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20 seltsame Geschichten

von Ben Lehman (Autor:in)
140 Seiten

Zusammenfassung

Zwanzig Geschichten von Menschen und Tieren, echt seltsam, mit Zeichnungen. Es handelt u.a. von einem Esel, der spechen kann, von einem Fest das Schnecken, Regenwürmern und Grillen veranstaltem. von einer kleinen Sternschnuppe, die auch Große in Bedrängnis bringt, von einem Häschen, dass die gefährliche Schlange überlistet, von einem Tintenfisch, der in der Tiefe ganz berühmt wird, und so weiter.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Der Esel

Bauer Jose Krufel war ein armer, ein sehr armer Mann. Er hatte nur noch einen einzigen Esel. Den nannte er Esel, weil ihm kein besserer Name einfiel. Früher hatte er einmal drei Esel besessen, die ebenfalls alle Esel gerufen wurden. Zwei dieser Esel wurden jedoch zu Tode gequält. Schuld daran war Joses Bruder Solm. Solm war ungewöhnlich faul. Nur dann nicht, wenn Joses Frau Ilona ihn um etwas bat. Ilona war sehr schön und Solm schaute sie gerne an, am liebsten unaufhörlich. Dann vergaß er seine Arbeit. Wenn Jose schließlich schimpfte, drosch er auf die Esel ein, um die Lasten schneller befördern zu können. Das gelang nicht immer, denn die Esel waren oft ziemlich stur. Schließlich gaben sie auf und erduldeten Solms brutale Gewalt.

So verging die Zeit. Solm drosch weiter auf die Esel ein und begaffte Ilona.

Eines Tages konnten die Esel Solms erbarmungslose Schläge nicht mehr ertragen. Einer der drei Esel fiel um und war tot. Kurz darauf erlag auch der zweite Esel Solms qualvoller Prügelei. Jose Krufel wollte nicht, dass sein letzter Esel das gleiche Schicksal erleidet, weil dann die Gefahr bestand, dass er selbst verhungern muss. Deshalb jagte er Solm vom Hof und musste von da an alle Arbeiten allein verrichten. Manchmal grinste er trotzdem, weil er es geschafft hatte, dass Solm Ilona nicht mehr unablässig anstarren konnte. Doch Ilona war es von nun an sehr langweilig. Sie ärgerte sich über Jose und sann auf eine List.

Bei seiner eintönigen Arbeit murmelte Jose schon immer ständig vor sich hin. Natürlich erhielt er von seinem Esel niemals eine Antwort, erwartete auch keine. Doch eines Tages geschah genau dieses Ungewöhnliche. Der Esel hatte eine besonders schwere Last auf seinem Rücken und sein erschöpftes ‚I-Ah’ klang erbärmlich. Jose überhörte es. Vor einem sehr steilen Berg blieb der Esel schließlich stehen und rührte sich nicht mehr von der Stelle, wie es eben Esel manchmal tun. Zuerst murmelte Jose: „Fauler Hund, dieser Esel!“

Doch dann schüttelte er verwundert den Kopf. Hatte er sich geirrt oder war er inzwischen schon im Kopf ein wenig verrückt. Ein Wunder wäre es nicht bei dieser Hitze.

„Trag’s doch selber, Jose“, klang es aus dem Maul des Esels.

„Was war das?“, rätselte Jose und hieb zum ersten Mal mit dem Stock auf den Esel ein.

„Au, verdammt.“

„Ha… hast du was gesagt?“, stotterte Jose entsetzt.

„Du sollst mich nicht so brutal schlagen, sonst bist du bald ganz allein.“

Ein Esel, der sprechen kann? Jose fuhr mit der Hand über seine Augen: „Mann, diese Hitze“, murmelte er und zog dem Esel noch eins über.

„Jose! Lass das!“

Das war mehr als deutlich. Jose erstarrte. Er dachte nach, so gut er es eben konnte, schließlich war er nur ein einfacher Bauer. Da ihm nichts Vernünftiges einfiel, näherte er sich dem Kopf des Esels und sagte langsam und deutlich: „Esel! Habe ich mich verhört oder ist die Sonne schuld?“

Und der Esel redete tatsächlich: „Wie kann die Sonne schuld sein, wenn du auf mich wie ein Verrückter eindrischst. Du bist ja fast so schlimm wie dein Bruder Solm.“

Diese Bemerkung saß.

„Ich muss mich erst beruhigen“, murmelte Jose.

Dann fragte er ziemlich idiotisch: „Esel, wieso redest du?“

„Jose! Warum prügelst du mich?“

Jose beruhigte sich sehr langsam. Er besaß also einen Esel, der seit diesem Tag sprechen konnte. Was soll’s, dann spricht er eben, dachte Jose schließlich und meinte, die Angelegenheit sei damit erledigt.

Doch der Esel rührte sich trotzdem keinen Millimeter mehr von der Stelle.

Jose kratzte sich nachdenklich am Kopf: „Esel“, sagte er langsam, „ich muss doch die Ware vor Sonnenuntergang abliefern. Was soll ich tun?“

„Du sollst mich nicht prügeln. Ich kann diesen steilen Berg nicht hinaufklettern. Die Last ist viel zu schwer“, antwortete der Esel, „aber …, ich hätte vielleicht eine Idee.“

Jose stöhnte: „Dann sag’s, aber schnell! Ist doch schon so spät.“

„Wir teilen uns die Last, dann erreichen wir vor Sonnenuntergang deinen Auftraggeber.“

„Was?“, Jose meinte sich verhört zu haben. „Du bist wohl verrückt. Was sollen die Leute denken.“

„Was werden sie erst denken, wenn du überhaupt keinen Esel mehr hast und alles selber tragen musst?“

„Das ist wahr“, murmelte er, schließlich war Jose nicht so dumm.

Kurz entschlossen, nach einem Blick zum Stand der Sonne, nahm Jose die Hälfte der Last auf seine Schultern. Dann keuchten sie nebeneinander los. Ohne weiteres Murren trottete der Esel neben Jose her. Oben angelangt, lief Jose der Schweiß in Strömen über den Rücken, der Esel war deutlich frischer.

„Jetzt weißt du, wie ich oft leiden muss“, bemerkte der Esel.

Jose antwortete nicht.

Während sie weitergingen, begegneten ihnen verschiedene Leute, die Jose kannten.

„Habt ihr so etwas schon mal gesehen? Jose muss verrückt sein“, flüsterten sie sich zu.

Jose hörte es natürlich, ging jedoch schweißtriefend weiter, Schritt für Schritt. Sie erreichten den Auftraggeber vor Sonnenuntergang und konnten die Ware rechtzeitig abliefern.

„Was bist du für ein gütiger Mann, Jose“, sagte der Auftraggeber, „hilfst deinem Esel, bei dieser ungeheuren Hitze die schwere Last zu tragen. Das lob ich mir. Ab heute wirst du von mir viele Aufträge erhalten.“

Der Esel nickte zustimmend, doch der Auftraggeber bemerkte das nicht.

Auf dem Heimweg wechselten sie lange Zeit kein einziges Wort. Kurz bevor sie ihren Hof erreichten, sagte der Esel: „Jose, warum sprichst du nicht mit mir? Du hast mir das Leben verlängert und ich habe dir zu vielen Aufträgen verholfen. Bist du denn nicht zufrieden?“

Jose hatte ebenfalls darüber nachgedacht: „Doch Esel, ich bin zufrieden. Tatsächlich hat mich der heutige Tag überrascht wie zuvor kein anderer Tag in meinem Leben.“

Der Esel antwortete: „Wenn du künftig auf mich hörst, wird es dein Schaden niemals sein.“

So verging die Zeit. Jose konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Sie arbeiteten immer nach der gleichen Methode. Leichte Lasten trug der Esel allein, schwere Lasten teilten sie sich. Inzwischen kümmerte es Jose wenig, was Freunde und Bekannte von ihm dachten. Wenn er ihnen mit der verteilten Last begegnete, schüttelten sie weiterhin den Kopf.

Doch um Jose wurde es recht einsam. Er bekam für seine Arbeit einen Haufen Geld und konnte sich bald vier weitere Esel kaufen.

Ilona langweilte sich von Tag zu Tag mehr und mehr. Jose arbeitete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Er war oft mit allen fünf Eseln unterwegs. Ilona dachte währenddessen an Solms schmachtende Blicke und überlegte, wie sie ihren Schwager wieder auf den Hof holen konnte. Bestimmt würde er sie wieder bewundern wie früher. Jose wollte davon jedoch nichts wissen.

So kam es, dass Ilona einen hinterhältigen Plan ausheckte. Eines Tages sagte sie Jose, dass sie einkaufen gehen wolle. Sie hatte sich aber heimlich mit Solm verabredet. Beide verbrachten einen wunderschönen Nachmittag. Als Jose am späten Abend nach Hause kam, sagte Ilona: „Jose, ich habe mir heute den Knöchel verstaucht.“

„Das tut mir leid“, murmelte Jose und zählte weiter die Tageseinnahmen.

„Solm hat mich nach Hause getragen“, fuhr Ilona fort.

„Solm hat was?“ Jose warf die Münzen auf den Tisch.

„Ich konnte nicht mehr auftreten, was hätte ich tun sollen?“, fragte Ilona scheinheilig.

„Na gut“, meinte Jose schließlich, nachdem er eingesehen hatte, dass Ilona ja irgendwie nach Hause kommen musste.

Für Ilona war die Sache damit aber nicht erledigt: „Solm tut mir so leid. Er hat im Augenblick keine Arbeit. Weil er mir so sehr geholfen hat, habe ich ihm versprochen, dass er bei dir wieder arbeiten darf.“

Jose wehrte sich lange Zeit, trotzdem siegte Ilona: „Schau mal, Jose, künftig musst du nicht mehr die ganze Arbeit allein verrichten. Das ist doch auch für dich schön.“

Also arbeitete Solm wieder bei seinem Bruder Jose. Die Aufträge mehrten sich. Jose arbeitete fleißig, Solm arbeitete listig. Immer wenn sich zwischen verschiedenen Aufträgen die Gelegenheit ergab, verfolgte er natürlich Ilona mit Blicken auf Schritt und Tritt. Danach prügelte er wieder die Esel.

Jose arbeitete weiter, ohne sich eine Pause zu gönnen. Meistens kam er todmüde nach Hause. Er bemerkte überhaupt nicht, was um ihn herum geschah, auch nicht, wie oft sich Solm inzwischen heimlich mit Ilona traf. Und er schlug auch wieder die Esel, um die Arbeit rascher erledigen zu können.

Der kluge Esel hatte lange Zeit kein einziges Wort mehr mit Jose gesprochen. Eines Tages jedoch sagte er: „Jose, du merkst überhaupt nicht, was um dich herum geschieht. Du bist nicht mehr der Alte und du schlägst uns Esel genauso wie Solm. Warum tust du das?“

„Lass mich in Ruhe und mach deine Arbeit“, knurrte Jose.

„Meinetwegen“, antwortete der Esel, „ab heute werde ich nichts mehr sagen. Mein Versprechen, das ich dir damals gegeben habe, gilt somit nicht mehr!“

Tatsächlich erkannte Jose nicht, dass Solm inzwischen alle Aufträge allein heranschaffte, während er wie blind von früh bis spät schuftete. Solm führte auch die Gespräche mit den wichtigsten Auftraggebern, lieferte die Ware, kassierte das Geld, schlug die Esel und liebte Ilona. Währenddessen zählte Jose immer nur Geld. Der sprechende Esel sagte kein Wort mehr.

Eines Tages bat Solm Jose um ein Gespräch. Jose war einverstanden und so setzten sich Jose, Solm und Ilona zusammen.

„Warum ist Ilona dabei“, wollte Jose wissen.

„Es geht um uns drei“, antwortete Solm.

„Dann rede“, murrte Jose ärgerlich.

„Es ist nämlich so“, begann Solm, „Ilona und ich haben beschlossen, dich zu verlassen.“

Jose war sprachlos und starrte Solm an.

„Ilona und ich verlassen dich, Jose. Hast du das verstanden?“

„Ich habe es gehört“, antwortete Jose, „und wie stellst du dir das vor?“

„Ganz einfach. Wir gehen und du bleibst.“

„Aha“, er überlegte kurz, „nun gut, dann geht ihr eben. Dann muss ich wie früher meine Arbeit allein bewältigen.“

„Du weißt, Jose“, sagte Solm, „dass ich inzwischen alle Kontakte zu unseren wichtigen Auftraggebern halte. Du kennst keinen Einzigen mehr. Du bist nur noch mit Geldzählen beschäftigt. Wenn wir dich verlassen, hast du nur noch viele Esel und keine Aufträge mehr. Das wollte ich dir, als dein Bruder, zum Abschied erklären.“

Ilona und Solm standen auf und verschwanden. Jose saß unendlich lange auf seinem Stuhl. Er verstand noch nicht so genau, was gerade geschehen war. Nach einer unendlichen Zeit stand er auf und ging in den Stall zu seinen Eseln. Natürlich wusste er genau, welcher der sprechende Esel war, auch wenn sie lange Zeit nichts mehr miteinander geredet hatten. Zögernd stellte er sich neben ihn. Er wartete eine Weile, bis er schließlich sagte: „Esel, mir ist Schreckliches geschehen.“

„Weiß ich schon lange, Jose. Ich versuchte dich zu warnen, aber du wolltest es nicht hören.“

„Du weißt alles? Haben wir uns nicht früher immer beraten?“

„Es war dein Wunsch, dass ich schweige, und du bist mein Herr. Zuletzt hast du uns Esel immer öfter geschlagen und warst nur noch mit Geldzählen beschäftigt. Als ich dir das letzte Mal helfen wollte, befahlst du mir, meine Arbeit zu verrichten. Das habe ich getan. Jetzt ist es zu spät.“

Jose stand eine Ewigkeit stumm und starr. Schließlich stand er auf und verließ niedergeschlagen den Stall. Dabei murmelte er: „Oh Gott, was bin ich doch für ein Esel.“

2. Das Fest

Mady zögerte länger als sonst. Schließlich stupste sie Ruth scheinbar beiläufig an: „Sag! Wann machen wir es endlich?“

„Was denn?“, ihre Schwester Ruth verstand nur Bahnhof, „los sag schon!“

Genau darauf hatte Mady gewartet: „Unser Sommerfest natürlich. Davon rede ich doch dauernd.“

„Ich schwör´s! Kein Wort hast du gesagt.“

„Trotzdem!“ Mady warf entschlossen das Köpfchen in den Nacken und grinste listig. „Wir werden ein Sommerfest veranstalten. Hast du das begriffen? Es wird unser aller-, aller-, allerschönstes Sommerfest.“

„Aber …“, Ruth riss entsetzt die Augen auf.

„Was aber?“, zischte Mady schroff.

„Wir hatten noch nie ein Sommerfest, liebe Mady“, stammelte Ruth kleinlaut, „es ist doch der erste Sommer in unserem Leben.“

Mady drehte sich genervt zur Seite.

Ruth bebte. Dieser gemeine Befehlston. Genau wie Vater.

„Eben“, keifte Mady schließlich und wandte sich Ruth wieder zu, „dann wird’s höchste Zeit. Und wir laden viele Freunde ein. Verstanden? Viele Freunde!“

„Welche Freunde, liebe Mady?“, Ruth hielt den Atem an, „wir haben doch keine Freunde.“

Das hätte Ruth besser nicht gesagt. Mady brauste auf: „Du vielleicht. Ich schon! Zum Beispiel, äääh …“

„… ja wen denn?“, einen winzigen Moment triumphierte Ruth.

Mady fixierte sie durchdringend. Wieder dieser ekelhafte, stählerne Blick: „Zum Beispiel … Tom, sein Bruder Bob und meinetwegen alle Schwestern. Eine heißt Longi oder so ähnlich. Sind das vielleicht keine Freunde?“

Ruth erschrak: „Diese hässlichen Regenwürmer willst du einladen? Du musst verrückt sein. Was für eine Sippschaft! Pfui Teufel.“

„Na und?“, Mady senkte ihre Stimme. Sie kam Ruth ganz nahe und scherzte: „Dann ist der Unterschied zu uns beiden umso deutlicher. Ich finde uns Raupen sehr schön.“

Damit traf Mady haargenau Ruths schwache Seite.

„Ja, ja, schon“, lächelte sie sanft. „Gewiss …“

Doch dann gab sie sich einen Ruck: „Was heißt überhaupt deutlicher? Nützt nichts! Regenwürmer haben doch keine Augen. Du bist vielleicht blöd!“

„Natürlich weiß ich das, liebe Schwester. Dann bewundern uns die anderen umso mehr.“

Ruth ahnte nichts Gutes: „Die anderen? Um Gottes willen, welche anderen?“

„Ach Ruth! Überleg doch mal. Zum Beispiel … Grilli, die musiziert immer so schön“, Mady prüfte Ruths Reaktion eine Sekunde lang, dann fuhr sie fort: „Was hältst du von Schrecki? Wenn die beiden unserer Einladung folgen, kann getanzt werden.“

„Waaas? Die Heuschrecke auch noch? Ich fasse es nicht. Hoffentlich war’s das?“, Ruth konnte nicht mehr.

„Wo denkst du hin?“, wenn Mady mal Oberwasser hatte, war sie nicht mehr zu bremsen. Ruth hatte schon lange die Nase voll. Sie hasste Aufregung und saß am liebsten auf einem schönen, frischen, knackigen Salatblatt und ließ es sich himmlisch schmecken.

Inzwischen plapperte Mady unaufhörlich weiter: „Tante Alberta, die Nacktschnecke von nebenan, soll auch kommen. Kann ja ihre Kinder mitbringen.“

„Die müssen früh ins Bett“, wagte Ruth einzuwenden.

„Papperlapapp. So klein sind die gar nicht mehr. Gestern alberten sie bis Mitternacht im Gras herum. Jawoll“, Mady nickte heftig, „Tante Alberta muss unbedingt dabei sein … und natürlich Josefa.“

„Die Häuselschnecke? Bitte, bitte, liebe Mady, hör endlich auf!“ Ruth drehte sich ächzend um und rutsche davon.

„Und vergiss nicht“, rief Mady ihr gehässig nach, „es muss alles perfekt vorbereitet werden. Du bist für das Essen verantwortlich. Hast du verstanden?“

Ruth hatte verstanden - und ächzte bitter. Wäre sie doch in eine andere Familie geboren worden.

Mady war ungewöhnlich schlau und ein ausgekochtes Organisationstalent. Sie verstand es, nur solche Freunde einzuladen, die sich darum rissen, bei den Vorbereitungen tatkräftig mitzuhelfen. Mady selbst jedoch verzichtete auf jede Art von Arbeit, sie erteilte lieber Befehle.

Leider war ihr ein dummer Fehler unterlaufen. Sie hatte ein paar schräge Typen ausgewählt, die sich grundsätzlich vor jeder Arbeit drücken. Mady schimpfte fast so unanständig wie ihre alte Tante Porti, die eigentlich Portschukula hieß: „Gesindel! Wieder diese Regenwürmer. Faule Biester. Immer Ausflüchte.“

„Du wolltest sie unbedingt einladen“, bemerkte Ruth.

„Feiern und fressen, das können sie, doch arbeiten …?“, keifte Mady und verschluckte sich fast, „… und was für oberfaule Ausreden. Bob hat sich angeblich das Kreuz verrenkt. Dass ich nicht lache. Hast du so etwas schon mal gehört? Auch Tom kneift, weil er keine Augen hat. Das fällt ihm erst heute ein. Ich dachte immer, Tom wäre der Nettere.“

Mit großem Geschick hatten sie einen herrlichen, nicht einsehbaren Festplatz hinter den Salatköpfen ausgewählt. Doch in letzter Minute weigerten sich alle Helfer, die duftenden, leider viel zu schweren Salatblätter rüber zu schleppen. Blitzartig wusste Mady wieder die Lösung. Sie lud eilends eine Horde Ameisen aus der Nachbarschaft ein. Die zerrten und schleppten und schafften alles in Windeseile.

Es regnete leicht, ideale Voraussetzung für ihr Fest. Empfindsame Gäste, wie Regenwürmer oder Nacktschnecken, mussten keine Sorge wegen der Sonne haben. Ruth wuchtete bis zuletzt wunderbar duftende Speisen heran. Sie schwitzte entsetzlich und konnte keinen Gedanken an ihr Äußeres verschwenden. Dagegen machte sich Mady schön wie selten. Sie stand vor einem Wassertropfen und zupfte hier und zupfte dort und schminkte sich mit besonderer Sorgfalt. Und dieses wunderbare grüne Kleid, schwarz abgesetzt. Alle Gäste sollten Mady bewundern.

Wie edel der Teppich aus Salatblättern wirkte. Allerdings schimpfte Ruth: „Was für eine Verschwendung! Die schönen Salatblätter.“

„Freu dich, Ruth. Setz dich mitten rein. Ist weniger anstrengend, als auf die Salatstauden zu klettern“, schäkerte Mady, „letzte Woche wäre Tante Porti beinahe abgestürzt. Sie ist ja schließlich keine Artistin.“

„Kein Wunder, bei dem Alter“, murmelte Ruth.

Auf der Bühne stimmten Grilli und Schrecki gerade ihre Instrumente. Die eintreffenden Gäste waren überwältigt. Es gab die schönsten Leckereien. Nur die Regenwürmer fluchten: „Dieses Zeug mag doch keiner von uns.“

Bob wollte sich auf der Stelle verdrücken.

„Hier geblieben, Bob!“, befahl sein Bruder Tom. „Wir können uns doch jetzt nicht in die Erde verkriechen.“

„Tanz heute bis zum Umfallen“, gackerte seine Schwester Longi.

„Blödes Gequatsche“, schimpfte Bob, „ich und umfallen. Du vielleicht, Longi, wenn du dich wieder volllaufen lässt.“

Mady, die strahlende Gastgeberin, hielt eine salbungsvolle Festrede, wofür sie jubelnden Applaus erhielt.

Erst viel später erschien Josefa, die Häuselschnecke, mit ihrem Freund Juppi: „Entschuldige bitte, Mady“, keuchte sie, „der Eingang ist so niedrig, wir hatten solche Mühe unten durchzukriechen.“

„Macht doch nichts“, mischte sich Tante Porti ein. „Schön, dass ihr trotzdem hier seid. Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen. Wieso schleppt ihr eigentlich dauernd eure Häuser herum. Hier klaut doch keiner.“

Josefa antwortete verärgert: „Du bist gemein, Porti“, und wandte sich beleidigt Grilli zu: „Ich freue mich so auf eure Musik.“

Das Fest kam schnell in Fahrt. Alle lachten und scherzten ausgelassen. Doch was für eine Überraschung. Ein letzter Gast tauchte auf. Es war Jolandie, die schöne Tigerschnecke. Sie rutschte nicht herein, sie schwebte wie eine Königin. Huldvoll nickte sie den übrigen Gästen zu. Sie war sich ihrer Wirkung bewusst.

Tante Alberta war zutiefst gekränkt und wandte sich an Mady: „Wieso die? Hätte ich gewusst, dass du die einlädst!“

„Hab‘ ich gar nicht“, auch Mady war überrascht, immerhin hatte sie ihr schönstes Kleid gewählt.

Doch Mady konnte auch mit Überraschungen prima umgehen. Sie wandte sich blitzschnell an Ruth: „Na Ruth, wie gefällt es dir.“

„Ich bin restlos begeistert. So ein schönes Fest.“ Ruth wollte Mady um den Hals fallen, sie schaffte es leider nicht.

„Hast du gesehen“, raunte ihr Mady zu, „Bob ist wieder o.k. Seine Rückenprobleme sind wie weggeblasen.“

„Ich wusste nicht, dass Regenwürmer so toll tanzen können“, scherzte Ruth, „Tom hat mich vielleicht rumgewirbelt.“

Sie tobten dermaßen, dass aus dem nahen Komposthaufen Beschwerden laut wurden: „Wie soll unsereiner bei diesem Lärm schlafen“, schimpften ein paar Mistkäfer.

„Darf ich mitmachen“, fragte Libelle Schnurri, die zufällig vorbei summte.

„Herzlich gerne“, lud Mady sie ein und hatte eine prima Idee. „Wenn du Lust hast, mach uns doch mit deinen vier Flügeln ein bisschen Wind. Es ist heute so heiß.“

Die Ameisen tanzten eine Polonaise vom Allerfeinsten.

Alberta würdigte Jolandie keines Blickes mehr und wisperte ihren Kindern zu: „Echte Künstler, diese Ameisen. Das solltet ihr auch lernen, dann seid ihr als Gäste überall willkommen.“

Auch Josefa wirbelte mit Juppi über die Tanzfläche und stöhnte: „Mann, was für eine Hitze.“

Tante Porti stichelte schon wieder: „Gebt doch eure Häuser an der Garderobe ab.“

Josefa schimpfte lauthals: „Mady, deine Tante ist heute besonders ekelhaft.“

„Entschuldige Josefa“, Mady packte Alberta und schunkelte mit ihr.

Das Fest erreichte seinen Höhepunkt. Die untergehende Sonne leuchtete blutrot, als wäre sie ebenfalls eingeladen. Die ausgelassene Gesellschaft war nicht mehr zu bremsen. Vom Komposthaufen traf gerade eine Abordnung Tausendfüßler ein. Der Lärm sei einfach unerträglich. Schnurri flatterte und flatterte. Ihre beiden Flügelpaare sausten wild. Welch angenehmer Luftzug.

Dann geschah es. Mady stutze. Warum war Schnurri verschwunden? Sie hatte sich nicht einmal verabschiedet. Dunkle, drohende Schatten, aber was war das? Fremde Geräusche, hoffentlich kein Gewitter!

Es war alles ganz anders. Es waren Amseln. Viele. Sehr viele. Sie hielten flatternd im Flug inne und blickten gierig auf das lustige Treiben hinter den Salatstauden. Wie auf Kommando schossen sie gleichzeitig zu Boden.

Pick, pick, pick, pick, pick.

Tom erkannte die Gefahr blitzschnell und hechtete zum nächsten Erdloch. Eine Amsel packte ihn hinten, er wurde immer länger. Tom krallte mit Leibeskräften. Vergeblich.

In letzter Sekunde rief Josefa: „Juppi, mach dicht!“ Gleichzeitig zog sie ihre Haustür donnernd hinter sich ins Schloss. Sie ahnte Schreckliches.

Dann Totenstille.

Josefa wartete. Lange …, sehr lange. Schließlich öffnete sie vorsichtig ihre Haustür und lugte hinaus.

Entsetzlich!

Da war nur noch ein Schlachtfeld. Weit und breit keiner der fröhlichen, ausgelassenen Gäste. Alle Salatblätter rücksichtslos durcheinandergeworfen. Nur Juppi. Der lag in einer Ecke. Hoffentlich war ihm wenigstens nichts passiert. Josefas Stielaugen wurden feucht. Sie rief, nein, sie schrie: „Juppiiiii!“

Juppi öffnete in Zeitlupe seine Haustür und knurrte: „Is‘ was?“

„Gott sei Dank, wenigstens du …“, Josefas Atem stockte.

Juppi überblickte das Drama schnell und murmelte verschlafen: „Wer empfahl uns doch gleich wieder, unsere Häuser an der Garderobe abzugeben?“

„Ich glaube, das war Tante Porti“, antwortete Josefa tonlos, „aber das muss sehr, sehr lange her sein.“

Juppi nickte bedächtig.

3. Der Trick

Au, verflixt noch mal! Rempel doch nicht so brutal!“, schimpfte die Kleine.

„Entschuldige bitte. Hab dich übersehen.“

„Frechheit! Hab dich übersehen! So klein bin ich wirklich nicht.“

„Doch.“

„Blas dich bloß nicht auf. Gucken wirst du wohl noch können vor lauter Kraft, oder?“, die Kleine war mehr als wütend.

„Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid. Ich musste auf den Verkehr achten“, stöhnte die Große versöhnlich. „Bist du jetzt zufrieden? Wie heißt du überhaupt?“

„Nenn mich einfach E39. Eigentlich bin ich von adeliger Herkunft, Y-von-Earth39 ist mein vollständiger Name.“

„Dachte ich mir’s doch“, gackerte die Große, „ein Winzling. Soll ich dir meinen Namen sagen?“

„Ist mir vollkommen egal.“

„Ich heiße E12000. Bin natürlich ebenso adelig wie du. Y-von-Earth12000 ist mein kompletter Name.“ Die Große blickte erwartungsvoll herüber. „Bin fast tausend Mal so groß wie du!“

Die Kleine reagierte nicht.

„Und? Sprachlos?“

„Phhh. Ich bin nie sprachlos. Schwätzerin! Tausend Mal so groß wie ich willst du sein? Rechnen kannst du also auch nicht. Alle Y-von-Earth’s sind Geschwister. Da ist man nett zueinander und rempelt nicht. Merke dir das ein für alle Mal. Und jetzt lass mich in Ruhe.“

„Aber bei meiner Größe …!“, E12000 plusterte sich gewaltig auf, „ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass du Winzling auch eine Sternschnuppe sein willst.“

„Sein will?“ E39 hatte keinen besonders guten Tag und war sofort wieder auf neunundneunzig. Erregt keifte sie: „Du hast wohl überhaupt keine Ahnung. Jeder weiß es, nur du nicht! Je kleiner eine Schnuppe ist, desto intelligenter ist sie.“

„Na gut. Meinetwegen. Reg dich wieder ab“, lächelte E12000 und veränderte die Lage einiger Brocken an der Stelle, wo ihr Gesicht sein könnte. „Weißt du was? Weil du so süß und klein bist, nenne ich dich Schnuppi. Wir können doch Freunde werden.“

„Ich mag die Großen nicht, weil sie immer rempeln. Sie tun so, als wären sie ganz allein im Weltraum.“

E12000 zog verärgert die Stirn in Falten. „Was heißt überhaupt immer rempeln?“

„Sag ich doch. Ihr rempelt immer und dauernd und geht besonders auf uns Kleine los. Ob’s weh tut oder nicht ist euch völlig egal.“

„Lass es dir einfach nicht gefallen. Mir gegenüber hast du doch auch rumgekeift. Ich bin vielleicht erschrocken! Ich dachte zuerst, du flippst aus. Zum Glück hast du jetzt keine so rote Birne mehr. Wir können doch ein paar Millionen Kilometer gemeinsam fliegen, Schnuppi, dann ist es nicht so langweilig. Und bei dem schlimmen Verkehr, der heute im Weltraum herrscht, können wir uns abwechseln. Mal passt du auf, dann wieder ich. Und? Ist das ein Vorschlag?“

„Aber nicht mehr rempeln! Sonst lernst du mich richtig kennen. Da habe ich meine Tricks!“, grummelte E39 dumpf.

„Oh weh, oh weh. Jetzt kriege ich aber Angst“, grinste E12000.

E39 antwortete etwas besänftigt: „Also gut, dann fliegen wir eben ein Stück gemeinsam. Ist echt vernünftig bei diesem Verkehr hier oben. Und dich nenne ich Jumbi.“

„Schnuppi und Jumbi“, kicherte E12000, „das finde ich prima.“

„Und? Was machen wir jetzt?“, E39 fixierte ihre Fluggefährtin, „ich kann es nämlich nicht leiden, wenn immer nur dumm rumgequatscht wird.“

„Äh…, was hältst du von … von Sterne zählen?“, schlug E12000 vor.

„Bei dir piept es wohl. Sterne zählen? Noch etwas Dooferes fällt dir nicht ein? Außerdem schaffst du das nie und nimmer bei dieser Menge. Dauernd kommen neue dazu, weiß der Himmel woher. Warum soll ich überhaupt Sterne zählen. Wie wär’s denn mit …“, E39 grinste hinterhältig, „… mit etwas Intelligentem?“

„Ah, daher weht der Wind“, feixte E12000. „Ihr Kleinen seid ja angeblich soooo schlau.“

„Du musst mich nicht verschaukeln. Ich merke so etwas sofort. Stell mich einfach auf die Probe.“

„Gut. Dann sage mir mal …“, E12000 kratzte sich dort, wo der Hinterkopf sein könnte, „… sage mir mal, was passiert, wenn einer von uns zur Erde runtersaust.“

„So eine blöde Frage! Was dann passiert? Nichts natürlich. Gar nichts. Dann bist du weg.“

„Einfach so?“

„Einfach so!“

„Woher willst du das wissen? Warst du schon mal unten?“ E12000 war nachdenklich geworden. Schwierige Gespräche strengten sie schrecklich an.

Schnuppi bemerkte es und kicherte: „Wir Kleinen wissen das eben. Möchtest du vielleicht lieber über etwas ganz Einfaches reden? Bla, bla, bla oder so?“

„Nein!“, E12000 versuchte aufzustampfen, aber es ging nicht, weil unter ihr kein Boden war. „Ich will jetzt wissen, was du damit meinst: einfach weg.“

„Pfff. Siehst du doch dauernd, wie sie einfach weg sind. Brauchst nur ein wenig zu beobachten, so wie ich. Nicht dauernd vor dich hinträumen. Viele streiten miteinander und achten nicht auf den Verkehr. Dann ein Knall, weg sind sie. Andere fliegen gedankenlos vor sich hin und rumpeln mit anderen zusammen, dann stürzt einer von beiden ab. Oder beide. Könnte dir auch passieren.“

„Und dann?“

„Sage ich doch dauernd. Dann bist du weg!“

„Hast du eine Ahnung, ob schon mal einer zurückgekommen ist?“, fragte E12000 nachdenklich.

„Blödsinn! Du kapierst überhaupt nichts. Vielleicht sollte ich dir ein wenig Nachhilfe geben. Mit Intelligenz und so. Na, wie wär’s?“

„Tu mich ja nicht auf den Arm nehmen“, E12000 schoss das Blut in den oberen Teil, wo sich ihre Sehnerven befanden.

„Hab ich gar ni…, Mann pass doch auf! Eine Riesenschnuppe! Wenn ich dich jetzt nicht rüber gedrückt hätte, aber dann.“

„Uff! Das war echt knapp! Vielen Dank, Kleine!“

„Wenn du zu mir noch einmal ‚Kleine’ sagst, ist es aus mit uns!“

„In Ordnung, Schnuppi. Oder ist es dir lieber, wenn ich dich ab jetzt mit Y-von-Earth39 anspreche?“

„Iwo. Schnuppi ist o.k.“

„Ich sage auch nie wieder Kleine zu dir. Versprochen!“, grinste Jumbi.

„Hab ich dir schon einen meiner Tricks erklärt?“

„Was für einen Trick?“

„Na ja, was ich mit großen Schnuppen mache, wenn sie mich so anrempeln, dass ich beschädigt bin?“

E12000 gluckste still vor sich hin und drehte sich zur Seite, damit es E39 nicht bemerken konnte: „Da bin ich aber sehr gespannt.“

„Ich hau sie einfach runter.“ E39 nickte fest und mit ernster Miene.

„Wer? Du???“

„Außer uns beiden ist doch gerade keiner hier.“

„… und wie haust du sie einfach runter?“, E12000 verstand gar nichts mehr und schnaufte.

„Jumbiiii! Worüber reden wir denn dauernd?“, stöhnte E39, „ich lasse sie abstürzen. War das klar genug? Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön die leuchten. Bis sie unten ankommen. Alle Menschen sind entzückt. Begeistert. Sie tanzen und singen und wünschen sich irgendetwas Doofes.“

„Erschreck mich ja nicht, Schnuppi, sonst mach ich auf der Stelle kehrt.“

„Da, schon wieder so ein Unsinn! Geht überhaupt nicht. Los, mach es mir vor. Kehr um. Zeig’s mir doch“, E39 war wirklich mit allen Wassern gewaschen.

E12000 schaute entsetzt auf die kleine Freundin hinunter.

Die grinste genüsslich: „Musst keine Angst haben, Jumbi. Das mach ich bloß mit den ganz Großen, so ab E100000. Dagegen bist du doch sowieso nur ein Zwerg. Außerdem bist du mir gar nicht so unsympathisch. Sonst wärst du schon längst weg! Natürlich unten.“

Jumbi vergrößerte den Abstand zu Schnuppi und versuchte nachzudenken: „Sag, wie kriegst du das denn hin?“

„Könnte ich dir erklären. Aber …, ich weiß nicht, ob du es kapierst.“

E12000 knurrte ärgerlich.

E39 beeilte sich zu sagen: „Versteh mich nicht falsch. Das gehört zur hohen Schnuppenschule. Große wie du gehen da nie hin. Sie meinen, das ist unter ihrer Würde. Wir Kleinen, Klugen, sind immer unter uns.“

„Wirklich ein guter Witz. Fast hätte ich es dir geglaubt.“

Die Gesichtszüge von E39, soweit vorhanden, verzogen sich zu einem Lächeln.

„Du glaubst mir nicht? Warte, bis die Nächste vorbeikommt und mich anrempelt. Ich beweise es dir!“

„Ha, ha, ha“, tönte es plötzlich direkt hinter ihnen, „welch ein putziges Pärchen.“ Eine gewaltige Riesenschnuppe näherte sich mit großer Geschwindigkeit und wollte sich zwischen E39 und E12000 hindurchdrücken. Sie war mindestens zehnmal so groß wie E12000.

Sonst wich Schnuppi schnell nach links oder rechts aus, weil sie an beiden Seiten bereits eine Menge blauer Flecken hatte, die sich deutlich ins Violette verfärbten und immer noch ekelhaft schmerzten. Dieses Mal wich sie nicht aus. Wie befürchtet, erhielt sie einen so gewaltigen Stoß, dass sie benommen zur Seite taumelte. Doch sie beeilte sich, schnell wieder in Jumbis Nähe zu kommen: „Pass auf, Jumbi, damit du etwas aus der hohen Schnuppenschule lernst.“

Noch einmal drückte die Riesenschnuppe Schnuppi und Jumbi brutal zur Seite, um freie Bahn zu bekommen. Genau darauf schien Schnuppi gewartet zu haben. Unerwartet schnell hechtete sie zum oberen Teil der Riesenschnuppe, genau zu der Stelle, wo die Sehnerven befestigt waren.

„Du darfst erst vorbei, wenn du dich vorstellst“, rief Schnuppi tapfer.

„Ha, ha, ha, du Zwerg. Möchtest du vielleicht auch mal so groß werden wie ich, ha, ha.“

„Freilich“, antwortete Schnuppi.

„Auch, wenn du gleich erschrickst. Mein Name ist Y-von-Earth …, rate welche Größenordnung!“

Schnuppi wusste in diesem Augenblick, dass sie siegen würde: „Ich schätze, äääh, 15000.“

„Ha, ha, ha, 15000. So klein sind nicht mal meine jüngsten Kinder. Pass auf, du Zwerglein. Ich heiße Y-von-Earth198000. Was sagst du jetzt?“

„Toll!“ Schnuppi nickte und blickte gleichzeitig heimlich in ihre Flugrichtung: „genau meine Größe“, murmelte sie. Blitzschnell berechnete sie daraufhin ihre nächsten Schritte und sagte scheinheilig: „Liebe Y-von-Earth198000, bitte ein klein wenig nach rechts fliegen, da kommt gerade Gegenverkehr. Ich meine, äääh, vielleicht möchtest du nicht so gern zusammenkrachen.“

Mit deutlichem Ruck steuerte E198000 nach rechts: „Oh, danke dir, meine Liebe. Kann ja nichts erkennen, du hängst nämlich genau vor meinem Sehnerv. Marsch, zur Seite.“

„Gerne! Sofort.“ Plötzlich hatte es Schnuppi sehr eilig. Es blieben nur noch ein paar tausendstel Sekunden, als sie sich dicht an Jumbi drängte.

„Jumbi, jetzt pass auf!“

Im selben Augenblick knallte es. Y-von-Earth198000 krachte fürchterlich mit einem fast ebenso großen Etwas zusammen. Ein Höllenlärm. Splitter spritzten in alle Richtungen. Y-von-Earth198000 und auch das Hindernis, der abgebrochene Teil eines Satelliten, zerbarsten in unzählige Teile.

Y-von-Earth198000 gab es nicht mehr.

„Ist das nicht schön, Jumbi?“, kreischte Schnuppi.

Jumbi krächzte entsetzt, ihre Worte waren nicht zu verstehen.

„Jetzt kommt der schönste Teil, meine liebe Jumbischnuppe. Pass auf, was für ein Schnuppenregen sich auf die Erde ergießt. In dem Augenblick werden alle Menschen stehen bleiben, den Atem anhalten und sich irgendetwas wünschen.“

„Schnuppi“, stöhnte Jumbi, „du bist mir unheimlich. Ich habe Angst vor dir.“

„Bitte nicht Jumbi. Du doch nicht“, Schnuppi drückte eine schmerzende Seite mit den lilablauen Flecken an sie. „Ist doch so schön.“

„Für dich vielleicht. Aber für Y-von-Earth198000 nicht. Erst recht nicht für ihre Kinder!“

„Solche Sachen, Jumbi“, kicherte Schnuppi, „lernen wir in der höheren Schnuppenschule. Vielleicht begleitest du mich doch mal zum Unterricht.“

4. Ein schöner Tag

Schöner als jener herrliche Freitag könnte ein Sommertag nicht sein. Die Sonne lachte bereits zum Frühstück fröhlich zum Fenster herein. Das laue, warme Lüftchen erfreute Jung und Alt. Was für ein schöner Tag.

Lena und Anna waren dicke Freundinnen. Schon immer. Sie waren sich auch ungewöhnlich ähnlich. Oft mussten sie ihre Gedanken nicht einmal aussprechen. Kaum ersann eine von ihnen eine neue Idee, war diese bereits von der anderen zu Ende gedacht. Meistens beschlossen sie diesen Plan mit einem kurzen Nicken, worauf sie lachten und sich umarmten.

An diesem Tag waren die beiden Mädchen besonders gut aufgelegt. Letzte Stunde Englisch bei Miss Gordon, keine Schulaufgabe, kein Ex, keine Hausaufgabe. Anschließend nichts wie raus aus dem kühlen Schulgebäude.

Vergnügt hüpften sie durch die Straßen nach Hause. „Schwimmen?“, fragte Lena in der üblichen Kurzform.

„Roger“, nickte Anna. Damit war der Vorschlag für diesen Nachmittag besiegelt.

Lena blieb stehen und kramte erfolglos in ihrer Tasche.

„Kaugummi?“, wollte Anna wissen.

„Find ihn nicht“, antwortete Lena.

„Lass es“, winkte Anna ab. Mit einem Griff in die Seitentasche ihres Rucksacks zog sie ein Paket Kaugummis hervor und hielt Lena einen Streifen hin.

„O.k.“, bedankte sich Lena und schob den Kaugummi zwischen die Zähne. Beide schmatzten genüsslich.

„Rot“, Anna deutete mit dem Kopf auf die Fußgängerampel, Lena nickte zustimmend.

Beide blieben stehen und warteten. Vor ihnen sauste ein Junge noch schnell über die Straße. Die Mädchen kannten ihn. Es war Jonas, den beide nicht so richtig leiden konnten.

„Typisch“, bemerkte Lena.

Anna nickte, deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand kurz an ihre Stirn und brummte: „Blödmann.“

„Nicht nur er!“, warf Lena ein.

Als die Ampel auf Grün umschaltete, überquerten die Freundinnen die Straße. Sie wollten ihren Weg nach rechts fortsetzen, doch eine aufgeregte Menschenmenge, direkt vor ihnen, ließ sie verharren. Was war da los? Sie mussten um einen Straßenkehrer herumgehen, der gelangweilt seiner eintönigen Tätigkeit nachging. Halbkreisförmig bewegte er den großen Besen aus Plastik. Dabei nickte er nach jedem vollendeten Halbkreis als wollte er sagen: „Passt schon.“ Er summte leise vor sich hin. Die Menschentraube bemerkte er gar nicht oder sie war ihm einfach egal.

Anna und Lena gingen näher heran. Sie reckten ihre Hälse über die anderen Leute, um etwas Genaueres erkennen zu können. Die Menschenmenge hatte sich direkt vor einer Bankfiliale zusammengefunden, aber warum gerade da? Wortfetzen überschlugen sich:

„… es ist nur einer, genau, da steht …“

„… jetzt sehe ich ihn auch. Kapuze …“

„… da ist aber noch ein zweiter!“

„… das ist kein Mann, ist doch eine Kundin!“

„… nein, nein, sie sind zu zweit.“

„Polizei, wo bleibt die Polizei“, schrie eine alte Frau, einer Ohnmacht nahe.

„Geisel! Er hat eine Geisel genommen“, kreischte eine andere.

„… und eine Pistole, der wird doch nicht …“

„… sollen das Geld rausrücken. Die arme Frau! Um Gottes willen. Sie haben eine Frau in ihrer …“

Lena und Anna war längst das Lachen vergangen. Sie starrten ebenso gebannt wie alle anderen auf den Eingang der Bank. Jonas genauso. Auch er glotzte mit angehaltenem Atem und offenem Mund hinüber, obwohl er doch gerade noch so in Eile gewesen war.

Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Sie wich entsetzt zurück. Ein alter Mann stolperte über den Fuß eines anderen, fiel der Länge nach hin und fluchte erbärmlich.

„Weg da!“, schrie einer.

„Vorsicht! Sie kommen!“

Alle flüchteten so schnell es ging irgendwohin.

Dann sahen sie sie. Es waren zwei Gangster, die eine Frau mit sich zogen. Unerwartet feuerten sie trockene Schüsse in die Luft. Passanten stoben in alle Richtungen auseinander. Bloß weg. Auch Jonas war verschwunden. Die Geisel kreischte verzweifelt.

Anna stockte im Bruchteil einer Sekunde der Atem. Lena ebenfalls. Beiden Mädchen kroch ein nie gekanntes Grauen eisig hoch. Was sie sahen, durfte nicht wahr sein!

Alle Gaffer waren irgendwohin verschwunden. Zwischen den Mädchen, den Gangstern und der Geisel befanden sich nur noch ein Laternenmast und der Straßenkehrer. Der Straßenkehrer schien gerade aus seinen tiefen Gedanken zu erwachen. Langsam hob er den Kopf und erstarrte in seiner Kehrbewegung.

Die Geisel war Annas Mutter!

Irgendwo schrien Passanten hysterisch. Die Hälse der aus den Fenstern gaffenden Menschen wurden immer länger. Nebeneinander, übereinander, dicht gedrängt. Türen öffneten sich und wurden rasch wieder zugeschlagen. Die Menschen, die herauseilen wollten, zuckten entsetzt zurück. Polizeisirenen heulten in der Ferne und kamen näher. In Annas und Lenas Gehirn arbeitete es auf Hochtouren. Wie konnte das passieren? Warum ausgerechnet Annas Mutter?

Jetzt erkannte auch der Straßenkehrer die Situation. Mit noch immer offenem Mund ließ er seinen Besen fallen. Vor Entsetzen bewegte er sich keinen Millimeter.

Lena und Anna hatten dieselbe Idee. Gleichzeitig sprangen sie hinter den Laternenmast, obwohl er kein echter Schutz sein konnte.

Polizeiautos stoppten mit quietschenden Reifen. Türen wurden aufgerissen, Polizisten sprangen heraus und kauerten sich hinter ihre Fahrzeuge, Waffen im Anschlag. Als die Gangster dies sahen, feuerten sie wild in alle Richtungen.

Dann bot sich d i e erhoffte, einmalige Chance. Lena und Anna erfassten sie wieder gleichzeitig. Der erste Bankräuber war nur noch zwei Riesenschritte von dem Straßenkehrer entfernt. Er zog Annas stolpernde Mutter rücksichtslos hinter sich her, der zweite schob von hinten.

Anna stand links neben Lena.

Gleichzeitig flitzten sie los und gaben sich am Laternenmast noch einen letzten kräftigen Startstoß. Anna bückte sich und riss blitzschnell den Besen des Straßenkehrers hoch. Sie umklammerte ihn mit beiden Händen und zielte. Mit entschlossener Kraft drückte sie den Besen zwischen die Beine des ersten Gangsters. Der stolperte und stürzte. Gleichzeitig rammte Lena ihren Kopf mit aller Gewalt in den Rücken des Straßenkehrers. Der klappte überrascht nach vorne, direkt zwischen Annas Mutter und den zweiten Gangster.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752119640
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Sternschnuppen Menschen Tiere berühmter Pianist

Autor

  • Ben Lehman (Autor:in)

Ben Lehman kommt aus dem Bayerischen Wald und lebte in München. Seit zehn Jahren ist der Starnberger See seine neue Heimat. Der Informatiker arbeitete als Programmierer und Systemanalytiker, auch in internationalen Unternehmen in New York und Northampton. Sein erfolgreiches Softwarehaus wurde vor einigen Jahren veräußert. Danach begann er seine ehrenamtliche Tätigkeit für die Peter-Ustinov-Stiftung bis zu dessen Tod, Schwerpunkt die Organisation der Peter-Ustinov-Mädchenschule in Afghanistan.
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Titel: 20 seltsame Geschichten