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Paradox 2

Jenseits der Ewigkeit

von Phillip P. Peterson (Autor:in)
250 Seiten
Reihe: Paradox, Band 2

Zusammenfassung

Nach der fehlgeschlagenen Expedition der Helios wachen David und seine Kameraden an einem fernen Ort in einer fernen Zeit wieder auf und erhalten von den Fremden einen gefährlichen Auftrag: Mit einem Nachbau der Helios sollen sie das Universum umrunden. Der Lohn: Eine Perspektive für die Menschheit. Doch das All ist ein noch finsterer Ort als selbst die fremden Intelligenzen vermuteten, und am Ende müssen David, Ed, Grace und Wendy am Rande des Universums um ihr Überleben kämpfen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1.

 

Ich bin tot.

Aber er existierte doch!

Also kann ich nicht tot sein. Oder?

David hatte das Gefühl zu fallen und es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Als stünde er unter dem Einfluss starker Medikamente. Oder wie bei einer heftigen Fieberattacke. Wie damals, als er nach einer Infektion ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Auch zu jener Zeit war er aufgewacht und hatte lange nicht gewusst, wo er sich befand.

Ihm wurde bewusst, dass er die Lider geschlossen hatte. Ein dumpfer, leicht pochender Schmerz strahlte von irgendwo hinter seinen Augen in den Rest des Kopfes aus. Gerade hatte er noch das Gefühl gehabt, zu fallen, aber nun stellte er fest, dass er auf einer weichen Unterlage lag. Wie damals im Krankenhaus. Das Blut pochte in seinen Adern, aber ansonsten war es still. Er stöhnte und hörte seine eigene Stimme in den Ohren.

Er musste die Augen öffnen, um herauszufinden, wo er war. Aber es bereitete ihm unendliche Mühen. Seine Augenlider waren wie aus Beton. Oder hatte er gar keine? Er müsste ohnehin tot sein.

Wieso eigentlich? Er versuchte, sich zu erinnern. Aber es gelang ihm nicht. Nur bruchstückhafte Gedankenfetzen, unzusammenhängend und wirr, tauchten in seinem Bewusstsein auf und verschwanden sogleich wieder in diesem Meer aus Agonie.

Die plötzliche Panik ließ Adrenalin durch seinen Körper fließen. Verzweifelt riss er die Augen auf. Es war hell. Zu hell! Das Pochen in seinem Kopf verstärkte sich zu Hammerschlägen und ließ ihn gequält die Lider wieder schließen. Aber wenigstens war er nun sicher, dass er noch Augen hatte. Und somit einen Körper. Wenn er einen Körper hatte, dann konnte er auch nicht tot sein. Aber wo war er?

Wieder öffnete er die Augenlider, diesmal langsam und vorsichtig. Immer noch war es zu hell. Tränen ließen sein Blickfeld verschwimmen. Er blinzelte. Eine weiße Fläche lag vor ihm. Er blinzelte wieder. Die weiße Fläche war eine Zimmerdecke. David wollte seinen rechten Arm heben, aber die Bewegung kostete ihn unendliche Mühen. Er krümmte seine rechte Hand zur Faust und bemerkte, dass er etwas Weiches umklammerte. Es fühlte sich an wie .... wie ... ja, was? Etwas Vertrautes, aber die Benommenheit war immer noch so stark, dass er sich nicht zu konzentrieren vermochte.

Vorsichtig wandte er den Kopf, die Augen geöffnet. Die Zimmerdecke wurde durch die weiße Fläche einer Zimmerwand mit bunten Einsprengseln ersetzt. Wiederholt blinzelte er. Nach und nach klärte sich das Bild. Die Einsprengsel waren bunte Bilder, die an der Wand hingen, und Regale mit dicken Büchern darin. Alles hier kam ihm nur zu vertraut vor. Dann entdeckte er einen grauen Stoffelefanten mit einem blauen, weißgepunkteten Halstuch, der freundlich lächelnd auf einem Holzstuhl saß.

David lachte unterdrückt, als er endlich erkannte, wo er sich befand.

Ich bin zu Hause!

Beruhigt schloss er wieder die Augen. Die vertraute Umgebung gab ihm eine fast unheimliche Zuversicht.

Ich bin zu Hause. Es ist alles gut.

Es gab nur einen Ort auf der Welt, an dem er sich jemals so zuhause gefühlt hatte. Es war der einzige Ort, den er stets, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, als Zuhause bezeichnet hatte: sein altes Kinderzimmer im Haus seiner Eltern.

Warum war er nur so daneben? Warum fiel es ihm so schwer, sich zu erinnern, oder auch nur, sich zu konzentrieren? War er krank gewesen und seine Eltern hatten ihn zu sich geholt? Verzweifelt, versuchte David, sich ins Gedächtnis zu rufen, was als Letztes vor dem Einschlafen geschehen war. Es wollte ihm einfach nicht in den Sinn kommen. Er musste von seinem Arbeitsplatz aus aufgebrochen sein, um seine Eltern in Athens zu besuchen und hier krank geworden sein. Vielleicht hatte er etwas Schlechtes gegessen und sich eine Lebensmittelvergiftung zugezogen?

Er öffnete wieder die Augen. Das Licht schmerzte nun weniger. So hell war es eigentlich gar nicht. Die Sonne schien jedenfalls nicht durch das Fenster, denn sonst hätte sich der charakteristische Schatten des Fensterrahmens an der Wand vor ihm abgezeichnet. Alles sah genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Da hingen die Poster von Nirvana und Pearl Jam, die er in einer kurzen Phase seiner Jugend gemocht hatte, daneben ein Bild von Albert Einstein, der provokant die Zunge herausstreckte. Auf dem Regal, das sein Vater damals etwas schräg in der Wand verdübelt hatte, standen fünf dicke Bücher. Eines über Physik, eines über Mathematik, zwei über die Programmiersprachen C++ und Java und daneben noch ein Star-Trek-Episodenführer. Daneben hing eine graue, analoge Wanduhr. Es war kurz vor halb zehn.

David wandte den Kopf noch etwas weiter zu seinem alten Schreibtisch neben dem Fenster. Der war mehr für einen jugendlichen Schüler denn für einen erwachsenen Doktoranden gedacht und hatte ihm in den Semesterferien einige Rückenschmerzen beschert. Eine silberne Lampe stand darauf und an der Wand direkt darüber war der Satz »e=2,718281« mit Bleistift auf die Tapete geschrieben.

Es war sehr ruhig. Normalerweise fuhren auf der Straße unterhalb seines Kinderzimmerfensters immer Autos entlang in Richtung Stadtzentrum. War heute vielleicht Sonntag?

David zuckte zusammen, als er ein leises Räuspern auf der anderen Seite neben sich hörte. Er kannte dieses Geräusch seit frühester Kindheit. Sein Vater pflegte morgens in sein Zimmer zu kommen, wenn es für David Zeit war, aufzustehen. Diese Zeiten waren lange vorbei, und doch hatte sich das Geräusch tief in Davids Gedächtnis eingebrannt.

»Hallo, Dad!«

David erschrak. War dieses heisere Krächzen wirklich seine eigene Stimme? Langsam, wie in Zeitlupe, drehte er den Kopf.

Tatsächlich saß dort sein Vater neben dem alten Kleiderschrank. Gemütlich hatte er sich in dem braunen Ledersessel zurückgelehnt, in dem David immer zum Lesen seiner geliebten Science-Fiction-Romane gesessen hatte. Sein Vater lächelte schwach und schaute ihn gütig durch seine randlose Brille an. Der alte Mann hatte schon immer etwas Professorales an sich gehabt, was sicher seinem Beruf als Dozent der Geschichte am örtlichen College zu verdanken war. Das fortschreitende Alter, die grauen Haare und der sorgfältig gestutzte Vollbart in Kombination mit dem hellgrauen Jackett, das er selbst im Sommer im Haus trug, taten ihr Übriges, ihn als eine Art »Elder Statesman« erscheinen zu lassen, der immer mit einem guten Rat oder einer intelligenten Frage zur Stelle war, sich aber niemals aufdrängte.

»Wie lange sitzt du schon hier?«, fragte David. Seine Stimme war wirklich heiser. Er hustete und stellte fest, dass seine Kehle völlig ausgetrocknete war. Er griff hinüber zu dem Nachttisch, auf dem wie immer eine kleine Plastikflasche mit stillem Wasser stand. Er schraubte den Deckel mit zitternden Händen ab und trank mit gierigen Schlucken. Das Wasser war überraschend kühl.

»Schon eine ganze Weile«, antwortete sein Vater leise.

David stellte die Flasche zurück auf das Tischchen. Langsam richtete er sich im Bett auf, was sein Kopf mit einem verstärkten Dröhnen beantwortete. Er hustete wieder.

»Was ist denn geschehen?«

»Du hast im Schlaf geschrien«, antwortete sein Vater.

»Bin ich krank?«

Sein Vater wiegte langsam den Kopf. »Wie fühlst du dich?«

»Schrecklich. Ein wenig wie damals, als ich das Fieber hatte.«

»Daran erinnerst du dich also?«

David nickte schwach.

»Woran erinnerst du dich noch?«, fragte sein Vater. Seine Stimme war merkwürdig emotionslos. Als hätte er die Frage gestellt, obwohl ihn die Antwort eigentlich nicht interessierte. Als ob er mit seinen Gedanken woanders war. Und doch starrte er David neugierig an.

»Ich weiß nicht. Ich fühle mich, als hätte ich einen Filmriss gehabt. Die letzte zusammenhängende Erinnerung ist ein Vormittag auf meiner Arbeit bei Centauri. Danach sind da nur Fetzen. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass ich zu euch geflogen bin.«

»Sonst erinnerst du dich an nichts?«

»Sollte ich denn?«, fragte David.

Sein Vater lächelte ihn an. »Sag du es mir.«

David schloss die Augen. Die Benommenheit hatte ein wenig nachgelassen. Aber es fiel ihm immer noch schwer, sich zu konzentrieren. Mit geschlossenen Lidern hatte er wieder das Gefühl, zu fallen. Oder als wäre er schwerelos.

Schwerelos?

Diffuse Bilder wechselten in schneller Folge vor seinem inneren Auge. Er sah das Innere eines Raumschiffes. Die Erde von der Umlaufbahn aus. Den Mond, wie er gemächlich an ihm vorbeizog.

»Ich muss geträumt haben«, sagte David und schaute seinen Vater an. »Ein sehr lebhafter Traum.«

»Was hast du denn geträumt, David?«, fragte sein Vater. In seiner Stimme fehlte wieder jede Emotion.

»Ich weiß nicht recht. Ich glaube, ich bin im Weltraum gewesen. In einem Raumschiff. Bei einer Mission meines Arbeitgebers.«

»War es ein guter Traum?«

David vermochte es nicht zu sagen und horchte in sich hinein. Zuerst war der Traum gut gewesen. Er hatte Abenteuerlust verspürt, das befreiende Gefühl der Schwerelosigkeit, die Gewissheit, Teil von etwas Besonderem zu sein und neue Entdeckungen zu machen. »Am Anfang ja«, sagte er langsam. »Aber zum Schluss wurde es schrecklich. Da war ein Gefühl der Bedrohung. Des Eingesperrtseins. Hoffnungslosigkeit. Dann Panik. Sogar Todesangst. Das Gefühl, zu ersticken. Ich dachte wirklich, ich sei tot.«

»Aber jetzt bist du wach«, sagte sein Vater. David fiel auf, dass der sich die ganze Zeit über nicht auch nur ein Stückchen in dem Sessel bewegt hatte.

»Ja«, antwortete David und nickte. »Jetzt bin ich wach.« Er nahm den Zipfel der Bettdecke und schob sie ein Stück zurück. Neben einem weißen Shirt trug er nur eine weiße Unterhose. Stöhnend zog er die Beine an und setzte sich auf der Bettkante auf. Seine Füße baumelten einige Zentimeter über dem Boden.

»Bist du sicher, dass du schon aufstehen willst?«, fragte sein Vater.

David nickte nur. Vermutlich wäre das Beste, sich wieder hinzulegen, die Augen zu schließen und sich einige weitere Stunden Schlaf zu gönnen. Aber ein unbestimmtes Gefühl drängte ihn, schnell auf die Beine zu kommen. Dieser Traum ... Er erinnerte sich an immer mehr Bilder. Und im Gegensatz zu den meisten Träumen, die nach dem Aufwachen nach und nach aus dem Gedächtnis verschwanden, wurde dieser stetig klarer, je mehr David darüber nachdachte. Er sah ein Gesicht vor sich, das ihn anklagend anblickte. Ein Mann um die fünfzig Jahre, in eine blaue Astronautenkombi gehüllt, einen Helm unter dem Arm.

»Ed«, flüsterte David. Woher kannte er diesen Mann nur? War das wirklich ein Traum gewesen?

»Woran denkst du, David?«, fragte sein Vater.

»Ich denke über diesen Traum nach. Er war so verdammt realistisch. Ich war auf einer Expedition zum Rand des Sonnensystems unterwegs. Am Ende ist alles schiefgelaufen und ich bin gestorben.«

»Was ist denn schiefgelaufen?«

David blickte seinen Vater einen Moment an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern.«

Sein Herz fing heftig an zu pochen und er hatte plötzlich den Eindruck, er träumte immer noch. Er blickte nach links zum Fenster, zu den weißen, fließenden Gardinen, die die Außenwelt abschirmten. Er hatte das beunruhigende Gefühl, dass er dahinter nur die weiße, unendliche Leere des Jenseits erblicken würde. Und dieses eigentümliche Gefühl wurde immer stärker.

Er griff an den Nachttisch, um sich abzustützen, und rutschte langsam von der Bettkante herunter.

»Ich würde das an deiner Stelle nicht tun«, sagte sein Vater.

David bekam eine Gänsehaut beim Klang der roboterhaften Stimme.

Was ist hinter den Gardinen?

Endlich stand David auf seinen eigenen Füßen. Schwerfällig richtete er sich auf. Mit bleiernen Schritten ging er auf das Fenster zu. Langsam griff er mit der rechten Hand nach der Gardine, während er sich mit der linken an der Kommode abstützte. Er wandte den Kopf zu seinem Vater, der immer noch regungslos im Sessel saß. »Warum nicht? Was ist da draußen?«, fragte er mit zitternder Stimme.

Der alte Mann lächelte nur.

Panik machte David die Brust eng. Das hier war nicht sein zu Hause. Nein, das hier war in Wirklichkeit ein ganz anderer Ort. Ein finsterer Ort, an dem man ihn gefangen hielt. Wenn er die Gardinen zurückzog, würde er die Wahrheit erfahren.

Er nahm all seinen Mut zusammen und riss den Stoff mit einem Ruck zur Seite und atmete sofort spürbar auf.

Alles war, wie es sein sollte. Da unten die Straße. Das Haus gegenüber, dessen weiße Farbe sich im Laufe der Jahre wegen der Faulheit von Mr. Dingle allmählich in ein vergilbtes, abblätterndes Gelb verwandelt hatte. Der Baum etwas links, auf dem im Winter immer Krähen saßen.

»Weil du noch sehr schwach zu sein scheinst«, sagte sein Vater endlich. »Ich möchte nicht, dass du hinfällst.«

David nickte erleichtert und wandte den Blick von der Außenwelt ab. Er blieb aber am Fenster stehen, stützte sich weiter auf der Kommode ab.

»Ich kann mich immer noch nicht daran erinnern, wie ich von Portland hierher gekommen bin.«

»Du hast lange geschlafen.«

»Das beantwortet meine Frage nicht.«

»Du hast keine Frage gestellt.« Sein Vater lächelte wieder.

»Doch, ich sagte, dass ich keine Ahnung habe, wie ich hierher gekommen bin.«

»Das ist eine Aussage und keine Frage.«

David verdrehte die Augen. Das war typisch sein Vater.

»Also schön, wie lange bin ich schon hier?«

»Etwa zwei Tage. Die meiste Zeit davon hast du geschlafen.«

David nickte. Vielleicht war er auch einfach nur überarbeitet gewesen und hatte einen Schwächeanfall gehabt. Das Arbeitspensum bei Centauri war unglaublich hoch. Meist hatte er immer noch Aufgaben mit nach Hause genommen und bis tief in die Nacht am Schreibtisch gesessen. Während des letzten Besuchs bei seinen Eltern hatte er auch den ganzen ersten Tag im Bett verbracht. Diesmal musste es besonders schlimm gewesen sein. Er sollte besser darauf achten, in der nächsten Zeit ein wenig kürzer zu treten.

»Ist Mama da?«, fragte er.

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Mama ist nicht da.«

»Wo ist sie?«

»Sie ist nicht hier.«

Wenn heute Sonntagvormittag war, dann war sie sicher in der Kirche. Danach traf sie sich meistens noch mit Tante Ruth und Onkel Herman bei O’Haras Coffee Bar. Wie spät war es doch gleich? David blickte wieder auf die Uhr und stutzte. Eben war es kurz vor halb zehn gewesen. Das war sicher schon einige Minuten her und jetzt stand die Uhr immer noch auf kurz vor halb zehn.

»Die Uhr ist stehengeblieben«, sagte er. Die Feststellung beunruhigte ihn aus irgendeinem Grund mehr, als sie sollte.

»Die Uhrzeit spielt keine Rolle«, gab sein Vater zurück.

Erneut bekam David eine Gänsehaut. Die Situation war so ... merkwürdig. Er hatte das Gefühl, einfach nicht hier sein zu dürfen.

David schob die Gardine noch ein Stück zurück. Draußen war es ruhig. Viel zu ruhig – selbst für einen Sonntag. Nicht ein einziges Auto war in der ganzen Zeit vorbeigefahren. Auch Fußgänger waren keine zu sehen. Kein Motorenlärm von dem nahegelegenen Highway, kein Hundegebell - gar nichts. Sein Blick wanderte nach oben. Nur einige Schönwetterwolken waren über den Häusern zu sehen.

Moment mal.

Die Wolken bewegten sich nicht. Sie standen am Himmel wie auf eine blaue Leinwand gemalt. Die ganze Umwelt jenseits des Fensters war tot. Wie eine Leinwand, eine Simulation.

Simulation?

Als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte, tauchten neue Bilder in Davids Gedächtnis auf. Und dieser Traum von einer Weltraummission wurde noch realer. Beängstigend real! Er erinnerte sich sogar an die Namen der drei Astronauten, mit denen er auf die Reise gegangen war: Ed, Grace und Wendy. Sie waren gemeinsam mit einem Raumschiff - wie hieß es doch gleich? - an den Rand des Sonnensystems geflogen und plötzlich waren alle Sterne weg gewesen. Und dann waren sie auf eine uralte Intelligenz gestoßen, die alle Planetensysteme der Galaxis mit Dyson-Sphären umgeben und der Menschheit den Sternenhimmel nur als Simulation wiedergegeben hatte.

Simulation!

Langsam drehte er sich um und blickte den Mann an, der da vor der Wand im Sessel saß und aussah wie sein Vater. Der erwiderte seinen Blick freundlich lächelnd.

»Du bist nicht mein Vater«, sagte David. »Stimmt’s?«

Der Fremde nickte. »Stimmt.«

»Du bist nur eine Simulation. Oder eher noch eine Illusion.«

»Das ist richtig.«

»Und das hier ist nicht mein Zimmer.«

»Du hast recht.«

David wandte den Kopf. Noch immer hatten sich die Wolken keinen Millimeter über den Himmel bewegt. »Und ich bin gar nicht auf der Erde.«

»Es ist gut, dass du dich erinnerst.«

Zögerlich ging David auf den Mann zu, der seinem Vater so sehr glich. Das Lächeln ... der leicht spöttische Ausdruck in den Augen ...

Vor dem Sessel blieb David stehen und ging in die Knie, bis er das Gesicht des Doppelgängers direkt vor sich hatte. Der blinzelte kurz und starrte David in die Augen.

David streckte die Hand aus. Er zögerte kurz und berührte dann die Wange des fremden Wesens. Er hatte erwartet, ins Leere zu greifen wie bei einem Hologramm, aber die Haut seines Gegenübers war warm und weich wie bei einem Menschen aus Fleisch und Blut.

»Warum diese Täuschung?«, fragte David.

»Die vertraute Umgebung sollte dir das Aufwachen erleichtern.«

Jetzt kehrten auch die letzten Reste der Erinnerung zurück. Sie hatten mit den Antimaterievorräten der Helios ein Loch in den systemumspannenden Schirm gebrannt, um Kontakt mit der Erde aufzunehmen. Der Plan war auch aufgegangen. Er selbst hatte auf die Taste zum Absenden der Nachrichten gedrückt. Dann war Ed in die ausströmende Antimaterie geraten und gestorben. Zuletzt hatten die Nanomaschinen des Fremden damit begonnen, ihr Raumschiff zu zerstören. Es hatte einen Bruch in der Hülle des Cockpits gegeben und das letzte, woran er sich erinnerte, war das Gefühl, zu ersticken, als der Sauerstoff des Raumschiffs in das Vakuum des Weltalls strömte. Aber offensichtlich musste die künstliche Intelligenz, die sie gefunden hatten, sie doch noch gerettet haben. Oder zumindest ihn. Er war also wohl noch irgendwo an der Sphäre. Draußen, an der äußeren Grenze des Sonnensystems.

»Wo genau bin ich hier?«

»In einem Asteroiden, den wir für dich und deine Gefährten präpariert haben.«

Sein Herz machte einen Sprung. »Wendy und Grace leben auch noch?«

»Ja.« Der Mann, der wie sein Vater aussah, nickte.

David stand auf und trat einen Schritt zurück. Seine Beine zitterten und er ließ sich auf die Bettkante nieder, bevor er das Gleichgewicht verlor. »Wo sind sie? Kann ich zu ihnen?«

»Wenn das dein Wunsch ist, werde ich dich zu ihnen bringen. Fühlst du dich denn schon kräftig genug? Hast du Durst? Hunger?«

Jetzt, da sein Gegenüber es ansprach, bemerkte David tatsächlich ein flaues Gefühl im Magen. Er musste schon seit längerer Zeit nichts mehr gegessen haben. Seinen Durst hatte er weitgehend mit der Flasche Wasser vom Nachttisch gestillt.

»Ja, ich habe Hunger«, gab er zu.

Der Doppelgänger seines Vaters stand aus dem Sessel auf. »Warte einen Moment. Ich hole dir das Frühstück.«

Frühstück ...

David nickte nur.

»Im Schrank findest du etwas zum Anziehen. Ich werde gleich wieder hier sein.«

Das Wesen ging zielstrebig zur Zimmertür. Es hatte tatsächlich denselben leicht hektischen Schritt wie Davids Vater. Als es die Tür öffnete, war es dahinter so hell, dass David nicht erkennen konnte, was jenseits des Zimmers lag. Wie auf dem Flur im Haus seiner Eltern in Athens würde es dort sicher nicht aussehen.

In einem Asteroiden … Davon gab es ja genug im äußeren Sonnensystem. Darunter einige große. Die künstliche Intelligenz musste ihn in Windeseile ausgehöhlt, eingerichtet und mit einer Atmosphäre ausgestattet haben. Vielleicht gab es diesen Raum aber schon viel länger und Q - wie sie die fremde Intelligenz genannt hatten - hatte ihn vorausschauend für eine erste Begegnung mit der Menschheit hergerichtet. Wie viel Zeit mochte seit Eds Tod und der Zerstörung der Helios vergangen sein? Stunden? Tage? Womöglich sogar Wochen? David konnte es einfach nicht sagen.

Er stand auf und ging die zwei Schritte bis zu dem massiven Eichenschrank. Beinahe wäre er gestürzt, er musste sich an der Schranktür abstützen. Er atmete kurz durch und öffnete sie dann.

In seinem richtigen Zimmer war der Schrank immer randvoll gestopft mit alten Hemden, die er nie weggeworfen hatte, weil er meinte, sie irgendwann verschenken zu können. Jacken, die sich als Fehlkauf erwiesen hatten, Unmengen an T-Shirts, Sweatshirts, Unterhosen und Socken, die unordentlich in den Fächern verteilt waren.

Dieser Schrank war leer. David öffnete auch die zweite Tür, aber dahinter bot sich das gleiche Bild. Nur in einem Fach, in dem früher immer seine Handschuhe und Schals für den Winter gelegen hatten, befand sich eine blaue Kombination. Er zog sie heraus und erkannte sofort das Logo der Helios-Expedition. Es handelte sich um die Bordkombi, die sie alle auf dem Raumschiff getragen hatten. Allerdings konnte sie nicht von der Helios selbst stammen, denn seine mitgenommenen Kleidungsstücke hatten alle zahlreiche Gebrauchsspuren aufgewiesen, während diese hier brandneu waren. Sie rochen sogar neu nach Synthetik. Es handelte sich vermutlich um Replikate.

David zog sich mühsam die Hose an. Er musste darauf achten, nicht umzufallen. Dann schlüpfte er in das Oberteil, das ihm besser passte als das Original, und zog den Reißverschluss zu.

Im selben Moment betrat der Doppelgänger seines Vaters das Zimmer. In einer Hand ein Tablett balancierend, schloss er mit der anderen die Tür hinter sich. Er ging um das Bett herum und stellte das Essen auf den Nachttisch, bevor er sich selbst wieder in den Sessel setzte.

»Danke«, sagte David und beugte sich über das graue Plastiktablett, das aus jeder beliebigen Kantine hätte stammen können. Auf einem Porzellanteller lag ein Sandwich mit weißem Toast. Neben dem Teller stand ein Glas. David griff danach und schnupperte.

»Ist das richtiger Orangensaft?«, fragte er skeptisch.

Der Fremde nickte. »Ja, ist es.«

»Gepresst aus richtigen Orangen?«

»Nein, das nicht.«

David blickte irritiert auf, zuckte aber dann mit den Schultern. War sicher irgendetwas Synthetisiertes. Auf der Molekularbasis wahrscheinlich von richtigem Orangensaft nicht zu unterscheiden. Er nippte an dem Glas und die kühle Flüssigkeit schmeckte tatsächlich wie frisch gepresst. Es sammelten sich sogar Fruchtfleischstückchen zwischen seinen Zähnen.

David stellte das Glas zurück und griff nach dem Sandwich. Er klappte die weißen Toastscheiben auseinander. Erdnussbutter! Sofort begann er zu lachen.

»Was ist so lustig?«, fragte der Doppelgänger.

»Du«, sagte David. »Du bist lustig. Mein Vater hat mir immer Erdnussbuttersandwiches gemacht, wenn ich krank im Bett gelegen habe und Mama nicht zu Hause war. Gibt es irgendetwas, was ihr nicht über mich wisst?«

»Im Grunde genommen nein.« Der Fremde mit dem Gesicht seines Vaters lächelte wieder.

»Warum habt ihr die Helios zerstört?«

»Die Anwesenheit eures Schiffes war außerhalb der Sphäre nicht vorgesehen. Die Beschädigung der Hülle durch euch wurde als Angriff gewertet und die Zerstörung eures Raumschiffes war damit eine logische Konsequenz.«

»Aber mich, Wendy und Grace hast du gerettet«, stellte David fest.

»Das ist korrekt.«

»Wieso hast du uns nicht einfach sterben lassen?«

»Leben ist im Universum unendlich kostbar. Es liegt uns fern, es ohne triftigen Grund zu vernichten.«

»Wir haben eine Nachricht an die Erde schicken können. Wir haben gewonnen. Warum hast du uns nicht einfach zurückfliegen lassen?«

Der Fremde lachte leise. So, wie sein Vater es immer gemacht hatte, wenn David als Kind etwas Drolliges gesagt oder getan hatte. »Ich muss dich leider enttäuschen. Die Erde hat eure Nachricht nicht erhalten. Allerdings mussten wir euch die Möglichkeit nehmen, weitere Sabotageakte zu begehen.«

»Darum die Zerstörung der Helios«, stellte David fest. »Und darum hast du uns jetzt in diesen Asteroiden gebracht. Ich schätze, er wird nun bis zum Ende unseres Lebens ein Gefängnis sein.«

Der Doppelgänger schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist nicht das Ziel.«

»Nicht?«

»Ihr wurdet hierhergebracht, um eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen.«

Damit hatte David nicht gerechnet. Was sollten sie schon tun können, wozu diese außerirdische künstliche Intelligenz nicht selbst imstande war? Oder sollten sie dem Bewusstsein der Sphäre als Studienobjekt dienen, stellvertretend für die Menschheit?

»Was für eine Aufgabe?«

»Dies zu erörtern, steht mir nicht zu. Das wirst du später zusammen mit deinen Gefährten erfahren.«

»Es steht dir nicht zu?«

»Nein.«

»Aber du bist doch die künstliche Intelligenz, oder etwa nicht?«

»Diese Aussage trifft nur teilweise zu. Ja, ich bin eine Instanz des Verbundes, allerdings nur mit einem limitierten Umfang und zu einem ganz bestimmten Zweck.«

»Welchem Zweck?«

»Deine Ankunft angenehmer zu gestalten, dir bei der Akklimatisierung zu helfen und ein erster Ansprechpartner für deine Fragen zu sein. Diese Aufgaben betrachte ich als erfüllt, sobald du diesen Raum verlässt. Ein anderer Repräsentant wird sich dann um euch kümmern, nachdem du mit deinen Gefährten zusammengetroffen bist.«

David schluckte den letzten Bissen des Sandwiches hinunter und rieb sich die Hände an der Hose ab. »Ich glaube, dann möchte ich jetzt gerne zu ihnen.«

Sein Gegenüber nickte und stand auf. »Folge mir.« Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, zögerte und wandte sich noch einmal um. »Hinter dieser Tür wird nicht das sein, was du erwartest.«

David nickte. »Damit habe ich schon gerechnet.« Er blickte dem Mann mit dem Gesicht seines Vaters aus nächster Nähe in die Augen. Wieder war er fasziniert von der vollkommenen Ähnlichkeit. Er bildete sich sogar ein, den typisch herben Geruch des Rasierwassers wahrzunehmen, das sein alter Herr immer benutzte. »Werden wir uns wiedersehen?«

Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Aufgabe ist erfüllt, sobald du den Raum verlassen hast. Ich werde wieder mit dem Verbund assimilieren.«

Die Aussage war interessant, aber nicht das, was David gemeint hatte. »Ich meinte, werde ich meinen richtigen Vater wiedersehen?«

Der Fremde lächelte schwach. »Ich habe keine Informationen zu diesem Themenkomplex. Ich sehe mich nicht in der Lage, diese Frage zu beantworten.«

David nickte. »Schon gut.«

Sein Gegenüber wandte sich wieder der Tür zu und zog sie auf. Strahlend weiße Helligkeit fiel ins Schlafzimmer. David holte tief Luft und schritt über die Schwelle. Die Tür schloss sich hinter ihm.

2.

 

Es war wirklich nicht das, was David erwartet hatte. Dass es nicht die Diele sein würde, war ihm klar gewesen. Aber womit hatte er dann gerechnet? Wenn der Fremde nicht gelogen hatte und David im Inneren eines Asteroiden war, dann hatte er eher einen steinernen Höhlengang erwartet oder alternativ einen futuristischen Gang wie im Inneren einer Raumstation. Aber das hier? Ja, in einem Korridor befand er sich, aber der war in keiner Weise futuristisch oder höhlenhaft. Mit den glatten, weißen Wänden und der Decke mit ihren kühlen Neonlichtern sah es hier eher aus wie in einem angejahrten Krankenhaus oder einer Arztpraxis. Vier graue Plastikstühle standen vor ihm an der Wand. Daneben ein weißer Wasserspender. Langsam ging David ein paar Schritte. Der Korridor endete bereits nach wenigen Metern. Erst jetzt fiel David auf, dass es keine weiteren Türen gab. Die einzige Möglichkeit, diesen Gang zu verlassen, war die, durch die er soeben gekommen war.

Einem Impuls folgend, drehte sich David herum, ging hastig zur Tür zurück und drückte die Klinke herunter.

»Was zum ...?«, entfuhr es ihm. Die Tür war verschlossen und bewegte sich keinen Millimeter. Er war gefangen! Ein Anflug von Panik stieg in ihm auf und er wurde sich erneut schmerzhaft bewusst, dass er unter Klaustrophobie litt. Aber er erinnerte sich an seine Astronautenausbildung und die Konditionierung und sogleich gelang es ihm, sich zu beruhigen. Er war gewiss nicht hierhergebracht worden, um nun für lange Zeit in diesem bizarren Gang festgehalten zu werden. Schließlich ging er zu den Stühlen, seufzte und nahm Platz. Von der Atmosphäre her fühlte er sich tatsächlich, als müsse er auf den Beginn einer Untersuchung warten. Dabei wollte er nur seine Freunde wiedersehen. Der Fremde hatte gesagt, er würde ihn zu ihnen führen. Also, wo waren sie nun?

David schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Seine Benommenheit war inzwischen verschwunden, ebenso wie die Kopfschmerzen. Mittlerweile fühlte er sich sogar ausgeruht und dank der Mahlzeit gestärkt. Vielleicht war in dem Orangensaft mehr drin gewesen als Vitamine, aber das war reine Spekulation.

Vor seinem inneren Auge ließ er die Begegnung mit dem Doppelgänger Revue passieren. Ungastlich war er hier nicht empfangen worden. Die fremde Intelligenz hatte sich die Mühe gemacht, sein Schlafzimmer und seinen Vater zu rekonstruieren, damit David leichter zu sich fand. Das stand im Gegensatz zur sachlichen Kühle der Sphäre, mit der sie innerhalb der Helios kommuniziert hatten. Und warum diese drastische Zerstörung ihres Raumschiffes, als sie sich noch an Bord befanden? Wenn die künstliche Intelligenz ein Anliegen an sie hatte, hätten sie doch gleich zu diesem Asteroiden gebracht werden können? Warum erst warten, bis sie bewusstlos und halbtot in ihrem Raumschiff lagen? Wie hatte die fremde Intelligenz sie überhaupt aus der Helios herausgebracht? Es gab immer mehr Fragen und weniger Antworten, je intensiver er über die Situation nachdachte. Andererseits hatte der Doppelgänger ja angedeutet, dass sie über alles informiert werden würden, wenn es soweit war. Es stellte sich aber trotzdem die Frage, warum ...

David spürte einen leichten Windstoß und riss die Augen auf. Die Tür am Ende des Ganges ging auf. Hindurch trat ...

»Wendy!« David sprang auf und lief ihr entgegen.

Das Gesicht der Astronautin war verquollen, Tränen liefen ihre Wangen hinab. Ihre mittellangen, braunen Haare standen in alle Richtungen ab. Sie trug dieselbe Missionskombi wie David. Sie schluchzte, aber als sie ihn erkannte, streckte sie ihm die Arme entgegen. Hinter ihr wurde die Tür wieder geschlossen. David konnte nicht feststellen, von wem.

Weinend fiel Wendy in seine Arme. »David!«, presste sie gequält hervor.

»Ist gut!«, flüsterte David und fuhr ihr durch die Haare. Ihm war die Situation unangenehm. Er mochte Nähe nicht sonderlich. Wenn er traurig oder verängstigt war, neigte er eher dazu, sich zurückzuziehen.

Er wartete einige Minuten ab, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte, und brachte sie dann zu einem der Stühle. Sie setzte sich, ließ seine Hand aber nicht los.

»Wir waren tot!«, schluchzte Wendy. »Wir waren doch tot!«

»Offensichtlich nicht«, sagte David in einem sarkastischen Tonfall, der ihm sofort leidtat. »Aber es kann nicht viel gefehlt haben.«

Wendy schluchzte, holte dann tief Luft und atmete mehrere Male tief ein und aus. Es dauerte noch einige Minuten, bis sie sich endgültig beruhigt hatte. David schwieg und hielt geduldig ihre Hand. Schließlich entzog sie sie ihm und fuhr sich damit zitternd über ihr Gesicht. David beugte sich zum Wasserspender hinüber. Er zog einen weißen Plastikbecher aus einer Halterung und hielt ihn unter den Hahn. Er wartete, bis der Becher bis zur Hälfte gefüllt war und reichte ihn dann an seine Gefährtin.

»Danke!« Ihre Hand zitterte so stark, dass Wasser überschwappte und auf das Oberteil ihrer Kombi tropfte.

»Besser?«

Wendy atmete noch einmal durch und nickte dann. »Ein wenig.« Ihre Stimme klang immer noch sehr weinerlich.

»Wen haben sie dir zum Aufwachen geschickt?«, fragte David leise.

»Meinen Mann«, sagte Wendy knapp.

»Gerry.«

»Ja, ich dachte, ich wäre in unserem Schlafzimmer und hätte nur einen bösen Traum gehabt. Die Erinnerung kam erst nach und nach.«

»Bei mir war es ganz ähnlich. Erst als sich außerhalb des Fensters nichts bewegte, wurde ich misstrauisch.«

»Aus dem Fenster habe ich gar nicht geschaut. Ich hatte Angst vor dem, was ich vielleicht dort sehen würde.«

»Sie haben es fast perfekt simuliert«, sagte David. »Was hat dich denn misstrauisch gemacht?«

»Es war die Art, wie Gerry geredet hat. So nüchtern, emotionslos. So kannte ich ihn gar nicht. Als dann immer mehr Bruchstücke in meinem Gedächtnis auftauchten, wurde mir klar, dass ich immer noch draußen im Weltraum bin und dass mein Gegenüber nicht Gerry ist. Ich war fast überrascht, dass er es sofort zugegeben hat, als ich ihn zur Rede stellte.«

»Was hat er dir gesagt, wo wir sind?«, wollte David wissen.

»Auf einem Asteroiden. Aber wo sich der befindet, hat er nicht sagen wollen.«

»Was meinst du damit?« David war davon ausgegangen, dass sie sich auf einer Umlaufbahn um die Sonne in der Nähe der Sphäre befanden.

»Ich fand es ein wenig verwunderlich, dass wir auf einmal im Asteroidengürtel innerhalb des Schirms sein sollen.«

David lächelte schwach. »Asteroiden gibt es überall im Sonnensystem, nicht nur im Asteroidengürtel.«

»Auch so weit draußen, jenseits der Sphäre?«, fragte Wendy.

David nickte. »Sicher.« Er stutzte. »Auch wenn man die eigentlich nicht Asteroiden nennt, sondern TNOs.«

»TNO?«

»Die Abkürzung für Transneptunisches Objekt«, erklärte er. »Ist schon etwas verwunderlich, dass unser Gastgeber nicht die korrekte Bezeichnung gewählt hat, obwohl er sonst immer so gründlich ist.« Waren sie wirklich noch in der Nähe der Sphäre? Genaugenommen war es reine Spekulation.

»Ich finde, das Wesen, mit dem ich gesprochen habe, hat wenig Ähnlichkeit mit der künstlichen Intelligenz der Sphäre gehabt, wie wir sie bislang erlebt haben«, sagte Wendy.

»Ich denke, die Doppelgänger haben sich im Verhalten angepasst, um uns zu schonen. Aber ich glaube, dass wir es bald wieder mit dem alten Q zu tun haben.«

»Was mag er mit uns vorhaben?«

David zuckte mit den Schultern. »Im Grunde genommen ist es reine Spekulation, aber ich könnte mir vorstellen, ...«

Wieder öffnete sich die Tür. David und Wendy standen auf. David wusste, wer da jeden Moment über die Schwelle treten würde. Und er hatte recht. Blass, mit großen Augen, aber selbstsicher betrat Grace den Korridor. In ihrer Missionskombi und mit ihren kurzen, sorgfältig zu einem Bob geschnittenen rötlichen Haaren und den Sommersprossen um ihre Nase sah sie aus, als befände sie sich immer noch im Antriebsmodul ihres geliebten Raumschiffes. Sie blieb einen kurzen Augenblick stehen, um sich umzublicken, und ging dann zielstrebig auf David und Wendy zu. Wendy lief ihr entgegen, um sie zu umarmen, aber Grace wimmelte sie ab. »Lasst mich einen Moment, bitte ...«

Sie ging an ihnen vorbei und setzte sich auf den hintersten der freien Stühle. »Nur eine Minute«, sagte sie mit heiserer Stimme.

Wendy ließ sich neben ihr nieder, machte aber keine Anstalten, sie zu berühren. Ihr Blick fiel auf den vierten Stuhl. »Für wen mag der wohl sein?«

»Ich vermute mal, für unseren Gastgeber«, sagte David.

»Meinst du, er schickt uns wieder so einen ... Menschen?«

»Ich weiß es nicht. Es würde die Kommunikation jedenfalls erheblich vereinfachen.«

»Wie macht er das überhaupt? Wie schafft er diese Doppelgänger? Ob es richtige Menschen sind? Klone? Roboter? Verbünde aus Nanomaschinen? Hologramme?«

»Ich weiß es nicht. Hologramme sind es jedenfalls nicht. Ich habe den Doppelgänger meines Vaters angefasst und er hat sich angefühlt wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ich glaube aber nicht, dass es Klone sind.«

»Warum nicht?«, fragte Wendy.

»Weil es bedeuten würde, dass sie die Doppelgänger nur für ein einziges Gespräch gezüchtet haben, um sie danach wieder zu vernichten. Selbst wenn sie das in einer so kurzen Zeit hinkriegen, wären die Konsequenzen moralisch gesehen erschütternd.«

»Ich glaube nicht, dass die fremde Intelligenz moralische Skrupel hat«, sagte Grace bissig.

David beugte sich nach vorn und schaute ihr in die Augen. Sie schien ihren Schock inzwischen überwunden zu haben. »Oh, ich denke schon, dass die Fremden Prinzipien haben. Allerdings müssen sich diese nicht notwendigerweise mit unseren Moralvorstellungen decken. Wenigstens haben sie uns aus dem Wrack der Helios gerettet.«

Grace schnaubte. »Aber Ed ist tot. Von ihnen umgebracht. Also sag mir nicht, die Fremden hätten irgendeine Moral!«

David schüttelte den Kopf. »Ed ist gestorben, weil er in die ausströmende Antimaterie geraten ist. Es war ein Unfall.«

»Und der ist auch nur geschehen, weil der Fremde unser Raumschiff lahmgelegt hat. Q hätte uns da draußen umkommen lassen.«

»Aber er hat es nicht. Er hat uns ja schließlich gerettet.«

Grace lachte leise. »Mir hat man gesagt, man habe eine Aufgabe für uns. Also hat er das nur aus reinem Selbstzweck getan.«

»Wer war es bei dir?«, fragte Wendy. »Wer war bei deinem Aufwachen bei dir?«

»Kathy. Meine Freundin.«

David nickte. »Wie hast du es bemerkt?«

»Gar nicht. Sie hat es mir gesagt. Ich dachte zunächst, sie will mich verschaukeln. Dann setzte nach und nach die Erinnerung ein.« Ihre Stimme klang verärgert.

»Haben sie dir etwas Näheres über diese Aufgabe verraten?«

Grace blinzelte. »Was meinst du mit sie? Ist er denn jetzt Einzahl oder Mehrzahl? Wir sollten uns langsam mal einigen.«

David zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist beides richtig. Der gesamte Verbund aus den Sphären war die Einzahl. Reden wir nur von der Sphäre um unsere Sonne, wäre es auch Singular. Da sich die Intelligenz in mehrere Instanzen aufspalten kann, wie wir an unseren Doppelgängern gesehen haben, kann man aber auch im Plural sprechen.«

»Lasst uns doch beim Singular bleiben«, sagte Wendy. »Denn egal, ob andere Sphären existieren oder nicht, egal, ob es Instanzen, Inkarnationen oder was auch immer gibt, haben wir es mit der Intelligenz der Sphäre um unsere Sonne zu tun.«

»Einverstanden. Also er«, sagte David und wandte sich wieder an Grace.

»Also: Hat er dir etwas über diese ominöse Aufgabe erzählt?«

Die Ingenieurin schüttelte den Kopf. »Nein. Wir würden alles Weitere in Kürze erfahren, hat sie - ich meine, er - gesagt.«

»Also schön. Dann werden wir wohl warten müssen, bis er sich endlich zu uns bequemt.«

»Da müssen wir nicht lange warten«, zischte Wendy.

David drehte sich um. Tatsächlich. Die Tür hatte sich erneut geöffnet. Jemand fluchte. Davids Kinnlade klappte herunter. Er kannte die Stimme. Und er hatte gedacht, dass er sie nie wieder hören würde. Dann näherte sich von der anderen Seite ein Schatten der Schwelle und trat ins Licht.

Wendy schrie auf.

»Ed!«, flüsterte Grace.

3.

 

So eine Scheiße!

Das war der erste Gedanke, der nach dem Aufwachen durch Eds Bewusstsein fuhr. Er stöhnte und krächzte: »So eine Scheiße.«

Sein Kopf zersprang fast. Doch zwang er sich, die Augen zu öffnen. Sie waren verklebt und er blinzelte. Vor lauter Tränenflüssigkeit konnte er kaum etwas erkennen. Immerhin registrierte er, dass er auf dem Bauch in einem Bett lag. Mit aller Kraft, die sein geschundener Körper aufzubringen imstande war, drehte er sich auf die Seite. Wieder stöhnte er.

Vor sich sah er das kleine Modell eines Space-Shuttles, in dessen Sockel eine Digitaluhr eingelassen war. Er kannte das Ding. Er hatte es selbst vor zwanzig Jahren im Besucherzentrum des Kennedy Space Centers in Florida für unter zehn Dollar gekauft. Seitdem diente es ihm als Wecker. Er lag also zu Hause in seinem Bett. Durchs Fenster flutete Helligkeit in den Raum, demnach war es Tag. Ein erneuter Blick auf den Wecker ließ ihn wissen, dass es kurz vor halb zehn war. Aber warum fühlte er sich so dermaßen beschissen? Sein Kopf zersprang fast in tausend Stücke und in seinem Magen rumorte es, als hätte er gestern eine ganze Bar leergesoffen. Das war wahrscheinlich der Grund für seinen miesen Zustand. Wieso konnte er sich an gar nichts erinnern? Er wusste weder, was für eine Party gestern gewesen, noch, wie er dorthin gekommen war. Was war heute überhaupt für ein Tag? Dass er verkatert seine Arbeit versäumt haben könnte, darüber machte er sich keine Sorgen. Wie viele Astronauten war er ein harter Partygänger, aber er hatte auch die Disziplin, sich nicht vollaufen zu lassen, wenn am nächsten Tag Termine anstanden.

Und doch war irgendetwas nicht in Ordnung, denn einen solchen Filmriss hatte er sonst nie.

»Willst du einen Kaffee?«, fragte eine Stimme auf der anderen Seite des Bettes.

Ed erschrak fast zu Tode. Natürlich kannte er Helens Stimme, aber irgendein unbestimmtes Bauchgefühl sagte ihm, dass sie eigentlich nicht hier sein sollte.

Mühsam drehte er sich auf die andere Seite. »Helen!«, sagte er mit heiserer Stimme. Seine Frau saß dort auf dem klapprigen Holzstuhl, auf den sie abends immer ihre Klamotten legte. Seine eigenen ließ Ed meist im Bad zurück. Er fuhr mit der Hand unter die Bettdecke und stellte fest, dass er Unterwäsche trug. Normalerweise legte er sich nackt ins Bett, was Helen in ihrer langen Ehe mehr als einmal zu Witzeleien verleitet hatte.

Jetzt trug sie eine Markenjeans und darüber eine modische Bluse in verschiedenen Brauntönen. Ihr Haar war wie immer sorgsam gerichtet, als wäre sie gerade vom Friseur gekommen. Sie blickte ihn mit einem Ausdruck von Neugier an. »Geht es dir gut, Ed? Wie fühlst du dich?«

»Beschissen«, antwortete er, ehrlich wie immer. »Was ist denn passiert? Ich kann mich an nichts mehr erinnern.«

»Du warst krank, Ed«, sagte seine Frau.

Krank? Ja, das schien ihm plausibel. Vielleicht hatte er sich eine Lebensmittelvergiftung eingefangen. Das konnte sowohl die Kopfschmerzen als auch das flaue Gefühl im Magen erklären.

»Kaffee? Willst du Frühstück?«

Ed war sich nicht sicher, ob er feste Nahrung bei sich behalten konnte. Andererseits verspürte er Hunger. »Ja, das wäre toll, Schatz«, sagte er mit wenig Überzeugung.

Helen stand auf und wandte sich der Tür zu. »Im Schrank findest du etwas zum Anziehen.«

»Ich will mich noch gar nicht anziehen. Ich denke, ich verbringe den Tag einfach im Bett. Heute lag doch nichts an, oder muss ich noch zur Arbeit?«

»Nein, du musst nicht zur Arbeit. Aber einige Freunde wollen dich sehen.«

Freunde? Er hatte höchstens Astronautenkollegen, mit denen er im permanenten Wettstreit um Missionsplätze stand. Wahrscheinlich waren es einige der Leute, mit denen Helen bei ihren Wohltätigkeitsprojekten zusammenarbeitete. Für ihn keine Freunde. »Sollen mich am Arsch lecken und später wiederkommen?«, stöhnte er.

»Es ist besser, wenn du dich jetzt anziehst!«, sagte Helen ruhig, aber mit einer Autorität in der Stimme, die Ed nur selten von ihr gehört hatte. Na ja, den ganzen Tag im Bett zu vertrödeln war sicher auch nicht die beste Lösung.

»Zu Befehl«, erwiderte er sarkastisch und zog die Bettdecke beiseite, während Helen in den Flur verschwand.

Ed stöhnte wieder, als er sich aufrichtete und die Beine aus dem Bett wuchtete. Er hob den Arm und bemerkte erst jetzt, dass er zitterte. Auf der Bettkante sitzend, blickte er an die rückwärtige Wand des Raums. Neben dem Kleiderschrank hing ein Blumengemälde, in Aquarell mit sanften Cremefarben. Ed verzog den Mund. Viel lieber hätte er sein Gemälde vom Mond, gemalt vom ehemaligen Apollo-Astronauten Alan Bean, der nach seiner Weltraumkarriere zum Künstler avanciert war, dort aufgehängt. Aber Helen hatte keine Raumfahrtrequisiten in ihrem Schlafzimmer geduldet. Abgesehen von dem Wecker auf seinem Nachttisch natürlich, den Ed in einem Akt der Rebellion dort aufgestellt hatte.

Langsam stand er auf. Er musste sich an der Bettkante abstützen, sonst hätten seine Knie nachgegeben und er wäre zu Boden gegangen.

Er stöhnte, als er sich nach hinten zu dem Kleiderschrank aus Eiche vorarbeitete. Er wippte einige Male unsicher auf den Ballen auf und ab, bis er zuversichtlich war, dass er stehen konnte, ohne sich abzustützen. Wenigstens hatte das dumpfe Gefühl im Kopf ein wenig nachgelassen und er war wieder in der Lage, sich halbwegs zu konzentrieren. Weshalb war er bloß so fertig?

Statt Helens üblichem überquellenden Angebot fand er nur in einem einzigen Schrankfach Kleidung. Er zog den Stapel heraus und stellte verwundert fest, dass es eine Astronautenkombi war. Etwa seine? Aber er kannte den Farbton nicht, der von Mission zu Mission variierte. Er zuckte mit den Schultern. Wenigstens etwas zum Anziehen. Er legte das Oberteil auf das Bett und schlüpfte mühsam in die Hose. Dann griff er nach dem Rest und faltete ihn auseinander. Ein Missionslogo war über der Brusttasche aufgenäht.

Die Helios-Mission!

Mit Wucht kehrte sein Gedächtnis zurück. Sein Magen zog sich zusammen und er begann, heftig zu schwitzen. Seine Beine gaben nach. Er stolperte einen Schritt nach hinten und landete auf der Bettkante.

Ich bin tot!

Die Erkenntnis versetzte ihm einen Schlag.

Ich muss tot sein!

Er erinnerte sich an eine Explosion von Hitze und Schmerz, als er beim Außenbordeinsatz in die aus dem Triebwerk ausströmende Antimaterie geraten war. Er war gestorben! Wie also konnte er hier in seinem Schlafzimmer in seinem Haus in Houston sein? Es war einfach nicht möglich. Auch Helen konnte nicht hier sein, sie hatte ihn ja schließlich vor dem Abflug verlassen.

Ed zitterte stärker. Hektisch schaute er sich um.

Wo bin ich?

War er tot und das hier war das Jenseits? Eine neue Form der Hölle, die sein sterbender Verstand geschaffen hatte, und in der er nun mit einer Illusion seiner Frau die Ewigkeit verbringen musste?

Nein!

Das hier war nicht der Tod! Es widersprach allem, was er glaubte.

Eine neue Erinnerung kam zurück und im Bruchteil einer Sekunde wusste er, was hier gespielt wurde.

Die Zimmertür öffnete sich und Helen kam herein. Ed konnte nicht erkennen, was jenseits der Türschwelle lag, aber es war sehr hell. Die Tür schloss sich wieder. Helen stellte ein Tablett auf den kleinen, runden Holztisch neben der Tür. »Dein Frühstück, Ed.«

»Bastard!« Ed zitterte, diesmal vor Wut.

Helen drehte sich um. Sie schien nicht im Mindesten überrascht. »Du erinnerst dich wieder«, sagte sie nüchtern.

»Du bist nicht Helen«, schrie Ed und stieß ihm seinen Zeigefinger entgegen. »Du kannst es gar nicht sein. Du bist er.«

»Deine Annahme ist korrekt«, erklärte der Doppelgänger seiner Frau emotionslos. »Die Rückkehr deines Erinnerungsvermögens und dein Kombinationsvermögen deuten daraufhin, dass dein Aufwachprozess erfolgreich abgeschlossen wurde.«

»Mein Aufwachprozess?«, keuchte Ed. »Ich wäre beinahe draufgegangen. Verdammte Scheiße! Ich dachte, ich wäre wirklich draufgegangen!«

»Du lebst. Das ist es, was zählt.«

»Sag mir sofort, wo ich bin! Wo sind die anderen? Wo ist die Helios?«

Der Fremde lächelte Helens Lächeln. »Immer mit der Ruhe. Eins nach dem anderen. Zu deiner ersten Frage: Du bist im Inneren eines Asteroiden. Zweitens ...«

»Im Inneren eines Asteroiden? Du spinnst wohl! Das ist mein gottverdammtes Schlafzimmer! Ich ...« Ed ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief durch. Er musste ruhiger werden. Irgendwie!

»Zweitens«, fuhr Helens Doppelgänger fort. »Die anderen sind ganz in der Nähe. Sobald du dich beruhigt hast, werde ich dich zu ihnen bringen. Drittens: Die Helios ist vernichtet. Hast du sonst noch Fragen an mich?«

Die Helios zerstört! Sein Raumschiff, über das er das Kommando gehabt und für das er die Verantwortung getragen hatte. Zerstört! Von dieser außerirdischen Intelligenz, die ihnen eine Kontaktaufnahme mit der Erde verweigert hatte!

»Warum? Warum, verdammt noch mal, hast du unser Raumschiff zerstört?«

»Weil ihr euch nicht an die Anweisungen gehalten und die Sphäre beschädigt habt.«

»Wir waren Gefangene an Bord unseres Raumschiffes. Indem du uns nicht erlaubt hast, zur Erde zurückzukehren, hast du uns zum Tode verurteilt. Natürlich haben wir versucht, unseren Arsch zu retten!«

Helen nickte. »Ja, das war eine logische Konsequenz. Wir haben diese Reaktion vorhergesagt.«

Ed schnaubte. »Einen Scheiß habt ihr! Wir haben ein Loch in euren verdammten Schirm gebrannt und die Nachricht zur Erde abgesetzt. Die Menschheit weiß nun über dich Bescheid und wird nicht eher ruhen, bis ihr vernichtet seit. Das hier ist unser Sonnensystem und wir werden es nicht dulden, dass wir hier wie Zootiere beobachtet und eingesperrt werden.«

»Ich muss dich enttäuschen«, entgegnete der Doppelgänger ohne jede Spur von Triumph. »Eure Nachricht hat die Erde nie erreicht. Ich sagte ja, dass wir darauf vorbereitet waren.«

Ed schloss die Augen. Wenn der Fremde recht hatte, war alles umsonst gewesen. Oder doch nicht? Es galt immer noch, die Menschheit vor der Anwesenheit außerirdischer Intelligenzen am Rande des Sonnensystems zu warnen. Was hatte der Kerl gesagt? Auf einem Asteroiden waren sie. Irgendwie hatten sie ihn und die anderen hier hereingebracht. Das bedeutete wiederum, dass es ein Raumschiff geben musste. Vielleicht gelang es ihnen, es zu kapern und damit auf die andere Seite des Schirms zu kommen. Dann konnten sie doch noch eine Botschaft zur Erde absetzen. Aber erst mal musste der Fremde sich in Sicherheit wiegen ...

Ed öffnete die Augen. »Wir sind in einem Asteroiden?«, fragte er fast schon freundlich.

Helen nickte. »Ja.«

»Wo sind die anderen?«

»Sie warten draußen auf dich.«

»Dann bring mich zu ihnen!«

Der Doppelgänger blieb auf seinem Stuhl sitzen. »Du bist gewiss immer noch sehr schwach und du musst hungrig sein. Iss doch erst mal etwas von deinem Frühstück.« Er zeigte auf das Tablett.

»Steck es dir sonstwohin!«, brauste Ed auf. »Ich habe keinen Appetit.«

»Ich bestehe darauf.«

Ed machte den Mund auf, um dem Doppelgänger seiner Frau eine angemessene Beleidigung entgegenzuschleudern, aber er merkte selbst, dass er etwas zu essen brauchen konnte. Schließlich seufzte er, stand auf und ging schwerfällig zu dem kleinen Tisch hinüber. Ohne sich hinzusetzen, nahm er ein Glas mit einem Zeug, das wie Orangensaft aussah, und kippte sich den Inhalt in die Kehle. Dann griff er nach dem Sandwich mit einem truthahnähnlichen Belag und riss einen großen Bissen davon ab. Ungeduldig schluckte er.

»Können wir jetzt endlich?«, sagte er, den Mund noch halb voll.

Der Helen-Klon zuckte mit den Schultern, erhob sich und ging zielstrebig zur Tür. »Deine Freunde warten gleich dahinter. Ihr werdet in Kürze abgeholt und mit weiteren Informationen darüber versorgt, was eure Aufgabe sein wird.«

Ed fiel beinahe die Kinnlade herab. »Unsere Aufgabe?«

Der Doppelgänger nickte. »Ja. Ihr seid zu einem ganz bestimmten Zweck hierher gebracht worden.«

So weit hatte Ed gar nicht gedacht. Sicher. Der Fremde hätte sie ja auch einfach da draußen sterben lassen können. Dass er es nicht getan hatte, musste einen Grund haben.

»Was für eine Aufgabe?«, fragte Ed skeptisch.

»Ihr erfahrt es, sobald man euch abholt.«

Ed grunzte nur, während der Fremde die Tür öffnete. Draußen war es so hell, dass Ed blinzeln musste. Er trat über die Türschwelle und wäre beinahe gestolpert, weil seine Beine immer noch schwach waren. Er stieß einen lauten Fluch aus.

»Ed!«, rief eine Frauenstimme, die Ed sofort als die von Wendy erkannte. Er trat in einen Korridor und sah seine Teamgefährten von einer Reihe Stühle aufspringen. Wendy lief ihm entgegen und er stöhnte laut auf, als sie ihn heftig umarmte. »Ed!«, schrie sie wieder.

Er strich ihr über den Rücken. »Alles gut!«, sagte er. Sie löste sich aus der Umarmung und trat einen Schritt zurück neben Grace und David, dessen Mund weit offenstand.

»Ich hätte nicht damit gerechnet, euch wiederzusehen«, krächzte Ed.

»Du warst tot!«, murmelte David. »Wir haben es gesehen. Du bist mitten in die ausströmende Antimaterie geraten.«

Ed schaute an sich herunter, klopfte sich mit der Faust auf die Brust und zuckte dann mit den Schultern. »Ganz offensichtlich bin ich nicht tot. Der Fremde muss mich irgendwie vor der Antimaterie geschützt und hierher gebracht haben.«

David schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben es gesehen. Wir haben es sogar gespürt, wie du in den Antimateriestrom geraten bist. Die Strahlung der Explosion ist durch die Kabinenwand der Helios gedrungen und hat den Alarm ausgelöst. Nach allem, was wir wissen, musst du tot sein.«

Ed stöhnte. Für ihn war die Sache einfach. Er lebte, also konnte er nicht tot sein. »Und wie erklärst du dir dann, dass ich vor dir stehe, du Schlauberger?«

»Gar nicht!«, antwortete David in einem trockenen Tonfall, den ihm Ed gar nicht zugtraut hatte.

»Für uns gilt aber dasselbe«, wandte Wendy ein. »Wir müssten genauso tot sein wie Ed.«

»Was genau geschehen ist, werden wir wohl erst erfahren, wenn der Fremde uns abholt und endlich aufklärt«, sagte David.

»Ja, ich möchte vor allem wissen, was auf der Erde los ist«, rief Grace. »Q erzählte von einem drohenden Atomkrieg, den er beobachten wollte. Ob diese Aufgabe, von der er gesprochen hat, etwas damit zu tun hat?«

»Er soll sich seine Aufgabe sonst wohin stecken«, knurrte Ed. Wut stieg in ihm auf. Der Fremde hatte ihr Raumschiff sabotiert und zerstört und sie beinahe umgebracht. Mit welcher Berechtigung wollte er ihnen jetzt irgendwelche Arbeiten auftragen? Es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Ed würde nicht eher ruhen, bis er einen Weg gefunden hatte, wieder auf die andere Seite des Schirms zu kommen und die Menschheit zu warnen. »Auf jeden Fall müssen wir hier irgendwie raus und Kontakt mit der Erde aufnehmen. Wir müssen ...« Ed hätte sich auf die Zunge beißen mögen. Immer war er mit dem Maul schneller als mit dem Hirn! Sicherlich wurden sie überwacht und jetzt würde der Fremde Verdacht schöpfen.

»Ich möchte erst mal wissen, was der Fremde zu sagen hat«, sagte David. »Dann habe ich eine Menge Fragen, die ich ihm stellen möchte. Außerdem ...«

»Dazu wirst du gleich Gelegenheit erhalten«, erklärte Ed. Die Tür hatte sich wieder geöffnet. David verstummte und auch er, Wendy und Grace blickten in gespannter Erwartung zur Tür.

Ein Mann trat aus dem Schatten und über die Schwelle. Es war ein seltsamer Anblick. Die Person war mittelgroß, hatte dichte, schwarze Haare, die mit grauen Strähnen durchzogen und ungeordnet nach hinten gekämmt waren. Die Klamotten schienen aus einem anderen Jahrhundert zu sein. Der Mann trug ein weißes Hemd mit einer nachlässig gebundenen, schwarzen Krawatte unter einem braun-beige karierten Tweedjackett, das von einem Flohmarkt stammen konnte. Die Hose war aus demselben Stoff und die Schuhe aus einfachem, braunen Leder. Der Mann zeigte ein freundliches Lächeln, das teilweise von einem dichten, schwarzen Schnauzbart verdeckt wurde. Die braunen Augen blitzten. Er winkte, als er auf sie zukam.

David schnappte nach Luft.

Ed schüttelte den Kopf. Der Mann kam ihm unheimlich bekannt vor. Er sah fast aus wie ...

»Einstein«, sagte der Fremde höflich mit einem deutschen Akzent. »Albert Einstein ist mein Name. Ich freue mich, euch kennenzulernen.«

4.

 

Die Situation war einfach nur bizarr, fand David. Da waren sie nun, vier Totgeglaubte in einem Asteroiden am Rande des Sonnensystems, dessen Inneres aussah wie ein Krankenhausflur aus den Achtzigerjahren oder wahlweise wie sein Schlafzimmer im elterlichen Haus. Und jetzt stand da vor ihnen der geniale Physiker Albert Einstein. Oder zumindest ein Doppelgänger. Natürlich kannte David den Wissenschaftler, der 1955 gestorben war, nur von Fotos, aber die Ähnlichkeit war so frappierend, dass es ihn sprachlos machte. Einstein war immer eines seiner größten Vorbilder gewesen. War er nur eine von den Fremden geschickte Simulation? Oder von den Toten auferstanden, wie sie selbst?

Zögerlich trat David vor und streckte eine Hand aus. »Ich bin David Holmes«, sagte er.

Einstein lächelte und ergriff die Hand. David bekam eine Gänsehaut. Der Händedruck war nicht sonderlich stark und spürbar feucht. Ein Hologramm war das jedenfalls ganz sicher nicht.

»Ich freue mich, dich kennenzulernen«, entgegnete der Nobelpreisträger.

»Du bist nicht Einstein«, sagte Ed mit barscher Stimme. »Du bist nur wieder eine Illusion! Ein Roboter aus Nanomaschinen oder was auch immer. Geschaffen von dieser künstlichen Intelligenz!«

Einstein sah Ed an. »Wenn du es sagst ...«, antwortete er mit unverändert freundlicher Stimme. »Du musst Ed Walker sein. Man hat mich bereits über dein unkooperatives Verhalten informiert.«

Ed schnaubte nur.

»Und ich muss sagen, mir gefällt das«, sagte Einstein mit einem verschmitzten Lächeln.

»Was gefällt dir denn, bitteschön, an mir?«, fragte Ed.

»Dass wir etwas gemeinsam haben. Ich konnte mit Autoritäten auch nie viel anfangen.«

Wendy trat vor und zupfte Einstein am Anzug. »Sind Sie der echte Einstein?«

Das Lächeln des Physikers verblasste und die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. »Das ist eine sehr gute Frage«, sagte er langsam. »In der Tat ist es eine Frage, die ich mir bereits selbst gestellt habe. Ich habe viele Erinnerungen an mein Leben auf der Erde.« Seine Augen füllten sich mit Tränen und David bekam wieder eine Gänsehaut. »Und doch weiß ich, dass dieses Leben vorbei ist und dass ich nur hier bin, um eine Aufgabe zu erfüllen.«

»Was für eine Aufgabe?«, wollte Grace wissen.

»Euch den Weg zu weisen, zu instruieren und zu begleiten.«

»Was für ein Weg?«, fragte Ed. Seine Stimme drückte tiefe Missbilligung aus. Es war klar, dass er Einstein für einen billigen Trick der künstlichen Intelligenz hielt, um sie zu manipulieren. »Du wurdest doch von ihm geschickt, oder etwa nicht?«

Einstein nickte. »Ja, ich handele im Auftrag des Verbundes. Es ist meine Aufgabe, euch den Weg zu weisen.«

»Das sagtest du schon«, entgegnete Ed ungeduldig. »Also, was willst du von uns?«

»Ihr werdet es in den nächsten Stunden nach und nach erfahren, während ich euch in die komplexen Hintergründe einweihe. Ich möchte vorausschicken, dass es sich um eine extrem wichtige und bedeutsame Mission handelt.«

Eine Mission! Die Wortwahl war David nicht entgangen. Also keine Aufgabe, die sie auf diesem Asteroiden erledigen sollten. Man wollte sie irgendwohin schicken. Aber wohin? Um was zu tun? »Kannst du nicht ein wenig konkreter werden?«

Einstein nickte. »Gewiss. Folgt mir, dann werde ich euch die ersten Informationen geben.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich der Physiker - oder dessen Doppelgänger - um und schritt zur Tür. Er öffnete sie und trat hindurch. David folgte ihm, ohne zu zögern, über die Schwelle. Beeindruckt schüttelte er den Kopf. »Eben war das noch mein Schlafzimmer«, sagte er. Jetzt war da nur ein weiterer Korridor, der dem auf der anderen Seite glich. Nur, dass dieser hier länger war und es weitere Türen in den weiß gestrichenen Wänden gab.

»Wohin bringst du uns?«, fragte Ed misstrauisch.

»Warte ab! Deine Neugier wird sogleich befriedigt werden.« Einstein stoppte vor einer Tür, öffnete sie und trat hindurch.

David trat hinter dem Nobelpreisträger ebenfalls in den Raum, der im Kontrast zu dem hellen Flur sehr dunkel war. Langsam gewöhnten sich Davids Augen an die Dämmerung. Der Raum hatte Ähnlichkeit mit einem Besprechungsraum einer x-beliebigen Firma. Ein großer, rechteckiger Tisch mit einem halben Dutzend schwarzer Ledersitze stand in der Mitte. Die Wände waren mit einer weißen Strukturtapete verkleidet, an einer hing ein riesiger Bildschirm. Die der Tür gegenüberliegende Seite bestand aus einer Fensterfront, die von metallenen Jalousien verdunkelt war.

David schüttelte wieder den Kopf. Nichts hier deutete darauf hin, dass sie sich im Inneren eines Asteroiden am Rande des Sonnensystems aufhielten. Die Außerirdischen hatten offenbar keine Mühen gescheut, eine für Menschen vertraut wirkende Umgebung zu schaffen. Vielleicht bedeutete es für sie aber auch einfach keine Mühe, das Innere des Asteroiden anzupassen.

»Mach doch wenigstens das Licht an«, beschwerte sich Ed.

Einstein schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte, dass sich eure Augen an die Dunkelheit gewöhnen.«

»Und wieso?«, fragte Grace.

»Deswegen«, antwortete Einstein und drückte auf einen Schalter an der Wand. Geräuschlos fuhren die Jalousien nach oben.

David trat ans Fenster. Allmählich gewöhnten sich seine Augen vollends an die Dunkelheit und er blickte in die Unendlichkeit des Weltraums. Sterne breiteten sich vor ihm aus, ein regelrechter Teppich. Aber eigentlich ... sollte er diesen Sternenozean gar nicht sehen dürfen.

Überrascht wandte David sich zu Einstein um. »Wieso sind dort überall Sterne?«

»Nicht überall«, sagte Grace. »Schau mal nach links!«

David sah wieder aus dem Fenster und stutzte. Die Ingenieurin hatte recht. Es war ihm nur nicht aufgefallen, weil er nicht in die richtige Richtung geblickt hatte. Auf der linken Seite war nur Finsternis, von dem Sternozean wie mit dem Lineal abgetrennt.

»Was geht hier vor sich?«, fragte Ed und trat einen Schritt auf Einstein zu.

»Ihr seid intelligente Menschen«, sagte der Physiker und lächelte. »Ihr solltet in der Lage sein, diese Frage selbst zu beantworten.«

David wandte den Blick vom Fenster ab und machte seinerseits einen Schritt auf Einstein zu. »Ich verstehe nicht. Wir sollten uns außerhalb der Sphäre befinden und somit keine Sterne sehen können. Und wenn sie uns ins Innere des Schirms gebracht haben, müsste alles voller Sterne sein, nicht nur eine Hälfte des Himmels.« Er dachte fieberhaft nach. »Oder haben deine Freunde damit begonnen, die Sphäre zu demontieren?«

Einstein lachte leise. »Nein.«

»Dann was?«, fragte David.

»Überprüfe die Annahmen, auf die sich deine Hypothese stützt«, sagte Einstein und lächelte.

»Meine Annahmen?« David war gar nicht bewusst gewesen, dass er irgendwelche Annahmen getroffen hatte. Er hatte es sogar absichtlich offengelassen, ob sie sich innerhalb oder außerhalb der Sphäre befanden. Sie waren doch nicht ... Plötzlich schoss ihm eine Idee durch den Kopf und er begann sofort, zu schwitzen.

»Oh, mein Gott!« David wandte sich wieder zu dem Bereich des Himmels um, der mit Sternen gefüllt war. Verzweifelt bemühte er sich, bekannte Sternbilder auszumachen, aber es gelang ihm nicht.

»Was?«, fragte Ed. »Was ist denn? Sind wir nun außerhalb der Sphäre oder nicht?«

»Außerhalb ...«, krächzte David.

»Und warum sehen wir dann die Sterne?«, wollte Grace wissen.

»David«, drängte Ed. »Rede endlich!«

»Du bist so blass geworden!«, sagte Wendy.

David trat auf sie zu und legte beide Händen auf ihre Schultern. »Wir sind nicht mehr in unserem Sonnensystem.«

Ihre Augen weiteten sich.

»Sie haben uns an die Grenze ihres Einflussgebietes gebracht.« Er zeigte auf die dunkle Hälfte des Himmels. »Das ist der Bereich, in dem ihre Nanomaschinen die Schalen um sämtliche Sterne gebaut haben. Und irgendwo in dieser Schwärze ist unsere Sonne, ebenfalls verhüllt durch eine Dyson-Sphäre, die unser gesamtes Sonnenlicht abgreift, um ihre Computersimulationen zu betreiben.«

Ed schüttelte den Kopf. »Wir sind jetzt in einem anderen Sternsystem? Das kann ich nicht glauben!«

»Es ist die einzige Erklärung.«

»Aber wir hatten an Bord der Helios doch festgestellt, dass die Fremden unsere ganze Galaxis mit ihren Dyson-Sphären umgeben haben«, sagte Wendy.

David nickte. »Ja, das stimmt. Die nächste Galaxis, die wir beobachten konnten und deren Sternenlicht noch nicht von den Sphären abgedunkelt wurde, war M87.« Er drehte sich zu Einstein um. Er traute sich fast nicht, zu fragen. »Wo sind wir?«

Das Gesicht des Physikers, das bislang ununterbrochen ein feines Lächen gezeigt hatte, war völlig ernst geworden. Er blickte jedem Einzelnem in die Augen, bevor er sprach. »Wir befinden uns in einer Zwerggalaxis, die auf der Erde nie katalogisiert wurde.« Die kurze Pause kam David endlos vor. »Etwa einundachtzig Millionen Lichtjahre vom Sonnensystem und der Erde entfernt.«

Im Raum herrschte Totenstille.

Diese Nachricht stellte alles in den Schatten, womit David gerechnet hatte. Mit offenem Mund wandte er sich wieder dem Fenster zu und blickte auf die Sterne, deren Lichter niemals zuvor ein Mensch erblickt hatte.

»Also habt ihr die überlichtschnelle Raumfahrt entdeckt«, schloss Ed mit ehrfürchtiger Stimme. Seinen Sarkasmus hatte er angesichts der neuen Informationen wohl abgelegt.

»Das ist richtig. Vor etwa einer Million Jahren fanden wir einen Weg, schneller als das Licht zu reisen.«

David registrierte diese neue Information mit Verwunderung. Er war immer davon ausgegangen, dass die Fremden sich eben nicht mit Überlichtgeschwindigkeit fortbewegen konnten. Denn dann hätten sich diese Sphären noch schneller im Universum ausbreiten können.

»Und warum hast du uns hierher gebracht?«, fragte Wendy. »Warum ausgerechnet an die Grenze eures Einflussgebietes?«

»Hat es mit dieser Mission zu tun, die du uns aufzwingen willst?«, ergänzte Ed.

David riss sich los und drehte sich rechtzeitig um, als Einstein nickte. »Das ist richtig. Wir wollen, dass ihr dorthinaus fliegt.« Er zeigte auf das Sternenmeer. »Es handelt sich um eine Erkundungsmission. Die Einzelheiten werdet ihr später noch erfahren.«

»Eine Erkundungsmission mit einem überlichtschnellen Raumschiff?«, fragte David.

»Ja, das ist korrekt. Aber, wie gesagt: Ihr werdet die Einzelheiten zu einem späteren Zeitpunkt erfahren.«

David hob die Hand. Irgendetwas passte hier nicht zusammen. »Ich möchte noch mal nachfragen. Ihr habt uns mit einem überlichtschnellen Raumschiff hierhergebracht und jetzt ...« Er verstummte, als Einstein den Kopf schüttelte.

»Nein, ich habe nicht gesagt, dass ihr mit einem Raumschiff transportiert wurdet.«

Ed schaute verständnislos drein. »Nicht mit einem Raumschiff? Aber wie ...?«

»Mittels eines Prozesses, den ihr selbst Quantenteleportation nennt.« Einstein kicherte leise. »Es ist ein Vorgang, von dem ich früher immer dachte, dass er unmöglich sei.«

»Quantenteleportation?«, fragte Ed ungläubig. »Du meinst, unsere Körper sind hierher gebeamt worden? Wie bei Star Trek?«

»Ich kenne die theoretischen und praktischen Arbeiten bezüglich des Themas«, sagte David. »Besonders die Aufsätze von Zeilinger habe ich gelesen. Es ging dabei immer um die Übertragung von Information. Nie von Masse, wie bei der klassischen Teleportation in der Science-Fiction.« Ein Punkt beunruhigte ihn besonders. »Bei den Experimenten auf der Erde musste dafür immer das Originalatom vernichtet werden, bevor seine Informationen auf ein anderes übertragen wurden.«

Einstein lächelte leicht. »Du bist ein aufgeweckter Junge. Und du hast natürlich recht: Die Informationen eurer Körper wurden im Augenblick eures Todes quantenmechanisch mittels eines Verschränkungsprozesses auf hier befindliche Rohmasse übertragen.«

»Im Augenblick unseres Todes?«, fragte Wendy atemlos.

Einstein nickte. »Es ist ein tiefliegendes physikalisches Prinzip, dass bei der quantenmechanischen Teleportation das Original nicht zurückbleiben darf. Sonst könnte man ja auch Doppelgänger herstellen.«

David wurde immer unwohler. »Ich erinnere mich an noch eine Sache aus den Aufsätzen über den Prozess«, sagte er heiser. »Nämlich, dass die eigentliche Information trotz des Quantenprozesses nur mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden kann, um ein Informationsparadox zu verhindern.«

Einstein lächelte. »Auch das stimmt.«

Eine Gänsehaut überzog Davids Arme und Rücken. Sein Magen krampfte sich zusammen. »Aber das würde bedeuten ...« Seine Stimme versagte.

Einstein nickte. »Ja, du hast völlig recht«, sagte er leise. »Seit der Abreise aus eurem Sonnensystem sind einundachtzig Millionen Jahre vergangen.«

Aus dem Augenwinkel bekam David mit, wie Grace neben ihm blass wurde und zusammensackte.

5.

 

»Es ist eine Sauerei«, schrie Ed. »Einfach eine verdammte Sauerei.«

»Jetzt beruhige dich erst einmal«, sagte Wendy. Ihre Stimme klang flach, emotionslos.

»Ich will mich nicht beruhigen«, rief Ed, immerhin mit geringerer Lautstärke.

Einstein hatte die Besprechung gleich nach Graces Ohnmacht beendet und sie in ihre Quartiere geführt, wobei Ed seine Kollegin getragen hatte. Ihre Räumlichkeiten lagen alle entlang des langen, weißen Gangs, durch den sie kurz zuvor gekommen waren. Die Zimmer waren spartanisch eingerichtet und erinnerten David frappierend an günstige Hotelketten. In seinem stand ein Bett mit einer weißen Decke, darüber eine geblümte Tagesdecke. Daneben gab es einen Schreibtisch mit einem dazugehörigen Holzstuhl und einer Stehlampe. Eine Tür aus Milchglas führte in eine kleine Nasszelle. Das einzige, was im Vergleich zu einem Hotelzimmer fehlte, war der Fernseher. Im Schrank lagen einige Kleidungsstücke, die aber nur identische Kopien ihrer Flugkombinationen mit der dazugehörigen weißen Unterwäsche waren. David hatte sich sofort unter die Dusche gestellt und das Wasser auf eisige Kälte eingestellt. Dann war er schluchzend zusammengebrochen, als ihm die volle Tragweite seiner Situation bewusst wurde.

Einundachtzig Millionen Jahre!

Seine Eltern! Seine Freunde! Alle Menschen auf der Erde, die er kannte! Sie alle waren seit über achtzig Millionen Jahren tot. Nicht einmal Staub war noch von ihnen übrig.

Nach langen Minuten hatte er sich aufgerappelt, angezogen und war über den Korridor in den Raum gegangen, den man ihnen als Aufenthaltsraum zur Verfügung gestellt hatte. Er war etwas größer als ihre Quartiere. Ein runder Tisch mit vier Stühlen stand in der Mitte. An der Wand gab es eine kleine Kochnische mit einem Kühlschrank. David war überrascht gewesen, dass Cola darin zu finden war. Die Fremden mussten das Zeug irgendwie synthetisiert haben. Er hatte sich eine Dose gegriffen und neben Ed gesetzt, der - eine ungeöffnete Bierdose vor sich auf dem Tisch stehend – brütend auf einem Stuhl hockte. Nach wenigen Minuten waren auch Grace und Wendy hereingekommen, hatten sich ihrerseits etwas zu trinken aus dem Kühlschrank genommen und sich zu ihnen gesetzt.

»Kann das wirklich wahr sein?«, fragte Wendy. »Ich meine, einundachtzig Millionen Jahre?«

David nickte. »Ich fürchte, ja. Es ergibt Sinn. Wir sind auf jeden Fall am Rande ihres Einflussgebietes. Sonst würden wir die Sterne nicht sehen.«

Wendy schluchzte. »Alle, die wir kannten, sind tot. Gerry! Meine Eltern. Alle tot. Seit Millionen von Jahren schon.«

Grace stand auf, stellte sich hinter Wendy und rieb ihr die Schultern. »Einundachtzig Millionen Jahre«, flüsterte die Ingenieurin. »Diese Zahl ist so gewaltig, dass der Verstand gar nicht hinterherkommt. Ich versuche, mir vorzustellen, wie die Erde jetzt aussieht. Wie die Menschheit sich inzwischen verändert hat. Aber ich komme zu keinem Ergebnis.«

»Kein Wunder«, entgegnete Wendy mit weinerlicher Stimme. »Zu Hause hat vor dreißigtausend Jahren der Neandertaler gelebt. Die gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Menschen lebten vor sechs Millionen Jahren. Achtzig Millionen Jahre vor unserer Zeit war die Kreidezeit. Da gab es noch keine höheren Säugetiere und die Dinosaurier bevölkerten die Erde.«

»So eine verdammte Scheiße!«, fluchte Ed wieder.

»Aber Einstein hat doch gesagt, dass wir mit einem überlichtschnellen Raumschiff aufbrechen sollen«, meinte Wendy. »Also warum haben sie uns mit dieser gerade mal lichtschnellen Teleportation hierher gebracht?«

»Vielleicht haben sie die überlichtschnelle Raumfahrt erst vor Kurzem entwickelt«, vermutete David.

»Sie haben uns den ganzen Weg hierher in diese entfernte Galaxis und diese entfernte Zukunft gebracht, damit wir für sie mit einem Raumschiff auf eine Mission gehen.« Ed schaute jedem Einzelnen in die Augen. »Das ist ein beachtlicher Aufwand und eine sehr lange Vorbereitungszeit für eine Mission. Ganz gleich, wie wichtig oder wie aufwendig sie ist. Und es stellt sich noch eine ganz andere Frage.«

David blickte auf. »Und welche?«

»Die Fremden kontrollieren die Sterne unzähliger Galaxien und haben mit ihrem Verbund eine Rechenkraft aufgebaut, von der die Menschheit nur träumen kann. Sie sind mächtiger, als viele unserer Vorfahren sich Gott vorgestellt haben. Also ...« Ed tippte sich an die Stirn. »Also wieso zum Teufel brauchen sie uns für irgendeine Mission, die sie wahrscheinlich tausendmal so gut mit ihren Nanomaschinen selbst durchführen könnten?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Grace.

Ed wandte sich an David. »Und du?«

David war sich bewusst, dass Ed eine rhetorische Frage gestellt hatte, und schüttelte den Kopf.

»Ich will es euch sagen, denn ich sehe nur eine Möglichkeit. Erstens: Sie sind auf eine andere Spezies gestoßen, die ihnen das Wasser reichen kann.«

»Das ist aber sehr weit hergeholt!«, sagte Grace.

Ed ignorierte sie. »Und nun brauchen sie uns als Soldaten für eine Selbstmordmission!«

David schüttelte den Kopf. Das war wirklich weit hergeholt.

Grace lachte laut auf. »Da geht wohl deine Fantasie mit dir durch.«

»Dann würde ich doch gern einmal deine Theorie hören«, sagte Ed mit eisiger Kälte in der Stimme.

»Ich habe keine Theorie!«, erwiderte Grace. »Ich sage ganz offen, dass ich es nicht weiß und dass wir es wohl in Kürze von Einstein erfahren werden.«

Wendy räusperte sich. »Apropos Einstein. Was haltet ihr von ihm?«

»Was meinst du?«, fragte Grace.

»Ich meine, ob er der echte Einstein ist?« Wendy klang unsicher.

»Der echte Einstein ist tot!«, gab Ed barsch zurück.

»Sie könnten ihn vor seinem Tod genauso gescannt haben wie uns und ihn dann hier wieder erweckt haben«, sagte Wendy.

»Ich bekomme eine Gänsehaut bei dem Gedanken«, flüsterte Grace. »Stellt euch nur mal vor, wozu die Fremden in der Lage wären! Wenn das der echte Einstein ist, was spricht dagegen, dass sie womöglich alle Menschen, die jemals gestorben sind, vor ihrem Tod gescannt haben? Sie alle könnten als Quantensignal durch das Weltall irren, bereit dazu, bei Bedarf irgendwann einmal von einer fortschrittlichen Intelligenz aufgeweckt zu werden.«

»Wenn es nach unseren gläubigen Freunden geht, wird das ohnehin geschehen«, erwiderte David.

»Das hat wohl kaum etwas mit der Auferstehung nach dem christlichen Glauben zu tun«, sagte Ed. David wusste, dass sein Boss nicht nur sehr konservativ, sondern auch gläubig war. »Ich lehne den Gedanken ab. Ich halte diesen Einstein für eine Simulation.«

»Er wirkt so verdammt ... menschlich«, sagte David leise. »Er hat sogar Emotionen gezeigt.«

Ed verdrehte die Augen und hob beide Hände. »Ob Simulation oder Auferstandener. Ich begreife nicht, warum sie uns ausgerechnet Einstein vor die Nase gesetzt haben. Als wollten sie uns unbedingt durch ihre Möglichkeiten beeindrucken.«

»Frag ihn doch, wenn wir ihn das nächste Mal sehen«, schlug Grace vor.

»Oh, das werde ich«, erwiderte Ed und lächelte kühl.

6.

 

Vorsichtig schaute Ed um die Ecke. Jeden Augenblick musste es so weit sein und Einstein aus der geheimnisvollen Tür treten, um ihnen ein Tablett mit Bagels, Muffins und belegtem Toast zum Frühstück zu bringen. Er brachte es immer um dieselbe Zeit, nämlich um Viertel vor sieben. Das verkündete zumindest die analoge Uhr über der Tür der Messe. Einstein stellte das Tablett in den Aufenthaltsraum und verschwand dann wieder.

Abgesehen von ihren Unterkünften, dem Besprechungsraum und dem Aufenthaltsraum, die durch den Korridor miteinander verbunden waren, hatten die Menschen keinen Zugang zu den Räumlichkeiten des Asteroiden. Die Tür, durch die Einstein kam, war ihnen verschlossen. Aber Ed wollte unbedingt wissen, was dahinter lag.

Er hörte das vertraute Geräusch des Schlosses und zog seine eigene Tür bis auf einen kleinen Schlitz zu. Er wartete, bis die schemenhafte Silhouette Einsteins an seinem Zimmer vorübergegangen war und die Schritte verstummten. Dann rannte Ed über den Korridor, bis er die Tür erreicht hatte, durch die Einstein ihren Bereich betreten hatte. In letzter Sekunde schob Ed seine Hand zwischen Türblatt und Schloss. Er griff nach dem Knauf und zog die Tür wieder auf. Ein Blick zurück: Der Korridor blieb leer. Der Doppelgänger des berühmten Physikers war nun in der Gemeinschaftsküche und würde einige Minuten dort bleiben. Bis er zurückkam, musste Ed jenseits der Tür ein Versteck gefunden haben.

Er trat über die Schwelle und blickte einen weiteren Korridor hinunter, der deutlich dunkler war als der in ihrem Bereich. Man konnte gar nicht richtig sagen, woher das Licht kam. Der Gang war schmal, aber lang. Mindestens hundert Meter bis zu einer Biegung. Abzweigungen oder Türen gab es dazwischen nicht und somit auch kein Versteck.

Ed inspizierte die Tür. Auf dieser Seite hatte sie eine Klinke und er stellte befriedigt fest, dass er sie problemlos öffnen konnte, bevor er sie endgültig zufallen ließ. Dann lief er los. Mit federnden Schritten brachte er die Distanz bis zu der Biegung hinter sich, stoppte davor und schielte vorsichtig um die Ecke. Auch dieser Teil des Korridors war leer. Am Ende gab es eine weitere Biegung und auf halber Strecke war auf der linken Seite eine Tür in die Wand eingelassen.

Ed warf einen Blick zurück. Jeden Moment konnte Einstein wieder auftauchen. Er musste dringend ein Versteck finden. Wieder lief er los und brachte das Stück Korridor bis zur Tür hinter sich. Vielleicht hatte er dahinter eine Möglichkeit, sich zu verstecken.

Die graue Stahltür hatte weder eine Klinke noch einen Knauf. Ed drückte behutsam dagegen und konnte sie einfach bewegen. Er brauchte dafür sogar weniger Kraft, als er angesichts der Massivität vermutet hätte. Vorsichtig schob er die Tür ein Stück auf und lugte durch den Schlitz. Der dahinterliegende Raum war klein und ähnelte einer Abstellkammer. Das mochte einmal ein Lagerraum gewesen sein, jetzt war nichts mehr darin. Ed schob sich in den Raum. Schon hörte er die Schritte auf dem Gang hinter der Biegung und schloss die Tür bis auf einen kleinen Spalt. Nur wenige Augenblicke später sah er Einstein vorbeigehen. Vielleicht konnte Ed herausfinden, wohin er ging. Es musste doch noch mehr von diesen Fremden hier geben. Der Doppelgänger konnte schließlich nicht alles allein machen.

Ed wartete, bis Einstein hinter der Biegung verschwunden war und schlüpfte dann wieder nach draußen. Vorsichtig schlich er zu der Stelle, wo der Gang in einem flachen Winkel abbog. Er reckte den Kopf und sah gerade noch, wie Einstein durch eine Tür ging, die sich hinter ihm geräuschlos schloss. Der Korridor selbst ging hinter der Tür noch ein gutes Stück weiter, bis er in eine Gabelung mündete, wo je ein Gang nach links und rechts führte.

Ed schlich bis zu der Stelle, wo Einstein verschwunden war, und achtete peinlich darauf, kein Geräusch zu machen. Die Tür selbst hatte nur einen Knauf und war aus demselben grauen Stahl wie alles hier. Ob Ed es wagen konnte, sie zu öffnen? Was war, wenn Einstein sich direkt dahinter aufhielt?

Ed presste sein rechtes Ohr gegen die Tür. Kein Laut war zu hören. Wenn er herausfinden wollte, was Einstein hier trieb und was vor sich ging, musste er ein Risiko eingehen.

Vorsichtig griff Ed nach dem Knauf. Er stöhnte unterdrückt, denn der ließ sich weder drehen noch die Tür nach vorn schieben. Aber vielleicht konnte Ed hier trotzdem irgendetwas Interessantes finden. Irgendwo musste der Asteroid ja Anlagen oder Maschinen haben. Möglicherweise eine Zentrale oder einen Hangar mit Raumschiffen. Ed konnte sich nicht vorstellen, dass der einzige Weg hier herein oder heraus diese seltsame Quantenteleportation war.

Er schlich weiter, bis der Weg sich gabelte. Die linke Abzweigung mündete in einen endlos lang erscheinenden Korridor. Sein Ende verschwand irgendwo in der Ferne. Nach rechts führte ein weiterer Gang, in dessen Wände mehrere Türen eingelassen waren. Vielleicht war eine davon zugänglich. An der Gabelung blieb Ed kurz stehen und blickte den Weg zurück, den er gekommen war. Er hoffte bloß, dass er sich nicht verirrte. Die ganze Anlage konnte ein riesiges Labyrinth sein. Am besten wäre es, den Weg zu kennzeichnen, aber er hatte nichts, was sich dafür eignete. Ed seufzte und riss sich einen Fetzen Stoff aus seiner blauen Kombination. Er bückte sich und legte ihn ein Stück weit in den Gang, aus dem er gekommen war. Etwas Besseres hatte er leider nicht.

Er wandte sich um und ging den Türen entgegen. An der ersten hielt er an und griff nach dem Knauf.

Verriegelt!

Er versuchte es bei der gegenüberliegenden, aber die war auch verschlossen. Wenn das so weiterging, konnte er gleich umkehren. Verdammt! Etliche Tage waren sie jetzt schon auf diesem kahlen Felsen am Arsch des Universums und immer noch rückte Einstein nicht damit raus, was eigentlich vor sich ging und was die Fremden mit ihnen vorhatten. Ed wollte, dass endlich Klartext geredet wurde. Was war aus der Erde geworden? Was war mit der Menschheit? Und was zum Teufel sollte die ganze Scheiße hier?

Leise fluchte Ed vor sich hin, während er an die nächste Tür trat. Sie hatte keinen Knauf und Ed konnte sie ganz leicht aufdrücken. Er trat ein und gab einen unterdrückten Laut der Überraschung von sich. Er blickte sich um und war beeindruckt.

Der Raum war groß. Ein ganzes Fußballfeld hätte hier Platz gefunden. Die Decke war so hoch, dass ein Dreifamilienhaus ohne Probleme hereingepasst hätte. Aber die größte Überraschung war das Weltall, das er direkt vor sich sah. Die Wand gegenüber des Eingangs fehlte, aber da er noch nicht erstickt war, musste es entweder ein Kraftfeld oder eine unsichtbare Fensterscheibe geben. Der Raum hatte Ähnlichkeiten mit einem Hangar.

Ed trat näher an die gigantische Öffnung heran und streckte die Hand aus. Sofort spürte er Widerstand. Es fühlte sich kalt an, wie eine Fensterscheibe bei Frost. Er vermochte nicht zu sagen, ob es sich um transparentes Material oder um eine Art Kraftfeld handelte.

Er blickte sich im Raum um. Es konnte sich durchaus um einen Hangar handeln. Aber wo waren dann die Raumschiffe? Die Maschinen? Die Ausrüstungsgegenstände? In diesem Raum aber gab es absolut nichts. Die Wände waren völlig glatt und schienen aus demselben grauen, stahlähnlichen Material zu bestehen wie praktisch alles hier. Der ganze Ort war seltsam. Als hätte jemand den Rohbau fertiggestellt und dann zurückgelassen, bevor irgendetwas Brauchbares hergeschafft worden war. Aber das konnte nicht sein, denn es gab eine Atmosphäre, Wärme, Licht, und Einstein schaffte ihnen jeden Tag Essen heran. Also musste es mehr geben. Maschinen, Lager, eine Kommandozentrale, irgendwas. Er hatte es offenbar nur noch nicht gefunden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739420066
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
science-fiction Thriller hard-sf Abenteuer

Autor

  • Phillip P. Peterson (Autor:in)

Phillip P. Peterson arbeitete als Ingenieur an zukünftigen Trägerraketenkonzepten und im Management von Satellitenprogrammen. Neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen schrieb er für einen Raumfahrtfachverlag. Mit "Paradox" gelang ihm ein Astronautenthriller, der 2015 den Kindle Storyteller-Award gewann und 2016 den 3. Platz des deutschen Science-Fiction-Preises erlangte. Trotz seines technischen Hintergrunds stehen bei Peterson die Charaktere und die Spannung im Vordergrund.
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Titel: Paradox 2