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20 Krimis

von Ben Lehman (Autor:in)
150 Seiten

Zusammenfassung

20 ungewöhnliche Kriminalfälle. Manchmal lustig, dann wieder hart, wie das Leben, oder hinterhältig, wie es sich ein Gehirn ausdenken kann, zum Beispiel: - ein Kammersänger, der eigentlich gar keiner ist, - eine ungewöhnliche Nachbarschaft, - eine Witwe, die etwas nachgeholfen hat, - die ausgeklügelte Rache eines Verstorbenen, usw. Zum Beispiel "Mord im Treppenhaus: Sandra Grünberg hatte sich von ihrem Mann Felix getrennt. Sie wollte seine endlosen Eskapaden mit anderen Frauen nicht länger ertragen. Schließlich war sie eine äußerst erfolgreiche und gutaussehende Abteilungsleiterin und manch attraktiver Mann verfolgte interessiert ihre eleganten Schritte, wenn sie das Büro verließ. Vor zwei Tagen war Felix nach endlosen Streitereien endlich ausgezogen, in eine kleine Wohnung, drei Straßen weiter. Daraufhin hatte sie am Vormittag bei ihrem Anwalt endgültig die Scheidung beantragt und atmete erlöst auf. Nach so anstrengenden Wochen war dies der erste erfreuliche Tag, sogar die Sonne strahlte vom Himmel. Sandra traf sich deshalb am Abend in der kleinen Kneipe um die Ecke mit drei guten Freundinnen. Hanna, bereits seit zwei Jahren geschieden, Gerti, eine mütterliche Freundin, die in ihrem Leben schon viel erlebt hatte, sowie Carmen, frisch verliebt, Tochter eines spanischen Wirts. Es wurde ein entspannter, lustiger Abend. Das ältere Ehepaar am Nebentisch schüttelte immer wieder den Kopf, das dauernde Gackern ging ihnen offensichtlich auf den Geist. Auf dem Heimweg lächelte Sandra noch immer glücklich. Zum ersten Mal seit langer Zeit. „Wie schön, wenn du gute Freunde hast“, dachte sie. Sie öffnete die Haustür und drückte auf den Lichtschalter. Nichts! „Der Hausmeister hat mal wieder Besseres zu tun, als sich um seinen Job zu kümmern. Rausschmeißen sollte man den Kerl endlich“, murmelte sie und tastete zur Treppe. Ihre Wohnung lag im ersten Stock. Sie hangelte am Treppengeländer nach oben, dann fünf oder sechs Schritte bis zu ihrer Wohnung auf der linken Seite, kein Problem. Sie hatte bereits den Schlüssel in der Hand, als sie stolperte und über ein großes Hindernis der Länge nach hinknallte. Mühsam rappelte sie sich hoch, der Ellbogen schmerzte brutal, die Nase hatte auch was abbekommen. Als sie es geschafft hatte, ihre Wohnungstür zu öffnen, schaltete sie das Flurlicht ein und drehte sich schimpfend um. Das Hindernis, über das sie gestolpert war, war Felix, ihr Ehemann. Tot. Erstochen. Im Rücken ein Messer. Neben ihm eine rote Rose.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Mord im Treppenhaus

Sandra Grünberg hatte sich von ihrem Mann Felix getrennt. Sie wollte seine endlosen Eskapaden mit anderen Frauen nicht länger ertragen. Schließlich war sie eine äußerst erfolgreiche und gutaussehende Abteilungsleiterin und manch attraktiver Mann verfolgte interessiert ihre eleganten Schritte, wenn sie das Büro verließ.

Vor zwei Tagen war Felix nach endlosen Streitereien endlich ausgezogen, in eine kleine Wohnung, drei Straßen weiter. Daraufhin hatte sie am Vormittag bei ihrem Anwalt endgültig die Scheidung beantragt und atmete erlöst auf. Nach so anstrengenden Wochen war dies der erste erfreuliche Tag, sogar die Sonne strahlte vom Himmel. Sandra traf sich deshalb am Abend in der kleinen Kneipe um die Ecke mit drei guten Freundinnen. Hanna, bereits seit zwei Jahren geschieden, Gerti, eine mütterliche Freundin, die in ihrem Leben schon viel erlebt hatte, sowie Carmen, frisch verliebt, Tochter eines spanischen Wirts.

Es wurde ein entspannter, lustiger Abend. Das ältere Ehepaar am Nebentisch schüttelte immer wieder den Kopf, das dauernde Gackern ging ihnen offensichtlich auf den Geist. Auf dem Heimweg lächelte Sandra noch immer glücklich. Zum ersten Mal seit langer Zeit. „Wie schön, wenn du gute Freunde hast“, dachte sie.

Sie öffnete die Haustür und drückte auf den Lichtschalter. Nichts! „Der Hausmeister hat mal wieder Besseres zu tun, als sich um seinen Job zu kümmern. Rausschmeißen sollte man den Kerl endlich“, murmelte sie und tastete zur Treppe. Ihre Wohnung lag im ersten Stock. Sie hangelte am Treppengeländer nach oben, dann fünf oder sechs Schritte bis zu ihrer Wohnung auf der linken Seite, kein Problem. Sie hatte bereits den Schlüssel in der Hand, als sie stolperte und über ein großes Hindernis der Länge nach hinknallte. Mühsam rappelte sie sich hoch, der Ellbogen schmerzte brutal, die Nase hatte auch was abbekommen. Als sie es geschafft hatte, ihre Wohnungstür zu öffnen, schaltete sie das Flurlicht ein und drehte sich schimpfend um. Das Hindernis, über das sie gestolpert war, war Felix, ihr Ehemann. Tot. Erstochen. Im Rücken ein Messer. Neben ihm eine rote Rose.

Der Entsetzensschrei blieb ihr im Halse stecken. Schnell zog sie ihr Smartphone aus der Tasche und wählte mit zitternden Fingern die 110. Doch in letzter Sekunde zögerte sie … und ließ es bleiben. Was, wenn sie verdächtigt würde? Sandra atmete schnell. Ihre Gedankenblitze gaukelten ihr tausend Bilder vor. Sie unter Mordverdacht? Wie den Vorwurf entkräften? Auch noch direkt vor ihrer Wohnungstür! Die Zeitungen würden sich überschlagen: Frau ersticht Ehemann! Wieder ein Ehedrama kurz vor der Scheidung! Ehefrau leugnet! Eine rote Rose sollte es wieder richten. Ist sie die Mörderin?

„Nein und nochmals nein!“, entschied Sandra.

Klopfenden Herzens schloss sie die Wohnungstür, löschte vorsichtshalber das Flurlicht, stand entsetzt da, atmete tief und verharrte, um zur Ruhe zu kommen. Nach endlosen Minuten, vielleicht waren es auch Stunden, tastete sie im Dunkeln in ihre kleine Küche und hockte sich auf einen Stuhl. Sie wagte es noch immer nicht, das Licht einzuschalten. Das ganze Haus schien in tiefem Schlaf, kein Laut drang in ihre Wohnung. Gewiss lag er immer noch vor ihrer Tür.

Irgendwann atmete sie ruhiger. „Reiß dich zusammen“, dachte sie und beschloss, zu Bett zu gehen. Was sonst?

Es wurde die längste Nacht ihres Lebens.

Im Morgengrauen schlief sie schließlich ein. Das aggressive Klingeln riss sie aus schrecklichen Träumen. Sie sprang aus dem Bett. Da war es wieder deutlich vor ihren Augen. Felix tot vor ihrer Tür! Ein schneller Blick zur Uhr, halb neun. Schon so spät! Sie eilte im Schlafanzug zur Tür. Was erwartete sie?

„Guten Morgen Frau Grünberg, Kommissar Klein, meine Kollegin Frau Winterstein.“ Er blickte mit hochgezogenen Augenbrauen auf ihren Schlafanzug. „Entschuldigen Sie die frühe Störung, wir müssen Sie leider …“

„Was ist denn passiert?“ Sandra wusste es natürlich.

Ein schneller Blick zu seiner Kollegin. „Sie wissen wahrscheinlich …?“

„Was denn?“ Hoffentlich klang das glaubhaft.

„Dürfen wir kurz hereinkommen.“

Sandra trat zur Seite und führte die Polizisten in ihr Wohnzimmer.

Der Kommissar war alles andere als freundlich. „Sie wissen, dass Ihr Mann vor Ihrer Tür ermordet aufgefunden wurde.“

„Um Gottes willen, nein“ meinte sie absolut überzeugend zu schreien, „wir leben doch getrennt.“

„Ja, ja“, der Kommissar winkte ab. „es macht keinen Sinn zu lügen. Ihr Nachbar, Herr Huber, hat Sie heute Nacht durch den Spion beobachtet.“

Sandra schloss die Augen. Was darauf antworten? Schließlich brach es aus ihr heraus. „Ich bin doch über ihn gestolpert, als ich letzte Nacht nach Hause kam. Das Licht funktionierte mal wieder nicht.“

„Aha. Und ihr Nachbar Huber konnte sie im stockfinsteren Flur erkennen?“, meinte er ironisch.

„Nein, ja, das heißt, kann gar nicht sein.“

„Aha!“

„Doch, vielleicht, als ich meine Tür aufschloss und im Flur das Licht einschaltete.“

„Frau Grünberg, wir warten jetzt, bis die Kollegen von der Spurensicherung eintreffen.“

„Wieso? Was wollen die?“

„Wir müssen Ihre Wohnung …“

Es klingelte, die Spurensicherung stand mit fünf Beamten vor der Tür. Sie machten sich umgehend an die Arbeit und übersahen nichts. Dann übergab einer dem Kommissar eine Plastikhülle mit einem blutverschmierten Messer.

„Aus der Leiche“, brummte er.

„Kennen Sie dieses Messer, Frau Grünberg? Es steckte im Körper Ihres Mannes.“

Sandra schloss die Augen. Bis gestern gehörte es ihr. Wieso? Mit der Faust hämmerte sie gegen ihren Kopf. „Das kann doch nicht sein.“

Die Polizistin Winterstein stupste ihren Kollegen an, der wandte ihr den Kopf zu. Unmerklich schüttelte sie den Kopf. Daraufhin sagte Klein: „Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung. Wenn die Kollegen ihre Arbeit beendet haben, nehmen wir Sie mit aufs Präsidium. Dann werden Sie dem Ermittlungsrichter vorgeführt.“

„Meine Arbeit …“, stöhnte Sandra.

„Heute nicht!“ Das war deutlich.

Sandra rief bei ihrer Chefin an. „Ich kann heute leider nicht kommen, mein Mann, das heißt eigentlich mein Exmann wurde letzte Nacht ermordet. Die Polizei will mir viele Fragen stellen.“

„Ach, du Ärmste, du hast doch schon so viel mitgemacht. Und jetzt auch noch das. Kopf hoch, Sandra.“

Sandra musste in das Polizeifahrzeug einsteigen. Dann wartete sie stundenlang auf einer schäbigen Holzbank im Präsidium. Schließlich wurde sie hereingeholt und verhört.

„Müssen wir Ihnen nicht sagen, dass es sich um Ihr Messer handelt“, begann der Haftrichter. „Wir haben auch Ihre Fingerabdrücke gefunden. Besser Sie gestehen, Frau Grünberg.“

Sandra kämpfte wie eine Löwin. Trotzdem hatte sie den Eindruck, dass sie ihr gar nichts glaubten.

„Frau Grünberg“, sagte schließlich der Richter. „Wir behalten ihre Ausweispapiere. Da Sie einen festen Wohnsitz haben, können Sie nach Hause gehen. Ich werde gegen Sie Mordanklage erheben, kümmern Sie sich um einen Strafverteidiger. Auf Wiedersehen.“

Erst saß sie wieder ewig lange in ihrer Küche und konnte es nicht fassen. Dann griff sie entschlossen zum Telefon und rief Hanna, Gerti und Carmen an. „Ihr müsst mir helfen!“, rief sie erstickt.

Ihre Freundinnen waren sofort bereit, sagten alle aktuellen Verpflichtungen ab und klingelten kurze Zeit später.

„Das gibt’s doch nicht“, empörte sich Hanna. „Was hatte ich mit meinem Ex für Ärger, aber so etwas …“

Gerti sagte lange nichts, dann überlegte sie. „Wer könnte es denn gewesen sein, Sandra? Vielleicht dein Nachbar, der Tag und Nacht am Spion hängt?“

Sandra schüttelte den Kopf. „Der doch nicht. Der hat sie zwar nicht alle, aber er ist harmlos.“

„Aha!“, rief Carmen. „Vielleicht hat er sie doch alle. Steigt er dir vielleicht schon lange nach?“

„Iwo, das ist doch ein alter Sack.“

„Meinst du vielleicht“, entgegnete Carmen, „was ich schon alles erlebt habe. Das würdest du niemals glauben.“

„Hört auf, ich bin nicht angemacht worden, sondern Felix wurde vor meiner Tür ermordet. Ist doch was ganz Anderes.“

„Wer kann denn nachts überhaupt ins Haus?“, wollte Gerti wissen.

Sandra zuckte die Schultern. „Die Mieter, sonst niemand, außer es stellt einer den Fuß in die Tür, bevor sie zufällt.“

„Und ausgenommen Felix“, sagte Gerti.

„Ja klar, der besitzt schon noch einen Schlüssel. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass der mit seinem Mörder ins Haus gekommen ist.“

Gerti schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nein, das macht keinen Sinn. Wer weiß denn, dass du dich von Felix trennen wolltest? Der Nachbar hinter dem Spion?“

„Vielleicht. Der hat unsere Streitereien schon gehört.“

„Wäre Felix ihm gewachsen, wenn er ihn angreifen würde? Ich meine, ist der Nachbar ein starker Mann?“

„Ach komm! Der ist ein dürrer Hering, Felix würde ihn umblasen. Außerdem, wie sollte der an mein Messer kommen?“

„Genau“, nickte Gerti. „Wir sollten den Nachbarn vergessen. Gibt es sonst jemanden im Haus, der dir nachgafft?“

Sandra überlegte. „Niemand. Der Hausmeister vielleicht. Hat auch schon öfter blöde Bemerkungen gemacht. Wollte mich mal zum Kaffee einladen.“

„Sonst nichts?“ Gerti hob die Augenbrauen.

Hanna grinste merkwürdig. „Könnte er denn in deine Wohnung?“

„Ja, doch, natürlich. Er hat schließlich einen Generalschlüssel.“

„Aha“, nickte Gerti. „Der Fall ist also klar. Es war der Hausmeister.“

„Sonst ist das immer der Gärtner“, kicherte Carmen.

„Wir haben aber keinen Gärtner.“

Hanna und Carmen verabschiedeten sich. Gerti blieb noch eine Weile, sie wollte Sandra angeblich etwas Trost zusprechen.

„Du weißt, wie sehr ich dich mag, Sandra“, sagte Gerti, nachdem Hanna und Carmen die Wohnung verlassen hatten.

Sandra stutzte. „Wieso sagst du das gerade jetzt? Glaubst du mir vielleicht nicht?“

„Und ob ich dir glaube. Ich möchte dir doch helfen.“

„Ich bin dir so dankbar, Gerti, aber da muss ich leider allein durch.“

„Jaaa …“ zögerte Gerti. „Ja, natürlich. Trotzdem. Auch wenn wir vier sehr gute Freundinnen sind, oder besser, weil wir gute Freudinnen sind, ich muss dir was Wichtiges sagen. Fällt mir sauschwer, aber ich muss.“

Sandra hob überrascht den Kopf. „Gerti …?“

„Du weißt, dass Hanna seit zwei Jahren geschieden ist.“

„Klar. Wieso erwähnst du das jetzt?“

Gerti beobachtete Sandra vorsichtig. „Sie hat zurzeit keinen neuen Freund.“

„Ja, ja. Hat sie uns doch erzählt. Und?“

„Das sagt sie zwar immer zu uns. Stimmt aber nicht.“

Sandra riss die Augen auf und wartete.

„Du ahnst es vielleicht?“

Sandra schüttelte den Kopf.

„Dann muss es jetzt raus. Gerti hat seit ein paar Monaten was mit Felix …, verstehst du?“

„Meinst du vielleicht …, ein Verhältnis?“

Gerti nickte. „Du solltest das wissen. Und dein Anwalt auch. Hast du schon einen gefunden?“

Sandra wurde schneeweiß. „Kein Witz?“

„Kein Witz!“

Sandra war sprachlos. Lange starrte sie Gerti an, immer wieder schüttelte sie den Kopf. „Sie hat mir so nett ihr Mitgefühl vorgespielt“, stöhnte sie schließlich, „Freundin … will sie sein. So was von schäbig.“

„Ich denke, es war schon echtes Mitgefühl …, aber mehr mit sich selbst. Sie hat schließlich ihren heimlichen Freund verloren.“

„Oder umgebracht“, Sandras Körper straffte sich. „Das wird sie mir büßen!“

Gerti schüttelte den Kopf. „Du solltest besser klug vorgehen. Überlege mal, du wirst doch verdächtigt, nicht sie.“

„Aber, wenn ich es der Kripo erkläre?“

„Nicht erklären, beweisen müsstest du es. Kannst du das?“

„Du bist meine Zeugin, Gerti.“

„Ich kann es auch nicht beweisen.“

„Und woher weißt du es?“

„Carmen hat beide beobachtet.“

Sandra erschrak. „Waaas? Carmen weiß das auch?“

„Klar. Nur du nicht.“

Am nächsten Tag klingelte Frau Winterstein, die Kollegin des Kommissars Klein. Sandra öffnete und starrte sie an. „Holen Sie mich jetzt ab?“

„Nein“, entgegnete sie, „darf ich eintreten?“

Nachdem ihr Sandra Platz angeboten hatte, sagte sie. „Frau Grünberg, wir haben auf dem Messer weitere DNA-Spuren gefunden.“

„Ich kann mir schon vorstellen, von wem die sind“, entgegnete Sandra bitter.

„Ach ja?“

Sandra stöhnte. „Ich habe es erst gestern erfahren. Meine Freundin Hanna hatte ein Verhältnis mit meinem Ex. Alle wussten es, nur ich nicht.“

„Trösten Sie sich, das ist keine Seltenheit“, lächelte Frau Winterstein. „Betroffene erfahren manches oft zuletzt. Sagen Sie uns Namen und Adresse, wir prüfen das. Vorerst bleiben Sie noch auf freiem Fuß. Wir machen uns Gedanken über die Rose.“

„Welche …? Ach die. Keine Ahnung.“

„Vielleicht wollte sich Ihr Mann mit Ihnen wieder versöhnen?“

„Und dann habe ich ihn erstochen? Was fällt Ihnen ein? Fragen Sie doch den Nachbarn, der weiß ja alles.“

„Bitte regen Sie sich nicht auf, das war nur eine Frage.“

„Bitte verlassen Sie sofort meine Wohnung!“

Zwei Tage später klingelte Kommissar Klein. Als Sandra öffnete, lächelte Frau Winterstein und nickte ihr vielversprechend zu. Sandra hatte trotzdem kein gutes Gefühl.

„Frau Grünberg“, Klein war ungewöhnlich freundlich. „Wir haben eine gute Nachricht für Sie.“

Sandra starrte die beiden an, ließ sie jedoch eintreten.

„Ob Sie es glauben oder nicht, Frau Grünberg. Meine Kollegin hat alles in Bewegung gesetzt, weil sie von Ihrer Unschuld überzeugt war.“

„Auf einmal?“

„Doch“, nickte Klein, „wir wenden manchmal ungewöhnliche Methoden bei Befragungen an. Das haben wir auf der Polizeischule gelernt.“

Sandra verstand nur Bahnhof. „Was wollen Sie mir eigentlich sagen?“

„Sag du es ihr“, Klein nickte seiner Kollegin zu.

„Wir wissen jetzt, dass Sie unschuldig sind.“

„Nein!“

„Doch. Ich hatte ihnen von Anfang an geglaubt …, er zuerst nicht“, dabei machte sie zu Klein eine deutliche Kopfbewegung. „Aber Glauben reicht bei uns nicht. Am meisten Kopfzerbrechen machte uns die Rose. Die ergab überhaupt keinen Sinn. Daraufhin haben wir von Ihren drei Freundinnen und allen Bewohnern des Hauses Fingerabdrücke genommen. Schließlich waren genügend auf dem Messer, auf der Rose übrigens auch.“

„Oh Gott“, stöhnte Sandra. „Jetzt wissen es alle.“

„Na ja“, Frau Winterstein zuckte die Schultern, „einen Mord kann man sowieso nicht verheimlichen. Seien Sie lieber froh, dass der Mord nicht Ihnen angelastet wird.“

„Dann war es doch der Nachbar Huber?“

„Der?“ Winterstein grinste, „der doch nicht. Ein harmloser …, ist doch egal. Wir haben heute Morgen den Hausmeister Perchtinger festgenommen. Seine Fingerabdrücke befanden sich auf dem Messer und auf der Rose. Er hat bereits gestanden.“

„Ich glaube es nicht.“

„Doch. Er wollte eine Rose in Ihre Wohnung legen, nachdem Ihr Mann ausgezogen war. Er liebt Sie sehr, sagt er. Er öffnete mit seinem Zentralschlüssel Ihre Wohnung und wollte die Rose auf den Küchentisch legen. Dabei überraschte ihn Ihr Ehemann …, ist er ja noch, die Tür stand offen. Es kam zu einer Auseinandersetzung, die sich zuspitzte. Perchtinger packte das Messer vom Küchentisch und drohte ihm. Ihr Mann wich zurück, bis in den Flur, dort ging der Streit weiter und eskalierte. Perchtinger stach zu und verlor die Rose, die er immer noch in der anderen Hand trug. Schnell zog er Ihre Wohnungstür zu und hetzte davon.“

„Genau so war es“, sagte Klein zuletzt. „Freuen Sie sich, Frau Grünberg. Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass die Anklage gegen Sie aufgehoben wurde.“

„Übrigens“, ergänzte Frau Winterstein, bevor sie Sandras Wohnung verließen, „angeblich wollte Perchtinger ihn nicht töten. Es sei Notwehr gewesen.“

2. Ein Polizist greift durch.

Ein junger, hochmotivierter Polizist hatte gerade die Polizeischule mit Auszeichnung abgeschlossen und wurde erstmals allein auf Streife geschickt. Außer seiner Dienstwaffe nahm er eine Laserpistole mit, um erste praktische Erfahrungen im Messen von Geschwindigkeiten zu sammeln. Gerade, als er auf eine Tankstelle zu schlenderte, flitzte ein schwer motorisierter grüner PKW aus der Tankstellenausfahrt heraus. Der Fahrer, graue Jacke mit Kapuze, schaute sich um, dann trat er aufs Gaspedal und schaffte es knapp, sich in den fließenden Verkehr einzuordnen. Daraufhin hob der Polizist die Laserpistole und ermittelte eine Geschwindigkeit von 58 km/h. Er sprang auf die Straße direkt vor das Fahrzeug und hob seine Kelle. Der Fahrer stoppte mit quietschenden Bremsen und kurbelte sein Fester runter.

„Mensch Mann“, schrie der Fahrer erregt, „was soll das? Beinahe hätte ich Sie überfahren.“

„Fahren Sie rechts ran! Ihre Papiere bitte!“

„Wieso denn?“, wollte der Pkw-Fahrer wissen.

„Sie sind zu schnell gefahren. Stellen Sie den Motor ab.“

„Sie irren sich, ich fahre nie zu schnell.“

„Doch“ entgegnete der Polizist mit ernster Miene, „Sie haben Vollgas gegeben, als Sie aus der Tankstelle kamen.“

„Das tut mir echt leid, aber ich wollte doch nur vor den anderen Fahrzeugen auf der Straße …“

„Kein Grund, die Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten.“

„Ich habe das so in der Fahrschule so gelernt“, maulte der Fahrer, „bei Gelb an der Ampel, entweder bremsen, oder Gas und drüber weg.“

„Hier ist aber keine Ampel“, entschied der Polizist, „also! Ende der Diskussion! Ihre Papiere! Aber sofort!“

„Habe ich leider vergessen“, jammerte er, „entschuldigen Sie bitte. Das Benzin ist gerade so billig. Eine Handy-App, verstehen Sie? Ich habe mir schnell meine graue Jacke übergeworfen, dann die Kapuze hoch, weil es draußen so kalt ist. Die Papiere habe ich leider auf dem Tisch zu Hause liegen lassen. Dann bin ich nur kurz zur Tankstelle und habe getankt. Bitte…“

Der Polizist blickte ihn streng an. „Wenn Sie keine Papiere vorzeigen können, müssen Sie jetzt mit aufs Revier kommen. Dort werden Ihre Personalien festgestellt. Trotzdem müssen Sie mit einem Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit rechnen.“

Da tauchte ein Fußgänger auf und bliebt neben dem Polizisten stehen. Er trug eine rote Jacke. Als er den Pkw-Fahrer erkannte, rief er überrascht:

„Ja Heini, was du hier machen. Lange nicht sehen. Wie geht dir?“

„Schlecht, Bosco“, entgegnete jener Heini, „dieser Polizist hier behauptet, dass ich zu schnell gefahren sei. Aber das stimmt gar nicht. So etwas mach ich nie. Das kannst du beeiden, oder?“

„Doch Herr Polizist. Ich legen für Freund Heini alle Hände in Feuer. Der nie fahren schnell. Aber …, Sie, Herr Polizist, ganz allein. Haben heute kein Zeugen?“

Der Polizist stutzte kurz, dann lachte er: „Ha, ha, klar habe ich einen Zeugen. Hier, mein Messgerät, das ist totsicher.“

„Was Überraschung, Herr Polizist“, rief Bosco plötzlich scheinheilig, „jetzt Ihnen erkennen. Sie doch mein Nachbar übernächster. Heute wiedersehen, und gleich Dienst tun. Wie dir gehen heute?“

Der Polizist winkte ab. „Ja, ja. Bitte gehen Sie weiter, dies ist eine Anhörung.“

Doch Bosco ließ nicht locker. „Aber Herr Nachbar von Polizei, Sie nicht wollen mit mein Freund Heini heimlich …? Oder warum sonst?“

Heini nutzte diese Bemerkung und schrie: „Bosco, der Polizeibeamte glaubt mir nicht, dass ich meine Papiere nur vergessen habe. Vielleicht will er mir sogar unterstellen, dass ich überhaupt keinen Führerschein besitze.“

„Bitte Herr Polizei“, unterstützte ihn Bosco, „wenn wollen, ich schwören, mein Freund Heini haben Führerschein. Noch gestern wir sprechen. Bitte, Herr Polizeipräsident, bitte lassen Freund Heini weiterfahren, ich bürgen.“

„Ich verbitte mir …“

Heini kam zu Hilfe: „Herr Polizist, mein Freund Bosco ist immer so lustig, versteht auch nicht so gut deutsch. Bitte sehen Sie es ihm nach. Der kann wirklich nichts dafür.“

Der Polizist wurde nervös. „Jetzt wird es mir aber zu bunt, Sie, Bosco, Sie, in ihrer roten Jacke! Hauen Sie endlich ab, sonst rufe ich die Streife und lass Sie abführen.“

„Wieso nicht freindlich, Herr Polizei?“, wunderte sich Bosco, „was ich tun Ihnen?“

„Schluss jetzt! Weitergehen!“

Bosco schimpfte nun los. „Jawohl, machen sofort weitergehen. Aber mir nicht verbieten wollen, dass hören zu, wie mit Freund Heini umgehen.“

„Ich verbiete nicht, ich fordere Sie hiermit auf!“

„Aber Herr Polizist!“, mischte sich Heini ein, „ich fühle mich von Ihnen echt bedrängt. Das muss ich mir nicht gefallen lassen. Hier steht mein Freund Bosco, der kann das bezeugen.“

„Doch, ich zeugen können“, nickte Bosco fest.

Daraufhin griff der Polizist nach seinem Telefon, drehte sich zur Seite und rieft bei seiner Wache an. „Ja, hier ist der Werner. Ihr müsst mir helfen. Ein PKW-Fahrer ist zu schnell gefahren und will seine Papiere nicht vorzeigen. Wir müssen ihn festnehmen.

… Ja …, danke …, dann bis gleich.

Nachdem er das Telefonat beendet hatte, drehte sich der Polizist um und sah gerade noch, wie das Auto mit jenem Heini weg raste. Er schrie: „Haaalt, haaalt, stehen bleiben!“

Doch der Pkw fuhr davon und verschwand. Der Polizist drehte sich blitzschnell zur anderen Seite und sah noch, wie auch Bosco in der roten Jacke ebenfalls eiligst um die nächste Ecke abhaute. Er beschloss, den Flüchtigen sofort zu verfolgen und wollte seine Pistole ziehen. Doch die war weg, natürlich in dieser unachtsamen Sekunde geklaut von Bosco. Unwillkürlich fasste er an seine Gesäßtasche, die Geldbörse war auch weg. Plötzlich merkte er mit Entsetzen, dass auch noch die Radarpistole weg war, ja, sogar die Handschellen, die er am Hosengürtel befestigt hatte. Der angebliche Freund Bosco war also offensichtlich ein professioneller Taschendieb und hatte ihn während dieser blöden Diskussion komplett ausgeraubt. Er wusste nicht mehr, was er tun soll. Leider hatte er sich die Autonummer nicht gemerkt, er hatte den Aufzeichnungen der Radarpistole vertraut. Noch bevor die Kollegen eintreffen, rannte er rüber zur Tankstelle. Dort hatte der Pkw-Fahrer ja kurz zuvor getankt. Es gibt da sicher eine Überwachungskamera, dachte der Polizist, dann droht dem Kerl eine Anzeige wegen Fahrerflucht und eine ganz empfindliche Strafe, die sich gewaschen hat. Inzwischen kamen auch die beiden Kollegen im Streifenwagen angerast. Sie begrüßen sich kurz. Während sie in die Tankstelle gingen, musste der Polizist seinen Kollegen den unrühmlichen Diebstahl erklären. Er verschwieg auch den Verlust der Radarpistole und der Handschellen nicht, allerdings zunächst den der Schusswaffe. Die Kollegen waren noch immer entsetzt, als sie die Tankstelle betraten. Doch dort herrschte eine unglaubliche Aufregung.

Der Tankwart brüllte. „Ja, wo bleibt ihr denn so lange. Jetzt sind die doch über alle Berge.“

„Wer?“

„Ich habe doch schon dreimal angerufen und alles erklärt. Wir sind überfallen worden.“

Die Polizisten wollten wissen. „Können Sie den oder die Täter beschreiben?“

„Klar, zwei Mann. Einer trug eine rote Jacke, der andere eine graue Jacke mit Kapuze.“

„Wurde etwas geraubt?“

„Natürlich, wie oft soll ich das noch erklären. Erst hat der Fahrer sein dickes Auto vollgetankt, dann sind sie zu zweit reingekommen und haben uns eine Kalaschnikow vor die Nase gehalten. Schließlich haben diese Banditen auch noch beide Kassen leergeräumt und alles Mögliche mitgehen lassen. Und jetzt tut ihr so, als hättet ihr von nichts eine Ahnung.“

„Verbitte mir diesen Ton“, fuhr ihn der Polizist an, „Sie zeigen uns sofort die Aufzeichnungen von der Überwachungskamera und dann haben wir die Kerle sofort. Wenn die später nach Hause kommen, werden sie bereits erwartet.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr“, murrte der Tankwart, „dann prüf ich mal schnell. Äääh …, ja …, hier, das ist das Fahrzeug. Die Nummer ist deutlich erkennbar.“

Der erste Polizist erschrak. „Das ist ja …“

„Das ist was? Sagen Sie bloß, dass Sie die kennen!“

„Ja …, das heißt nein“, eierte der Polizist, „äääh …, ich wollte ihn auf der Straße aufhalten, aber er hat sich durch plötzliche Flucht einer Festnahme entzogen.“

„Hier kommt gerade unsere Putzfrau“, erklärte der Tankwart, „die können Sie befragen, weil sie das auch gesehen hat. Dunja, erzähl den Polizisten, was du gesehen hast.“

„Sie sind hier die Putzfrau“, begann der Polizist förmlich, „was haben Sie gesehen?“

„Ja, ich Reinigungskraft. War grünes Auto drüben auf Straße, wo du haben geredet mit. Dann Mann kommen zu dir, mit rote Jacke.“

Der Tankwart wolle es nicht glauben. „Was? Sie haben sich mit diesen Verbrechern unterhalten?“

„Was heißt hier unterhalten. Ich habe die Kerle vernommen. Wir geben jetzt die Fahrzeugnummer in die Fahndung und anschließend holen wir die Kerle sofort ab. Verstanden?“

„Ja, verstanden“, maulte der Tankwart noch einmal.

Doch die Putzfrau wollte wissen. „Warum nicht gleich verhaften, wenn sprechen mit?“

„Ruhe!“, forderte der Polizist.

Nach kurzer Zeit klingelte das Telefon des Polizisten. Ein Kollege war am Apparat und erklärte: „Kollegen, das schaut nicht gut aus. Das Fahrzeug ist als gestohlen gemeldet. Die Kennzeichen auch. Wurden letzte Nacht von einem alten Fahrzeug am Schrotplatz abmontiert.“

Der Polizist überlegte kurz, dann erklärte er dem Tankwart: „Also, die Sache ist jetzt klar. Die Fahndung ist bereits angelaufen. Stellen Sie bitte den Schaden fest und schicken Sie uns die Aufstellung aufs Revier. Die Täter werden dafür zur Rechenschaft gezogen.“

Der Polizist hatte nicht mit der cleveren Putzfrau gerechnet. „Ich haben verstanden, was Kollege an Telefon sagen. Fahrzeug gestohlen und Kennzeichen auch.“

„Halten Sie den Mund und kümmern Sie sich um Ihre Arbeit.“

Doch die Putzfrau ließ sich nicht einschüchtern. „Ja, jetzt gehen. Aber Auto geklaut, haben deutlich gehört.“

3. Tod in der Kurve

Maximilian Neumann, von seinen Freunden Maxi gerufen, fuhr mit seinem Golf GTI zu seiner Freundin Jana Meisner. Das Abendessen stand dort seit fast einer Stunde auf dem Tisch, zum Glück gab es ein kaltes Buffet. Das hatte sie ihm per SMS mitgeteilt und aus diesem Grunde musste er sich jetzt echt beeilen. Ausnahmsweise war dieses Mal auch sein Freund Lukas Kreiner eingeladen, obwohl Jana den überhaupt nicht verputzen konnte. Max hatte darum gebeten, weil er Lukas kürzlich so richtig blöd angequatscht hatte und diesen dummen Fehler nun wieder ausbügeln wollte. Insgeheim war er jedoch auf Lukas mehr als sauer, er konnte seine blöden Sprüche bald nicht mehr hören, außerdem war er unehrlich, wenn es um Abrechnungen ging. Aber Max war mit Lukas und Johannes schon immer ein starkes Team und er wollte die Zusammenarbeit jetzt nicht aufs Spiel setzen. Also war Jana einverstanden, hatte sie gesagt. Er durfte halt in Gottes Namen Lukas mitbringen. Als der dies hörte, grinste er idiotisch, wahrscheinlich, weil auch er heimlich ein Auge auf Jana geworfen hatte.

Max wollte es Lukas mal so richtig zeigen, deshalb preschte er mit mehr als 150 Sachen über die Landstraße. „Kein Problem“, dachte er grinsend, „um diese Zeit haben die Bullen längst Feierabend und Lukas wird vor Wut kochen, wenn er in meinen Auspuff starrt.“ Doch offensichtlich unterschätzte er die nächste Kurve. Nach wenigen Metern krachte er in die Leitplanke, schoss darüber hinweg und segelte in hohem Bogen auf die angrenzende Wiese, wo er sich fünf oder sechs Mal überschlug. Die Luftfahrt bekam er noch mit, dann wurde es dunkel.

Lukas brauste im getunten Spar-Golf so gut es eben ging, aber mit größer werdendem Abstand hinterher. Leider schaffte er es nicht, dran zu bleiben, obwohl er sich alle Mühe gab und das Gaspedal mit Bleifuß bis zum Anschlag durchtrat. Mehr ging nicht. Max fuhr mit seiner alten getunten Kutsche einfach zu schnell. „Blödmann!“ schimpfte er. Dann sah er, wie Max mitten in der Kurve abhob.

Lukas stieg auf die Bremse, die Reifen quietschten. Schnell zog er das Handy aus der Tasche und wählte den Notruf. Dann stoppte er den Motor, wartete und starrte vor sich hin.

Die Polizei erschien nur wenige Minuten später, die Dämmerung setzte gerade ein. Noch bevor die Polizisten über die verbeulte Leitplanke kletterten, verständigten sie den Notarzt. Dann rannten sie los, Taschenlampen mit gleißendem LED-Licht in der Hand.

Max lag zusammengekrümmt auf der Wiese, mehrere Meter von seinem zerbeulten GTI entfernt, wahrscheinlich war er nicht angeschnallt gewesen. Ihre ursprüngliche Eile wegen der Notwendigkeit, erste Hilfe zu leisten, hatte sich schnell erledigt. Langsam erhoben sie sich und schüttelten die Köpfe. Als der Notarzt eintraf, konnte er nur noch den Tod feststellen.

„Bitte Name und Adresse“, sagte ein Polizist zu Lukas und schrieb.

„Als wir kamen, saßen Sie im Auto. Haben Sie schon mal einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht?“

Lukas war kreidebleich und schüttelte den Kopf.

„Wäre wahrscheinlich sowieso zu spät gewesen“, brummte der Polizist, „aber Sie sollten das unbedingt nachholen.“

Lukas nickte.

„Kennen Sie den … Toten?“

„Ja, mein Freund Maxi.“

„Aha. Sie fuhren also hintereinander her? Und wohin?“

„Zu seiner Freundin Jana …, zum Abendessen.“

„Ich denke, es ist besser, wenn wir die Freundin und seine Verwandten informieren.“

Lukas nickte wieder.

„Geben Sie uns bitte die Adressen.“

Der Polizist notierte.

„Sollen wir Sie nach Hause fahren?“

Lukas schüttelte wieder den Kopf.

Jana brach in Tränen aus, als sie die traurige Nachricht hörte. „Das gibt’s doch nicht“, jammerte sie. „Maxi ist so ein sicherer Fahrer, ich weiß das.“

„Er war in der Kurve zu schnell“, entgegnete der Beamte. „Die Kurve verträgt höchstens 80 Stundenkilometer, er war deutlich schneller. Im Übrigen war er auch nicht angeschnallt, sonst hätte er vielleicht überlebt.“

Jana schüttelte immer wieder den Kopf. „Maxi war schon tausend Mal bei mir. Er kannte jede Kurve.“

„Ja, kann schon sein. Unsere Experten schätzen seine Geschwindigkeit in der Kurve auf mehr als 120, obwohl auf Landstraßen nur 100 erlaubt sind. Vielleicht war er in großer Eile?“

„Schon, ich habe mit dem Abendessen auf ihn gewartet, aber deswegen musste er doch nicht ..., mach ich höchstens einmal im Monat, vielleicht hat er ..., jetzt bin ich sogar noch schuld …“

„Bitte beruhigen Sie sich. Er ist …, äääh, er war schließlich ein erwachsener Mann. Übrigens hat er kein einziges Mal gebremst. Wir wundern uns.“

„Wie können Sie so etwas behaupten?“, ging Jana auf.

„Da waren keine Bremsspuren. Wir haben die Straße sorgfältig untersucht. Er wollte die Kurve ums Verrecken packen.“

Auch Maxis Eltern, bei denen er noch wohnte, wollten es einfach nicht fassen. Die Mutter vergoss unendlich viele Tränen und konnte sie nicht stoppen. Immer wieder rief sie: „Wieso mein lieber Maxi, mein einziges Kind?“

Der Vater erklärte niedergeschlagen: „Er fuhr immer umsichtig.“

„Es tut uns leid, Herr Neumann, dieses Mal nicht. Er war wirklich viel zu schnell unterwegs.“

Jana Meisner dachte nach, immer wieder. Wie konnte das passieren. Maxi beherrschte seine Rennsemmel perfekt. Als Mechatroniker wusste er zwar, wie man einem schnellen Auto noch mehr die Sporen gibt, hatte er auch oft genug praktiziert, auch für gute Freunde. Aber unvorsichtig? Nicht der Maxi. Der nicht! Ein guter Freund, Johannes von Tritschler, Sohn äußerst wohlhabender Eltern, hatte in seiner eigenen Luxusgarage eine kleine Werkstatt eingerichtet. Seit Maxi im dritten Lehrjahr war, schraubte und tunte er mit Johannes und Lukas für andere gute Freunde nicht nur Autos, sondern auch Mopeds und Motorräder. Eine richtig erfolgreiche Zweckgemeinschaft. Meistens konnten sich ihre jugendlichen Auftraggeber solch hohen Kosten auch leisten und bezahlten dafür so manchen Hunderter. Eine schöne Nebeneinnahme zu dem knappen Lehrlingsgehalt. Max war in letzter Zeit immer besonders aufmerksam, wenn Lukas kassierte und rechnete anschließend nach. Johannes war der einzige der Dreiergruppe, für den Geld keine Rolle spielte. Seine Eltern hatten es ganz einfach und ihm machte Schrauben und Tunen richtig Spaß.

Jana besuchte Johannes. „Verstehst du das?“

Johannes schüttelte den Kopf. „Vielleicht war er zu schnell.“

„Ja, ja, das sagt die Polizei auch, trotzdem …“, Jana stampfte trotzig auf. „Ich weiß es und ich werde keine Ruhe geben. Maxi fuhr immer schnell aber umsichtig. Wieso hat er nicht gebremst?“

„Vielleicht ist er eingeschlafen? Sekundenschlaf, du weißt doch!“ überlegte Johannes.

„Du bist gemein, Johannes! So was sagt man nicht. Du kanntest Maxi mindestens so gut wie ich.“

Johannes nickte verlegen.

Jana sprach daraufhin auf dem Polizeirevier vor. Sie waren zu ihr sehr nett. „Ich glaube es immer noch nicht“, begann sie.

„Tut uns wirklich leid, Frau Meisner. Es ist immer unfassbar, wenn man einen guten Freund, oder sogar den Partner verliert.“

„Ich glaube es aber nicht“, entgegnete Jana trotzig.

„Sie werden sich damit abfinden müssen.“

„Wieso hat er nicht gebremst?“

„Das werden wir nie erfahren.“

„Wurde das Auto untersucht?“

Die Beamten stutzten. „Wieso denn? War doch völlig klar. Überhöhte Geschwindigkeit. Das bestätigen unsere Experten.“

Jana gab keine Ruhe. „Und wenn ich darauf bestehe, dass das Auto überprüft wird?“

„Was erwarten Sie denn?“

„Vielleicht funktionierten die Bremsen nicht richtig?“

„Können wir uns nicht vorstellen. Aber …, wenn Sie das unbedingt prüfen lassen wollen. Das geht dann natürlich auf Ihre Rechnung! Sie müssten vorher einen Antrag stellen.“

„Ist mir egal“, entschied Jana, „hiermit stelle ich den Antrag.“

„Okay. Was sind Sie eigentlich von Beruf, Frau Meisner?“

„Spielt zwar keine Rolle“, fauchte Jana, „ist aber kein Geheimnis. Ich arbeite als Kaufhausdetektivin.“

Die Beamten stutzten, dann grinsten sie sich an.

Einer entgegnete. „Ja, wenn das so ist, Frau Meisner.“

Der GTI wurde aufgrund Janas Antrag zur kriminaltechnischen Untersuchung gebracht, dort zerlegt und sorgfältig untersucht. Drei Tage später lag das schriftliche Ergebnis vor. Die Bremsen des GTI waren manipuliert worden und hatten keine Bremswirkung mehr. Es gab Fingerabdrücke an verschiedenen Stellen, die gesichert worden waren.

„Ich wusste es“ nickte Jana, als sie mit Maxis Eltern darüber diskutierte.

„Was hast du jetzt vor, Jana?“ fragte der Vater.

„Werdet ihr schon sehen. Ich bin schließlich Detektivin.“

„Ja und?“

„Wer ist denn bei Mord zuständig?“

„Die Kripo natürlich. Wieviel sollst du übrigens für die Untersuchung bezahlen?“

„Nichts. Ist doch klar. Die Bremsen waren manipuliert.“

Zuständig war eine Kommissarin Niedermeier, schon ziemlich alt, aber erfahren.

„Vielleicht versteht die was“, überlegte Jana.

Kommissarin Niedermeier legte eine Akte an und heftete alle Unterlagen chronologisch ab. Nachdem sie sich eingehend mit den Ergebnissen vertraut gemacht hatte, besuchte sie in Begleitung der Spurensicherung alle Personen, die mit ihm in Verbindung gestanden hatten und ließ Fingerabdrücke nehmen. Als die Ergebnisse vorlagen, besuchte sie Jana.

„Frau Meisner, Sie hatten auch Lukas zum Essen eingeladen. Wieso?“

„Maxi wollte das dieses Mal.“

„Sie auch?“

„Eher nicht, aber er bat mich darum, weil er mit Lukas ein paar Probleme hatte, und …“

„Die sollten ausgeräumt werden?“

Jana nickte.

„Wie war denn so das Verhältnis zwischen Maximilian, Johannes und Lukas?“

„Ganz gut, glaube ich. Wieso fragen Sie?“

„Weil sowohl Maximilian als auch Lukas Spuren auf Bremsteilen hinterlassen haben.“

„Meinen Sie, dass einer die Bremse manipuliert haben könnte?“

„Weiß ich nicht. Können wir jedoch nicht ausschließen.“

„Glaub ich nicht. Sie waren sehr gute Freunde, auch wenn es hin und wieder Meinungsverschiedenheiten gab.“

„Vielleicht hat er Ihnen nicht alles erzählt?“

„Vielleicht. Aber, wenn Sie sich vorstellen können, dass die Bremsen manipuliert waren, da kommen doch nicht viele infrage.“

„Ich werde dieser Möglichkeit nachgehen.“

Die Kommissarin verhörte Johannes und Lukas stundenlang. Das Ergebnis war überraschend. Sowohl Maximilian als auch Lukas hatten einen Tag zuvor ihre Bremsen gewartet, wie schon oft, jeder auf seiner eigenen Werkbank. Der Verdacht erhärtete sich, dass Lukas den todbringenden Eingriff an Maximilians Bremsen vorgenommen hatte. Wie nicht anders erwartet, schwor er jedoch Stein und Bein, dass er davon nichts wisse. Doch die Kommissarin gab sich damit nicht zufrieden.

„Maximilian hatte einen GTI, Sie eine lahme Ente. Sagt man so?“

„Schon, aber jetzt ist er hin“, schielte Lukas sie aus den Augenwinkeln an und grinste blöd.

„Eben“, entgegnete die Kommissarin.

Kommissarin Niedermayer dachte nach. Irgendetwas kam ihr seit einiger Zeit spanisch vor.

Daraufhin verhörte sie die Freunde wieder und wieder, mit immer anderen Formulierungen. Ein Bremsenfachmann der Kripo hatte plötzlich eine Idee. Noch einmal wurden die Bremsen des GTI überprüft und auch die Bremsen von Lukas` Spar-Golf. Es stellte sich heraus, dass beide Bremssysteme mit identischen Teilen ausgestattet waren.

Die Hartnäckigkeit der Kommissarin brachte schließlich die überraschende Lösung ans Tageslicht. Frau von Tritschler, Johannes Mutter, hatte am Abend zuvor die Garage aus irgendeinem Grunde aufgesucht und dort einen geradezu schrecklichen Saustall vorgefunden. Zornig befahl sie ihrer freiberuflichen Putzfrau, diesen unglaublichen Zustand wieder in Ordnung zu bringen. Allerdings arbeitete die Putzfrau äußerst ungern für den verzogenen, arroganten Fratz Johannes. Dabei muss es passiert sein. Die Putzfrau hatte unabsichtlich, dem von langer Hand geplanten Anschlag die überraschende Wende gebracht. Gewiss versehentlich hatte sie in ihrer Wut die verschiedenen Werkbänke zornig hin und hergeschoben, wie es Haushaltshilfen manchmal tun, und auch die Einzelteile zu Seite gelegt. Dabei wurden die fertig gereinigten Bremssysteme beider Golfs vertauscht. Da identisch, hatten Maximilian und Lukas diese Verwechslung beim Einbau in ihre Fahrzeuge nicht bemerkt.

Und das hatte sich Maximilian offensichtlich ausgedacht: Er wollte Lukas Rechthaberei und seine Unehrlichkeit nicht länger hinnehmen und hatte seinen schrecklichen Plan nicht einmal mit Johannes abgesprochen. Er manipulierte Lukas´ Bremsen so, dass seine nächste Fahrt im Graben enden sollte. Das Vertauschen durch die Putzfrau hatten beide nicht bemerkt. Über die Teilenummern des Herstellers erlangte die Kommissarin für ihren Verdacht letzte Gewissheit. Deshalb überlebte Lukas, dem der Anschlag gegolten hatte und Maximilian musste sterben. Durch eigene Schuld.

4. Späte Rache

Als Frank Wunderlich, der seit Jahren obdachlos war, starb, nahm dies kaum jemand aus der sogenannten besseren Gesellschaft zur Kenntnis. Es erschien nur eine unscheinbare einzeilige Todesnachricht im Stadtanzeiger.

***

Bis dahin hatte er lange Zeit im Obdachlosenasyl gelebt, in einem sehr einfachen Zimmer mit abgewohnten Möbeln, einziger Luxus die Gemeinschafts-Dusche mit WC über den Flur auf der anderen Seite.

Nach den langen und trüben Wintermonaten zog es ihn regelmäßig unter eine der Isarbrücken. Mit einer Reihe von inzwischen guten Freunden aus anderen Unterkünften traf er sich dort jedes Jahr ab etwa Anfang Mai. Bei milder Witterung machte es ihnen auch gar nichts aus, dort die Nächte zu verbringen, statt spät abends angeheitert in das wenig angenehm riechende Asyl zu schwanken. Dann wurde unter der Brücke gelacht, gescherzt, geraucht, gesoffen, gekifft und gekokst. Jahreszeitlich bedingt war dann ab Oktober die schöne Zeit wieder vorbei und es ging zurück ins Asyl. Die Monate unter der Brücke lenkten ihn von seinem grausamen Schicksal ab, das Frank allmählich zu vergessen begann. Nicht jedoch seine Rache. Die hatte er nie vergessen.

***

Wie mancher seiner Leidensgenossen auch, war Frank ein intelligenter Mann, der in einem völlig anderen Leben aufgewachsen war, als man es hätte vermuten können, wenn man ihn unter der Brücke beobachtete, wie er mit seinen Kumpels feiernd und gröhlend die Nacht zum Tag machte.

In seinem früheren Leben gehörte Frank nämlich ebenfalls zum Kreis der Reichen und Schönen, wie das allgemein bezeichnet wird. Sein trauriger Abgang ins Obdachlosenasyl kam mehr als überraschend, besonders für ihn selbst. All die Jahre zuvor hätte er sich niemals vorstellen können, dass ihn ein solch brutaler Abstieg jemals überraschen könnte. Vielleicht wusste er damals nicht einmal, von welch schlimmen Schicksal manch einer getroffen werden kann.

Ursache für seine bedauerlichen letzten Jahre, wie könnte es anders sein, war sein leider grenzenloses Vertrauen in einen sogenannten guten Freund. Wozu hat man denn gute Freunde, hieß es immer bei Festen mit Gourmetessen, viel Champagner und schönen Frauen. Frank hörte das gerne und wiederholte es auch selbst, wann immer es dazu einen Anlass gab, am liebsten mit einigen Promille im Blut. Er liebte diese abwechslungsreichen Events sehr, denn sein stressiger Arbeitsalltag begann Tag für Tag im Morgengrauen und endete oft erst am späten Abend. Dann fiel er meistens erledigt ins Bett. Erst das nächste Fest gab ihm wieder Auftrieb und Ansporn.

Wieso er seinem damals besten Freund so unbedarft vertraut hatte, war ihm noch Jahre später ein Rätsel geblieben. Es muss die immer knapper werdende Zeit gewesen sein, die ihm kaum Spielraum für seine privaten Dinge ließ. Eigentlich handelte Frank sonst mit besonderer Vorsicht, das gehörte mit absoluter Selbstverständlichkeit zu seinem stressigen Beruf. Dass er seine fast angeborene Sorgfalt bei Geldangelegenheit einfach über Bord geworfen hatte, schien ihm auch später noch wie reiner Hohn. Manchmal empfand er das auch als eine Art gerechter Strafe. Jedenfalls hatte er ihm ohne Kontrolle voll vertraut. Auf gelegentliche Nachfragen erklärte der Freund immer, dass alles in Ordnung sei. Es gab auch zunächst nicht die geringsten Anzeichen von irgendwelchen kriminellen Spekulationen, er war einfach zu gerissen. Deswegen fiel nicht nur Frank ihm zum Opfer. Seine hinterhältigen Betrügereien stellten sich später als sogenanntes Schneeballsystem heraus und diese Art von Geschäft platzt immer überraschend, wenn sich erst einmal ein gewisser Verdacht bestätigt hat.

Als die Sache schließlich aufgeflogen war, entwickelte sich für ihn alles sehr schnell. Plötzlich benötigte Frank sofort schrecklich viel Geld um die unerwarteten Forderungen der Finanzhaie bedienen zu können. Nachdem dann nach seinen wiederholten Bemühungen genügend Kapital locker zu machen um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, auch der letzte Bankdirektor den Kopf geschüttelt und Frank erst freundlich, später jedoch unmissverständlich hinauskomplimentiert hatte, war schließlich alles weg. Der Job, das Haus, der Swimmingpool, der Porsche, das Boot am Gardasee, dann auch noch die Frau samt dem Golfclub …, die sogenannten Freunde sowieso. Wie angesehen war bis dahin Dr. Frank Wunderlich als erfolgreicher Kardiologe und Chirurg gewesen. Und jetzt? Plötzlich wollte keiner mehr etwas von ihm wissen. Auch der letzte Freund war immer wieder und so lange leider verhindert, bis Frank schließlich entnervt aufgab und sich zurückzog.

***

Frank war einsam und allein an einem Herzinfarkt gestorben. Er wusste als Kardiologe natürlich Tage zuvor, wie es um ihn stand und dass seine Ablaufzeit begonnen hatte. Seine Leiche wurde anonym begraben, ein paar seiner Freunde von der Isarbrücke begleiteten ihn auf seinem letzten Weg und waren richtig traurig. Einige wenige weinten sogar. Aus seiner früheren Welt erschien keiner. Seinen letzten Plan termingerecht auszuführen, war ihm aber gelungen, schließlich handelte es dabei um sein Fachgebiet.

Genau einen Tag später starb ein gewisser, bis kurz zuvor hochangesehener Dr. h.c. Lucky von Allershausen im kleinen Kreis seiner Lieben, von einigen beweint, von anderen verflucht. Früher, in seinem kleinen Dorf, hieß er schlicht und einfach Ludwig Meier, genannt der Wiggerl. Dieser Name passte jedoch nicht zu seinen späteren hochtrabenden Plänen. Bereits während seiner anstrengenden fünfjährigen Grundschulzeit ohne Abschluss hatte er sich seinen Eltern gegenüber wegen der Verniedlichung seines Namens aufgelehnt, doch er blieb im Dorf der Wiggerl.

Als Jahre später Wiggerls Plan feststand, sorgte er für zügige Verwirklichung. Dank seiner Freundin Isolde von Allershausen, einem eher unansehnlichen Mädchen in fortgeschrittenem Alter, übernahm er nach seiner Heirat ihren Namen und ließ sich feudale Visitenkarten mit dem Namen Ludwig von Allershausen drucken. Beruflich startete er zunächst mit einer kleinen Versicherungsagentur, die automatisch lief und das erforderliche Startkapital für seine weiteren Pläne abwarf. Er hatte die Kunden eines fleißigen, verstorbenen Versicherungsvertreters übernommen. Statt neue Kunden zu werben, arbeitete er an seinem, seiner Meinung nach grandiosen Plan. Als seine Vorbereitungen abgeschlossen waren, gründete er eine Finanzberatung. Schnell freundete er sich noch mit dem fetten, schwarzen Herrscher des winzigen Staates Brimboria an, unterstützte ihn mit einer angemessenen Summe Schwarzgeld und erhielt dafür die Ehrendoktorwürde des Staates Brimboria.

Immer wieder betrachtete er glücklich seine goldene Visitenkarte, mit dem für Wohlhabende verführerischen Text:

Dr. h.c. Ludwig von Allershausen, Edler von Seehausen.

Edler von Seehausen war nicht ganz ehrlich, aber wirkungsvoll. Noch eins drauf setzte er mit dem Text auf der Rückseite:

Vertrau in Lucky und denk daran:

12%, denn weniger gibt´s überall!

Der Name Lucky gefiel ihm besonders gut, er klang ein wenig amerikanisch. Und wenn er gefragt wurde, sagte er am Liebsten: „Ich bin Lucky der Glückliche. Lasst uns gemeinsam glücklich sein und unser wachsendes Vermögen genießen.“

Tatsächlich wuchsen auch seine Bankkonten, genau wie seine guten Freunde - wenn die etwas geahnt hätten!

Seitdem er sich alles leisten konnte, war er auch von Jahr zu Jahr immer rundlicher geworden, mit der Folge, dass er nicht nur unter Bluthochdruck, sondern auch noch mit allerlei Nebenerscheinungen zu kämpfen hatte, wie Diabetes, Fettleibigkeit mit einem Body Maß Index von 48,5 und einem Bauchumfang, der kaum noch mit einem herkömmlichen Gürtel zusammengehalten werden konnte. Nur wenn er allein war, verging ihm oft das Lachen.

Als Frank noch als angesehener Arzt und Chirurg praktizierte, war er mit Lucky sehr gut befreundet. Oft trafen sie sich in Luckys feudal eingerichteten Holzhäuschen am Starnberger See mit eigenem Steg und einem schicken 12-Meter Segelboot, wo Lucky fast jeden Abend nach der anstrengenden Arbeit anzutreffen war und dort ausgiebig becherte. Dann redeten sie über ihr Leben, über das Leben allgemein, die politische Lage von heute und morgen, über die Zukunft und besonders gerne über Geld, am Liebsten über sehr viel Geld. So, wie Frank seinem sogenannten Finanzexperten Lucky idiotischer Weise blind vertraute, vertraute Lucky auch Frank, seinem ärztlichen Freund und Berater. Dass Lucky den Großteil des ihm anvertrauten Geldes zweckentfremdete und damit dieses luxuriöse Leben finanzierte, blieb lange Zeit verborgen. Später, als Frank längst pleite war und unter der Brücke schlief, ging es Lucky noch immer hervorragend, wenn auch weiterhin auf Kosten anderer. Seine Spitzenanwälte erhoben grundsätzlich nach jedem Betrugsprozess Einspruch und gewannen immer.

Lucky verwahrte schon immer seine lebenserhaltenden Medikamente in einem kleinen Holzschränkchen neben dem Fenster in der Hütte am See. Dort waren sie jederzeit griffbereit. Immer wieder hatte ihn Frank wegen seiner Fettsucht gemahnt und Mäßigung gefordert, doch Lucky lachte, weil Franks Medikamente ihm ein sorgenfreies Leben suggerierten. Deshalb soff er immer mehr und fraß sich den Ranzen voll. Natürlich verschrieb Frank ihm die teuersten Medikamente, bis jenes schreckliche Ereignis seine Existenz vernichtete und er schließlich im Obdachlosenasyl landete.

***

Als der Tag gekommen war, beurteilte Frank seine restliche Lebenserwartung sehr konkret. Der geplante Tag seiner Rache war gekommen. Von einem unscheinbar aussehenden Spion aus der Asylunterkunft wusste er längst, dass Lucky noch immer regelmäßig die Abende in seiner Hütte am See verbrachte und dass er seine Medikamente weiterhin in dem Holzschränkchen aufbewahrte.

Ein Saufkumpan besaß langjährige Erfahrung als Einbrecher und Tresorknacker. Für den war das Schloss an Luckys Hütte am See ein Kinderspiel. Es war nach weniger als einer Minute geöffnet. Frank ersetzte die Blutdrucksenker durch andere Medikamente gleicher Farbe, die sein Lebensende schnell einläuten würden. Von da an ging es Lucky von Tag zu Tag schlechter. Sein neuer Kardiologe kratzte sich ratlos den Kopf, bessere Medikamente kannte er auch nicht. Vom heimlichen Austausch der Präparate ahnte er ja nichts. Deshalb vermutete er Luckys Fettleibigkeit als eigentliche Ursache.

Noch bevor Lucky in die Herzklinik eingeliefert werden konnte, kippte er auf seinem Steg am See um, fiel ins Wasser und verstarb. Um zu Ertrinken war es zu spät. Todesursache war ebenfalls ein Herzinfarkt, genau wie bei Frank, und genau einen Tag, nachdem Frank zu Grabe getragen worden war. Es wurde keine gerichtsmedizinische Untersuchung angeordnet. Man sah aufgrund seines Lebenswandels und der Aussage seines Kardiologen keine Veranlassung.

Dies war die späte Rache des Kardiologen Dr. Frank Wunderlich. Auch wenn er es selbst nicht erlebte, es gab Freunde unter der Isarbrücke, die darauf gewartet hatten. Als die Todesanzeige erschien, klatschten sie Beifall. Zur Erinnerung an den guten alten Frank entkorkten sie eine Extraflasche Rotwein.

Nach der Testamentseröffnung stellte es sich heraus, dass Dr. h.c. Lucky von Allershausen, Edler von Seehausen, schon lange pleite war. Es konnten auch die letzten wahnsinnig hohen Anwaltshonorare nicht mehr beglichen werden. Deshalb war die Trauer vieler ehemaliger Freunde noch deutlich größer.

5. Bauernopfer

Bauer Hannes Hofleitner versorgte seine zwölf Milchkühe Tag für Tag ab fünf Uhr morgens. Die Erträge wurden leider aufgrund des sinkenden Milchpreises immer spärlicher. Außer dem Kuhstall gehörte zum Hofleitner-Hof ein größeres Waldstück, in dem zwar Spaziergänger gerne wanderten und sich erholten, welches ihm aber nicht einmal die Grundsteuer als Ertrag einbrachte. Dann gab es noch eine schöne Wiese, auf der er regelmäßig die Gülle seiner Rinder ausbrachte, sowie ein Maisfeld. Alles in allem reichte es trotzdem vorne und hinten nicht. Seine attraktive Frau Maria stöhnte, wenn dringende Anschaffungen anstanden. Die Kinder Magdalena und Ferdinand wurden in der Schule gehänselt, wenn über Markenkleidung diskutiert wurde.

Unglücklicherweise gehörten Hannes jüngerem Halbbruder Siegfried genau fünfundzwanzig Prozent des Anwesens. Dies hatten die Eltern so im Testament festgelegt, da Siegfried sein Leben noch nie richtig im Griff gehabt hatte. Hannes, der Ältere bekam also den Hof überschrieben und musste dafür sorgen, dass es seinem Bruder Siegfried niemals schlecht gehen würde. Doch die Zeiten hatten sich längst geändert.

Siegfried arbeitete manchmal auf dem Hof, sofern man seine Tätigkeit als Arbeit bezeichnen wollte. Er tauchte auf, wenn er gut drauf war und kutschierte am liebsten mit dem alten, stinkenden Traktor herum, gerne auch mit gleichgesinnten Freunden, das war immer lustig. Manchmal transportierte er Waren, wohin auch immer, wenn mal solche Arbeiten anfielen. Keiner wusste vorher, ob er die Ware ordnungsgemäß abliefern würde. Jedoch weigerte er sich konsequent, feste Aufgaben zu übernehmen. Im Übrigen machte er sich nicht so gerne die Hände schmutzig und zog es vor mit Freunden zu feiern, dann aber mit mindestens drei bis vier Maß Bier pro Abend und Saufkumpan.

***

„Ich will meinen Anteil ausbezahlt haben“, forderte Siegfried eines Tages mit einer Alkoholfahne die bis zum Küchentisch wehte, „ob du willst oder nicht.“

„Tut mir leid, Sigi“, Hannes schüttelte den Kopf, „Ich habe nicht so viel Geld. Die Zeiten haben sich geändert. Du musst warten.“

„Nix da. Jetzt will ich es haben“, lallte er. „Ich brauch das Geld dringend, verstehst du?“

„Die Eltern haben im Testament festgelegt, dass es dir niemals schlecht gehen soll“, erhob Hannes Einspruch.

„Und? Wie geht es mir? Sauschlecht. Scheiße geht es mir!“

„Was soll ich tun? Der Milchpreis …“

„Hör auf mit dem blöden Milchpreis. Mir gehört der halbe Hof und nicht nur ein paar Liter Milch. Wenn du nicht endlich zahlst, mach ich dich fertig.“ Siegfried schwankte zur Tür, verließ die Stube und knallte die Tür hinter sich zu.

Maria hatte mit offenem Munde zugehört. „Wieso der halbe Hof? Ich dachte, ihm gehört nur ein Viertel.“

„Klar, es gehört ihm ein Viertel. Du kennst ihn doch, Maria“, stöhnte Hannes, „ich weiß nicht, was ich machen soll. Hättest du vielleicht eine Idee?“

Maria dachte nach, dann sagte sie: „Nein …, nicht auf die Schnelle …, eigentlich nicht.“

Der riesige Nachbarhof gehörte einem alten Freund, Lenz Wagner. In seiner Not sprach Hannes ihn an. „Mein Bruder bedrängt mich, Lenz. Ich weiß nicht, wie ich ihn auszahlen soll. Was würdest du an meiner Stelle tun?“

Lenz grinste, diese Frage kam ihm gerade recht. „Ganz einfach, Hannes. Verkauf deinen Hof. Ich bin dein Freund und nehme ihn dir ab.“

Hannes stutzte. „Ich dachte, es geht dir auch nicht so übermäßig gut.“

„Ja, nein, doch“, stotterte Lenz. „Aber, wenn mein Hof größer wäre, rechnete sich das eher.“

„Ich kann nicht verkaufen“, Hannes schüttelte entschieden den Kopf. „Die Großeltern waren Bauern, die Eltern waren Bauern und …“

„Und du bist Bauer“, unterbrach ihn Lenz. „Hör auf mit dieser alten Leier. Auch wenn dein Hof nicht viel wert ist, ich zahl dir als Freund das Doppelte.“

„Was? Das Doppelte? …? Trotzdem nein. Ich verkaufe nicht.“

„Solltest du aber, bevor hier bei uns der Grund gar nichts mehr wert ist.“

Hannes stutzte zuerst, dann entschied er. „Es bleibt dabei, Lenz, ich verkaufe nicht.“

„Aber der Sigi will verkaufen.“

„Was hat der Sigi damit zu tun?“

„Ihm gehört doch die Hälfte, dann …“

Hannes explodierte. „Ein Viertel gehört ihm, hast du verstanden, ein Viertel, nicht die Hälfte.“

„Ist doch egal. Wenn der Sigi seinen Anteil an mich verkauft, dann gehört uns beiden dein Hof, Hannes, dir und mir.“

„Du würdest mir so gemein in den Rücken fallen? Ich dachte, wir sind Freunde.“

Lenz grinste verhalten. „Klar sind wir Freunde, deswegen will ich dir doch eine große Sorge abnehmen. Aber Geschäft ist Geschäft, das gilt doch auch für dich, oder? Denk einfach nur an den Milchpreis. Übrigens, der Sigi hat bereits zugesagt, er wird an mich verkaufen.“

Mit sorgenvoller Miene kehrte Hannes auf seinen Hof zurück und besprach die Angelegenheit mit seiner Frau. Maria wollte es nicht fassen. Spät am Abend sagte Hannes. „Ich muss nochmal in den Stall, geh schon schlafen, Maria.“

Als Maria am nächsten Morgen erwachte, war das Bett neben ihr leer und unbenutzt. Erschrocken sprang sie hoch und durchsuchte zuerst das Haus, dann den Stall. Hannes war und blieb verschwunden. Auch in der Scheune war er nicht, doch der Traktor fehlte. „Vielleicht hat ihn der Sigi geholt?“, überlegte Maria, dann entschied sie: „Nein, der kommt niemals so früh am Morgen.“

Kaum zurück in der Stube, kurvte der Wagen des Polizisten Gerd Brandl auf den Hof. Maria ahnte Schreckliches, als er an die Tür klopfte.

„Maria, es ist leider was Schlimmes passiert.“

„Der Hannes …?“ rief sie.

Brandl nickte. „Es tut mir so leid, Maria.“

„Ist er …?“

Der Polizist nickte. „Draußen …, in eurem Wald. Der Traktor hat ihn überrollt. Wir können nur vermuten, wie das passiert ist.“

„Nein!“, schrie Maria, „sag, dass das nicht wahr ist, Gerd!“

„Doch, leider, Maria. Er war heute schon sehr früh unterwegs. Es sieht so aus, als musste er ein Hindernis zur Seite räumen, ein paar große Äste oder Steine. Anscheinend hatte er vergessen, die Bremse anzuziehen. Der Traktor setzte sich in Bewegung, während er den Weg freimachte. Da ist es passiert. Der Motor lief noch, als er gefunden wurde. Leider Maria, ein schlimmer Unfall. Ich bin mit Hannes zur Schule gegangen. Du weißt, dass wir gute Freunde waren.“

„Wer hat ihn gefunden?“

„Der Sigi.“

„Der Sigi? Der kommt doch sonst nie vor Mittag.“

„Heute schon, Maria.“

Polizist Gerd Brandl wurde beauftragt, den Fall zu untersuchen, es war sein erster Todesfall im Dorf. Sigi erklärte ihm, was Brandl schon vermutete und er auch Maria erklärt hatte. Es blieb dabei, ein tragischer Unglücksfall. Die Leiche wurde freigegeben, das ganze Dorf stand am Grab, alle trauerten mit Maria. Sie war nicht nur furchtbar traurig, sondern auch ratlos, sie wusste nicht, wie alles weitergehen sollte.

Wenige Tage später fand der Notartermin statt. Sigfried Hofleitner verkaufte seinen Anteil vom Hof an Lenz Wagner.

Noch am selben Nachmittag besuchte Lenz Maria. „Grüß dich Maria. Ich wollte dir nur sagen, dass mir jetzt ein Viertel des Hofleitner-Anwesens gehört.“

Maria hatte es bereits geahnt. „Wenigstens habt ihr gewartet, bis der Hannes unter der Erde ist.“

„Ja, das dachten wir uns auch, der Sigi und ich.“

„Aha, also der Sigi und du. Und? Was willst du jetzt von mir?“ Es fiel Maria schwer, freundlich zu bleiben.

„Ich wollte dich fragen, wie es weitergehen soll. Vielleicht schaffst du die ganze Arbeit allein nicht mehr?“

„Wird sich zeigen, Lenz. Du kannst wieder gehen.“

„Wir müssen nochmal darüber reden, Maria, gell!“

Am nächsten Tag stand der Polizist Brandl in der Tür und wusste nicht so recht, wie er beginnen soll.

„Ist was, Gerd?“ half ihm Maria.

„Äääh …, ich wollte nur fragen, wie es dir geht.“

Maria antwortete traurig. „Geht schon.“

„Ich habe gehört, dass der Sigi seinen Teil vom Hof an den Lenz verkauft hat. Wollte ich dir nur sagen.“

„Weiß ich schon. Lenz hat es mir gleich nach dem Notartermin brühwarm berichtet.“

„Ich würde dir gerne helfen, Maria.“

Sie blickte auf. „Ja Gerd, könnte ich schon brauchen. Du warst dem Hannes immer ein richtig guter Freund.“

Gerd nickte. „Und wir beide, du und ich, sahen uns auch einmal …, nicht ungern …, früher.“

Maria lächelte leise.

„Jetzt, wo du ganz allein bist, könnten wir doch zusammen …“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752119381
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Mord Hinterlist Feindschaft Freundschaft Verschwörung Rafinesse Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Ben Lehman (Autor:in)

Ben Lehman kommt aus dem Bayerischen Wald und lebte in München. Seit zehn Jahren ist der Starnberger See seine neue Heimat. Der Informatiker arbeitete als Programmierer und Systemanalytiker, auch in internationalen Unternehmen in New York und Northampton. Sein erfolgreiches Softwarehaus wurde vor einigen Jahren veräußert. Danach begann er seine ehrenamtliche Tätigkeit für die Peter-Ustinov-Stiftung bis zu dessen Tod, Schwerpunkt die Organisation der Peter-Ustinov-Mädchenschule in Afghanistan.
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Titel: 20 Krimis