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Vulkane, Gletscher, weites Land

Eine Reise durch Patagonien und Feuerland

von Volker Friebel (Autor:in)
84 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch gibt Aufzeichnungen einer Reise von Santiago de Chile nach Süden, bis nach Ushuaia auf Feuerland wieder, wesentlich überarbeitet und erweitert. Im Zentrum steht das Erleben, die Auseinandersetzung mit dem Erlebten, die Vermittlung eines Eindrucks davon, was für ein Land das ist, was dieses Land mit uns macht. Das ist weniger ein Sachbuch, eher eine Erzählung der Wirklichkeit, die etwas vom Zauber dieser Landschaften vermitteln will, von ihrer wilden Schönheit und Einsamkeit, von der Art und Weise, wie sie mit uns zu sprechen bereit sind. Als Erweiterung zum Buch gibt es frei zugänglich eine Datei mit etwa 250 Fotos der Reise.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

 

Zwischen dem südamerikanischen Festland und dem südlich davon liegenden Inselgewirr, mit dem Amerika ausläuft, befindet sich eine Meerenge, die Magellan-Straße. Benannt ist sie nach Ferdinand Magellan, der mit fünf Schiffen die erste Weltumsegelung der Menschheitsgeschichte unternahm und hier im Jahre 1520 durchkam. Das Land am Nordufer der Meerenge nannte er „Patagonien“, nach einem Riesen in zeitgenössischen Rittergeschichten, da ihm die Indigenen von großer Statur schienen. Das Land im Süden der Meerenge nannte er „Feuerland“, der vielen Feuer wegen, die dort bei der Durchfahrt beobachtet wurden.

Heute sind Patagonien und Feuerland zwischen Chile im Westen und Argentinien im Osten aufgeteilt. Wichtiger noch als die Staatsgrenze sind die Anden: Von Norden bis Süden zieht die Kette der Berge durch das ganze Gebiet. Westlich der Anden ist es feucht, östlich von ihnen trocken.

Patagonien umfasst eine Million Quadratkilometer – ungefähr. Die genaue Größe liegt nicht fest, da es keine klare Abgrenzung nach Norden gibt. Patagonien ist das Land südlich des Río Bío Bío auf chilenischer und südlich des Río Colorado auf argentinischer Seite, heißt es manchmal. Gelegentlich wird heute Feuerland dazugezählt, meistens nicht. Jedenfalls ist es groß. Und die Bevölkerungsdichte ist mit etwa zwei Menschen pro Quadratkilometer gering. Die Landschaften Patagoniens sind vielfältig: grünes Hügelland, Regenwald, Flüsse, große Seen, Hochgebirge und die trockene Pampa.

 

Wir fahren im Bus einer Reisegruppe von Santiago de Chile nach Süden, bis nach Ushuaia auf Feuerland, der südlichsten Stadt der Welt. Über viereinhalbtausend Kilometer werden wir zurücklegen. Dieses Buch gibt Aufzeichnungen dieser Reise wieder, allerdings wesentlich überarbeitet und erweitert. Im Zentrum steht das Erleben, die Auseinandersetzung mit dem Erlebten, die Vermittlung eines Eindrucks davon, was für ein Land das ist, was dieses Land mit uns macht. Das ist also weniger ein Sachbuch, eher eine Erzählung der Wirklichkeit, die etwas vom Zauber dieser Landschaften vermitteln will, von ihrer wilden Schönheit und Einsamkeit, von der Art und Weise, wie sie mit uns zu sprechen bereit sind. 

 

Santiago de Chile

 

Ende der Nacht. Ich finde mich wieder auf einem Flug durch den Himmel. Durch das Fenster blicke ich nach draußen und sehe weitere Wunder.

Da sind unter uns die Wolken mit ihrer langsamen Bewegung, die niemand aufhalten kann.

Da ist, noch tiefer, weites Land.

Da ist ein Lichterbogen um die aufsteigende Sonne, der sich zum Kreis schließen will, über dem Wolkenmeer – und unter ihm, wo hier die Anden glänzen und dort die Gräser der Pampa mit der Verwandlung des Lichts beginnen.

Auch die Nachbarn sind erwacht und räkeln sich. Jeder hat seine eigene Geschichte und sein eigenes Ziel. Hier sind wir zusammen im Zauber.

 

Andacht der Wolken.

Ein Mann legt

seine Gebetsbänder ab.

 

 

Chile hat etwa die doppelte Fläche Deutschlands, bei nicht einmal einem Viertel von dessen Bevölkerung. Sechseinhalb Millionen Menschen leben in der Hauptstadt Santiago de Chile. Im gesamten Ballungsraum sind es mit acht Millionen fast die Hälfte aller Chilenen. Im Jahre 1541 von spanischen Eroberern gegründet und gegen heftige Widerstände der Indigenen behauptet, erstreckt sich Santiago am Río Mapocho in einem weiten Talkessel zwischen Küstengebirge und Anden. 

Auf dem Wohlstandsindikator der Vereinten Nationen liegt Chile bei den lateinamerikanischen Staaten an erster Stelle, in der Gesamtliste belegt es den 38. Rang, etwa zwischen Polen (das liegt besser) und Portugal (das liegt schlechter). 

Der Name „Chile“ stammt vermutlich aus einer indigenen Sprache und bedeutet dort „Ende der Welt“. Dieser Begriff wird uns die Reise über begleiten.

Wir landen im erwachenden Tag Santiagos. Ein Bus bringt uns vom Flughafen in unser Hotel. An manchen Straßen sind Baumalleen angelegt, oft aus Platanen. In den Grünstreifen zwischen den belebten Fahrbahnen liegen gelegentlich Menschen. Manche dösen einfach nur, andere sind offensichtlich obdachlos. 

Autoströme. Bettler und Verkäufer dazwischen. Ein normaler Werktag, obwohl viele Chilenen in den Ferien sind. Eine moderne Großstadt, grau und laut.

 

Jacaranda-Blüten ...

Ein Straßenverkäufer läuft

in den Autostrom.

 

Die große Stadt ist nicht unser Ziel, nur der Ausgangspunkt unserer Reise. Wir durchstreifen sie trotzdem. Wie kann man eine so große Stadt besichtigen? Was macht sie aus? Die Parks? Die Regierungsgebäude? Die Geschäftsstraßen? Die Wohnviertel? Die Straßenlokale? Alles davon, das Vielerlei, dem es schwer fällt, ein eigenes Gesicht zu entwickeln.

Die Luft ist schwer vom Smog, sie wirkt heiß und stickig, obwohl das Thermometer nur 25 Grad Celsius anzeigt. Es ist Anfang Januar, das ist hier, auf der südlichen Halbkugel der Erde, Sommer. Gelegentlich erscheint ein Stück blauer Himmel. 

Am Präsidentenpalast ein Brunnen, aus dem eine Taube trinkt. Über den Brunnenrand lehnt sich ein Mädchen, fährt mit der Hand durch das Wasser. Die Mutter zieht es zurück. Fahnen flattern im Wind.

Am Denkmal für Salvadore Allende (1908-1973) liegen Hunde und dösen. Zwei Polizisten stehen davor. Als sie sehen, dass wir fotografieren, gehen sie ein Stück zur Seite, zum Baum, der neben dem Denkmal blüht. Uniformierte stürzten den Präsidenten, Uniformierte bewachen nun sein Andenken. Und den Baum.

In der Kathedrale Schweigen und Licht. Schritte hallen. Das Christentum kam mit den spanischen Eroberern ins Land. Immer noch deutlich mehr als die Hälfte aller Chilenen sieht sich als katholisch an. Allerdings bezeichnen sich heute ein Viertel als atheistisch oder agnostisch. Das Gold der Kathedrale glänzt immer noch. Die Stille des Raums macht andächtig und weit.

Am Rand der Kernstadt liegt der Park Cerro Santa Lucía. Hier riefen die Spanier ihre Stadt aus. Die Indigenen nannten den Hügel, der den Park beherrscht, Huelén, das heißt Schwermut oder Schmerz. Ein schöner Ort. Mit Aussicht über das Häusermeer. 

 

Tauben lassen sich nieder

im Blütenbaum.

Wind vom Pazifik.

 

Weiße Kleeblüten.

Eine Frau liegt auf dem Bauch

im Smog.

 

Aus dem Smog

 

Sprühregen. Wir fahren auf der Ruta 5, der Panamericana, nach Süden, aus dem Smog Santiagos heraus. Das Grau ist nun Wasserdunst, das offene Land bringt uns in eine andere Weite als die der großen Stadt.

Ein Lastwagen mit Obst, Melonenblüten am Straßenrand, ein Stacheldrahtzaun, Stapel leerer Colakisten. Ist da, hinter den Hecken, der Zugang zu einem Lokal?

Wir fahren über den Río Maule. Wild strömt er! Die Brücke quert mehrere Arme. Bald wieder Weinfelder unter dem Himmel. Zwischen Wolken zaghaftes Blau. Doch schon die Vorberge der Anden verschwinden im Dunst. Die Andenkette selbst entzieht sich den Blicken.

Ein angenehmer Sommertag. Immer durchwoben vom Brausen des Motors. Immer im Menschenplaudern. Nie im Schweigen des Himmels.

An der Straße wird Mais angebaut, dahinter weiden Pferde. Eine Pappelreihe säumt den Bach. Überall, wo die Freiheit der Menschen sich ausbreitet: Zäune und Stacheldraht.

Lagerhallen. Riesige Stapel leerer Kisten. Ein Feldweg führt von der Straße in die Weite des chilenischen Zentraltals. Siloreihen an einem Gutshof. Bienenkästen. Die Flüsse und Bäche scheinen wenig bis gar nicht reguliert. Im wilden Wasser die Ruhe gespiegelter Wolken.

Es ist eine schöne Fahrt. Ich lasse mich wiegen von der Bewegung des Busses. Ich schaue und notiere Haiku.

 

Obstfelder.

Die bunten Kleider

der Pflücker.

 

Eine Baracke

im hohen, dürren Gras.

Leere Kisten.

 

Schilfgras.

Im stehenden Wasser spiegelt

die Stille.

 

Strohreihen.

Die Bedürfnislosigkeit

der Wolken.

 

Bunter Markt.

Die alte Señora – starr 

an Ständen vorbei. 

 

Wir schlendern über den Markt von Chillán, einer Stadt mit etwa 170.000 Einwohnern. Erdbeeren und Orangen: Wir haben sie gegessen. Aber die in Deutschland, aus Chile importiert, schmecken besser. Die letzte Süße muss durch die Überfahrt kommen. 

Ich stelle mir vor, wie das Obst in großen Schiffen die Fahrt übers Meer antritt. In den Schiffsbäuchen lagern Zuckerrohr und Kartoffeln, auf dem Oberdeck räkeln sich Erdbeeren und Orangen auf Liegestühlen unter Sonnenschirmchen und lassen sich verwöhnen, bis sie zuckersüß sind.

Elisabeth lacht über meine Fantasien. „Da geht einfach das Beste in den Export“, meint sie. „Die Ware zweiter Klasse bekommen die einheimischen Städter, das sind nun auch wir, und die dritte Wahl bleibt den Pflückern selbst. So ist die Welt.“

Schade! Die Sonnenschirmchen haben mir gefallen.

Wir verlassen den Markt und die Stadt.

 

Wenig später hält unser Bus am Salto del Laja. Ein beliebtes Ausflugsziel der Chilenen. Etwa 35 Meter tief stürzen hier die Fälle des Río de La Laja in die Tiefe. Das ist ein Drittel höher als der Rheinfall bei Schaffhausen, immerhin einer der drei größten Wasserfälle Europas. 

Ganze Familien sind unterwegs, schlendern an den zahlreichen Verkaufsständen vorbei, baden unterhalb der Fälle.

Wasserdampf, Lachen ins Brausen, hüpfende Badeanzüge. Wir lachen mit den Chilenen. Obwohl mich solche Naturwunder sonst still machen.

 

Der alte Señor –

im Rollstuhl schiebt ihn ein Enkel

zum Wasserfall.

 

Zurück geht es über eine Brücke, wir kommen zu Fuß in unsere Unterkunft. Ich spanne mit Elisabeth das Mückennetz über unserem Lager. Dann gehen wir das Gelände erkunden.

Einige Züge im Becken schwimmen – erfrischend! –, obwohl das Wasser nicht sauber ist, sie leiten wohl einfach den Bach hindurch.

Nach dem Abendessen tippe ich auf einer Aussichtsbank meine Notizen ab. Es ist angenehm kühl.

Der Klang des Wasserfalls aus der Ferne. Ein Pfau schreit. Ein Paar unterhält sich leise auf Castellano, schaut in die Richtung des Brausens, hinweg über wucherndes Grün und die Brücke mit vereinzelten Autos. Die Nacht beginnt friedlich und groß.

 

Pfauenschreie.

Die Abenddämmerung

löscht alle Farben.

 

Gegen das Abendlicht

unser Schlafbaum – bewegt

von Pfauenschatten.

 

 

Am nächsten Tag vor Morgendämmern: Ein Hahn kräht. Wir erwachen in das Rauschen der Fremde. Grillen zirpen. Der Wasserfall. Die Pfauen auf dem Wellblechdach und in ihren Schlafbäumen schweigen, unsichtbar geworden vor dem Schwarz der Nacht. Noch schwebe ich wie zwischen dem Traum und einem weiteren Traum, gehoben irgendwie vom Klang des stürzenden Wassers der Ferne.

Was ist Traum, was Wirklichkeit? Es heißt, unsere Wirklichkeit sei nur ein weiterer Traum, um leben zu können. In der wirklichen Wirklichkeit gäbe es das nicht, was wir für wahr halten. Auch nicht diese ersten Autos, die schon über die Brücke fahren.

Wieder sitze ich auf der Aussichtsbank. Da gibt es nur Schauen und Staunen und die Zustimmung zu all der Schönheit durch das Notieren von Haiku.

 

Verblassender Traum.

Ein Hund schlägt an,

vor dem Erscheinen der Sonne.

 

Geräusche der Frühe.

Mein Traum vertieft sich,

wird Wirklichkeit.

 

Ein Hahn kräht.

Das Wasser des Falls in der Ferne

schwebt.

 

Grillenzirpen.

Der Himmel erwacht

in den Himmel.

 

„Schöner Traum,

ende nicht!“ Ich atme aus

in den Morgen.

 

Die Mapuche

 

Der Morgen nimmt seinen Lauf. Der Wasserfall ist schon lange hinter uns verklungen, unser Bus fährt an Holzpoltern vorbei. Ein großer Schornstein raucht.

Bewaldet sind etwa 20 Prozent dieses riesigen Landes. Dass die Forstwirtschaft wichtig ist, liegt nahe. Chile produziert allerdings auch für den Export: Holzpellets, Papier, Möbel.

Unter der Militärdiktatur wurde in den 1970er- und 80er-Jahren der Waldbesitz weitgehend privatisiert und die Forstwirtschaft stark gefördert. Heute wird zu mehr als zwei Dritteln nicht mehr aus natürlichen Wäldern, sondern aus Forsten geschlagen, aus Holzplantagen. Das hört sich gut an – aber mit jedem gefällten Baum verlassen Mineralien den Wald und das Land. Zudem wird gern schnell wachsender Eukalyptus gepflanzt, der sehr viel Wasser benötigt und den Grundwasserspiegel senkt. Bodenerosion sowie die Vergiftung des Landes durch Dünger und Chemikalien zur Schädlingsbekämpfung sind die Folgen. 

Die Holzplantagen befinden sich vor allem ein ganzes Stück südlich der Hauptstadt, im sogenannten Kleinen Süden – und noch weiter südlich, im Großen Süden, dem chilenischen Teil Patagoniens. Diese Monokulturen und der Umgang mit dem Holzeinschlag bedrohen auch die Siedlungsgebiete der Mapuche. Das ist ein anderes Problem Chiles.

Unser Bus fährt nach Temuco, Hauptstadt der Región de la Araucanía im Kleinen Süden mit etwas über einer Viertelmillion Einwohner. Wir überqueren auf dieser Fahrt den Río Bío Bío, den inoffiziellen Grenzfluss zu Patagonien. Temuco ist die wichtigste Stadt der Mapuche, die früher mit anderen indigenen Völkern zusammen als Araukaner bezeichnet wurden. 

Das traditionelle Siedlungsgebiet dieses großen und verzweigten Volkes liegt in der Mitte Chiles, mit einer Ausdehnung von Norden nach Süden von etwa 1.500 Kilometern, es greift auch weit in das heutige Argentinien hinein. Ein Teil der nördlichen Mapuche war von den Inka besiegt worden und ihnen untertan. Gegen die Spanier wandten sich alle.

Die Mapuche sind stolz darauf, als einziges indigenes Volk den spanischen Eroberern anhaltenden und erfolgreichen Widerstand geleistet zu haben. Von Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Jahre 1883 lebten die Mapuche in einem eigenen geschlossenen Staat. Vor dem Eindringen der Spanier waren sie nur lose organisiert und lebten als Halbnomaden in kleinen, weitgehend autarken Familienverbänden. Auch soll keine allgemeingültige Religion bestanden haben. Und sie hatten keine Schrift.

Der unfreiwillige Kontakt mit den Spaniern veränderte die Lebensweise der Mapuche völlig. Und nicht nur durch die Ausbildung von Herrschaftsstrukturen – auch durch eine Umstellung der ganzen Lebensweise auf Krieg. Gefangene Spaniern sollen von Kindern der Mapuche zur Hasserziehung gefoltert, getötet und verspeist worden sein. Konvertierte ein Mapuche zum Christentum, wurde er mit dem Tod bestraft.

Im Jahre 1641 hat die Spanische Krone den Mapuche-Staat nach langen Kämpfen vertraglich anerkannt. Auch das unabhängig gewordene und demokratische Chile erkannte 1825 diesen Staat an. 1861 allerdings wurde eine „Befriedung Araukaniens“ beschlossen, der Mapuche-Staat vereinnahmt und 1883 endgültig unterworfen.

In seinem Gebiet siedelten sich europäische Einwanderer an, auch viele Deutsche, den Mapuche blieben Reservate. Die Lebensbedingungen dort waren ungünstig, so wanderte fast die Hälfte der Mapuche in die Städte ab. Mindestens eine halbe Million Mapuche soll es in Chile heute geben, etwa halb so viele in Argentinien. Die meisten leben in armen Verhältnissen. Gelegentlich gibt es noch Auseinandersetzungen, so im Kampf gegen die Holzindustrie.

Heute sind mehr als zwei Drittel der Mapuche Christen – meist katholisch, mit Elementen ihrer früheren religiösen Vorstellungen.

Ich schließe die Augen. Was bedeutet das nun? Dass der Kontakt mit einer anderen Kultur für die schwächere der beiden den Untergang bringt. Dass sich der durch Widerstand nur hinzieht und für beide Seiten noch blutiger wird. Wir, Nachkommen oder Verwandte der Kolonisatoren, neigen dazu, im Nachhinein Sympathien für die Indigenen, die Unterlegenen zu entwickeln, möchten sie im Nachhinein verstehen, anerkennen, wertschätzen. Im Nachhinein. Wenn es die Inbesitznahme des Landes nicht mehr stört und uns in einem guten Licht erscheinen lässt.

Wir finden es schön zu lesen, dass die Mapuche in ihren Häusern aus Holz und Lehm keinen Fußboden einsetzten, da sie nichts zwischen der Erde und sich haben wollten. Die Erziehung zum Hass auf andere und die Grausamkeit wollen wir natürlich nicht und schreiben sie dem Verhalten der Kolonisatoren zu, die vermutlich, die ganz bestimmt nicht besser waren.

Was wollen wir? Alles mögliche. Jeder mit etwas anderen Prioritäten wollen wir Freiheit, Wohlstand, Sicherheit, Frieden, Harmonie, Mitgefühl, Liebe, Erfolg, Erfüllung, Glück – und bei allem persönlich gut aussehen. Vieles davon ist miteinander schwer bis gar nicht vereinbar. Was will ich? Am besten etwas, worin es keinen Sieg und keine Niederlage gibt.

 

Über der Schulter trägt er

die Hacke.

Morgendämmerung.

 

Am Kornfeld gepflügt

schwarze Erde. Vulkane

im Dunst.

 

Markt von Temuco –

Fischaugen beobachten

ihre Käufer.

 

Die Frau hebt ihr Kind hoch,

für einen Blick

in runde Fischaugen.

 

Die Fischwaage

steht auf Null, in dieser

schweren Luft.

 

Lago Villarrica

 

Wir rollen weiter durch den Kleinen Süden, durch ein Land der Seen und Vulkane. Das Land ist grün. Der Kleine Süden wird auch „Chilenische Schweiz“ genannt. Das ist Vorland der Anden. Es gibt nicht viel zu sagen, nur die Schönheit des vorbeiziehenden Landes aufzunehmen. 

Der Villarrica, ein aktiver Vulkan, ist 2.840 Meter hoch. Weit erhebt er sich über sein Umfeld. Seit Beginn der Aufzeichnungen vor 500 Jahren wurden 50 kleinere Ausbrüche registriert. 

Die gleichnamige Stadt, im Jahre 1552 gegründet, liegt am Fuß des Vulkans, am ebenfalls gleichnamigen See. Wegen Angriffen der Mapuche und einem Ausbruch des Vulkans wurde sie schon 1602 wieder aufgegeben. Und 1897 neu aufgebaut. Inzwischen hat sie etwa 45.000 Einwohner. 

Der Lago Villarrica ist 23 Kilometer lang und hat eine Fläche von 176 Quadratkilometern. Schöne Strände, dahinter wilde Hortensien, ein Blick aus der angenehmen Wärme auf den wunderschönen, auch im Sommer verschneiten Vulkan – das Herz wird weit! Wir lächeln unwillkürlich an diesem Ort. 

Unsere Unterkunft ist in Pucón, einem Städtchen mit 14.000 Einwohnern. Anders als das größere Villarrica liegt es am östlichen Ende des Sees, den Anden zugewandt. Tourismus, Fischerei, Forstwirtschaft: Das sind die wichtigsten Einnahmequellen der Gegend. 

Wir schlendern durch den Ort. An der Hauptstraße reihen sich die meisten Geschäfte. In einer Bäckerei entdecken wir Brezeln, nur klein, mit klobigen Ärmchen – aber wir freuen uns trotzdem. Ein Straßenmusikant mit Rastazopf bläst Didgeridoo und spielt gleichzeitig Hang, seine Finger schlagen aus dem Blech elfenhafte Melodien heraus. Menschen schlendern vorbei. Es ist Leichtigkeit in der Luft. 

Am Strand das weiße Flimmern des Wassers auf dunklem Lavasand. Eine gebrochene Hortensie liegt da, als gehöre sie schon immer und für alle Zeit hierher. Der Vulkan ist allgegenwärtig. Die Spitze seines Kegels bleibt während unseres ganzen Aufenthalts von einer Wolke verhüllt. 

Der Vulkan gibt den Menschen am See einen ganz besonderen Stolz. Obwohl er gefährlich ist und schon manche von ihnen getötet hat.

Es ist seine pure Größe, die zu nichts zu gebrauchen ist. Es ist seine Schönheit, die sich vom Tun der Menschen nicht berühren lässt. Es ist sein Schweigen, das nichts benötigt, um in der Welt zu stehen, keine Gesellschaft, keine Götter, keine Herrscher, kein Arbeiterheer und keine Soldaten.

 

Flug zweier Kiebitze:

Ihre Flügel

tragen das Licht.

 

Auf dem Vulkan-Plakat

sitzt ein Spatz,

wippt mit dem Schwänzchen.

 

Eine Wolke löst Weiß

aus dem Schnee des Vulkans.

Möwen.

 

Vulkane

 

Wenn wir fahren, sehen wir die Straße vor uns und durch die Seitenfenster des Busses das Land, mit Zäunen, Häusern, Tieren, Menschen, Gräsern im Wind. Wir sehen auch den Himmel und die ziehenden Wolken. Eine Karte zeigt uns abstrahiert die weitere Umgebung. Das Lexikon verrät uns noch mehr über das Land, durch das wir fahren – und öffnet unsere Augen neu. 

Wir reisen über einen Abschnitt des Pazifischen Feuerrings, das ist ein Gürtel von Vulkanen, der den Pazifik von drei Seiten umschließt, der nur nach Süden hin offen ist. Seine östliche Seite zieht sich von Alaska bis nach Feuerland, es sind die Amerikanischen Kordilleren, mit den Rocky Mountains und den Anden als bekanntesten Einzelgebirgen. Seine westliche Seite erstreckt sich über Inseln, die der eurasischen Kontinentalplatte vorgelagert sind: Aleuten, Japan, Philippinen, Neuseeland. Im Pazifischen Feuerring befinden sich mehr als zwei Drittel aller im jüngsten Erdzeitalter ausgebrochenen Vulkane. 

Im Laufe der Erdgeschichte sanken die schweren Bestandteile unseres Planeten der Mitte zu, die leichten dagegen stiegen auf. So bildeten sich unterschiedlich dichte Schichten. Die äußerste und leichteste Schicht, die Erdkruste, ist im Durchschnitt etwa 35 Kilometer dick und besteht aus mehreren ozeanischen und kontinentalen Platten, die auf dem darunterliegenden dichteren Erdmantel sozusagen schwimmen und sich dabei gegeneinander bewegen. Das führt zu Spannungen, die sich entladen und Erdbeben verursachen können. 

Die pazifischen Gesteinsplatten tauchen mit einer langsamen Bewegung von wenigen Zentimetern im Jahr unter kontinentale oder andere ozeanische Platten ab. Durch die Reibung wachsen Druck und Hitze und setzen den Schmelzpunkt des Gesteins herab. Hier und da schmilzt Gestein, wird zu Magma, steigt auf und sammelt sich, wenn es nicht mehr weitergeht. Wenn diese Magma-Kammern gefüllt sind und der Druck durch das von unten nachströmende geschmolzene Gestein zu groß wird, kommt es zu einem Ausbruch. Ein Vulkan wird aktiv und speit etwas vom angesammelten Magma aus: Die Erde lässt Druck ab. 

Im Laufe der Erdgeschichte gab es einige Massenaussterben. Am bekanntesten ist das Ende der Dinosaurier, vermutlich nach dem Einschlag eines Asteroiden vor etwa 66 Millionen Jahren. Nicht der Einschlag selbst (seine Energie entsprach etwa einer Milliarde Atombomben vom Typ Hiroshima) wird für die Ausrottung der Hälfte aller Arten auf der Erde verantwortlich gemacht, sondern die Staub- und Aschewolke, die nach dem Einschlag aufwirbelte. Sie stieg bis in die Stratosphäre, verdunkelte wahrscheinlich jahrelang den ganzen Planeten und veränderte das Klima. 

Vor etwa 252 Millionen Jahren fand eine noch größere Katastrophe statt: 95% aller meeresbewohnenden und 66% aller landbewohnenden Arten starben aus. Bei diesem Ereignis wird stark vermutet, dass Vulkanausbrüche verantwortlich waren. Und auch hier wird die Verfinsterung und Abkühlung der Erde als Ursache für das Massenaussterben angenommen. 

Um eine Art aussterben zu lassen, müssen alle ihre Individuen sterben. Die anderen, nicht ausgestorbenen Arten sind von der Katastrophe natürlich auch betroffen – aber bei ihnen haben einige Einzelwesen überlebt. Wie viele Einzelwesen müssen damals insgesamt gestorben sein? Es ist, als würde die ganze Menschheit auf wenige Dutzend Personen reduziert, von denen sich dann zwei wieder finden ... Oder auch nicht. In einer dunklen, kalten Welt ohne Nahrung. 

Die Vulkan-Ausbrüche, die wir aus geschichtlicher Zeit kennen, sind gegen die der Massenaussterben klein. Doch schon der Ausbruch des Tambora 1815 in Indonesien (Stufe 7 auf dem Index der Vulkanexplosivität VEI, mit 160 Kubikkilometer ausgeworfenem Material) führte selbst in Europa zu Hungersnöten, da die Abkühlung wegen des vom Staub zurückgeworfenen Sonnenlichts im folgenden Jahr Ernten in vielen Gebieten verdarb und Schnee bis in den Sommer hinein fiel („Jahr ohne Sommer“). 

Auf unserer Erde sind über 20 Supervulkane bekannt, deren Ausbruch ungleich größere Auswirkungen hätte. Der letzte brach vor etwa 26.500 Jahren aus, auf der Nordinsel von Neuseeland: der Taupo. 

Am bekanntesten unter den Supervulkanen ist der Yellowstone in den USA. Der gleichnamige Nationalpark befindet sich im Krater eines riesigen Vulkans von etwa 80 Kilometer Länge und 55 Kilometer Breite. Aktiver sind Gegenden in Südamerika, etwa das Lazufre-Vulkanfeld in den Anden zwischen Chile und Argentinien. Die Erde hebt sich dort auf einem Gebiet von über 1.000 Quadratkilometern um 3 Zentimeter pro Jahr, ein Zeichen, dass sich die darunterliegende Magmakammer füllt und Voraussetzung für einen Ausbruch – der vielleicht in Zehntausenden von Jahren stattfinden wird. Vielleicht schon wesentlich früher. 

Ein Vulkan speit die Erde aus, als Magma, als mehr oder weniger geschmolzene Steine, als Staub, als Asche und Rauch. Jedes Jahr vollziehen auf der Erdoberfläche etwa 70 Vulkane kleinere Ausbrüche, unterirdische Vulkane wahrscheinlich noch mehr. 

Der Ausbruch des Krakatau in Indonesien im Sommer des Jahres 1883 (Stufe 6 des VEI, mit 20 Kubikkilometer Auswurf) ließ Staub bis in 25 Kilometer Höhe steigen und die Erde drei Jahre lang umkreisen. Der Staubschleier filterte das Spektrum der Lichtwellen nur etwas und führte zu schönen Sonnenauf- und -untergängen. Der Ausbruch von einem oder mehreren Supervulkanen könnte die Erde dagegen jahrelang verfinstern und alles existierende Leben gefährden. 

 

Wir reisen weiter, auf einer dünnen Schale. Mit der wir auf den Tiefen der Erde schwimmen. Ein Haus, eine Straße, eine Brücke über die Schlucht. Alles ist nur einen Augenblick hier, bevor es die Kräfte der Tiefe zermalmen. Dieser Augenblick ist unser Leben. 

Die Kegel der Vulkane sind schön, ihre Krater machen Staunen. Und erinnern daran, wie sehr unser Leben immer am Abgrund steht. 

Die Vulkane sind Riesen. Sie schauen uns an, mit dem einen Auge, das hinter ihren Schneehauben verborgen liegt und aus dem Feuer geboren ist. 

 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739407364
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
Patagonien Reisebericht Feuerland Argentinien Südamerika Chile Haiku

Autor

  • Volker Friebel (Autor:in)

Volker Friebel (*1956) ist promovierter Psychologe und Autor sowohl von literarischen als auch von fachlichen Veröffentlichungen. Er ist selbstständig tätig und lebt in Tübingen.
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Titel: Vulkane, Gletscher, weites Land