrochen werden. Und die hängen von den Fabrikinhabern ab.« Aarons Stimme hat einen durchdringenden Ton angenommen. Anscheinend teilt Chamuel seine Sorge nicht.

»Wenn die aus Frust ihre Arbeit niederlegen, steht eine ganze Fabrik still. Erneut. Das kann sich die Insel nicht noch einmal leisten!«

Während unserer Rebellion haben Streiks dafür gesorgt, dass die Insel ins Chaos gestürzt ist. Das hat uns den entscheidenden Vorteil gebracht.

Wütend kreuze ich die Arme vor der Brust. Ich schnaube laut durch die Nase. Wie kann er sich auf die Seite der Reichen stellen und Verständnis für die haben? Ihr Verhalten entschuldigen? Es werden gewiss andere ihren Platz einnehmen.

»Ich denke, so rasch werden sich keine fähigen Nachfolger finden.« Aaron steht auf und dreht sich um. Mitten in der Bewegung verharrt er, doch er hat sich schnell im Griff und lächelt mir zu.

»Hören wir auf für heute. Ich habe Hunger und es riecht zu köstlich, als dass ich mir mit Abels Politik mein Essen verderben lassen möchte.«

Aaron kommt um den Schreibtisch herum und legt auf. »Hallo schöne Frau.«

Ich verdrehe die Augen. »Worüber habt ihr geredet?«

»Das meiste wirst du wohl gehört haben.« Er grinst.

Beim Anblick seiner weißen Zähne lecke ich über meine. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass sie so weiß und glatt sind.

»Gehört ja, aber nicht verstanden.« Ich strecke ihm die Zunge raus.

Er seufzt. »Nach dem Essen. Einverstanden?«

Ich nicke – zögerlich.

Er beugt sich zu mir herunter und küsst mich.

Ich lehne mich Aaron entgegen. Fest liegen meine Lippen auf seinen und verdrängen für den Moment alle Zweifel.

Ich fühle mich so fehl …

Aufregung steigt in mir hoch wie eine Flut, die das Land Welle für Welle erobert. Zum ersten Mal in meinem Leben betrete ich ein Klassenzimmer. Mein Herz klopft laut und schnell in meiner Brust und ich öffne schwungvoll die Tür.

Drinnen erwartet mich eine gemischte Gruppe aus Frauen unterschiedlichen Alters. Ich zähle rasch durch und komme auf zwölf.

Das Hochgefühl verblasst, als ich die anderen Teilnehmer der Lerngruppe genauer in Augenschein nehme. Die meisten tragen Kleider in grau und haben die Haare streng frisiert oder sogar unter einem Tuch versteckt. Das Zeichen ihres Ehestatus. Ich fühle mich so fehl am Platz wie ein Fisch an Land.

Eine große Frau in einem schmalen Rock und einer bis zum Hals zugeknöpften Bluse gewinnt meine Aufmerksamkeit. Ergraute Haare schauen unter einem Tuch hervor und bedecken gerade geschnitten ihre Stirn bis knapp über ihren Augen. Ich höre, wie sie mit Helene angesprochen wird.

Ich gebe mir einen Ruck und gehe auf sie zu. »Guten Morgen, ich bin Martha. Ich glaube, wir haben miteinander telefoniert.«

Sie nimmt meine ausgestreckte Hand. »Guten Morgen, Fräulein Martha. Schön, dass Sie kommen konnten.« Ihre Stimme ist durchtränkt von dem typischen städtischen Akzent. Jede Silbe wird überdeutlich betont.

Meine Erwartung, dass die Frauen hier in Hosen und Hemd sitzen würden, kommt mir mit einem Mal lächerlich vor. Hier versammeln sich die ehemaligen Bürgerinnen der Stadt Selvia. Frauen, deren Männer die schwarze Zone besuchen. Frauen, die mit Verachtung auf mich schauen würden, wenn sie wüssten, wo ich herkomme.

Reihum betrachte ich die Frauen, die ich mir als meine Mitstreiterinnen erhofft habe. Einige wirken neugierig, andere freundlich, doch manche auch verschlossen und misstrauisch. Ich trage schließlich keinen Rock und meine Haare fallen offen auf meine Schultern. Meine Narbe wird ihr Übriges tun. Mir ist anzusehen, dass ich nicht dem Bürgertum entspringe. Doch jetzt, wo ich schon einmal hier bin, entscheide ich mich, zu bleiben – mein Ziel, zu studieren, vor Augen. Dafür muss ich die Reifeprüfung bestehen. Und wenn ich mit diesen Frauenzimmern vorliebnehmen muss. Ich brauche keine Freundinnen.

Ich suche mir einen freien Platz und packe die Datentafel aus.

Es verschwinden Leute.

Verschwommen tanzen die Buchstaben vor meinen Augen auf der Datentafel. Ich habe die sechste Nachtschicht in Folge hinter mir und nur wenige Stunden geschlafen.

Das Fenster im Esszimmer ist weit geöffnet. Eisige Seeluft weht durch den Raum und ich fröstle, doch die Kälte hält mich wach.

In vier Wochen ist die Prüfung. Abel hat gestern das Gesetz offiziell verabschiedet: Frauen dürfen das Abitur machen. Trotz einiger Gegenstimmen, wie Aaron erklärt hat. Das war zu erwarten. Die Gegner hoffen, den neuen Wind bändigen zu können.

Ich trinke einen Schluck Tee, um die Müdigkeit aus meinen Gliedern zu vertreiben. Nach der heutigen Stunde in der Lerngruppe kaufe ich mir Kaffee. Das Getränk vom Festland ist ein Wachmacher ohnegleichen.

Evas besorgte Äußerung von gestern geht mir durch den Kopf. Obwohl Abel seine Versprechen hält, haben sich bisher die wenigsten Mädchen über 14 Jahren aus den unteren Ringen und Zonen dazu entschieden, die Schulbank zu drücken. Auch nach der Rebellion braucht man was zu essen auf dem Tisch. Schularbeiten bringen kein Geld, Fließbandarbeit in einer Fabrik schon. Was mich am meisten wurmt, ist die Tatsache, dass das Dirnenhaus immer noch besteht. Das weiß ich von Ada.

Ich befürchte sogar, dass meine alte Freundin wieder dorthin zurückgekehrt ist. Seit drei Wochen antwortet sie mir nicht mehr auf meine Nachrichten. Ich werde Aaron bitten, mich hinzufahren. Ich hoffe, Abel wird die nächsten Gleichstellungsgesetze schneller verabschieden. Wie das Recht, Auto zu fahren.

Der Frust über die Langsamkeit, mit der alles vonstattengeht, frisst sich wie Säure durch mein Nervenkostüm.

Manchmal habe ich das Bedürfnis, laut zu schreien.

Die Wohnungstür piept und jemand betritt den Flur. Verwundert schaue ich auf die Uhr. Es ist Vormittag. Eva ist in der Schule und Aaron sollte bei der Arbeit sein, doch er kommt ins Esszimmer geschlurft.

»Hallo. Bist du am Lernen?« Er drückt mir einen Kuss auf die Lippen. Seine sind trocken und rau.

»Was ist los?«, frage ich und vergesse, seine Begrüßung zu erwidern. Ich bin zu verwundert über sein plötzliches Auftauchen und seinen viel zu kurzen Kuss.

»Ich musste weg«, antwortet er und geht wieder raus.

Etwas an seiner Stimme lässt mich aufhorchen. Ich schalte seufzend meine Datentafel aus, die vorwurfsvoll blinkt, und folge ihm in die Küche.

»Was meinst du damit, du musstest weg?« Ich mahle mit den Kiefern, verärgert darüber, ihm alles aus der Nase ziehen müssen.

Er hebt den Kopf und schüttelt sich Haferflocken und Mandelsaft in eine Schüssel. Weil er nicht hinschaut, geht die Hälfte daneben. Erst als der Saft über seine Hand läuft, merkt er sein Missgeschick. »Verfluchte Feuerqualle!« Unwirsch wischt er mit einem alten Lappen die Pfütze auf und setzt sich an den Küchentisch.

»Abel ist völlig außer Kontrolle. Er enteignet die Fabrikinhaber. Alle. Um eine gleichmäßigere Verteilung der Güter herzustellen. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für einen Aufschrei gegeben hat.«

»Das ist doch keine schlechte Idee, wie will man sonst die Ungerechtigkeit zwischen den Ringen und den Zonen bekämpfen?«

Er fängt an, zu essen und ich weiß, dass er damit Zeit schindet, um zu überlegen. Irgendwie nervt mich das. Ich bin müde. Ich muss lernen. Aarons Verhalten und wie er Abel kritisiert reizen mich. Ich will das nicht hören.

»Es verschwinden Leute«, antwortet er nach mehreren Sekunden. Er spricht mit vollem Mund und ich überlege, ob ich ihn richtig verstanden habe.

»Na klar, wenn Leute wie du, nicht mit seiner Politik einverstanden sind, sollten sie gehen.«

Seine Stirn legt sich in Falten.

»Hast du Angst, dass dir dein Reichtum weggenommen wird? Möchtest du nicht teilen? Das ist doch das Problem von euch Bürgern, ihr seid es nicht gewohnt, weniger zu haben oder nicht alles zu bekommen!« Meine Stimme ist laut.

»Darum geht es doch überhaupt nicht! Die Leute verschwinden nicht freiwillig. Sie haben etwas gegen Abels Vorgehen gesagt, was übrigens ihr gutes Recht ist, denn sonst ist er nicht besser als Adam. Und dann – ganz plötzlich – waren sie weg. Keiner von ihnen kam wieder. Wohin sollte ein Vater ohne seine Frau und Kinder verschwinden?«

»Den männlichen Bürgern ist es doch egal, was mit ihren Frauen und Kindern passiert!«

»So einfach machst du es dir? Immer alles auf die bösen, reichen Bürger schieben. Und auf die Männer? Und ich bin auch so einer? Warum bist du dann noch hier? In einem Bürgerhaus? In einem Bürgerviertel? Machst wie die feinen Damen dein Abitur?«

»Ich gehe arbeiten, du blasierter Guppy! Ich verdiene mein Geld selbst und zahle Miete! Und ich kämpfe seit Anbeginn der Rebellion für Abel und habe wohl jedes Recht dazu, meine Meinung zu äußern!«

Ich weiß, dass mein letztes Argument so hohl ist wie eine verlassene Einsiedlermuschel, aber ich bin wütend. Auf ihn, auf das Lernen und auf alles.

Ich drehe mich auf dem Absatz um, schnappe mir eine Jacke und stelle im Hausflur fest, dass es eine von ihm ist. Eine, die ich häufig trage. Aber gerade hätte ich am liebsten nichts von Aaron bei mir.

Ich laufe die Treppen hinunter, anstatt den Fahrstuhl zu nehmen.

Unten angekommen bleibe ich stehen. Für die Lerngruppe ist es zu früh und außerdem bräuchte ich meine Datentafel, die oben liegt. Zurück will ich nicht und ich will auch nicht über seine Worte und Vorwürfe nachdenken.

Daher marschiere ich drauflos und lasse meine Füße entscheiden.

Der Winter ist dieses Jahr sehr kalt und windig. Die Stadt ist ein Riff aus hohen grauen Häusern und grauen Straßen, unterbrochen von schwarzen Autos oder Bussen. Die Menschen, die mir begegnen, schauen kaum auf und versinken tief in ihre grauen Mäntel.

Was soll daran falsch sein, dass Abel die Bürger entlässt, die sich der neuen Politik verweigern? Es sind nun mal nicht alle wie er und Chamuel. Sein Vater selbst hat seine Mutter und Eva wie Menschen zweiter Klasse behandelt und nichts übrig gehabt für die Arbeiter aus den Zonen. Hat Aaron Angst, dass es die Menschen trifft, die er kennt?

Laute Stimmen hallen mir entgegen. Ich bin auf dem Markt gelandet.

Bisher habe ich ihn gemieden. Das Anpreisen von Waren ist mir zuwider. Wenn ich die Fülle an Gemüse und Kosmetikartikeln sehe, kommt mir das Würgen. Während die Verkäufer sich damit überschlagen, ihre Waren loszuwerden, hungern woanders Menschen.

Ich bin froh, dass Abel das als Erstes geändert hat und jedem seine Grundversorgung zugesteht. Zwar können sich noch immer nur die wenigsten einen Marktbesuch leisten, aber hungern sollte in den Zonen heute keiner mehr.

Ich schaue auf meine Uhr. Abel hat die Nackenchips aus dem Verkehr genommen. Seine einzige Verbesserung im Überwachungssystem der Insel. Dafür hat er eine Tragepflicht der DV-Uhren eingeführt. Die meisten haben sich gefreut, endlich eine zu bekommen. Ich auch.

Trotzdem ist es seltsam, von so einem kleinen Gerät abhängig zu sein. Ohne dieses Ding erhalte ich kein Gehalt, keine Lebensmittel und kann im Krankenhaus nicht behandelt werden. Wer sich nicht per Uhr ausweisen kann, wird in Gewahrsam genommen. Meine gesamten Daten sind auf ihr erfasst. Wenn sie mir gestohlen wird, könnte sich jeder als Martha Kappes ausgeben und ich bin ein Niemand.

Der Familienname ist von meiner Mutter. Meinen Vater kenne ich nicht. Die Zeiten sind zu chaotisch und da bisher keine Daten von mir vorlagen, waren die Beamten im Meldeamt froh, überhaupt einen Namen bekommen zu haben. Meine Mutter ist tatsächlich noch registriert gewesen, aber ihr Tod nicht, genauso wenig ihr Verbleib, nachdem sie ihrer Familie mit jungen 16 Jahren weggelaufen ist. Kurz vor ihrer Heirat, wie ich erfahren habe. War sie da bereits schwanger? Wie wäre mein Leben verlaufen, wäre sie geblieben? Wäre ich zur Welt gekommen?

Vielleicht werde ich eines Tages meine Verwandten suchen. Vielleicht.

Ich gehe durch eine schmale Gasse und betrete einen Platz, auf dem sich überdachte Stände und kleine Hütten aneinanderreihen. Alle Wege führen zu einer großen Statue, die seit Abels Ernennung zum Präsidenten verhüllt ist. Unter der großen grauen Plane versteckt sich das Abbild der Lucretia. Sie hat Selbstmord begangen, weil sie vergewaltigt wurde und damit nicht mehr ehrenwert war. Diese Geschichte allein sagt alles über die verkorkste Vergangenheit der Insel aus.

Abel hat versprochen, die Statue abreißen zu lassen.

Ich schlendere an den Marktständen vorbei und versuche, zu verstehen, worum es Aaron geht. Die Bürger sind nicht die Bösen? Natürlich, nicht alle. Aber einige schon. Und die hatten meist hohe Posten inne – als Fabrikinhaber, in der Regierung, irgendwo als Leitung von irgendwas.

Die sollten ausgetauscht werden, damit sich etwas ändert. Wie soll es sonst gehen?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135497
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Rebellion Jugendliche Gleichberechtigung Politik Freundschaft Dystopie Thriller Liebe Feminismus Frauen Science Fiction Krimi Spannung

Autor

  • Franziska Szmania (Autor:in)

Franziska Szmania entführt ihre Leser und Leserinnen in düstere Zukunftswelten. Ihre Geschichten handeln von Mädchen, die aus ihrem Alltag gerissen werden. Sie müssen nicht nur ums Überleben kämpfen, sondern auch eine Reise zu sich selbst antreten. Als Autorin spielt sie gerne mit den Schattenseiten des Lebens und einer Welt, in der nichts sicher ist und alles möglich sein könnte. Aber in jeder Dunkelheit findet sie auch Licht und Hoffnung.
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Titel: MARTHA