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Siebzehn Hundertstel frei

Bunte Steine

von Volker Friebel (Autor:in)
112 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch enthält eine Vielfalt an Texten, von der einfachen Notiz über die Reiseimpression, die Kurzgeschichte bis zum Essay. Wie alle Bücher der Reihe „Bunte Steine“ nimmt es als Schwerpunkt die kleinen Schriften und Erstversionen eines Jahres, ergänzt durch ältere Texte, über die der Autor bei seiner Zusammenstellung gestolpert ist.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

  

Schon immer haben mir kleine Texte besonders gut gefallen, die Sudelbücher Lichtenbergs, die Aphorismen Nietzsches und Verse, davon Haiku als kürzeste Form ...

So entstehen fortwährend auch zahlreiche eigene Texte, mit denen ich nicht weiß, wohin. Vielleicht wird der eine oder andere einmal in einem größeren Werk ein Zuhause finden, zunächst aber versammeln sie sich hier.

Dieses kleine Buch enthält also keine durchgehende und abgeschlossene Geschichte, sondern eine Vielfalt an Texten, von der einfachen Notiz über die Reise-Impression bis zum Essay.

Die Sammlung nimmt als Schwerpunkt kleine Schriften und Erstversionen eines Jahres, ergänzt durch ältere Texte, mit denen ich mich in dieser Zeit beschäftigt habe – ohne starr auf die Tage zu schauen. Dafür schieße ich manchmal ein paar Bilder zu, wenn ein Text danach ruft.

Die Zusammenstellung hat so viel Freude gemacht, dass ich davon gern etwas an die Leser abgeben kann.

 

Volker Friebel

 

Anker

 

Ein Tag vor dem Schirm – so viel Leben aus zweiter Hand, dass die Unwirklichkeit mürbe macht. Dann am Waldbach frag ich die Luft vor mir nach Ankern.

Ein Anker ist das Sitzen am Waldbach, im einen Ton des Wasserfalls, der doch fortwährend neu aus dem Vielen entsteht.

Ein Anker ist der Ton eines Vogels, der durch den Ton des Wasserfalls springt.

Ein Anker sind immer die Wolken, auch die Wolken im Spiegel des Wassers.

Ein Anker ist die Fahrt auf dem Rad, mit dem Wind im Gesicht und den geforderten Muskeln.

Ein Anker ist der Atem, sein Vergehen und wieder Entstehen, sein zur Ruhe kommen auf der Wippe der Stille.

Ein Anker ist bereits das Innehalten am Schirm, wo diese Worte entstanden sind. 

 

 

 

Frühlingsgesänge

 

Frühlingsgesänge.

Ein Blatt auf dem Waldboden

öffnet die Lider.

 

Erste Schlüsselblumen! Und auch der Huflattich ist schon da! Es würde mich nicht wundern, wenn die Erderwärmung hinter den kahlen Bäumen bald Löwen hervorlockt und Papageien die Buchen bekrächzen. 

Vielleicht wird so doch noch etwas aus dem alten Plan der Weltregierung, ausgewählte Bevölkerungsteile vor der aufziehenden Wüste zu retten und in einem großen Kreuzfahrtschiff zum Weihnachtsmann an den Nordpol zu schippern. 

Wenn auch der Boden dort zunächst noch kalt sein mag, wird sich das in den Sommer hinein schon geben. Und jeder Auserwählte bekommt ein Luxus-Apartment! 

Das er allerdings selbst in Stand halten muss, denn im Lande des Weihnachtsmanns sind nicht nur die Frauen, sondern alle Menschen gleichgestellt. 

Aber vielleicht zeigt der Weihnachtsmann doch ein bisschen Respekt vor den unterschiedlichen Verdiensten der Auserwählten. Je verdienstvoller einer war, ein umso größeres Apartment könnte er doch erhalten! 

Und der relativ Beste unter den Verdienstvollen bezieht eine Bretterbude auf einem Ruderboot. 

 

 

 

Die Honigsteige

 

Stoppelfelder. 

Im Abenddämmern verschwindet 

ein Vogelschwarm. 

 

Vom Talgrund der Jagst führt der Weg außen an der Klostermauer von Schöntal entlang, am Haus der Stille vorbei, dann biegt er ab, wird steiler, führt das Tal des Honigbachs aufwärts, teilt sich in Sträßlein und Wanderpfad: die Honigsteige.

Wir sind aus dem Wald herausgetreten, ins Offene, schauen nun links über die Wellen der teils schon gemähten Felder, rechts auf einen Hang mit Obstbäumen und hohem Gras, hinter dem die Straße liegen muss.

Gelegentliche Motorengeräusche, ab und zu pfeift ein Vogel, sonst ist es still. Es ist eine Stille, die zu atmen scheint. Der Tag war heiß, die beginnende Dämmerung bemalt Schleierwolken, lässt sie dichter werden.

Langsame Schritte. Auf der zur Straße gewandten Seite des Pfads stehen Hecken. Ich pflücke und koste die ersten schwarzen Brombeeren. Sie sind sauer. 

Da schließ ich die Augen und denke an damals, an die Wanderung auf dem Jakobsweg, dem Küstenweg, durch das spanische Baskenland mit seinen vielen Brombeerhecken. Ich höre das Meer, spüre die Sonne – und der Geschmack der Beeren wird süßer. 

Das Grün von Teichen zwischen dem Grün der Bäume. So viele Grüns – jede Schattierung kann eine neue Färbung der Hoffnung sein, die jetzt aber schon alt werden muss, im Gewitter der Zeit, dunkler erscheinen und eben damit immer noch schön, vertieft durch den Tod. 

Den großen Hund auf dem Pfad ruft ein Schäfer über den Zaun zurück. Als wir vorbeikommen, wendet er sich ab, seinen Tieren zu. 

 

Wallfahrtskapelle Neusaß. An diesem Ort soll im Jahr 1152 das Kloster Schöntal gegründet worden sein, bevor es wenig später ins Tal verlegt wurde. Das ist umstritten. Eine Marienwallfahrt nach Neusaß jedenfalls ist erstmals für das Jahr 1395 belegt. Auch einen Markt gab es hier. Heute steht nur noch ein Forsthaus, das ist deutlich jünger, wie auch die heutige Kapelle, die geschlossen hat. 

Wir gehen zum Heiligenbrünnle, einer in Stein gefassten Quelle mit Grotte, ein paar Schritte abseits. Blumensträuße, Putten, Kerzen. Maria. Die Augen mit diesem Wasser zu netzen, soll gegen Augenkrankheiten helfen. Über dem Rohr angebracht allerdings eine Warnung: „Kein Trinkwasser“. 

 

Auf dem Rückweg spricht Elisabeth den Schäfer an. Der junge Kerl ist ausnehmend freundlich, nennt uns die Öffnungszeiten der Kapelle: „Wir im Forsthaus haben den Schlüssel“. Auch den Standort der tausendjährigen Linde, die bei der Kapelle stehen soll, beschreibt er uns, es ist gleich hinter dem Forsthaus. 

Zurückgegangen stehen wir am mächtigen Baum und schauen ins dichte Blattwerk, spüren die Zeit. „Tausend Jahre sind weit übertrieben“, summt eine Eintagsfliege. Ich scheuche sie weg. Gut, 500 Jahre vielleicht. Oder einfach: Mächtig und alt. 

Die Wäscherinnen

 

Ein trüber, kalter Vormittag, ein 24. Dezember. Ich gehe nach langer Zeit wieder einmal den Weg von meiner Wohnung zur Universitätsbibliothek. Als Student und Doktorand ging ich hier oft, die Füße finden den Weg auch allein, die Gedanken schaukeln über ihnen träge dahin. Wie sich die Öffnungszeiten seit damals günstig entwickelt haben: Durch die Automation der Ausleihe ist die Bibliothek nun fast rund um die Uhr geöffnet. 

Am alten Nussbaum bleibe ich stehen. Und lache. Denn ich sehe mich drüben stehen, auf der anderen Straßenseite, damals ... 

Bei einem Gang zur Bibliothek war mir aufgefallen, dass sich unter dem Baum Wäscherinnen versammelt hatten, neben ihnen ein Leiterwagen der Klinik mit viel weißer Wäsche. Die Frauen bückten sich ab und zu, aßen etwas. Was konnte das sein? 

Ich ging damals weiter, zu meinen Büchern. Auf dem Rückweg aber betrat ich den Rasen unter dem Baum: Walnussschalen! Hoch in den Wipfel schauen! Einen Walnussbaum hatte ich noch nie bewusst wahrgenommen, hatte gedacht, dass es so etwas nördlich der Alpen gar nicht gäbe. Seither, erst seither sehe ich überall solche Bäume und sammle Walnüsse. Diese Wäscherinnen haben mein Leben bereichert. 

Nun stehe ich wieder hier. Die alte Wäscherei ist Teil der ausufernden Bibliothek geworden. Aber Asphalt, Fußweg, Straße, auch der Rasen unter dem Baum: Alles ist übersät mit Walnüssen! Die Studenten eilen vorbei. Niemand bleibt stehen. Keine Wäscherinnen zeigen mehr in die Wirklichkeit jenseits der Bücher. 

 

Gras, feucht und kalt, 

und nass meine Finger, die eine Walnuss 

berühren. 

 

Meine Tasche mit Nüssen gefüllt, gehe ich weiter zur Bibliothek. Sie hat geschlossen. 

Übern Gebirgskamm

 

Der Verkehrslärm aus Immenstadt und die Motoren der Fabrik für Klebeband am Berg werden leiser, je höher wir kommen. Bald hören wir nur noch das Geräusch der Tropfen, die nach dem Regen am Morgen nun aus den Bäumen fallen – und stärker und stärker einen Gebirgsbach, der angeschwollen ins Tal stürzt.

Wir wandern zwischen Bäumen, dann einen Wiesenweg den Mittag hinauf. Die Seilbahn steht. 

Auf der Terrasse der Bergstation rasten wir. Und blinzeln zum ersten Mal heute in die Sonne, nun schon fast 700 Höhenmeter über Immenstadt. Angekündigt waren schwere Gewitter. 

 

Vor uns liegt die Nagelfluh-Kette, im Norden der Allgäuer Alpen, ein letzter Ausläufer des Hochgebirges, an den sich das Alpenvorland anschließt. Auf den etwa 20 Kilometern der Kette liegen dicht an dicht zahlreiche Gipfel. Der Mittag ist mit 1.451 Metern über dem Meer der erste, der Großhäderich, in Österreich gelegen, mit 1.565 Metern der letzte, dazwischen geht es mal auf, mal ab, über den Grat der Kette, von Gipfel zu Gipfel, bis 1.822 Meter über dem Meer, mit herrlichen Ausblicken über das Land, auf die Alpen, in die ziehenden Wolken.

Nagelfluh bezeichnet das Gestein dieser Gebirgskette, es ist ein nach geologischen Maßstäben junges Konglomerat-Gestein, eine Mischung aus Geröll und Schlamm, die während der Entstehung der Alpen von den Wassern in einer großen Schwemmebene vor den sich langsam erhebenden Bergen abgelagert und von Zeit, Druck und Temperatur verbacken wurde, zu „Herrgottsbeton“. Diese Gesteinsschichten schoben sich auf die europäische Kontinentalplatte und falteten ein Gebirge auf, das nun von uns Eintagswesen betrachtet und bestiegen wird.

 

Der Aufstieg auf den Mittag war steil. Nun erst, in der Höhe, kommt die ganze Schönheit der Berge ans Licht. Die Wiesen sind vom Regen feucht. Der Wanderpfad ist hier und da aufgeweicht, muss umgangen werden. Der Himmel aber hat sich aufgelockert.

 

Die stärkere Realität

 

Ein Tag vor einem flimmernden Schirm. Die Welt wird immer mehr zur Idee von der Welt. Natürlich: Philosophisch betrachtet, war sie das immer schon.

Aber dann draußen, beim Gang zum Markt: Die alte Welt der Vögel und Wolken ist immer noch da. Und das lächerlich unbeweisbare Gefühl einer stärkeren Realität in ihr.

 

Gemüpfelt

 

Eine antike Tragödie, die erste Szene nach der Entscheidung. Der Chor tritt auf, als unterworfenes Volk, und beginnt ein Trauerlied: „Wir sind gemüpfelt!“

Ein Zuschauer lächelt bitter. „Die Gemüpfelten.“ Er hat schon lange aufgegeben darauf zu spüren, wo seine Sympathien liegen. 

Was soll es auch? Er fühlt sich weit über dem gemüpfelten Volk. Auch wenn er weiß, dass er einer der ihren ist. 

„Kuckuck!“, die Uhr an der Wand ruft die zwölfte Stunde aus.

Dann öffnet sich das Türchen noch einmal, der Kuckuck lugt heraus, starrt ihn an und schnarrt: „Gemüpfelt?“

Der Zuschauer seufzt. Ja, könnte einer beantworten, was das Wort genau bedeutet, erhöbe sich der letzte Sturm und die Menschen gewännen alle Welt. 

 

Müpfeln: Meist im Passiv verwendet: „gemüpfelt werden“, „das gemüpfelte Volk“. Weiter Bedeutungshorizont negativer und resignativer Färbung, etwa „betrogen werden“, „ausgebeutet werden“, „geschlagen sein“, „unterworfen worden sein“. Wenn das Wort, was selten geschieht, aktiv gebraucht wird, dann hinsichtlich als minderwertig betrachteter, verachteter Gegenüber: „die müpfeln wir“, im Sinne von: „die nehmen wir aus“, „denen zeigen wir es“, „die mischen wir auf“.

 

Nike

 

Aus einem Stück Marmor am Rand der Kuretenstraße starrt Nike mich an. Sie blieb, die Göttin des Sieges, ihr Gesicht schwer zu deuten, um sie herum Glück und Unglück, Niederlage und Sieg in unterschiedlichen Stadien der Auflösung. 

Hier noch eine Säule ohne Dach, da der Torso eines Gottes, unter uns Pflastersteine, glatt geschliffen vom Tritt der Jahrtausende, überall Wände und Pfeiler und Menschengesichter, als Staub in der Luft, aufgelöst von Regen und Licht. Die Zeit gab sie in den Himmel zurück, wo sie nun schweben, wo sie durch den Atem der Besucher gehen. 

Aus einem Streifen am Horizont taucht die Sonne auf, erleuchtet die leere Bibliothek. 

 

Vom Fries blinzelt 

das siebte Leben der Katze. 

Ephesos. 

 

Die Gänse vom Schwärzloch

 

Gänseweide. 

Verfangen im Maschendraht 

eine Feder. 

 

Wir stehen an der Ausfluggaststätte Schwärzloch bei Tübingen, am Gatter zur Gänseweide. Vor einigen Wochen waren wir schon einmal hier. Jetzt ist die Herde auf ein kleines Häufchen geschrumpft. Wo sind die anderen hin? 

Kürzlich habe ich die Kühltruhen im Supermarkt durchsucht. Und da fand ich sie, als Sonderangebot: billig eine Mastgans aus Ungarn oder Polen, mehr als das Doppelte eine Gans aus deutscher Freilandhaltung. Die Schwärzloch-Wirtin dürfte nach Abzug ihrer Unkosten kaum den Wert von 8 Kilogramm Brot oder ein kleines gebundenes Buch je Leben erlösen. 

Ich sehe, wie diese Rechnung Elisabeth Tränen in die Augen treibt. Und spüre auch welche in meinen. „Aber euer Herz behaltet ihr bis in das Eis“, nicke ich den Gefiederten zu. „Mit Innereien“, bestätigt die Verpackung. 

Man kann sagen, dass die tapfere Wirtin etwas Gutes für die promenierenden Menschlein tut, vor allem für die Kleinen, die beim Anblick der Herde zu strahlen beginnen und sofort Grashalme rupfen, um sie durch den Zaun zu strecken. 

Viel Gutes auch für die Gänse, die ohne Wirtin und Wirtshausgäste nicht in der Welt wären, denen sie diese Spanne Leben geschenkt hat. 

Sie nimmt dafür nur ein kleines Entgelt, für die Unkosten und als Zubrot für ihre eigene Spanne Leben. 

Entgelt? Ein Geschenk also doch nicht. 

Aber ohne die Wirtin und ihre Speisekarte gäbe es keine Gänse, jedenfalls keine Hausgänse. Sie sind nicht lebensfähig in der offenen Natur. Wenn alle Menschen aufhören würden, Gänse zu essen, wäre das Völkchen wohl frei, aber es ginge zu Grunde, auch diese wenigen Monate würden ihm hartherzig gestrichen. Also ein Hoch auf die Wirtin und ihre Gäste am Tisch! 

Doch wenn es entstanden ist, gleich wie und warum, bewegt sich das Leben und strampelt sich frei. Macht sich nicht jeder, der es wieder nimmt, selbst sein Schöpfer, dann schuldig? 

Diese Rechtsauffassung wäre allerdings sehr bedenklich für den großen Schöpfer, den allmächtigen, ohne den nichts geschieht (wenn es ihn gibt). 

Und überhaupt: Wohl jede Gans hat zwischen den Halmen als leckere Beikost den einen oder anderen Regenwurm aus der Erde gezogen und ohne jeden Skrupel verspeist. Unschuldig sind sie selbst nicht. 

Doch ich mag nicht weiter hin- und hersinnen. Ich will einfach die Gänse bewundern, ihre weiße Schönheit, ihre Freiheit im fetten Gras hinter dem Gatter, ihren unverkennbaren Stolz, ihre Aufrichtigkeit, ihren Mut, den sie uns Riesen mit dem Drohen der Schnäbel sofort beweisen. 

Und ich freue mich daran, wie sie lauschen, als Elisabeth mit ihnen spricht, sie lobt, ihnen schmeichelt. Nur noch ganz diesen Moment will ich sein, in dem es keine Probleme gibt, nur die Gänse und uns, gegenüber. 

 

Menschenunschuld. 

Im Flug der Wolken das wechselnde 

Weiß. 

 

 

Tödlicher Realismus

 

Rostbraune Schienen.

Eine Streckengabelung

im Morgengrauen.

 

Wie wir durch die vielen vorgegebenen Wege geprägt sind. Wann gingen wir das letzte Mal frei durch die Welt? Ich versuche, mich zu erinnern. War es wirklich als Junge, durch den Wald meiner Kindheit? 

Gerade im Bereich der Zivilisation die vielen versperrten Räume. Ob es je schon so unfreie Menschen wie uns gab? Wahrscheinlich doch. Wahrscheinlich sollten wir einfach nicht erwarten, weiter als die Menschen vor uns zu kommen. Aber was sonst? 

Nichts kann so tödlich sein wie Realismus. 

 

Der Sommerwind

 

Nach dem Besuch eines Theaterstücks. 

„Glaubst du, die Menschen sind wirklich so kompliziert oder behauptet der Stückschreiber das nur, um ihnen zu schmeicheln?“, frage ich meine Begleiterin. 

Wir treten hinaus in die Nacht, bleiben stehen: „Das ist der Sommerwind“, sagt sie. 

Ich nicke. 

 

Wanderung zum Lej Sgrischus

 

Hinterm Nietzsche-Haus beginnt, mit einigen Stufen hinein in den Wald, ein Wanderweg zum Aussichtspunkt Marmoré. Schon nach wenigen Metern öffnet sich eine weite Blumenwiese. Auf einer Bank am Pfad, der durch das hohe Gras führt, lässt sich gut sitzen, da ist, drei Minuten vom Silser Dorfplatz entfernt, nur der Laut eines Sturzbachs. 

Hinter der Wiese beginnt der Pfad wieder zu steigen, hinein in den Hangwald, in Serpentinen immer höher, über Wurzeln und Steine, abgefallene Nadeln, an Felsen und Blumen vorbei. Alpenrosen. Das Grün von Blaubeeren. An lichteren Stellen Butterblumen. In den Wipfeln der Lärchen und Arven schlägt hier und da ein Vogel an. 

 

Kehre um Kehre 

durch duftenden Wald. 

Von oben Kuhglocken. 

 

Vergissmeinnicht, Hahnenfuß, Walderdbeere – und so vieles, was ich mit Namen nicht kenne. 

Kreuzende Pfade. Ein Drehkreuz aus Holz – Absperrung für die Kühe. De weiden auch hier im Wald, lauter Jungtiere. Der Lärm ihrer Glocken zwischen den Bäumen und Butterblumen. Einige fliehen. Elisabeth hat Stöcke dabei. 

 

Sonnenaufgang 

im Hangwald. Gras bebt vom Rupfen 

der Kühe. 

 

Wir kommen immer höher, durch Hangwald, vorbei an blauem Enzian. Auf Felsplatten geht es über einen Bach. Waldameisen wuseln über den Weg. 

Immer wieder kleine Lichtungen. Der Pfad steigt immer höher. Ein Blick zurück trifft zwischen Bäumen und Wolken auf Schneegipfel. 

Wenn wir allein sind und in den Bergen, schauen wir hoch. Aber im Tal sind die Geschäfte. Die ziehen uns nieder, dort wabert das Gift und der Lärm. Wir sind Individuen. So wird jeder Versuch einer Veränderung scheitern, und alles geht weiter seinen alten Gang, gegen die Vernunft, die dem Menschen eigentlich eigen ist. 

Kühe mit Kälbern starren uns entgegen, entscheiden sich zu weichen. Glückliche Kühe, es gibt sie, hier. Ihre Hörner allerdings wurden entfernt. Sie könnten sich und andere damit verletzen. 

Der Wald wird lichter, endlich verlassen wir ihn ganz. Noch ein paar Schritte im Licht, dann sind wir oben, auf Marmoré (2.199 Meter über dem Meer). Im spärlichen Schatten sitzen, Müsli und Brote. Von der anderen Talseite das Donnern der Sturzbäche. 

Roter Klee, blauer Enzian, Gesellschaften weißer Blumen, Trollblumen, Alpenrosen: So viele Namen und noch mehr hat die Schönheit. 

Über dem Sturzbach der Pfiff eines Murmeltiers. Kuckucksrufe. 

 

 

Eroberung

 

Vom alten Wachturm

der Blick auf die Stadt, erobert

vom Märzdunst.

 

Die Gänseblümchen sehen die Eroberungen nicht. Sie blühen inzwischen das ganze Jahr.

Als Mensch könnte man das beobachten und sagen: Die Gänseblümchen haben die Welt erobert.

Sie beugen sich unter dem Fußtritt, sie richten sich wieder auf, öffnen sich. 

 

Bindungen

 

Jede Gesellschaft braucht Bindungen. Und manche Gesellschaften brauchen einen Feind, um die Bindungen enger werden zu lassen.

Am meisten Feind brauchen Gesellschaften, die so alt und mürbe oder so anonym geworden sind, dass ihr Zusammenhalt unter ein kritisches Maß zu bröckeln droht. Daran, wie stark und gegenwärtig der Feind ist, den eine Gesellschaft heraufbeschwört, lässt sich abschätzen, wie stark ihr Bedarf nach ihm ist. 

Allerdings: Manche Feinde gibt es wirklich. Die meisten nicht, aber doch manche.

 

Keine Wörter

 

Wir haben keine Wörter gelernt für uns selbst, nur für das, was wir tun, für die Zeit, in der wir mit anderen Menschen zusammen sind.

Für dieses unsagbare „Ich“ erfinden wir Bilder – einen Bergsee, eine einsame Kiefer im Schnee, die Wolken, eine Linde, in der Bienen summen.

 

Strand bei Chennai

 

Am Strand spricht mich Rama an. Zu meiner Überraschung ist er kein Gott, sondern ein kleiner, würdevoller Mann mittleren Alters. 

Wie geht es mir? Woher komme ich? Wie heiße ich? Er sei Rama, der Händler. Er zeigt prächtige Muscheln vor und schöne Ketten. 

Eine Gruppe Inder aus dem nahen Chennai meditiert am Golf von Bengalen, lässt sich von Wellen überrollen. 

Ich gehe durch die etwas heruntergekommene Hotelanlage zum Frühstück. Von der Welt außerhalb des Ressorts tönen Motoren und Hupen, in den Bäumen krächzen Krähen. Der Garten ist ein Treffpunkt wilder Hunde. 

Als allererste in Indien hat mich, beim Gang zu den Waschräumen, eine kleine braune Frau im farbenprächtigen Sari begrüßt. Die Sonne ist schon jetzt, am Morgen, heiß, die Luft schwül. 

 

Schaukel am Meer. 

Die Hände der Meditierenden empfangen 

die Sonne. 

 

Indische Frauen: 

Lachend schöpfen sie Wasser 

ins Meer zurück. 

 

 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752128864
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Prosa Haiku Reiseimpression Essay

Autor

  • Volker Friebel (Autor:in)

Volker Friebel wurde geboren an einem Schneesonntag gegen Ende des Jahres 1956 in Holzgerlingen, Nach Wanderjahren und einem Studium der Psychologie mit Promotion ist er tätig als Ausbildungsleiter, Schriftsteller, Musiker und Bildermacher. Er lebt in Tübingen.
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Titel: Siebzehn Hundertstel frei