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Im ausgewilderten Licht

Orte und Wanderungen

von Volker Friebel (Autor:in)
80 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch enthält 19 Erlebnisberichte mit zusammen 34 Farbfotos. Schroff beieinander stehen bedeutende Orte der Menschheit und die einfachen Felsen und Bäume der Nachbarschaft: Galway in Irland, der Ganges mit den Ghats von Varanasi, Sarnath, Calw, Nonnenhorn, der Tai Shan, heiliger Berg der Daoisten, die Kastalische Quelle von Delphi, Tübingen, Hue (Vietnam), eine Busfahrt durch das Hügelland von Laos, Maya-Ruinen, eine Wanderung zum Wolkenfels auf Gran Canaria, die Mitternachtssonne auf einer Reise zum Nordkap, der Tag einer Alpenüberquerung zu Fuß, eine marokkanische Königsstadt und noch anderes mehr ... Aus dem Vorwort: „Weshalb bin ich so gern unterwegs? Weil im Alltag das Leben verkrustet. Sich aufzumachen, ist eine Entschlackungskur. Wie viel meiner Zeit verbringe ich vor einem Schirm und in den Untiefen einer Welt aus zweiter Hand! Hinauszugehen und hinter Bildschirm und Büchern die wirkliche Welt zu sehen und zu spüren, die Normalität der Wolken, der Berge, der Vögel und Blumen, das unmittelbar-wirkliche Leid, das unmittelbar-wirkliche Glück ... Das Wohin ist fast gleichgültig. Es ist das Gehen selbst, die Verbindung des Atems mit dem offenen Himmel, die Berührung von Haut und Wind, die Empfindung des Bodens beim Aufsetzen der Füße mitten in der flutenden Kraft unserer Sonne. Je schmaler der Weg, umso besser. Ab und zu sind Sachtexte ergänzt, zur Einordnung des Erlebten. Fotos helfen der Vorstellungskraft. Und Haiku zwischen Prosa und Bildern konzentrieren, als Momentaufnahmen, die Augenblicke noch mehr. Freuen würde ich mich, wenn es den Texten gelänge, einen Eindruck von der Weite der Welt zu vermitteln, von ihrer Tiefe, von ihrer Einfachheit und den unermesslich vielen Variationen des Seins. Ganz besonders freuen würde ich mich, wenn sich Augenblicke auftun, in denen sich die Seiten des Buchs beleben.“

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

 

Schroff beieinander stehen in diesem Buch bedeutende Orte der Menschheit, wie der Ganges mit den Ghats von Varanasi, der Tai Shan, heiliger Berg der Daoisten, oder die Kastalische Quelle von Delphi – und die einfachen Felsen und Bäume am Wegesrand beim Gang durch die Nachbarschaft.

In einer Blume zeigt sich die Welt, in einem Sandkorn, in einem Blitz, im langsamen Zug der Wolken über das Gebirge. Und überall bin ich zu Hause, bei den Gräsern am Pfad und dem Kiesel, den ich am Fluss auflese und zwischen den Fingern spüre, beim Gang durch Sarnath, wo der historische Buddha seine erste Rede hielt, beim Aufstieg mit Knulp von Calw zur Krokusblüte bei Zavelstein.

 

Weshalb bin ich so gern unterwegs? Weil im Alltag das Leben verkrustet. Sich aufzumachen, ist eine Entschlackungskur. Wie viel meiner Zeit verbringe ich vor einem Schirm und in den Untiefen einer Welt aus zweiter Hand! Hinauszugehen und hinter Bildschirm und Büchern die wirkliche Welt zu sehen und zu spüren, die Normalität der Wolken, der Berge, der Vögel und Blumen, das unmittelbar-wirkliche Leid, das unmittelbar-wirkliche Glück ...

In meinem Arbeitszimmer hängt ein Zitat: „So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch – ich sagte es schon einmal – die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist. –“ (Friedrich Nietzsche, in seiner allerdings verrückten Autobiografie.)

Das Wohin ist fast gleichgültig. Es ist das Gehen selbst, die Verbindung des Atems mit dem offenen Himmel, die Berührung von Haut und Wind, die Empfindung des Bodens beim Aufsetzen der Füße mitten in der flutenden Kraft unserer Sonne. Je schmaler der Weg, umso besser.

Manche sind immer dort. Manche pendeln hin und her. Wer immer unterwegs ist, dem wird die Hauslosigkeit sein Haus. Mir selbst ist eben die Bewegung zwischen den Zuständen das Wichtige, der Bewegung wegen, mehr aber noch, um die Zustände von außen betrachten zu können und nicht, um sich aus dem Gehen einen neuen zu machen.

Wir erinnern nicht Jahre, sondern Momente. Ich habe mich deshalb entschlossen, meine Notizen nicht zu umfassenden Reiseberichten oder Romanen auszuarbeiten, sondern so zu schreiben, wie sich Gefährten einander erzählen.

Wenn Menschen einen Berg betrachten, erlebt jeder ihn anders und wird ihn anders beschreiben. Wir leben in einer gemeinsamen Welt, doch jeder dichtet sie sich anders zurecht. Mich hat diese Verschiedenheit immer gefreut – und gefreut auch, wie sie wieder in ein Gemeinsames mündet und jeden bereichert, wenn wir unsere Geschichten teilen. 

Schon immer zog ich eine dichterische Sprache vor und bleibe nun eben dabei. Ab und zu ergänze ich Sachtexte, zur Einordnung des Erlebten. Fotos helfen der Vorstellungskraft. Und Haiku zwischen Prosa und Bildern konzentrieren, als Momentaufnahmen, die Augenblicke noch mehr.

 

Freuen würde ich mich, wenn es den Texten gelänge, einen Eindruck von der Weite der Welt zu vermitteln, von ihrer Tiefe, von ihrer Einfachheit und den unermesslich vielen Variationen des Seins. Ganz besonders freuen würde ich mich, wenn sich Augenblicke auftun, in denen sich die Seiten des Buchs beleben.

 

Volker Friebel

Tübingen

Wanderung an die Kastalische Quelle

 

Über die blaue Fläche des Golfs von Korinth tanzen Wellen heran. Früher brachten sie Schiffe mit, die landeten im Hafen von Kirra, und Pilger begannen hier ihren Aufstieg, den Hang des Parnass hoch, nach Delphi. 

Die Gaben für den Gott bleiben schon viele Jahrhunderte aus. Der Hafen ist verschwunden, die Wellen verlaufen sich an einem leeren Strand. Sandkörner spülen sie an und Schalen von Muscheln.

Doch das Meer erzählt dieselben Geschichten wie damals.

 

 

Ein Stückchen weiter westlich am Strand haben die Menschen neu gebaut: das Städtchen Itea. Nun, während der Osterfeiertage, sind die Gassen fast leer.

 

Weiße Wäsche

im Wind vom Meer. Ein Hahn kräht

in das Gleißen.

 

 

Wir machen uns auf. Die Straßen des Städtchens. Dann Wirtschaftswege. Die Ebene vor dem Gebirge nimmt ein weitläufiger Olivenhain ein. Unsere Schritte könnten Gebete sein.

 

Im Olivenhain

mit der Stille – ein Kätzchen verbirgt sich

im hohen Gras.

 

Aufgehalten

von einer Nachtigall – die Pilger lauschen

dem Wind.

 

Von fern drängt der Klang einer Motorsäge.

 

 

Vom Sträßchen der Olivenbauern zweigt ein Fußpfad ab in die Höhe. Wir gehen auf Erde und Stein, zwischen Blumen. Der Frühling lockt alle Farben aus dem Boden, wo sie der Sommer verbrennen wird.

 

 

Affodill schwankt.

Wir steigen den Bergpfad hoch,

mit dem Wind.

 

Asphodelus albus. Leicht giftig. Die Todesblume. Auf der Asphodelenwiese des Hades halten sich die Schatten der Verstorbenen auf. Ich streiche mit den Fingern über die Blüten und denke an die Toten meines Lebens.

 

 

Riesenfenchel blüht.

Wir rasten im Schatten

des Windes.

 

Prometheus, so berichtet Hesiod im achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, hat aus der Schmiede des Gottes Hephaistos das Feuer gestohlen und zu den Menschen gebracht, verborgen im Mark eines Riesenfenchels.

Auch der Thyrsosstab war aus dem Stängel des Riesenfenchels gemacht und mit Bändern, Efeu, Weinlaub und einem Pinienzapfen geschmückt. Ihn in der Hand liefen die Mänaden den Hang des Parnass hoch zur Korykischen Grotte und den Festen des Dionysos.

Wir rasten an einer kleinen Kirche am Bergpfad und entzünden einen vorjährigen Stängel. Pusten, pusten, stärker pusten! Langsam frisst sich die Glut durch das verholzte Mark.

Wie haben die Menschen das Feuer genutzt? Wir wollen es hoch nach Delphi tragen, zu den Göttern zurück.

 

 

Weiße Gesichter

von Blumen. Die Schritte der Pilger –

vorbei.

 

 

Hang des Parnass.

Über Ziegen

die Himmelsweide.

 

 

Rast in Chrisso.

Auf dem Dorfplatz die Versammlung

der Sonnenschirme.

 

Der alte Konkurrent von Delphi, Homer zufolge im 14. oder 15. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung von Kretern gegründet, später von Phokern bewohnt, wurde im Ersten Heiligen Krieg der Schutzstädte Delphis 590 Jahre vor Christus zerstört. Angeblich soll die Stadt von den Pilgern Wegzoll verlangt haben.

Heute glucksen wieder die Brunnen. Das Schild am Gitter zeigt ein Osterei. Es ist der 18. April, Karfreitag.

Wir rücken Tische und Stühle zusammen und trinken einen Kaffee. Die Wirtin legt Naschwerk dazu. Der Wirt winkt uns beim Aufbruch nach.

 

 

Uralter Pilgerpfad.

Ein Maschendrahtzahn,

verrostet.

 

 

Hinter dem Maschendraht

Kamillenduft.

Ein Hund knurrt hindurch.

 

 

Pfad nach Delphi.

Ein toter Baum, inmitten

von Blumen.

 

Foto: Der Pilgerpfad.

 

Foto: Der Golf von Korinth. Links am Wasser: Die Häuser von Itea. Kirra, der alte Hafen von Delphi und Ausgangsort unserer Wanderung, liegt links davon, außerhalb des Bilds. Das ganze Tal nimmt ein Olivenhain ein. Rechts das rote Dach des Kirchleins, wo wir rasteten und den Riesenfenchel entzündeten. Fotografiert aus der Höhe von Chrisso, 200 Meter über dem Meer. Nach Delphi müssen wir noch 350 Meter höher hinauf. Insgesamt sind es 15 Kilometer Fußweg. 

 

 

 

Auf einem Mäuerchen sitzen,

im Pfiff

eines Vogels.

 

Ich sehe auf die Bucht von Itea hinab.

 

Weiße Schiffe.

Der Olivenhain brandet

an den Parnass.

 

 

Wir suchen Namen für die Gräser und Blumen am Wegrand. Ein Vogel pfeift Ton um Ton, und jeder Ton ist derselbe. Erst hier sind wir auf den Steinen des einstmaligen Pilgerpfads angekommen, der Jahrtausende alt ist.

 

Stechginster blüht.

Die Rauheit

uralter Steine.

 

 

Wir kommen an einem Aquädukt vorbei, das Wasser vom Pindos-Gebirge bis in das unersättliche, noch ferne Athen führt. Schwalben jagen dicht über dem spiegelnden Blau, schlagen Haken, tauchen in den Himmel zurück.

Und Bienen schwirren. Einmal, zur Mittagsstunde, sollen sie sich auf den Lippen des jungen Pindar niedergelassen haben. Ein Jahrtausend lang galt er als bedeutendster Dichter des Abendlands. Und auch wieder die Anfänge der modernen Dichtung hatten Pindar als Vorbild.

Bienen als Boten der Götter, Honig als Quelle von Dichtkunst und Weisheit ...

Wir sind der Wind.

Wir sind aus dem Staub von Sternen gemacht.

 

 

Pilgerschritte.

Im Dunkel des Bienenkastens

gesammeltes Licht.

 

 

Eine Herde Ziegen geht am Hang des Parnass durch ein Geröllfeld. In gelben Blumenmatten erscheint plötzlich ihr Wächter.

 

Aus dem Brandkraut

starrt ein Hund, am Hals

der gerissene Strick.

 

Wir drehen uns nicht um.

 

Pilger –

selbst durch das Brennnesselfeld,

mit dem Wind.

 

 

Eine Frau sitzt mit ihren beiden Töchtern am Pfad – die ersten Menschen, die uns begegnen. Eines der Mädchen liest laut aus einem französischen Buch. Wir hören sie noch auf den Treppen in das Dorf.

Pensionen, Geschäfte, Tavernen, eine Kirche.

Die Straße vom neuen Dorf Delfi nach Athen führt mitten durch das Ausgrabungsgelände. Wir wandern vorbei am Museum, vorbei an den Resten des Apollon-Tempels und schauen den Hang hinab zum Athene-Tempel, wo die Pilger aus der großen Stadt vor dem Gang zur Kastalischen Quelle und dem Orakel beteten.

 

 

 

Foto: Bahnen für die Athleten über dem Athene-Tempel. Da standen auch Gebäude, wo gelehrt wurde, von Pindar, Platon, Aristoteles. Die Athleten haben in einem von der Kastalischen Quelle gespeisten Becken gebadet. Über den Bahnen verläuft die Straße nach Athen.

 

 

 

In der Tiefe der Landschaft –

blühen Blumen,

liegen Steine.

 

Anfang des 20. Jahrhunderts reiste ein junger Mann durch Griechenland, seine Heimat, Nikos Kazantzakis. Er schrieb:

„Jede Landschaft haben die Griechen durch ihren Kampf geheiligt; sie haben sie einem hohen Begriff unterworfen, und dieser Begriff bildet nun ihren Wesenskern; sie verwandelten auch durch die Schönheit und die beherrschten Leidenschaften die Natur in Metaphysik; sie schoben die Kräuter beiseite, die Erde, die Steine, und fanden darunter in der Tiefe der Landschaft die taufrische Seele. Und dieser Seele gaben sie als Körper hier einen anmutigen Tempel, da einen Mythos und dort einen freudigen, einheimischen Gott.“ 

Er schrieb das in Olympia und meinte die gegeneinander kämpfenden dunklen Mächte des Orients. Ich sehe die Landschaft von Delphi und betrachte die Seele.

Doch ich finde sie nicht unter der Erde, sondern eben in jenem Weggeschobenen, in den Kräutern, den Steinen, im Affodill, im Riesenfenchel, sogar in den Spuren der Wanderer und im Grashalm, den ein Schuh niedergedrückt hat zu den Bröckeln des Ziegenkots.

Wie aber kommen die Tempel hierher? Die Mythen? Die Götter?

Ist es das große Ja zu allen Dingen? Der namenlose Jubel des Lebens, der sich Bilder suchen muss, um laut werden zu können?

Oder die Not? Das Flehen um Hilfe in das Nichts, hier, allein am Hang des Gebirges, am Abhang des Daseins?

Oder gibt es doch so etwas wie den genius loci, den Geist des Ortes? Gibt es etwas, das aus dieser Landschaft heraus zu den Menschen spricht?

 

Im Jahre 392 verbot der christliche Kaiser alle Kultstätten, außer der eigenen. Delphi, schon vorher stumm geworden, verfiel. Von den Hängen der Schlucht lösten sich Felsen und begrub den verlassenen Ort. Die Erde nahm, was nicht schon geraubt war. Ziegenhirten errichteten Hütten im neu aufgeschossenen Gras. Den alten Weg gingen nun sie. Dann wurde eine Autostraße gebaut und auch der Pilgerweg vergessen. Wilde Gräser eroberten den Stein. 

Das Land ist immer noch da, hier, am Hang des Parnass, wo die Musen wohnen, wo Tauben fliegen. Der Kaiser hat abgedankt.

Vielleicht, wenn einer die Worte und Bilder als Worte und Bilder erkennt, lässt er auch andere neben den eigenen gelten. Weil alles, was sich aufrichtig müht, eine Ansicht der Wahrheit in sich trägt, die Wahrheit aber nicht durch ein Bild oder ein Wort alleine ausgedrückt werden kann, zu ihr sich aber die vielen Bilder und Worte ergänzen.

Vielleicht sind es Blumen. Und die Wahrheit ist eine Bergwiese. Hier auf dem Parnass. Vielleicht verwandelt sich hier alle Metaphysik zurück in Natur.

 

 

Pfad zur Quelle –

ein Schmetterling stürzt über Blumen

ins Tal.

 

 

Kastalische Schlucht –

ins Rauschen der Autos verwoben

die Musen.

 

 

Zwischen Felswänden

ein Stück gebrochener Himmel.

Wasser gluckst.

 

 

Das alte Becken des Kastalischen Quells, wo die Pythia badete, wo die Pilger sich wuschen, befindet sich direkt an der Straße nach Athen. Es liegt trocken. Blauregen hängt die Steine hinab. Aller Marmor ist fort.

Der Name des Quells stammt von der Nymphe Kastalia, die sich auf der Flucht vor Apollon in das Wasser stürzte. Ein Trank aus ihm soll die Dichtergabe verleihen. Die Schlucht sperrt Maschendraht. Das Wasser wird aus ihrer Tiefe am Becken vorbeigeführt.

Wir tauchen am Steinsturz unsere Hände in das Strömen. Wir trinken und waschen Mund und Gesicht. Das Wasser ist kühl.

 

 

Hände netzen

und Lippen – am Himmelsrand

das Wasser Kastalias.

 

 

 

Foto: Ältestes Becken der Kastalischen Quelle.

 

 

Foto: Blick vom Becken in die Schlucht.

 

 

 

An einem neuen Brunnen, 20 Meter vom antiken Becken entfernt, sitzt ein junger Grieche, der Wächter des Quells. Er lacht in sich hinein, er lacht und lacht, während Autos halten und Menschen Kanister mit Wasser abfüllen.

 

Kastalischer Brunnen.

Eine Libelle sucht

den trockenen Grund ab.

 

 

 

Wir gehen auf Pfaden am Abhang von Delphi. Wir singen – und lauschen dem Klang unserer Schritte und dem Leben der Landschaft um uns.

 

 

Im Olivenhain eine Baracke,

aufgegeben

an den Wind.

 

 

Im Sturz erstarrte Felsen.

Die Stromleitung

zieht hoch zum Dorf.

 

 

Wilder Hafer im Wind.

Der Vogel kennt

einen einzigen Ton.

 

 

Margeritenhänge

bei Delphi. Aus dem Wind

fallen Tropfen.

 

 

 

Am nächsten Morgen will ich die Schlucht noch einmal besuchen. In der Nacht fiel Regen. Schwere Wolken ziehen. Alleine gehe ich durch das schlafende Dorf. Die Autos am Straßenrand sind Schatten im Schatten. Der Wind ist kühl, er weht von der Schlucht her.

 

 

Delphischer Morgen.

Ein Hahn kräht in die Gewebe

des Vogelsangs.

 

 

Gebete der Vögel

erheben das Morgendämmern –

delphischer Raum.

 

 

Vogelpfiffe.

Im delphischen Morgen lauscht

der Stein.

 

 

Schwebende Blüten –

im Heiligtum erwachen

die Steine.

 

 

Vogelgesänge,

getragen vom anhebenden

Licht.

 

 

Hinter dem Zaun, ein Stück in die Schlucht hinein, liegt ein weiteres, jüngeres Becken, direkt an der Felswand. Auch dieses Becken liegt trocken. Ich erinnere ein Foto aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, das Hugo von Hofmannsthal zeigt, wie er dort trank. Löcher in der Wand lassen die frühere Marmorverkleidung vermuten. Das Wasser fließt an allem vorbei aus der Tiefe der Schlucht, erscheint zwischen Stein und Gestrüpp.

 

Vögel pfeifen. Die Morgendämmerung hebt langsam den Zauber und lässt ihn dabei noch größer werden.

Sind das dort Königskerzen, gewachsen aus dem unbehauenen Fels?

Am Ende der Schlucht steht eine Platane. Ein Pfad führt weiter, endet irgendwo in der Höhe des Himmels.

Ich, darunter geblieben, beuge mich nieder und trinke im Vogelgesang.

Vor mir ein Schatten.

Galway

 

Galway, auf Irisch Gaillimh, ist mit 75.000 Einwohnern die größte Stadt im Westen Irlands. Sie liegt an der Galway-Bucht, etwa in der Mitte von Irlands Westküste.

Die erste Besiedlung erfolgte durch ein Kloster, das aber bald von Wikingern zerstört wurde. Im 13. Jahrhundert wurde der Ort als normannischer Vorposten neu errichtet und erhielt 1396 das Stadtrecht. Vierzehn anglonormannische Adelsfamilien beherrschten Galway über Jahrhunderte.

Heute sind hier zwei Universitäten angesiedelt, die Einwohnerschaft ist jung. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde in Galway überwiegend Irisch (Gaeilge) gesprochen, mit den vielen Studenten setzte sich Englisch durch.

 

 

Foto: Galway.

 

 

 

Vom Flughafen Dublin bringt mich der Bus quer durch die Insel. Wilder Himmel, Wolken ziehen schnell. In den Abend hinein durchfährt der Bus Regenschauer und Sonnenschein. Es ist Vorfrühling.

Im Dämmern Pferde gegen den Rand des Himmels. Satt-gelb blüht Stechginster. Die Nacht naht, löscht die Farben bald ganz. Dann kommt die Stadt, der Bus fährt durch einen weiteren Schauer in den Busbahnhof ein, wo Elisabeths helles Gesicht mich erwartet.

 

 

Im ersten Stock eines Kaffeehauses. Durch Fenster mit Spitzengardinen schauen die Besucher auf die Straße hinab, beobachten die flanierenden Leute. Die Reviere der Straßenmusiker. Ein Laster lädt Bierfässer ab, der Beifahrer rollt sie hinein in den Pub.

Die Straße hinunter in ein Lokal: Fish & Chips – nirgends besser als hier! Die vielen Studenten wissen das auch. Es geht eng und freundschaftlich zu.

Lohan‘s Pub in Salthill, dem Unterhaltungsviertel von Galway. Wir nippen an unserem Guinness. Neben dem Klavier ist ein Tisch für Musiker reserviert, sie spielen um freie Getränke. Den Abend über werden es immer mehr.

 

Irischer Pub.
Das Funkeln im Weinglas
der Geigerin.
 

Eilende Kellnerin.
Am Musikertisch der ‚Neue‘
reibt seinen Bogen.
 

 

 

Ein Ausflugsbus fährt in den Norden, nach Connemara, einer wilden Landschaft mit Heide, Moor und Bergen. Schafe weiden. Menschen sieht man kaum.

Mit dieser Landschaft verbinde ich John O’Donohue (1956-2008), der mit seinem Buch Anam Cara berühmt wurde, verbinde ihn, obwohl er eigentlich vom Burren, der Gegend südlich von Galway, stammt. An eine Lesung in Tübingen erinnere ich mich gern. 

O’Donohue erzählte, dass er in Tübingen Dialektik studiert und über Hegel promoviert habe. Als er aber nach Irland zurückkehrte und den Gesprächen der einfachen Menschen lauschte, fand er gar nichts davon. 

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739323725
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Mexiko Vietnam Reisebericht China Varanasi Tübingen Delphi Indien Haiku Marokko

Autor

  • Volker Friebel (Autor:in)

Volker Friebel wurde an einem Schneesonntag gegen Ende des Jahres 1956 in Holzgerlingen geboren, studierte Psychologie, promovierte und ist tätig als Schriftsteller, Ausbildungsleiter, Musiker und Fotograf. Er lebt in Tübingen.
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Titel: Im ausgewilderten Licht