Lade Inhalt...

Nandini - An den Toren der Erde

von Andreas Feichtinger (Autor:in)
384 Seiten

Zusammenfassung

Wenn der Geist, der alle Wahrnehmung und Tätigkeit verursacht, still und bewegungslos geworden ist, verschwindet die Welt. (Ramana Maharshi)

Nandini hat sich selbst verloren, sie spürt schon lange nicht mehr, wer sie wirklich ist. Ihre Freunde hat sie vor den Kopf gestoßen, finanziell ist sie am Ende und ausgerechnet an ihrem Geburtstag erfährt sie, wer ihre leibliche Mutter war. Entsetzt über ihre Herkunft rennt sie auf die Straße, ein Wagen erfasst sie, schwer verletzt fällt sie ins Koma.
In einer Zwischenwelt trifft sie auf Adinath, eine abenteuerliche Reise durch Licht und Dunkelheit, Triumph und Zweifel beginnt. Wird Nandini der Bedeutung ihres Namens gerecht werden und dem Ruf ihrer Seele folgen? Durchschaut sie den Sinn hinter all den menschlichen Dramen? Erkennt sie die wahre Aufgabe des Bösen und wird sie die Schleier um das Mysterium der Dualität lüften?

Ein Roman über die unendliche Kraft von Gleichmut, Vergebung und der inneren Mitte.


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

 

 

 

Nandini

ERSTER TEIL

 

 

Brahman ist wirklich.

Die Welt ist unwirklich.

Dein Selbst ist Brahman.

 

Shankaracharya
Advaita Vedanta (»Ende des Wissens«)

 

 

Nichts Wirkliches kann bedroht werden.

Nichts Unwirkliches existiert.

Hierin liegt der Frieden Gottes.

 

Aus »Ein Kurs in Wundern«

 

 

 

Wir sind keine Menschen, die eine spirituelle Erfahrung machen.

Wir sind spirituelle Wesen, die die Erfahrung machen, Mensch zu sein.

 

Pierre Teilhard de Chardin

Prolog

 

»Ich führe dich.«

Überrascht drehte ich mich um und versuchte in der Dunkelheit zu erkennen, zu wem diese junge Stimme gehörte. Eine weibliche Gestalt löste sich von einem Holzverschlag und glitt auf einen Waldweg zu.

Ich nahm die Armbanduhr ab und legte sie mit dem Handy in den Landrover. Meine Augen schmerzten, vier Stunden Flug und sechs Stunden Fahrt hatten mich verbraucht. Die eisige Luft ließ mich frieren.

»Es ist nicht weit.« Das Mädchen schien meine Gedanken zu lesen.

Das Klacken der Zentralverriegelung war eindeutig zu laut in dieser Stille. Nochmals schaute ich zurück auf die Staubstraße, die sich in engen Serpentinen vom Tal bis hierher hochschraubte. Einmal mehr wunderte ich mich über diesen seltsamen Ort. Es war nur der Name eines Dorfes gewesen, der vor meinem geistigen Auge aufgeblitzt war. Keine Adresse, keine Koordinaten. Ein paar Augenblicke später der Zeitpunkt unserer Zusammenkunft. Sonst nichts.

Wie immer.

Ich suchte im Dunkeln nach den anderen, war aber offenkundig zu früh. Meine eingerosteten Gelenke schmerzten, ich streckte mich und folgte ihr.

Wir erklommen einen Pfad, der steil anstieg. Alle, die sich hier versammeln sollten, waren angehalten, die letzten Schritte zu Fuß zurückzulegen, schweigend, wie es das Ritual verlangte. Das Mädchen ging für mein Alter etwas zu schnell und war bald im Schatten des Waldes verschwunden. So war ich einmal mehr gezwungen, meiner Intuition zu folgen. Zwanzig Minuten später war ich am Gipfelkreuz angelangt.

»Warte hier«, rief die junge Frau. »Ich sperre von innen auf.«

Ich sah mich um, weit und breit gab es nichts aufzusperren.

»Hier bin ich.« Ihre Stimme schien aus allen Richtungen zu kommen.

Wieder einmal war ich zu sehr nach außen orientiert, ich schloss die Augen, richtete meine Aufmerksamkeit nach innen, sprach mein persönliches Mantra. Mit den Händen formte ich mein Kraftzeichen, mein drittes Auge öffnete sich. Jetzt stand sie vor mir, groß und prächtig. Dort, wo soeben noch das wuchtige Gipfelkreuz mit seinen Stahlseilen gegen den Sturm gestanden war, erhob sich majestätisch unsere Kirche. Die hohen Fenster waren wie immer erleuchtet.

Das Mädchen verschwand im Nebeneingang, nach wenigen Augenblicken hörte ich das Rasseln des Schlosses. Knarrend öffnete sich das Tor, warmes Licht warf Muster auf die Stufen, die hinauf zum Haupteingang führten. Der Schein von einhundertvierundvierzig Kerzen, eine für jeden von uns.

»Sie werden gleich da sein.« Die junge Frau deutete eine Verbeugung an und lief denselben Weg zurück, den wir gekommen waren.

Ich nutzte diesen Moment des Alleinseins und betrat das Hauptschiff. Wie liebte ich den Duft von warmem Wachs. Jedes Mal beeindruckte mich die Schlichtheit unserer Kirche aufs Neue. Der Altar war aus Ebenholz geschnitzt und formte ein Schwert und einen Bogen mit Pfeil. Ich blickte empor zum Gewölbe mit seinen Fresken, sofort erfasste mich wieder die Magie der Symbole hinter den üppigen Darstellungen der zwölf Tierkreiszeichen. Langsam durchschritt ich den Mittelgang und vertiefte mich für einige Momente in jede der Seitenkapellen mit ihren Signa für jedes Zeitalter. Vorne, direkt unter der Kuppel, sah ich sie dann. Einhundertvierundvierzig Stühle mit rotem Samt bezogen, aufgestellt in zwölf Reihen. Nein. Ein Platz war in Weiß.

Der Grund unseres Treffens, geliebter Bruder. Ihre Gedanken erreichten mich vom Portal.

Ich wandte mich um, mit weit geöffneten Armen eilten wir aufeinander zu und umarmten uns. Ich grüße das Licht in dir, meine Schwester.

 

Nach und nach trafen alle ein, die Plätze füllten sich. Jeder schwieg und hielt seine Aufmerksamkeit nach innen gerichtet. Nur der Stuhl in Weiß blieb leer. Eine Stunde verharrten wir im Schweigen.

Um Mitternacht erhob sich die Auserwählte. Sie schritt auf den Altar zu, sank auf die Knie und verneigte sich vor den Insignien unserer Gemeinschaft. Dann stand sie auf und drehte sich zu uns. »Schwester Saella wird nicht wieder kommen. Sie hat ihren Körper abgelegt, ihre Arbeit auf Erden ist getan.«

Wir wussten, was dies bedeutete.

»Ich hatte gehofft, euch ihre Nachfolgerin vorstellen zu können«, fuhr die Auserwählte fort. »Doch Aischa ist uns leider verloren gegangen.«

Ein Raunen ging durch die Reihen.

»Unsere Zeiten werden dunkler, meine geliebten Brüder und Schwestern.« Die Stimme der Auserwählten war leiser geworden. »Kriege, Terror und Naturkatastrophen nehmen zu, wie ihr wisst. Die Erde braucht uns. Wir wollen darauf vertrauen, dass ein Mann oder eine Frau den Weg zu uns finden wird, um Schwester Saellas Platz einzunehmen.«

Wir verharrten in tiefem Schweigen.

Sie wandte sich zu Schwert, Bogen und Pfeil, kniete erneut nieder und berührte mit den Lippen den Boden. Dann stand sie auf, schritt auf ihren Platz zurück und setzte sich.

Bis in die Morgenstunden saßen wir still und baten um Segen für Mutter Erde. Dann, so lautlos, wie wir gekommen waren, erhoben wir uns und verließen diesen geheiligten Ort. Viele wandten sich wie ich noch einmal um, die Kerzen waren erloschen, das Tor geschlossen. Ich richtete meine Sinne nach außen und sah wieder das wuchtige Gipfelkreuz.

Schweigend machten wir uns auf den Weg dorthin, von wo wir aufgebrochen waren. Der chinesische Chirurg in seine Klinik, in der er sein Skalpell dem Arzt neben sich übergeben hatte. Der afrikanische Geschäftsmann zu seinem Kunden, bei dem er mitten in einer Verhandlung aufgestanden und zum Flughafen geeilt war. Die dänische Lehrerin zurück in den Turnsaal, wo sie das Fußballspiel abgepfiffen und ihre verdutzten Schüler nach Hause geschickt hatte. Das deutsche Freudenmädchen in ihre Dachkammer, wo sie sich aus den Armen ihres Freiers entschuldigte. Sie alle waren, wie ich, dem inneren Ruf hierher gefolgt, wissend, dass es keinen Aufschub gab. Die Balance der Erde lag in unseren Händen.

Man sagt, es wäre nie ein Bruder oder eine Schwester einem Treffen fern geblieben. Keinem einzigen seit mehr als fünfundzwanzigtausend Jahren.

 

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, welche Aufgabe mir zuteilwerden würde. Der Ruf ereilte mich Wochen später, ich war tief in meine Meditation versunken. Es sollten mir Einblicke in ihr bisheriges Leben aber auch in ihren weiteren Weg gewährt werden, ohne einzugreifen. Das war Bedingung.

Jetzt, wo ich einen Punkt hinter den letzten Satz meiner Niederschrift setze, muss ich lächeln und doch ist in mir eine tiefe Traurigkeit. Eine gewisse Schwermut, weil ich sie ziehen lassen muss, ein Lächeln, weil ich staune, welch gewaltiger Packen Papier es geworden ist. Dabei hatte ich nie die Absicht, so etwas wie dies zu schreiben. Ich fühlte es eher als zwingende Kraft, die mir gewährten Sichten festzuhalten, eine heilige Besessenheit, ihre Geschichte aufzuschreiben.

Ich blicke aus dem Fenster meiner Klause und frage mich: Wo weilst du mittlerweile, Nandini? So viel von dem, was du erlebt hast, ähnelt meinem Leben. Du lieber Himmel! Dein Leben? Mein Leben? Ist es nicht dasselbe? Sehe ich Berge, Flüsse und Seen schon wieder als etwas von mir Getrenntes? Ich denke, es wird Zeit, wieder in die Stille zu gehen. Meine Erinnerungen haben es einmal mehr geschafft, mich in den Schleiern der Illusionen zu verlieren. Klarheit und Gewissheit, diese werden mir dabei helfen, mich zu erinnern: Wer ich vor meinen Gedanken und Gefühlen immer schon gewesen bin.

Wir werden uns begegnen, Nandini. Mögest du mit deinem Licht allen Suchenden den Weg leuchten.

 

Bruder Konrad

An einem lauen Septemberabend in den Bergen Aragons

 

Kapitel 1

 

Klosterneuburg
2005

 

»Verpisst euch! Lasst mich in Ruhe!« Mit einem Knall fiel die Türe hinter ihr ins Schloss. »Fahrt doch zur Hölle!«

Reitgerte und Helm flogen gegen die Wand und krachten mit dem Foto ihrer Geschwister zu Boden. Ihre Wangen glühten vor Zorn. Sie hatte die Zähne zusammen gebissen, um ihre Tränen zu verbergen, jetzt aber brachen alle Dämme. »Ich hasse euch!«

 

»Kringel, mit den roten Locken,

Sommersprossen, Nabelspeck,

hoch zu Ross mit Stinkesocken,

Katzenmist und Hundedreck.«

 

Nandini schoss zum Fenster und riss die Flügel zu. Dort unten standen sie und hielten sich die Bäuche vor Lachen.

 

»Kringel auf dem Apfelbaum,

Pflegt das Hörnchen und die Eule

Katz` und Frosch im Hosensaum.

Sterben sie, wird sie zur Heule.«

 

Sie fetzte die Rollos hinunter, hechtete zur Zimmertür und tastete nach dem Schlüssel. »Mist.« Susan musste ihn versteckt haben. Erst vor Kurzem hatte sie sich geweigert, ihr Zimmer zu öffnen, war tagelang vom Unterricht fern geblieben und ließ die Mahlzeiten auf dem Esstisch verkommen. Das hatte sie nun davon.

Wie satt sie es hatte. Sie warf sich aufs Bett. Warum wurde sie ständig wegen ihres Aussehens verspottet? Wieso verhöhnten ihre Geschwister sie, wenn sie Rosenstolz etwas ins Ohr flüsterte, Katzen aus den Bäumen rettete oder Frösche zum Teich dirigierte? Warum äfften sie alle nach, sobald sie im Garten tanzte, auf einem Bein die Treppe auf und ab hüpfte oder mit Emmanuel sprach?

»Nandini führt schon wieder Selbstgespräche.« Nicht nur ihre Kameraden aus der Klasse schüttelten den Kopf, auch manche Lehrer rieben sich das Kinn, wenn sie sich zuflüsterten: »Dieses Kind! Nandini ist anders als die Anderen.«

Sie schob sich hoch, trat zur Wand und drehte den Spiegel zu sich. Zugegeben, für ihr Alter war sie zu klein geraten. Mit den Fingern walkte sie ihre Speckröllchen. »Du fettes Ekel!« Wie sie sich dafür hasste! Auch für die fülligen Schenkel in den immer zu kurzen Hosen. Und erst diese grässlichen Pullis! Aber was sollte sie tun? Alle hier waren gezwungen, Kleidung aus zweiter Hand zu tragen. »Nein, Mutter. Das ist Mode von vorgestern!«, hatte sie am Vorabend gerufen und sich geweigert, diese alten Klamotten anzuziehen. »Sei froh, dass du lebst!« Immer dieselbe Leier von Susan. »Nimm es, sonst ist Rosenstolz gestrichen!« Ständig wurde sie mit ihrem Pony erpresst. Vergeblich hatte sie versucht, wenigstens die zweitschönste Jacke aus den Spendenkartons für das Waisenhaus zu ergattern. Dieses scheußliche Ding mit dem Blumenmuster, wie sie darin aussah!

Am schlimmsten aber empfand sie ihr rotes Strubbelhaar und diese entsetzlichen Sommersprossen. Ihre Frisur mit den wie Finger nach oben ragenden Haarbüscheln brachte ihr den Spitznamen Kringel ein. Der Heimweg von der Schule wurde zum Spießrutenlauf, wenn ihre Geschwister hinter ihr herjagten und ihr diesen verhassten Namen nachjohlten. Wie oft war sie deswegen mit Rotz und Tränen in ihrem Zimmer gesessen oder aus ihrem Schlaf hochgefahren, um den Rest der Nacht in ihren Träumen auf ihre Brüder und Schwestern einzuschlagen.

Ihr tränennasser Blick glitt über ihr Gesicht. Das Einzige, was sie an sich mochte, war das Vergissmeinnichtblau ihrer Augen. Auf die war sie stolz, ja, diese liebte sie. Wie ihren Namen. Nandini. Das klang schön, hatte etwas Weiches. Sie griff nach dem Tischtuch und wickelte es um den unteren Teil des Spiegels. Ein letzter Knoten, jetzt konnte sie ihn betrachten, den kleinen Ausschnitt, der nur ihre Augen verriet. Endlich. Sie versank in den eigenen Seen tiefen Wassers.

 

»Kringel, mit den roten Locken,

Sommersprossen, Nabelspeck ...«

 

»Haut ab!« Sie preschte zur Tür und riss sie auf. »Verschwindet!«

Vor der Tür standen Kurt, Georg, Maria und Eva. Sie machten auf dem Absatz kehrt und rasten die Treppe hinunter.

Nandini schlug die Tür hinter ihnen zu. Das war zu viel. Sie musste abtauchen in ihre Welt, die freundlicher war als die Wirklichkeit da draußen. Sie klemmte den Stuhl unter die Klinke, eilte zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Jetzt war der Raum in warmes Orange getaucht, alle Gemeinheiten aus ihrem Reich verbannt. Vor dem Bett kniete sie nieder und schob Bücher, Pullis und Socken beiseite. Andächtig, als ob es etwas Heiliges wäre, zog sie ihre Ledermappe mit den Zeichnungen hervor. Sie angelte nach der Schatulle mit den Stiften. Das war ihr Geheimnis, war ihr Trost. All diese Farben, der Geruch des Papiers öffneten Tore zu ihren wahren Welten. Zärtlich strich sie mit den Fingern über die Mappe, erfühlte das raue Leder, erinnerte sich, wie sie den fleckigen Einband in einer Mülltonne vor dem Wirtschaftsgebäude entdeckt hatte. Immer wieder verbarg sich dort unnütz Gewordenes, sie angelte es hervor, dann schummelte sie sich mit ihrer Beute in ihr Zimmer und versteckte alles unter ihrem Bett. Sie schloss die Augen, blähte die Nasenflügel und roch an dem gegerbten Leder. Diese brüchige Mappe, ja, das war das Kostbarste, das sie je gefunden hatte.

Seufzend zog sie eine Zeichnung nach der anderen aus dem Ledereinband. Jede stellte eine Szene dar, in der Lily ein Abenteuer bewältigte. In ihrer Fantasie ließ sie ihre Heldin über Regenbogen flüchten, Brücken durch die Himmel bauen oder die Zeit zurückdrehen. Es gab keine noch so brenzlige Lage, aus der Lily nicht mit List und Geschick entkommen konnte. Wie stolz sie auf ihre Zeichnungen war. Wie viele Nächte war sie über ihre Entwürfe gebeugt gesessen, um Lilys Erscheinung mit ihrem inneren Bild in Einklang zu bringen. Dutzende Skizzen landeten im Papierkorb, den sie am Morgen, bevor die anderen wach wurden, zu den Mülltonnen brachte und unter weggeworfenes Zeug stopfte. Denn eines hatte sie sich geschworen: Niemand sollte Lily und ihre geheime Welt jemals zu Gesicht bekommen.

»Helft mir!« Nandini rotzte in ihr Shirt. »Lily! Emmanuel! Bitte holt mich hier raus.« Sie bat Emmanuel oft um Hilfe, schließlich war er ihr Schutzengel. Immer war er da, wenn sie Rat suchte, doch heute flehte sie ihn an: »Nimm mich fort von hier.«

»Ich bin hinter dir!«

Wieder hatte sie das Gefühl, seine Arme zu spüren. Sie schloss die Augen, übergab sich seiner Führung. Ohne nachzudenken, sprang sie hoch, ihr Innerstes verschmolz mit den Echos aus anderen Dimensionen. Ihr Körper begann sich zu winden, vollführte erst eine, dann eine zweite Drehung. Sie beugte sich, trippelte vor und zurück, ihre Bewegungen wurden fließender, spürte, wie sich ihre Verzweiflung in Ruhe verwandelte. Das innere Schwarz verzauberte sich in Weiß, danach in goldenes Licht. Immer kraftvoller drehte sie sich, zu Musik, die unhörbar war für irdische Ohren. Sie tanzte, wurde getanzt, gab sich hin, fühlte sich leicht, voller Würde, war aufgeregt und dennoch ruhig. Für alle Ewigkeiten dort verweilen zu dürfen: Das war ihre tiefste Sehnsucht.

Ein Rütteln an der Tür riss sie aus ihrer Welt. »Mach die Tür auf! Das Essen wird kalt!«

Nandini erstarrte. Susan stand vor der Tür. Ihr inneres Zuhause zerstob wie welke Blätter im Herbstwind. Sie biss sich auf die Lippen und überlegte, ob sie nicht antworten sollte. Doch da war die Erinnerung an das letzte Mal, als sie nach Tagen wieder am Esstisch Platz genommen hatte. Zum Abendbrot, das zu einem Gefecht des Schweigens und verstohlener Blicke verkommen war.

Sie kapitulierte. »Ich komme gleich.«

»Beeilung, alle warten auf dich.«

Verloren verstaute Nandini ihre Zeichnungen unter dem Bett, verstreute Pullis, Socken und Hosen, um die gewohnte Unordnung wieder herzustellen. Ein Blick in den Spiegel ließ sie die Tränen von den Wangen wischen und die Haare richten. »Völlig sinnlos!« Sie zeigte sich selbst die Zunge, entfernte den Stuhl unter der Türklinke und trottete mit hängendem Kopf, ihre Seele im Schlepptau, zum Esszimmer.

Schweigen ergriff den Raum, als sie eintrat. Alle Geschwister starrten auf ihre Teller und schlürften ihre Suppe. Sie schob sich auf ihren Platz, tat so, als hätte sie die unausgesprochene Rüge nicht bemerkt, die im Raum hing wie dichter Nebel. Ihre Ziehmutter saß am Kopf des Tisches. Ihre hagere Gestalt mit dem etwas zu langen Hals, der kantige Schädel und das graue, streng nach hinten gekämmte Haar erinnerten sie immer an einen Geier. Ihre Gesichtszüge waren hart und unnahbar. Ihr Blick glitt hinab zu Susans Händen. Sie hatte schöne, schlanke Finger, die stets gepflegt waren. Einmal nur gehalten werden, dachte Nandini. Mam spüren. Ein Bild schob sich vor ihr inneres Auge, in dem sie von Mama liebevoll umarmt und gestreichelt wurde. Ein Rieseln lief durch ihre Wirbelsäule. Sie sah hoch, begegnete Susans Blick. War da ein verstecktes Lächeln?

Nandini richtete sich auf. Es war einer der Momente, in denen sie sich am liebsten an den Hals ihrer Ziehmutter geworfen hätte. Sich ausweinen, so lange, bis alles Unerlöste erlöst, alles Unausgesprochene ausgesprochen war. Die tiefe Sehnsucht nach ihrer Mutter öffnete ihr Herz und schnürte ihr die Kehle zu.

»Du riechst nach Reitstall, Nandini.« Wieder diese Kälte in Susans Augen. »Wasch dich, bevor du zu Tisch kommst. Hast du mich verstanden?«

Die Rüge traf sie wie ein eiskalter Guss. »Ja, Mutter.«

»Kurt, Georg, Maria und du, Eva.« Susans Stimme schnitt wie ein Messer durch den Raum. »Lasst Nandini in Ruhe und hört mit euren Hänseleien auf. Sonst droht Hausarrest.«

Georg strich sich seine geölte Locke aus dem Gesicht. »Aber sie hat doch ...«

»Kein Wort mehr.«

Alle starrten betroffen auf ihre Teller und löffelten schneller als zuvor.

Susan suchte Nandinis Blick und nickte.

Nandini schluckte. Es war das erste Mal, dass Mutter für sie Partei ergriffen hatte. Wenigstens das, dachte sie. Endlich ist sie einmal auf meiner Seite.

Kurt neben ihr hatte seinen Ellbogen an ihre Lende herangeschoben. Er holte aus und hieb zu. Der Schmerz fuhr Nandini bis in den Schädel. Sie biss die Zähne zusammen, streckte ihr Bein und trat mit dem Absatz in sein Schienbein.

»Kotzbrocken«, presste Kurt hervor, seine Finger verkrallten sich im Tischtuch.

Aus den Augenwinkeln versuchte Nandini zu erkennen, ob Susan etwas mitbekommen hatte. Diese rührte schweigend in ihrem Teller und hielt den Kopf gesenkt.

Nandini grinste. Erst jetzt merkte sie, wie sie sich an ihre Serviette klammerte. Sie löste den Griff, strich das Papier glatt, nahm den Löffel zur Hand und begann, ihren Namen in die Suppe zu schreiben.

Kapitel 2

 

Sechs Jahre später

 

Der Duft von frisch gebackenem Brot durchzog das Haus. Nandini lugte um die Ecke. Das Esszimmer war hell erleuchtet, der Tisch festlich gedeckt. Susan hatte zu ihren achtzehnten Geburtstag das beste Geschirr auftragen lassen, Kristallgläser und Stoffservietten unterstrichen den feierlichen Rahmen.

Sie schlich zurück in ihr Zimmer und schloss leise die Tür. Gleich würden ihre Geschwister und die gut gemeinten Ratschläge ihrer Ziehmutter über sie herfallen, außerdem mochte sie es nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Ein letzter Blick in den Spiegel. Seit sie Yoga praktizierte, kleidete sie sich in Pluderhosen und übergroßen Shirts. Wie sie ihre Brüder und Schwestern kannte, konnte sie sich auf Gemeinheiten und spitze Bemerkungen über ihre Erscheinung gefasst machen. Hektisch löste sie den Schal und wickelte ihn neu, um ihren Busen zu kaschieren.

Am Gang wurden Stimmen hörbar.

Nandini drehte sich zu den Kartons, die zur Abreise am nächsten Tag bereitstanden. Vier von ihnen enthielten die Mappen mit den unzähligen Bildergeschichten mit Lily, die sich über die Jahre zu ihrem persönlichen Tagebuch entwickelt hatten. Ihrer kleinen Heldin hatte sie all ihre Sorgen, Konflikte und Sehnsüchte anvertraut, daher hielt sie seit Tagen ihr Zimmer verschlossen, um sie alleine zu verpacken.

Sie überprüfte noch einmal, ob die Klebebänder hielten, horchte, ob jemand am Flur war, dann schnappte sie sich eine warme Decke, schlich sich aus dem Raum, nahm die andere Treppe und verließ das Haus durch den Hintereingang. Sie musste zu ihrem Kraftplatz im Garten, um ihre Gedanken zu ordnen.

Der Stein unter den Bäumen war ihr zum Freund geworden in all den Jahren, die sich in der Zeit verloren hatten. Der Herbst hatte seine schönsten Farben ausgepackt, ein kalter Wind trieb Berge von Blättern vor sich her. Wie oft war sie hier gesessen und hatte mit Mam und Pa gesprochen. »Warum dieser Unfall? Wie konnte es sein, dass nur ich überlebt habe?« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Mam, Pa«, flüsterte sie, »gebt mir bitte Kraft und Mut.« Noch einmal glitten ihre Augen über jedes Detail dieses Gartens, den sie so lieb gewonnen hatte.

Das Knirschen von Schritten ließ sie hochfahren. Susan kam auf sie zu, zwei Gläser in der Hand.

»Da bist du ja.« Ihr Blick war streng, beinahe prüfend, als ob sie sich fragte, ob ihr Pflegekind reif genug war, in die Welt entlassen zu werden.

Ihr Atem wurde kürzer. Nach so vielen Jahren wurden ihre Handflächen immer noch feucht, wenn ihre Ziehmutter auftauchte.

»Ich habe soeben mit Doktor Clement Details besprochen, was Rosenstolz betrifft.« Susans Tonfall war sanfter als erwartet. »Es sieht gut aus. Darauf stoßen wir an, was meinst du?«

»Oh Mam, danke!« Nandini stand auf und nahm das Weinglas. »Das ist echt cool! Wann kann er nachkommen?«

Susan lächelte. »Immer wenn du dich freust, nennst du mich Mam. Sonst bin ich für dich Mutter. Fällt dir das auf?« Ohne auf Nandinis Frage einzugehen, hakte sie sich bei ihr unter und zog sie den Kiesweg entlang. »Du wirst dir dein Geld einteilen müssen, als Floristin verdienst du anfangs nicht viel. Die Miete, das Handy und jetzt die Einstellgebühr. Da bleibt dir kein Spielraum, Kind.«

Nandini schluckte. Das wusste sie selbst, sie konnte rechnen. Doch ohne Rosenstolz war ein Leben in einer so großen Stadt undenkbar.

»Aber um deine Frage zu beantworten«, fuhr Susan fort. »Ab Jänner, in knapp sechs Wochen. Diese Zeit wirst du ohnehin brauchen, um dich in der Gärtnerei einzuarbeiten.«

»Ja, Mam, das ist mir klar.« Sie legte Entschlossenheit in ihre Stimme, um erwachsen zu wirken.

Susan bog mit ihr in einen Seitenweg. »Hast du mit Doktor Clement schon über den letzten Kaufpreis gesprochen?«

»Ja, habe ich. Ich bekomme Rosenstolz fast geschenkt. Zweihundert Euro. Er hat mir nur das Versprechen abgenommen, gut auf ihn aufzupassen. Ehrlich, Mam, hast du da die Finger im Spiel gehabt?«

Susans Gesicht wurde ernst. »Nein. Ich vermute, sein Sohn steckt dahinter. Er hat wohl einen Narren an dir gefressen. Aber jetzt ist das ohnehin kein Thema, wo du abreist.«

»Paul?« Nandini spürte, wie sie errötete. »Einen Narren gefressen? An mir?«

Susan blieb stehen. »Schlag dir das gleich wieder aus dem Kopf, mit dreißig ist er zu alt für dich. Denk an deine Zukunft!« Sie ging langsam weiter. »Dann müssen wir uns nur noch um den Transport kümmern.«

»Oh ja, der Transport.« Sie zupfte Susan am Arm. »Mam?«

»Ja?«

Nandini suchte nach den richtigen Worten. »Hab ich dir jemals danke gesagt, dass du mir Rosenstolz ermöglicht hast?«

Susan schien zu überlegen. »Du hast immer vor dich hingeträumt, Nandini«, sagte sie endlich. »Stets warst du mit deinen Gedanken irgendwo, nur nicht dort, wo man dich gebraucht hätte. Es war sicher Zufall, dass uns Doktor Clement genau in dieser Zeit das Angebot gemacht hat, dass einer von euch auf Rosenstolz reiten darf. Ich weiß bis heute nicht, warum, vielleicht wollte er etwas Gutes tun oder seine Pferde mussten bewegt werden.«

»Das wusste ich gar nicht.«

Susan zuckte mit den Schultern. »Nein, aber mir war damals sofort klar, dass das eine Chance war, dich mit den Füßen auf die Erde zu bringen. Die Arbeit mit Tieren erfordert Disziplin.« Sie lächelte. »Also musste ich mir etwas einfallen lassen, wie ich dich dazu bringen konnte, reiten zu lernen.«

»Dir etwas einfallen lassen?«

»Ja. Du hattest zwar immer schon eine Liebe für die Tierwelt, aber für Rosenstolz die Verantwortung zu übernehmen, ihn regelmäßig zu bewegen und das ganze Reitzeug in Ordnung zu halten, das habe ich dir zu dieser Zeit, verzeih mir, nicht zugetraut.«

Nandini blickte zu Boden. »Ich glaube, damit hattest du damals wohl recht.«

»Aber ich wusste auch, wie neugierig du immer warst«, fuhr Susan fort. »Keine versperrten Kästen, keine zugeklebten Kuverts, die du nicht heimlich geöffnet hast.«

»Mam!« Nandinis Ohren begannen zu glühen.

»Lass es gut sein. Ich habe Doktor Clements Angebot in einen Umschlag gesteckt und verschlossen auf den Küchentisch gelegt. Dann schrieb ich deinen Namen darauf und habe ihn gleich wieder durchgestrichen, um ihn durch einen anderen zu ersetzen.«

»Mist!« Nandini wusste, wie es danach weiterging.

»Ja. So konnte ich sicher sein, dass du aus der Haut fahren und dein Recht einfordern würdest, Rosenstolz reiten zu dürfen.« Susan blieb stehen und sah sie an.

»Oh Mam, ist mir das peinlich!«

Ihre Ziehmutter drehte sich um und schlenderte weiter. »Habe ich ...« Sie blickte über ihre Schulter, jetzt schien sie nach Worten zu suchen. »Habe ich dir jemals gesagt, wie stolz ich auf dich war, wie rasch du diese Kunststücke auf Rosenstolz vollführen konntest, mein Kind?« Sie kam auf sie zu und legte ihr die Hand auf den Arm.

Nandini starrte sie an und schluckte. Wie hatte sie sich jahrelang nach Lob und einer Geste der Liebe von ihrer Ziehmutter gesehnt. Doch in diesem Moment war sie nicht in der Lage, Susans Worte in ihr Herz zu lassen. »Ach ja, beim Voltigieren«, sagte sie schnell und drehte sich weg. »Du meinst die Schere und den Spagat.« Die plötzliche Nähe war ihr unerträglich.

»Ja.« Susan zog die Hand zurück, ihre Stimme war mit einem Schlag rau. Schneller als zuvor ging sie auf das Wohnhaus zu. »Schere und Spagat, so heißen sie.«

Nandini schlich ihr verdattert nach.

Kurz vor dem Eingang hielt Susan inne. Sie angelte umständlich ein Kuvert aus ihrem Mantel und reichte es ihr. »Ein Geschenk für dich. Alles Gute zum Geburtstag.«

»Danke.« Nandini nahm den Umschlag. »Ein Brief?«

Susan nickte.

Nandini blickte auf die Adresse.

Frau Nandini Birago

c/o Kinderheim »Hainhausen«

Ulmenweg 28, 3400 Klosterneuburg

 

Sie drehte den Brief um, als Absender stand in kunstvoll geschwungenen Lettern:

 

Kunstakademie Salzburg

 

»Was ist das?«

»Mach ihn auf.«

Nandini öffnete den Umschlag, zog ein Schreiben hervor und begann zu lesen.

 

Sehr geehrte Frau Birago,

nach Durchsicht Ihrer uns zugesandten Bilder hat unsere Kommission beschlossen, Sie ab dem kommenden Sommersemester zur Meisterklasse »Schule der Gestaltung« zuzulassen. Wir beglückwünschen Sie zu ihren ausdrucksstarken Arbeiten und freuen uns, Sie im Kreise unserer Nachwuchskünstler begrüßen zu dürfen.

Bitte nehmen Sie zwecks Abklärung weiterer Details Kontakt mit unserem Sekretariat auf.

 

Nandini spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Was um Himmels willen soll das? Hast du in meinen Sachen gekramt?«

Susan starrte sie mit aufgerissenen Augen an. »Nein! Wie kommst du darauf?«

»Aber woher weißt du von meinen Zeichnungen?«

»Gott behüte. Du hast sie jahrelang in den Mülltonnen vergraben, da habe ich sie wieder herausgezogen und gesammelt. Stück für Stück. Eine Auswahl daraus hab ich an die Akademie gesandt.«

»Du hast was?«

»Ich dachte, ich mache dir damit eine Freude.«

»Du hättest mich wenigstens fragen können.« Nandini wurde schwindlig, sie schnappte nach Luft. »Du hattest nicht das Recht dazu, Mutter! Du hasst ... das ist ...« Sie zerknüllte den Brief, schleuderte das Glas auf den Boden und rannte ins Haus.

 

Nandini wagte nicht, das Licht in ihrem Zimmer anzudrehen. Vor ihr standen die Kartons mit den Scherben ihrer innigst gehüteten Welt. Sie sank auf ihr Bett und vergrub das Gesicht in den Händen. Was alles hatte Susan zu Gesicht bekommen?

Ihre Gedanken fühlten sich an wie klebriger Honig. Ihre Ziehmutter hatte ihre Zeichnungen nach Salzburg geschickt. Wer wusste noch von Lily, ihren Sorgen und Sehnsüchten? Ihre Hände waren schweißnass. Wie nackt sie sich fühlte, wie auf einem Präsentierteller vorgeführt. Sie angelte nach einer Decke und schlich zur Tür. Weg, nur weg von hier.

Draußen im Korridor hörte sie hektisches Flüstern, Susan scheuchte ihre Geschwister auf die Zimmer.

»Du lieber Himmel!« Ihr Herz raste. Wussten etwa auch ihre Brüder und Schwestern von den Zeichnungen? Doch nein, sie hätten sie mit diesem Wissen an die Wand genagelt. Das konnte sie ausschließen.

Sie legte das Ohr an die Tür, horchte, bis es still war, und griff zur Türklinke. Ein Klopfen ließ sie mitten in der Bewegung innehalten. Der Schlüssel war an seinem Platz. Unter der Tür sah sie Licht aber auch einen Schatten. Wer immer vor ihrem Zimmer stand, hätte eintreten können.

»Nandini?« Es war Susan.

Sie schwieg.

Ihre Ziehmutter klopfte ein zweites Mal. »Nandini? Wir sollten reden.«

Nandini bebte. Nein!, schrie sie innerlich. Einem Blitz gleich nahm eine geheimnisvolle Kraft von ihr Besitz, wirbelte ihren Körper herum, die Hände streckten sich zur Zimmertür. Sie spürte, wie schwarzes Licht aus der Mitte ihrer Handflächen in Richtung ihrer Mutter schoss. »Was willst du reden?«, schrie sie. »Es gibt nichts mehr zwischen uns! Gar nichts. Geh und lass mich in Frieden!«

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sich die Schritte ihrer Ziehmutter entfernten. Funken von Lust und Triumph blitzten in ihr auf. In ihrem Inneren, weit unten in einer dunklen Ecke, gab es einen Schatten, der diesen Moment mit geifernden Lefzen einsaugte. Fast zärtlich legte er den Fehltritt, dessen Susan sich schuldig gemacht hatte, in eine Schatulle, zu all den anderen Verletzungen, um daraus ein Geschoss zu formen. Eine Kugel, um sie abzufeuern. Auf die Welt. Oder auf sich selbst.

Bleierne Schwere schob sich über ihr Inneres, das Bild verschwand.

Ihr war speiübel. Sie fühlte sich wie eine Fremde in einem wächsernen Körper. Nacken, Kiefer und Handgelenke glühten vor Schmerz, sie versuchte, durchzuatmen. Weg, nur weg von hier.

 

Sie brauchte kein Licht, um zum Reitstall zu finden. Die Umrisse mehrerer Pferde hoben sich gegen das Dunkel der Dämmerung ab. Leise pfiff sie ihre drei Töne, um Rosenstolz zu rufen. Sofort kam Bewegung in das Rudel, ein Schatten löste sich und kam auf sie zu. »Komm her, mein Prinz!«, flüsterte sie und öffnete die Arme. Doch wenige Meter vor ihr stoppte Rosenstolz, blähte die Nüstern und stieg hoch. Beide Vorderbeine ruderten in der Luft, die Hufe donnerten zu Boden, Rosenstolz fegte zur Seite, schlug mit den Hinterbeinen aus und galoppierte wiehernd davon. Die anderen Pferde stoben in alle Richtungen auseinander. Nandini beobachtete entsetzt dieses Schauspiel, so etwas hatte sie noch nie erlebt.

»Eine Glanzleistung!« Jemand hinter ihr applaudierte.

Sie fuhr herum.

Paul musterte sie mit besorgtem Blick.

 

»Mit oder ohne?«

»Mit.«

Eine verstaubte Glühbirne tauchte den Sattelraum in gedämpftes Licht. Paul stellte eine Zuckerdose und zwei Tassen auf den Amboss. »Setz dich.« Er schob sich auf die Holzbank.

Sie ließ sich ihm gegenüber nieder, Paul langte nach einer Thermoskanne und goss Tee in beide Schalen.

»Heiß, gib acht.« Er nahm seine Tasse, blies in sie hinein und blickte sie an. »Und?«

Ihre Gedanken rasten. Er wollte sicher wissen, warum sie sich um diese Zeit hier herumtrieb. »Also«, sagte sie und nestelte an ihrer Bluse. »Weil ich morgen abreise und Rosenstolz erst in ein paar Wochen wiedersehe ... Ach ja, danke, dass ich ihn so günstig haben kann. Hab ich das dir zu verdanken?« Wie hoffte sie, das Thema wechseln zu können.

Paul zuckte nur mit den Schultern und nippte an seinem Tee.

»Okay, also, da dachte ich, oder besser, da kam in mir so eine tiefe Sehnsucht hoch, du weißt ja, wie lieb ich Rosenstolz habe, und bis Jänner, das ist eine lange Zeit ...«

»Zoff mit Susan?« Er stellte die Tasse ab.

»Nein, überhaupt nicht.« Sie räusperte sich. »Ich wollte ihm nur einen Apfel bringen, morgen wird es hektisch, da kann es sein, dass ich keine Gelegenheit mehr dazu habe.«

»Warum zittern deine Hände?«

»Tun sie nicht.« Sie schob sie unter ihre Pobacken.

»So richtigen Stunk, hm?« Paul stand auf, griff ins Regal und holte eine Keksdose hervor. »Sind nicht mehr jung, aber was Besseres gibt`s hier nicht. Nimm.«

Sie langte nach einem Lebkuchen und verschlang ihn auf einen Sitz. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war.

»Mein alter Herr kennt Susan schon eine ganze Weile«, brummte Paul und fischte sich gleichfalls einen Keks aus der Dose. »Wahrscheinlich sind es zwanzig Jahre oder so, vielleicht mehr. Er meint, sie sei hart, aber herzlich.«

Nandini befeuchtete ihren Finger und las jeden Brösel vom Tisch auf. »Hart ja, herzlich nein.«

»Soll aber eine gute Frau sein, deine Mutter.«

»Sie ist nicht meine Mutter.«

»Gott im Himmel, das weiß ich.« Er schob ihr die Dose hin. »Lang zu. Sei gnädig, soviel ich weiß, hatte sie ein schweres Leben. Hatte vor vielen Jahren einen Mann. Ist früh gestorben, weiß der Teufel. Soll sich versoffen haben oder so. Hat sie uns nie Genaues drüber erzählt, sie sagt immer nur, Gott habe ihn ihr genommen. Danach allein diesen Laden zu führen, den ganzen Haufen, ich meine, euch alle zu bändigen. Kann schon sein, dass man da mal die Nerven wegwirft.«

»Sie hat die Nerven nicht weggeworfen, sie hat mich verraten.« Sie biss sich auf die Lippen. »Das mit dem Mann, das hat sie uns nie erzählt.«

»Warum sollte sie?« Er warf ein Stück Zucker in seine Tasse. »Ihr seid Kinder.«

»Ich bin kein Kind mehr.«

»Herrje, nein. Das bist du nicht, im Gegenteil.« Er musterte sie. »Du bist inzwischen zu einer bezaubernden Frau herangewachsen.«

»Ich muss jetzt wieder.« Verlegen stand sie auf, griff nach der Decke und drehte sich weg. Er sollte nicht sehen, wie sie rot anlief.

»Bleib doch.« Paul fasste sie bei der Hand und zog sie zurück. »Wir sollten Rosenstolz einfangen. So kannst du ihn nicht zurücklassen.«

Sie setzte sich wieder, vermied es, ihn anzusehen, und schlürfte weiter an ihrem Tee.

»Was willst du wirklich hier?«, fragte Paul nach einer Weile.

Nandini atmete tief durch. »Okay. Ich hatte vor, bei Rosenstolz zu übernachten.«

»Hier übernachten? Da ist mein Alter aber arg dagegen, das weißt du, oder?«

»Ich dachte, nur heute. Ausnahmsweise.«

»Weil du morgen abreist. Na, du hast Ideen. Lass mich nachdenken.« Paul überlegte. »Gut, ich nehme es auf meine Kappe. Dann schläfst du heute Nacht in seiner Koje. Aber du erzählst niemandem davon, hörst du? Sonst stehen hier bald alle Schlange und wir sind hier ein Reitstall und kein Hotel.«

Nandini atmete erleichtert auf. »Das ist lieb von dir. Danke!« Sie hielt ihm die Hand hin. »Versprochen. Top.«

»Top.« Er klatschte ihr die Hand ab, umfasste schnell ihre Finger und drückte sie. »Bin gerne für dich da, das sollst du wissen. Wollen wir deinen Prinzen einfangen?«

»Okay.«

Er wuchtete sich hoch. »Rosenstolz hat sich vorhin eigenartig verhalten. Hast du eine Erklärung, warum?«

»Keine Ahnung.« Für einen Augenblick blitzte das Bild vor ihr auf, wie sie Susan angeschrien hatte. »So hab ich ihn noch nie erlebt«, flüsterte sie und zog den Kopf ein.

Sie tauchten in die Nacht hinaus.

 

Paul schnalzte mit der Zunge, das Rudel kam auf ihn zugelaufen. Rosenstolz blieb in einiger Entfernung stehen. »Ruf ihn.«

Nandini pfiff abermals die drei Töne, Rosenstolz schnaubte und setzte sich in Bewegung. Paul öffnete das Gatter, Nandini lief auf ihr Pony zu und fasste es am Halfter. »Brav, mein Prinz, so ist es gut!« Sie streichelte seine Blesse und kraulte ihm die Ohren. »Ist ja wieder gut.«

Paul schloss das Tor hinter ihnen. »Ich lass euch jetzt alleine. Gib mir dein Wort, dass du keine Dummheiten machst.«

»Ehrenwort.«

»Gut.« Paul lächelte, dann marschierte er auf das Wohnhaus zu.

»Paul?«

Er drehte sich um.

»Könntest du ...?« Sie schluckte. »Wenn du schon für mich da sein willst, wäre es möglich, dass du mich morgen nach Salzburg fährst?«

»Ich soll dich nach Salzburg fahren?«

Nandini nickte.

»Was wird deine Mutter dazu sagen?«

Nandini blickte zu Boden.

Er fuhr sich mit den Händen durch die Locken. »Nichts lieber als dass, Nandini, nur ...« Er überlegte. »Mal sehen. Ich kläre das morgen. Rechne nicht fix damit, aber ich tu, was ich kann.«

»Danke, Paul, vielen Dank! Gute Nacht!«

»Ich zeig dir noch, wo du Decken findest, die eine wird nicht reichen. Es wird kalt.«

 

Nandini richtete sich ihr Lager ein und legte sich hin. Rosenstolz machte ein paar Schritte vor und zurück, dann stand er still.

Hat der Tag doch noch gut geendet, dachte sie, gähnte und rollte sich ein. Morgen also war der Tag, an dem sie endlich das Waisenhaus hinter sich lassen würde.

Sie zog die Decken zurecht, im nächsten Augenblick fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Kapitel 3

 

In den Wäldern des Ural
3000 v.Chr.

 

Nan’dahar fror entsetzlich und hatte Hunger. Sie holte aus, warf den Stein, so weit sie konnte, und duckte sich. Die Wölfe wirbelten herum und stoben den Schneehang hinauf.

Ein paar Augenblicke später waren sie hinter der Kuppe verschwunden. Sie hetzte los, auf die Reste der Ziege zu, die die Meute in Stücke gerissen hatte. Gierig stopfte sie sich blutige Fleischbrocken in den Mund, drehte sich dabei im Kreis, achtete auf jede Bewegung. Die Wölfe konnten jeden Moment zurückkommen, dann war sie deren Beute.

Endlich war sie satt, sie wischte sich über die Lippen. Geduckt preschte sie zurück in Richtung ihrer Höhle. Die Nacht würde klirrend kalt werden, ihre Felle waren zerrissen und boten kaum noch Schutz vor dem eisigen Wind. Sie war Kälte gewohnt, doch heute war es besonders schlimm.

Erschöpft erreichte sie den Eingang, schob einen Felsbrocken zur Seite, legte sich auf den Bauch und zog sich durch die Öffnung. Der Geruch von Exkrementen stieg ihr in die Nase. Schnell zog sie den Stein wieder vor den Zugang, jetzt war es stockfinster. Sie griff nach ein paar Fellen, die sie sich mit den Sehnen eines Rehs zu einer Decke geheftet hatte und schlüpfte darunter. Nun musste sie warten. Warten auf die Schritte jener Frau, die bereits täglich an ihrem Unterschlupf vorbeieilte.

Sie starrte ins Dunkel. Seit sich die Blätter verfärbten, war sie diesem Mädchen mit den Pelzen an Füßen und Schultern nachgeschlichen, hatte sich ihr bis zur Hütte von Ayo’ham an die Fersen geheftet. Wenn diese Frau in seiner Kaluppe verschwunden war, hatte sie sich hinter die Bretterwand gekauert, um die beiden durch eine Ritze zu beobachten.

»Lass uns fortgehen«, gurrte sie jedes Mal.

»Ich habe noch Geschäfte zu erledigen.«

»Dann sag mir endlich, wann!« Die Stimme des Mädchens wurde in diesen Momenten immer eiskalt. »Ich ertrage meinen Mann nicht mehr. Er ekelt mich an! Schau her!« Sie griff sich an die Schulter, löste eine Nadel aus ihrem Umhang, der weich zu Boden glitt. »Deine Belohnung, wenn du mich mit dir nimmst.« Nackt stand sie vor ihm. »Ich gehöre dir, mach mit mir, was du willst.«

»Oh, Sady’aya.«

Nan’dahar ballte die Fäuste, wie sie die beiden hasste. Seit dem letzten Mal schien er bereit zu sein, mit ihr fortzugehen. »Nimm nur das Nötigste mit«, hatte er ihr nachgerufen, als sie davongeschlichen war.

Sie musste sich beeilen, sonst war die Gelegenheit dahin.

Die Kälte ließ sie zittern. Ihre Hand tastete nach dem Stein, den sie sich sorgsam ausgesucht hatte. Jeden Schritt hatte sie sich überlegt, bis ins kleinste Detail. Sie brauchte nur Geduld zu haben. Das Mädchen wird wieder kommen.

Kapitel 4

 

Klosterneuburg

Nandini schoss die Treppe hinauf. »Die nehme ich selbst, Paul! Die dort im Eck, die ist schwer.«

»Gut.« Paul wuchtete eine Kiste hoch.

Sie stemmte sich die letzte Schachtel mit ihren Zeichnungen auf die Schulter und schleppte sie die Stiegen hinunter. »Ich glaub, das war`s dann.«

»Ich schau, dass nichts verrutscht. Kannst dich schon mal verabschieden.« Paul beugte sich in den Fond seines Wagens und schob einige Gepäckstücke zurecht.

Ihre Geschwister standen wie verloren umher, unbeholfen in ihre Handys vertieft.

»Bis bald dann mal.« Mit einem eisigen Lächeln drückte Nandini Susan und ihren Brüdern und Schwestern einen flüchtigen Kuss auf die Wangen, kletterte in den Wagen und atmete erleichtert durch.

»Das war ja herzerweichend«, knurrte Paul, ließ den Motor an und fuhr die Auffahrt hinab.

Nandini beobachtete Susan im Rückspiegel, wie versteinert blickte sie ihnen nach. Dann bog Paul in die Hauptstraße ein.

»Hat Mutter gleich zugestimmt?«, fragte Nandini und wischte sich mit den Händen über die Augen.

»War wie ferngesteuert.« Paul hielt lässig mit zwei Fingern das Lenkrad und kaute an einem Zahnstocher. »Bin mir nicht mal sicher, ob sie überhaupt zugehört hat. Nehmen wir die Landstraße? Braucht ein bisschen länger, aber wir haben`s ja nicht eilig, oder?« Er grinste.

»Keine Ahnung?« Nandini strich sich über den Arm, ihr Herz pochte bis zum Hals.

»Dann werte ich das als Zustimmung.« Er warf den Blinker und bog scharf ab.

Nandini schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Die Ereignisse des Vorabends machten ihr gehörig zu schaffen.

»Was gehst du an in Salzburg?« Paul suchte im Radio nach Musik. »Hast du einen Job?«

»Ja. Gärtnerei.« Sie war froh, dass er sie auf andere Gedanken brachte. »Als Blumenbinderin gibt es nicht viele Möglichkeiten.«

»Toller Beruf. Ist kreativ.« Er warf seinen Zahnstocher aus dem Fenster und angelte sich einen neuen. »War das schon immer dein Traumjob?«

Nandini schüttelte den Kopf. »Hat Mutter entschieden. Sie bestimmt, was wir machen. Sie will wohl nicht, dass wir ihr zu lange auf der Tasche liegen.« Sie biss sich auf die Lippen. »Aber es ist okay so.« Sie überlegte, ob sie ihm von dem Brief von der Akademie erzählen sollte, entschloss sich jedoch, zu schweigen. »Und du?«

Paul verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Mein alter Herr hat mir angedroht, den Geldhahn abzudrehen. Also habe ich Gas gegeben. Ausbildung zum Facharzt. Neurologie.«

»Klingt gut.«

»Ja. Er hat ja recht. Aber sag mal.« Er stupste sie am Arm. »Du haderst gewaltig mit deiner Mutter, oder sehe ich das falsch?«

Nandini zuckte mit den Schultern und blickte aus dem Fenster.

»Auf die Gefahr hin, dass ich belehrend wirke.« Paul stellte das Radio leiser. »Hinter jedem Konflikt steckt ein verborgener Segen, Nandini. Du musst nur einen Schritt zurücktreten und die Situation aus der Distanz betrachten.«

»Ein verborgener Segen? Was soll das sein?«

Paul stieg aufs Gas und setzte zu einem Überholmanöver an. Im nächsten Moment bremste er scharf ab und ordnete sich wieder ein. »Blödmann.« Er deutete dem Fahrer vor sich mit der Faust. »Erst abbremsen und dann beschleunigen, du spinnst wohl. Sonntagsfahrer.«

Nandini blickte betreten zur Seite.

»Also. Das mit dem verborgenen Segen hat mir mein Vater schon als Kind erklärt. Es sind Probleme, die sich im Nachhinein als Geschenk erweisen.«

»Probleme sind ein Geschenk?«

»Ja, wenn du deren Sinn erkennst, schon.« Er schaltete einen Gang zurück und drosselte das Tempo. »Ich nenn dir ein Beispiel. Ich war auf einem meiner Trips durch die Vereinigten Staaten und mir ist nach ein paar Wochen wieder einmal das Geld ausgegangen. Da hab ich einen Job als Küchenhilfe in einem dieser feinen Restaurants angenommen. Du weißt schon, die, wo du mehr auf der Rechnung als auf dem Teller hast. Wir haben eine Hochzeit vorbereitet, alle waren im Stress, ich hab Fleisch geschnitten, die Küche war wie immer zu eng. Irgendein Typ hat mich gestoßen und mein Messer fuhr mir ziemlich tief da hinein.« Er deutete auf eine Narbe auf seinem Handballen. »Ab ins Krankenhaus, genäht und wieder zurück. Inzwischen war alles gelaufen, der Nachtisch wurde serviert, ich genehmigte mir auf der Toilette eine Selbstgedrehte, stell dir vor, da sitzt du auf der Muschel, das Streichholz lässt du zwischen deinen Schenkeln in die Schüssel fallen und wumm, irgendein Trottel hatte Öl oder Spiritus dort entsorgt und nicht runtergelassen. Habe mir so ziemlich alles verbrannt, was da so runter hängt.«

Nandini prustete los vor Lachen und errötete bis hinter die Ohren.

»Also wieder ins Spital, die Hand im Verband, der Hintern und alles andere angesengt. Auf meine Antwort auf ihre Frage, wie das passiert ist, haben die beiden Krankenhelfer so gelacht, dass sie die Bahre fallen ließen und ich auf den Boden geknallt bin. Rechter Arm gebrochen.«

Nandini wischte sich Lachtränen aus dem Gesicht.

»Aber jetzt kommt`s, die Krankenschwester, die mir nach dem Eingipsen die Armschlinge verpasste.« Er stieß einen Pfiff aus. »Liebe auf den ersten Blick. Heute sind wir zwar nur noch Freunde, doch damals waren wir danach für einige Jahre zusammen. Dass wir uns kennengelernt haben, das war der verborgene Segen.«

»Das als Geschenk zu bezeichnen, ist aber keine Kunst«, antwortete Nandini und versuchte, sich zu fangen.

»Das hängt vom Zeitpunkt ab, an dem du das beurteilst. Auf dem Operationstisch siehst du das anders.« Paul legte die Stirn in Falten. »Im Ernst, einen verborgenen Segen erkennst du oft erst viele Jahre später.« Er überlegte. »Vielleicht habe ich ein besseres Beispiel. Mein Großvater ...« Er angelte sich eine Wasserflasche vom Rücksitz. »Magst du?« Er hielt sie Nandini hin.

»Gerne.« Sie nippte an der Flasche und gab sie ihm zurück.

Er nahm einen kräftigen Schluck. »Mein Großvater war das, was man unberechenbar und jähzornig nennt. So ein richtig roher Kerl, weißt du?«

Nandini hörte ihm aufmerksam zu.

»Vater hat mir erzählt, wie oft Großvater ihn verdroschen hat, weil er wieder einmal zu viel getrunken hatte. Wenn er aggressiv wurde, weil zu wenig Alkohol oder zu viele Leute im Haus waren. Meine Großeltern hatten sechs Kinder und es gab immer zu wenig Alkohol oder zu viele Leute im Haus. Manchmal konnte mein Vater sich tagelang nicht hinsetzen, so hat Großvater ihm den Hintern versohlt.«

»Auweia.«

»Ja, tut weh. Heute sagt mein alter Herr aber immer wieder: Hätte es meinen Großvater nicht gegeben, hätte er nicht gelernt, die Launen von Menschen blitzschnell zu erfassen. Bei seinem Vater musste er in wenigen Augenblicken abschätzen, wie er drauf war und wie er reagieren sollte. Heute kann er, so sagt er, in kürzester Zeit erkennen, wer Probleme hat oder wer in seiner Kraft ist, wenn er einen Raum voll mit Menschen betritt. Er kann dadurch angemessen reagieren, kann schwierige Situationen ausgleichen, Stimmungen abfangen und sie ins Positive drehen, bevor sie hochkochen. Es hat schon einige Zeit gedauert, betont er immer wieder, aber heute ist er ihm dafür zutiefst dankbar.«

»Dankbar?«

»Ja. Er hätte sich auch ein Leben lang als Opfer fühlen können, aber die Unberechenbarkeit seines Vaters hat er im Nachhinein als Geschenk betrachtet. Das war für ihn der verborgene Segen.«

Nandini blickte aus dem Fenster und überlegte, wie sie das auf ihr eigenes Leben umlegen konnte. Worin lag ein verborgener Segen in all ihren Kämpfen mit Susan und ihren Geschwistern? Welches Geschenk konnte darin liegen, ohne richtige Eltern in einem Waisenhaus aufgewachsen zu sein?

Paul stieg voll in die Bremsen. »Schau dir diesen Hammel an«, polterte er. »Erst lässt er mich nicht vor und jetzt schleift er ohne Grund zusammen. Mit dreißig auf der Landstraße. Sag mal, spinnt der?« Er betätigte die Lichthupe. »Solche Autofahrer hab ich schon gefressen.«

»Und worin liegt der verborgene Segen, in diesem Autofahrer da vorne?« Nandini konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Oh Mann!« Paul sackte in sich zusammen. »Eins zu null für dich.«

Vor ihnen baute sich ein Stau auf.

»Da muss was passiert sein.« Nandini versuchte, im Gegenlicht etwas zu erkennen. Autotüren wurden aufgerissen, aus allen Richtungen liefen Menschen zusammen.

Pauls Wagen rollte aus und kam hinter seinem Vordermann zum Stehen. »Das kann länger dauern.« Er überlegte. »Was hältst du davon, wenn wir dort vorne im Gasthaus warten, bis sich der Knäuel aufgelöst hat?«

»Nur, wenn du mir einen Donut spendierst.« Sie zwinkerte ihm zu.

»Aber klar. Auch zwei oder drei.« Paul lenkte nach rechts, überholte die Kolonne auf dem Pannenstreifen und bog zum Parkplatz ab.

 

»Passt so.« Paul schob der Kellnerin eine Münze zu und steckte das restliche Geld ein.

Gemeinsam verließen sie das Lokal, schlenderten zum Parkplatz und bestiegen den Wagen. »Ganz schön viel Blaulicht. Aber wie es aussieht, bewegt sich die Kolonne.«

Sie wurden an einem Dutzend ineinander verkeilter Fahrzeuge vorbeigewunken, Einsatzwagen und ein Helikopter standen auf der Fahrbahn. »Da hat es aber ordentlich gekracht«, flüsterte Nandini. Emmanuel, dachte sie, schick diesen Menschen hier viele, viele Schutzengel!

»Schau dir das Wrack an«, murmelte Paul.

Nandini legte die Hand auf seinen Arm. »Sag mal, könnte das unser verborgener Segen gewesen sein?«

»Was meinst du?« Paul musste Acht geben, ein Meer von Glasscherben wurde zusammengekehrt.

»Ich meine, wenn uns der Wagen nicht abgebremst hätte, dann wären wir hier vielleicht ...?« Nandini Magen zog sich zusammen.

Paul sah sie entsetzt an. »Du meinst, dann wären wir hier mittendrin?« Er wurde bleich.

Für den Rest der Fahrt sprach keiner mehr ein Wort.

 

Die Dachwohnung war klein, aber sauber. Paul hatte Nandini geholfen, die Kisten und Reisetaschen die Treppe hochzutragen. Nur ihre Schachteln mit den Zeichnungen wuchtete sie selbst in den dritten Stock.

»Geschafft.« Paul stemmte die Hände in die Hüften und schaute sich um. »Hier lässt es sich schon aushalten.«

»Ja.« Nandini knetete ihre Finger. »Wird ungewohnt sein für mich, so alleine.«

»Mulmiges Gefühl, hm?«

»Kann man wohl sagen, ja.« Sie sah sich um.

»Soll ich noch bleiben?«

»Ja ... oder nein. Oder ja. Keine Ahnung. Ich würde dir jetzt gerne etwas anbieten, zu trinken meine ich, aber ich hab nichts.«

»Kein Problem. Dann tun wir so, als ob.« Paul trat näher an sie heran und hob seine Hand. »Prost.«

Nandini versuchte zu lächeln. »Hei, okay, Prost.«

Sie stießen mit ihren Knöcheln an.

Paul musterte das Wohnzimmer. »Du wirst dich schneller eingelebt haben, als du glaubst. Und für den Notfall hast du ja meine Telefonnummer.«

»Hab ich die?« Nandini griff nach ihrem Handy und scrollte die Namenliste durch. »Da habe ich eine Nummer. Die ist aber von deinem Vater.«

»Dann ruf ich dich an, dann hast du sie.«

Sie ließ es kurz läuten und drückte wieder ab. »Okay.«

»Versprich mir. Wenn dir die Decke auf den Kopf fällt, rufst du mich an.« Er hielt ihr die Hand hin. »Top?«

»Prima, ja.« Nandini schlug ein. »Top.«

Beide schwiegen.

»Na, dann fahr ich mal wieder.« Paul zögerte, dann kam er auf sie zu und nahm sie in die Arme. Sanft strich er mit seinen Lippen über die ihren und küsste sie zärtlich auf die Wange. »Schön, dass es dich gibt.«

Nandini schnappte nach Luft. »Also, ich ... Du auch.« Sie zitterte am ganzen Körper. »Ich ruf dich an. Ganz sicher!« Sie löste sich aus seinen Armen, es knisterte bis hinter ihre Ohren.

Paul blickte sie irritiert an. »Verzeih mir, ich wollte dich nicht ...«

»Schon gut.« Nandini hob kurz die Hand und ließ sie gleich wieder fallen. »Ich war nur nicht darauf gefasst. Ich melde mich.«

»Sicher?«

»Sicher.«

Paul nickte, kratze sich die Stirn, drehte sich um und ging auf die Wohnungstür zu.

»Paul?«

»Ja?«

»Darf ich dich was fragen?«

Er drehte sich zu ihr. »Klar, immer.«

»Welchen verborgenen Segen könnte es für mich geben? Ich meine, dass meine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind und ich ohne sie aufwachsen musste?« Ihre Kehle wurde eng.

Paul starrte sie an. »Dass deine Eltern bei einem Unfall ...?« Er kam langsam auf sie zu, langte nach ihren Händen und drückte sie sanft. »Ich kann dir auf diese Frage keine Antworten geben, Nandini. Es wären meine Interpretationen, die dir nicht helfen würde.«

Sie senkte den Blick.

Paul hob ihr Kinn wieder an und sah ihr in die Augen. »Aber sei sicher, jede Frage, die du mit deinem Herzen nach innen stellst, wird beantwortet.«

Sie nickte nur.

»Glaub mir, ich wünsche mir, ich könnte dir helfen, Nandini.«

»Alles klar.« Sie versucht zu lächeln. »Ich muss es wohl selbst herausfinden. Trotzdem danke. Und ja, auch dafür, dass du mich hierher gebracht hast.«

»Aber gerne.«

»Komm gut zurück.« Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen.

 

Leise fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Nachdenklich rieb er sich das Kinn, als er die Treppe hinabstieg.

Er blieb stehen und blickte nach oben. Eines wusste er sicher. Nandinis Eltern waren nicht bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Kapitel 5

 

In den Wäldern des Ural
3000 v.Chr.

 

Die Schritte ließen Nan’dahar hochschnellen. Hastig befreite sie sich von den Fellen, schob sich zum Ausgang und spähte durch den Spalt. Sady’aya kämpfte sich mit einem Beutel in der Hand durch den Schnee.

Ihr Körper spannte sich zu einem Bogen, ihr Puls schnellte nach oben. Sie griff nach dem Stein, glitt aus dem Versteck und hastete ihr geduckt hinterher. Diesmal durfte sie dieses Mädchen nicht zu weit kommen lassen.

Sady’aya war schnell. Sehnsüchtig fixierte Nan’dahar deren warme Pelze und Häute, die sie sich um den Körper gewickelt hatte. Die musste sie haben, koste es, was es wolle. Sie holte auf. Plötzlich stoppte Sady’aya und kauerte sich hinter eine Buschgruppe. Ein Rudel Wölfe hatte ihr den Weg verstellt. Schnell suchte sie Deckung neben einem Felsen und hielt die Luft an, der Dunst ihres Atems durfte sie nicht verraten.

Der Wind stand günstig, die Wölfe zogen sich ins Unterholz zurück. Sady’aya schien kein Risiko eingehen zu wollen, sie drehte um und kam wieder in ihre Richtung gelaufen.

Nan’dahar duckte sich tiefer, nahm all Kraft zusammen, bereit, hochzufedern und zuzuschlagen. Jetzt konnte sie Sady’ayas Atem hören, ihre Finger krallten sich um den Stein. Sie schoss aus der Deckung und schlug zu. Doch sie glitt aus und traf nur Sady’ayas Schulter. Deren Schrei zerriss die Stille, das Mädchen stolperte, fiel, raffte sich wieder auf, griff in ihren Umhang und zückte eine Klinge. Nan’dahar setzte ihr nach, mit wilden Stößen versuchte Sady’ayas, sie von sich fernzuhalten. Ein Hieb traf sie am Arm, der Schmerz raubte ihr fast die Sinne. Entsetzt blickte sie auf ihre Wunde, auf das Blut, das den Schnee rot färbte. Sady’aya nutzte die Gelegenheit, drehte sich um und rannte davon. »Ayo’ham!«, schrie sie, warf den Beutel weg und hastete, so schnell sie konnte, den Weg entlang.

Jetzt hieß es, schnell zu sein. Ayo’ham war ein berüchtigter Jäger. Wenn er von ihrem Kampf erfuhr, musste sie selbst um ihr Leben fürchten. Sie verbiss sich den Schmerz und sprengte Sady’aya nach. Zu rennen hatte sie auf ihren Streifzügen gelernt. Sady’aya offenbar nicht. In wenigen Sätzen war sie hinter ihr, warf sich mit einem Schrei auf sie und brachte sie zu Fall. Doch Sady’aya war kräftig, mit Fußtritten setzte sie sich zur Wehr, versuchte, ihr die Klinge in den Leib zu rammen. Sie fing ihren Arm ab und schlug ihr das Messer aus der Hand. Wie besessen hieb sie mit den Fäusten ins Gesicht der jungen Frau. Sady’aya starrte sie flehend an, versuchte, mit den Armen Kopf und Hals zu schützen. Doch Nan’dahar hörte mit ihren Schlägen nicht auf, bis Sady’ayas Hände kraftlos zur Seite sanken. Ihre Augen bewegten sich, als suchte sie etwas, dann erstarrten sie und blickten glasig durch sie hindurch.

Keuchend ließ sie von Sady’aya ab. Ayo’ham konnte jeden Moment hier sein, wenn er ihre Schreie gehört hatte. Sie riss dem Mädchen die Pelze vom Leib, löste die Häute von den Händen, nun lag die junge Frau nackt vor ihr. Der Schnee war blutrot. Ein Muttermal unter dem Kinn Sady’ayas war geplatzt, doch so viel Blut? Ihr eigener Arm! Sie starrte auf die Schnittwunde. Sie war tiefer, als sie befürchtet hatte. Schnell fort von hier, bevor die Wölfe das Blut witterten.

Hastig raffte sie ihre Beute zusammen und hetzte zurück in Richtung ihrer Höhle. Im Laufen umwickelte sie ihren Arm mit einer der Häute, sie durfte keine Blutspur hinter sich herziehen. Keuchend erreichte sie den Eingang, der Schmerz zerriss ihr fast den Schädel. Sie warf das Bündel durch das Loch und zog sich durch die Öffnung, für den Verschlussstein hatte sie keine Kraft mehr.

Wie müde sie war.

Sie ließ sich zurückfallen. Nur etwas ausruhen, dachte sie. Ihr Arm fühlte sich klebrig an. Nur einen Moment schlafen.

Es wurde schwarz um sie.

Kapitel 6

 

Salzburg

Nandinis Augen glitten durch ihre Wohnung. Die Wände waren hell und freundlich, das Licht der Abendsonne warf weiche Muster auf den Boden. Ein Kasten, ein Bett, der Tisch mit zwei Stühlen, die Küchenecke, das Bad. Das also war ihr neues Zuhause.

Sie öffnete eines der Fenster, die kühle Luft strich über ihr Gesicht. Ein Funke flackerte in ihr auf, ein zartes Vibrieren, das sich nach Abenteuer anfühlte. Die ganze Welt lag vor ihr, bunt und reich an Möglichkeiten. Tief sog sie diese Ahnung nach Freiheit ein. Freiheit? Wie ungewohnt sich das anhörte.

Da war aber noch etwas anderes. Was erwartete sie bei ihrem neuen Job? Wie war es, auf sich selbst gestellt zu sein? Konnte sie all die Kosten, die unweigerlich auf sie zukamen, bewältigen? Es fühlte sich an, als ob sich Schatten spinnenartiger Finger über ihre neue Freiheit schoben. Plötzlich fror es ihr, die zarte Vorfreude auf ihr neues Leben machte Angst und Beklemmung Platz. Sie zog die Schultern hoch und schloss das Fenster. »Wir schaffen das«, flüsterte sie. Hastig öffnete sie einen Karton, raffte Kuscheldecken und eine Zeichenmappe an sich und verkroch sich in einem Winkel neben dem Bett.

 

 

»Die Bewässerung läuft vollautomatisch in den Gewächshäusern«, sagte die ältere Dame, »nur diese Reihe hier, die musst du gießen. Am besten gleich am Morgen, wenn du kommst.«

»Mach ich.« Nandini trappte hinter ihrer Kollegin her.

»Aber jetzt einmal schaust du mir zu, wie ich die Gestecke fertigmache. Am besten, du probierst gleich selbst eines.«

 

Die Arbeit in der Gärtnerei ließ sie ihre Ängste vorerst wieder vergessen. Susan fühlte sich offenbar berufen, mehrmals wöchentlich anzurufen. Da sie nie abhob, wurde sie mit Kurznachrichten bombardiert.

»Lass uns über die Sache mit dem Brief nochmals reden, Kind.«

»Hast du dich schon eingerichtet?«

»Vergiss nicht, die Akademie zu kontaktieren.«

Bis ihr der Kragen platzte. »Du nervst, Mutter. Lass mich endlich in Ruhe.«

Postwendend kam Susans Antwort. »Ich komme dich am nächsten Wochenende besuchen.«

»Spar dir den Weg.«

Die Nachrichten ihrer Mutter wurden spärlicher, bis sie ganz aufhörten.

 

»Wunderschön, wie du das machst.«

Nandini blickte hoch, ihr Chef stand vor ihr. »Komm in mein Büro.«

Ihre Handflächen waren feucht, als sie vor ihm saß.

»Du bist geschickt, Nandini. Hast ein außergewöhnliches Gespür und erst diese Liebe zum Detail. Die Kunden loben dich, auch deine Kolleginnen. Wir sind froh, dass du bei uns bist.«

»Wirklich?« Nandini errötete und winkte ab. »Es macht mir Spaß, vielleicht ist es das.«

Sie schlich zum Gewächshaus und schob das Tor hinter sich zu. Zärtlich strich sie mit den Fingern über die Köpfe der Blumen. Ein Lob dieser Art konnte nicht wahr sein. Nicht für sie.

 

 

Volker begutachtete seinen Neuzugang aufmerksam. »Rosenstolz? Ein schöner Name. Ein graues und ein blaues Auge, das ist selten.« Er öffnete das Maul und musterte das Gebiss. »Ein Prachtkerl. Du kannst stolz auf ihn sein.«

Nandini hielt ihrem Prinzen einen Apfel hin. »Das bin ich.«

 

Beinahe täglich kam sie zum Reitstall, um zu trainieren.

»Tolle Kunststücke, die du da ablieferst!« Volker schob sich den Hut in den Nacken. »Du bist ehrgeizig. Wenn du willst, trainiere ich dich.«

Immer öfter standen andere Reiterinnen am Koppelzaun und tuschelten, Nandini konnte den einen oder anderen Satz auffangen.

»Hast du diesen Handstand gesehen?«

»Unglaublich.«

»Das schafft sie jetzt aber nicht.«

»Wow. Und das mit dieser Figur!«

Nandini spürte, dass sie bewundert aber zugleich abgelehnt wurde. Nach dem Absatteln stand sie lieber Stirn an Stirn mit Rosenstolz und kraulte ihm die Ohren, anstatt mit den anderen ins Gespräch zu kommen. Einzig zu Melanie hatte sie nach ein paar Wochen Vertrauen gefasst.

»Mir wird schwindlig, wenn ich dir zuschaue.« Melanie trat an sie heran und half ihr beim Absatteln. »Bist echt genial.«

»Bin ich nicht. Du weißt ja, was die anderen reden.«

»Die sind doch nur neidisch auf dich.« Melanie lehnte sich lässig über die Futterbox und zündete sich eine Zigarette an.

»Ist das erlaubt hier?«

Melanie grinste. »Wenn ich es sage, schon.«

»Und wenn Volker das sieht!«

Melanie nahm einen kräftigen Zug, warf die Zigarette auf den Boden und zertrat sie. »Ich lad dich auf einen Drink ein.« Sie bückte sich und hob den Stummel auf. »Kommst du mit?«

»Vielleicht ein anderes Mal?«

 

Wer Nandini in dieser Zeit in ihrer Wohnung besuchte, fand zwischen Bücherstapeln, Kleiderhaufen, Reitzeug und Pizzaschachteln zwei sich rekelnde Füße, die irgendwo zu einem Kopf gehörten. Sie lag dann verbogen unter einem Stoß Decken und war in Bücher oder ihre Skizzenhefte vertieft. Ihre Nächte wurden immer kürzer, erst wenn sie aus den Welten fesselnder Erzählungen oder ihren Geschichten rund um Lily auftauchte, war sie glücklich und wieder zuhause.

»Wie klingt das für dich, Emmanuel? Jenseits des Regenbogens.« Sie hielt ihr letztes Blatt hoch und studierte es. »Wäre doch ein guter Name für eine Serie, was meinst du?«

In den folgenden Wochen verbrachte Nandini ihre Nachtstunden damit, ausgedehnte Bildserien mit ihrer Fantasiefigur anzufertigen. Diese Zeichnungen waren das Einzige, was sie sorgsam in ihrem Kasten ablegte. Die meisten Kisten mit ihren Habseligkeiten waren noch immer unberührt.

 

»Auf die Kunstakademie?« Melanie schraubte die Flasche auf und nahm einen Schluck. »Sei doch nicht blöd. Versuch es, es kostet ja nichts.«

»Ich weiß nicht.« Nandini kritzelte auf ihren Skizzenblock belangloses Zeug. »Was soll ich dort?«

»Na, Zeichnen lernen, du dumme Nuss. Wer hat schon die Chance, da reinzukommen?« Melanie nahm einen weiteren Schluck und schielte auf Nandinis Skizzen. »Finde ich gut, diese Ziegen. Puh, ist das ein Fusel.«

»Das sind Pferde. Die Vorlesungen beginnen aber schon nächsten Montag.«

»Ich sag dir was. Wenn du nicht selbst hinrollst, trag ich dich hin. Höchstpersönlich.« Melanie stand auf, wankte zur Spüle und warf die Flasche in den Müllkübel. »Diesen Mist kauf lieber nicht mehr, der bläst mir das Hirn aus dem Schädel.«

 

 

»Ich hab Magendrücken.«

»Kenn ich, bei mir war es nicht anders.« Melanie zog Nandini die Stiegen hoch. »Hast du alles mit?«

»Glaub schon.« Sie kramte in ihrer Tasche. »Und du wartest auf mich?«

»Klar, hab’s dir ja versprochen. Da musst du rein.« Melanie deutete auf einen Vorlesungssaal. »Ich muss weiter zur Uni, hab jetzt Physik. Danach wie abgemacht in der Kneipe gleich an der Ecke. Also bis neun.« Sie fasste Nandini am Arm. »Und du kneifst nicht aus!«

Nandini biss die Zähne zusammen.

 

Sie drückte sich in die letzte Reihe und sah sich um. Ihr war flau im Magen. Was sollte sie hier? Besaß sie überhaupt genug Talent? Wurde sie den hohen Erwartungen einer Akademie gerecht? Noch nie hatte sie einen Zeichenkurs besucht, alles, was sie je aufs Papier gesetzt hatte, kam aus ihrem Inneren. Wie sollte sie es anstellen, Motive zu zeichnen, die nicht aus ihr selbst flossen? Sie überlegte, aufzustehen und diesen ganzen Unsinn sein zu lassen. Doch sie hatte Melanie versprochen, es zu versuchen.

 

Der Qualm war entsetzlich, der ihr an der Kneipentür entgegenschlug. Sie kniff die Augen zusammen und hielt sich die Hand vor den Mund.

»Da bin ich!« Melanie saß rechts von der Tür in einer Runde. »Na, wie war`s?«

»Geht so.«

»Darf ich vorstellen? Steve, Jakob, Franz und Ludwig. Das ist Nandini, meine Freundin.« Melanie zwinkerte ihr zu. »Die Jungs sind schwer okay.« Sie grinste und zündete sich eine Zigarette an, rückte zur Seite, um ihr Platz zu machen. »Setz dich zu uns.«

»Ich glaub, ich hab Kopfweh.« Der Qualm trieb ihr Tränen in die Augen. »Besser nicht. Nächstes Mal vielleicht.«

»Schade.« Melanie war sichtlich enttäuscht. »Dann morgen im Reitstall?«

»Klar, morgen.« Nandini hob die Hand, rückte sich die Tasche zurecht und stürmte aus dem Lokal.

 

 

Der Professor schob sich die Brille zurecht und blätterte durch ihre Skizzen. »Dein Strich ist überzeugend. Du traust dich, das sieht man.« Er zog mehrere Blätter aus dem Stoß, legte sie nebeneinander vor sich hin, trat einen Schritt zurück und kniff die Augen zusammen. »Du hast bereits einen eigenen Stil, das ist ungewöhnlich. Ich werde das Gefühl nicht los, dass du in dieser Klasse unterfordert bist. Oder täusche ich mich?«

»Keine Ahnung. Solche liegenden und tanzenden Positionen fallen mir leicht. Die hab ich schon tausend Mal gezeichnet.«

»Interessant.« Der Professor beugte sich wieder über die Blätter. »Dieser Schwung. Erstaunlich. Wenn du so weitermachst, dann darf man sich deinen Namen schon mal merken.«

Nandini blickte beschämt weg. »Vielen Dank, Herr Professor.« Sie begann, ihre Blätter einzusammeln.

»Eines noch.« Der Professor lehnte sich gegen den Schreibtisch und verschränkte die Arme. »Ich will dich warnen, Nandini. Könner haben Neider.« Seine Augen wirkten riesig hinter den dicken Gläsern. »So ist die Welt leider. Bereite dich darauf vor, dass du hier nicht nur Freunde hast. Aber ich stehe hinter dir. Das sollst du wissen.«

 

»Diese rothaarige Kröte.«

»Sie glaubt, sie kann uns an die Wand spielen.«

»Schaut nur, wie sie an ihren Stiften lutscht. Hat noch nie was Besseres in den Mund geschoben bekommen.« Die Menge grölte.

Dieses höhnische Lachen hinter ihrem Rücken. Mädchen und Burschen drehten sich von ihr weg, wenn sie den Hörsaal betrat. Schon wieder schienen ihr Aussehen und ihre Leichtigkeit Anlass zu Spott zu geben. Die dunklen Dämonen aus ihrer Vergangenheit begannen erneut zu atmen. Immer öfter schreckte sie in den Nächten auf, verscheuchte Traumfetzen, in denen sie vor grauenhaften Gestalten davonzurennen versuchte und nicht von der Stelle kam. Zuletzt hielt sie diese Albträume nicht mehr aus, sprang aus dem Bett, schlüpfte in Jeans und Schuhe und stürmte die Treppe hinunter, um bis zum Morgengrauen durch die Straßen von Salzburg zu streunen.

 

 

»Komm doch mit, lauf nicht gleich nach jeder Vorlesung heim.« Melanie wuchtete den Sattel auf ihr Pferd. »Sie sagen, du bist arrogant und meidest sie, weil du dich für was Besseres hältst.«

Nandini strich Rosenstolz über die Blesse. »Ich hab keine Lust, in verqualmten Kneipen rumzuhängen.«

»Du musst dich entscheiden, Nandini.« Melanie schloss die Schnalle unter ihrem Helm, stieg in den Steigbügel und zog sich hoch. »Wenn du einsam verschimmeln willst, dann mach weiter so. Suchst du Anschluss und willst endlich ins Leben eintauchen, dann spring über deinen Schatten.« Sie griff in die Zügel und parierte ihre Stute. »Die Jungs stehen übrigens auf deine Möpse. Ehrlich, wenn ich so tolle hätte wie du!« Melanie schnalzte mit der Zunge, wendete ihr Pferd und trabte ins Viereck.

 

 

»Auf dich.« Alle hoben ihr Glas und stürzten den Inhalt in einem Zug hinunter. »Und jetzt du!«

Nandini schaute Melanie flehend an.

»Augen zu und durch. Tut nicht weh.«

»Na dann!« Nach dem ersten Schluck musste Nandini so heftig husten, dass ihr der Schnaps aus der Nase kam. »Mist. Ist das giftig.«

Knut trat neben sie und reichte ihr ein Taschentuch. »Nur das erste Mal. Schön, dass du dich mal herablässt. Wir haben schon Wetten abgeschlossen, ob du jemals auftauchst.« Er grinste. »Ich habe gewonnen. Prost. Auf deine hübschen Augen.«

Ein weiterer Junge rückte von der anderen Seite an sie heran. »Ich hab die Wette verloren.« Seine Hand landete auf ihrem Po. »Bist mehr als ein Trostpreis.«

 

Nandini ließ sich immer öfter von Melanie zu ausgedehnten Kneiptouren mitreißen.

»Probier das mal, das macht locker.« Melanie hielt ihr unter dem Tisch ein kleines Briefchen hin. »Auf den Handrücken streuen und einschnupfen.«

Nandini sah sich unsicher um, zog dann aber das Pulver durch die Nase. »Verdammt, das kitzelt.« Sie nieste, musste plötzlich lachen und schnäuzte sich in die Bluse.

»Woher nimmst du diesen Strich, Schätzchen?« Eine Studienkollegin neben ihr kippte in ihre Richtung und hielt sich an ihr fest.

Gregor schob sich dazwischen »Ich glaub, du hast genug, Helga.« Er hievte sie zurück auf den Barhocker.

»Finger weg.« Helga packte Nandini am Arm. »Verrate es mir. Wo hast du das studiert, Schwester?« Sie griff Nandini ans Kinn und zog sie zu sich. »Oder bist du eine von denen, die behaupten, alles fließe raus aus ihren Fingern? Sind von oben geführt oder so? Komm, spuck es aus.« Helga starrte ihr mit glasigen Augen entgegen. »Mach schon, Kleines. Kriegst dafür einen dicken Kuss von mir.«

»Lass sie.« Jetzt war es Melanie, die sich dazwischen drängte. »Du hast wirklich zu viel.«

»Verpiss dich.« Helga stieß Melanie weg, zog Nandini zu sich und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.

Nandini schnappte nach Luft. »Hab es schon als Kind gelernt.« Sie befreite sich von Helga und richtete ihre Bluse zurecht. »Ich hab reiche Eltern. Viel Kohle und so. Die haben mir die besten Lehrer gesponsert, ihr wisst schon. Aus Italien.«

Melanie starrte sie an.

»Und ich kotz mich an, wenn mir einer kommt mit innerer Führung und so einem Scheiß. Prost!« Nandini griff zum Glas und stürzte es hinunter. Sie hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen.

»Viel Kohle, na also.« Helga wuchtete sich vom Hocker. »Willkommen im Club. Bist ja doch nicht so ein Arsch, wie alle behaupten.« Sie klopfte ihr auf die Schulter, drehte sich um und torkelte davon.

Nandini wollte nur noch nach Hause.

 

In den folgenden Monaten häuften sich ihre nächtlichen Touren. Unter den anerkennenden Blicken ihrer Kollegen mutierte Nandini zur leidenschaftlichen Verfechterin jener Überzeugung, die Welt und das gesamte Leben intellektuell meistern zu können.

»Wer glaubt heute noch an Gott und all dieses Engelszeug?« Nandini knallte das Glas auf den Tisch. »Das sind Krücken, für Schwache.«

»Unsere Rede!« Fäuste flogen in die Höhe. »Auf Nandini!«

»Schieb noch was rüber.« Nandini schnippte in Richtung Melanies, die ihr wie ferngesteuert ein weiteres Briefchen hinhielt. Sie kippte sich das Pulver auf den Handrücken und schniefte es hoch. »Auf euch!« Sie griff nach dem Glas ihres Nachbarn und stürzte es hinunter.

 

»Ich erkenne dich nicht wieder.« Es war wieder einmal früher Morgen, als sie in Richtung von Nandinis Wohnung wankten. »Meinst du das im Ernst, was du da verzapfst? Jetzt sag schon, hab ich mich so in dir getäuscht!«

Nandini schwieg.

»Hör mir mal zu.« Melanie packte Nandini am Arm und blieb stehen. »Du hast mir doch selbst erzählt, dass du eine innere Führung spürst. Wie deine Hand wie von selbst zu zeichnen beginnt.«

»Alles gelogen.« Nandini boxte sich los und ging weiter. »Wollte mich nur wichtigmachen.«

»Sag mal, spinnst du?« Melanie lief ihr nach. »Du überholst dich ja selbst in deinen Reden. Kommst dir gut vor mit deiner aufgesetzten Dingsda ... wie heißt das ... Aufgeklärtheit.« Sie blieb stehen. »Du ziehst über die Professoren her, obwohl du weißt, wie sie hinter dir stehen. Kippst alles den Berg runter, was dir einmal wichtig war. Jetzt bleib doch mal stehen! Was ist mit dir los? Jetzt halt doch endlich mal an!«

Nandini trottete weiter, ohne ein Wort zu sagen. Es ekelte ihr schon lange vor sich selbst und ihren elendigen Worthülsen. Doch die Anerkennung der Jungs und Mädchen war lebendiger als die vielen einsamen Nächte zwischen all den entsetzlichen Schatten in ihrer Wohnung. Sie blieb vor ihrer Haustür stehen und drehte sich zu Melanie. »Vielleicht kannst du das nicht verstehen, aber ich hab endlich Freunde.«

»Freunde?« Melanie starrte sie an. »Das ist ein hoher Preis, meine Beste.«

Nandini zuckte mit den Schultern und versuchte, mit dem Hausschlüssel das Schloss zu treffen. »Gute Nacht.«

»Du bist ja übergeschnappt.« Melanie packte sie an den Schultern. »Ich lass dich doch jetzt nicht allein. Du siehst aus wie hingekotzt, so kannst du nicht zur Arbeit.«

Kapitel 7

 

Ovessa, 26.000 Meter über der Erde
2478 n.Chr.

 

Die Plattform wurde von elektronischen Systemen in ihrer Position gehalten. Sie korrigierten in Bruchteilen von Sekunden jede Abweichung von ihren Koordinaten, die durch exakt festgelegte Punkte auf der Erde definiert waren.

Ethan schlich den Kiesweg entlang. Eine Gruppe von Studenten spazierte vor ihm, alle trugen T-Shirts und halblange Hosen, erst vor Kurzem waren die Parameter auf Frühling gestellt worden. Sanfte Wärme wurde seither über Leitungssysteme in die Kuppel geblasen, Ventilatoren, versteckt unter den Straßen, bliesen den Duft des Frühsommers in die Gesichter der Menschen.

»Wisst ihr, wo ihr hier lebt?«, murmelte er und blickte sich um. Alle Bäume und Sträucher waren Nachbildungen. Bemerkte überhaupt jemand, dass tagein, tagaus dieselben Wolkenformationen auf den künstlichen Himmel projiziert wurden? Dreihundertachtzig Meter über ihnen?

Ein Blick zur Uhr auf der Fassade der Kommandozentrale, es blieb ihm ein wenig Zeit. Er nahm eine Abzweigung und steuerte auf das Museum zu. Seit seiner Kindheit hatte er sich in den Sälen herumgetrieben, hatte sich die Nase platt gedrückt an den Schaukästen mit all den Relikten der Erde und sich gewünscht, wenigstens einmal richtigen Boden zu spüren. Heute gab es nur einen Menschen, mit dem er über seine Sehnsucht reden konnte. Mohair. Gemeinsam streiften sie in ihrer Fantasie durch Wälder, schwammen durch Flüsse, erklommen die höchsten Gipfel, wenn sie sich im Arm hielten, heimlich, Nacht für Nacht.

Wie er diese Frau liebte!

Die Treppe führte steil hinauf zu den Eingängen, er konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie begonnen hatten, sich Dokumentationen über die Kontinente, die Tierreiche zu Lande, zu Wasser und in der Luft anzusehen. Stundenlang waren sie vor den Bildschirmen mit all den Berichten gesessen, auch über jenen der Katastrophe, die beinahe die gesamte Menschheit ausgelöscht hatte. Immer wurde er wütend, wenn er sich ausmalte, wie man mit der Erde danach umgegangen war. Die wenigen Überlebenden waren mit ihren Raumschiffen zu den Plattformen geflüchtet und hatten sie einfach im Stich gelassen.

Wie lange war das her? Mehr als zweihundertzwanzig Jahre.

Er rüttelte an den Toren. Sie waren noch immer verriegelt. Sehnsüchtig warf er einen Blick auf die hohen Fenster, drehte um und stieg die Stufen wieder hinab. Vor kurzem hatten die Behörden die Archive geschlossen. Von einem Tag auf den anderen waren die Schätze der Erde für die Menschen auf Ovessa 47 nicht mehr zugänglich. Mohair hatte ihre Position genutzt und einiges in Erfahrung bringen können. Zu viele hatten angeblich versucht, die Plattformen zu verlassen. Es war durchgesickert, dass es Schwebelifte gab, mit deren Hilfe eine Gruppe von Forschern von der Lebensplattform zur Erde absteigen konnte, sechsundzwanzigtausend Meter unter ihnen. Von den Forschungsergebnissen erfuhr man nie etwas, doch man munkelte, es gäbe Kommunen auf der Erde, die es geschafft hatten, sich vor den Überwachungsdrohnen zu verbergen. Dort lebten Menschen, die es verstanden, im Einklang mit der Natur zu leben. Seither ließ Mohair und ihn die Vorstellung nicht mehr los, auf die Erde zu flüchten und sich diesen Gemeinschaften anzuschließen. Doch darüber nur zu sprechen, zog entsetzliche Folgen nach sich. Die Behörden waren hellhörig geworden und beobachteten genau, wo sich Nester von Abtrünnigen zu bilden begannen. Viele, von denen man vermutete, sie würden eine Flucht planen, verschwanden spurlos. Außerdem gab es jetzt diese verfluchten Überwachungschips, die er als Arzt jedem Bewohner von Ovessa 47 zu injizieren hatte.

Er blickte wieder zur Uhr. Es war Zeit, sein Dienst begann in wenigen Minuten.

 

Verflucht, meine Hände. Ethan verkrampfte sich. Schon wieder eine Panikattacke. Langsam legte er die Spritze zur Seite, tat so, als ob er sich etwas aus den Augen wischte. Dann nahm er sie wieder auf, versuchte, die Hände ruhig zu halten.

Mohair starrte ihn über ihren Mundschutz hinweg an. Atme, Ethan, atme! Wie liebevoll sie ihn ansah. Seine Anfälle wurden immer häufiger, zuletzt hatte er so gezittert, dass der Arzt neben ihm übernehmen musste. Mohair wusste, dass ihre Liebe das Einzige war, das ihn beruhigen konnte. Tief atmete er durch, blickte in ihre tiefblauen Augen. Die Panikattacke zog sich zurück. Er ließ sich etwas Zeit, dann setzte er die Nadel an und injizierte das Serum mit dem Nanochip in den Arm des Kindes. »Ab jetzt wirst du sogar beim Pissen kontrolliert«, murmelte er. Ihm wurde der Kragen zu eng. »Die Nächsten gehören dir, Gregor.«

Mohair war sichtlich erleichtert, dass er die Arbeit an seinen Kollegen abgegeben hatte. Jede ihrer Operationsschritte wurde gefilmt, alle Gespräche aufgezeichnet. Mohair als Stationsleiterin wusste nur zu gut, welche Folgen es hatte, zu viele Fehler zu machen.

 

Sie zogen sich die Arztkittel ab und verließen getrennt die Station. Wie immer vermieden sie den Lift und benutzten das Stiegenhaus. Mohair wartete bereits eine Etage tiefer, er blieb am Treppenabsatz stehen. »Alles in Ordnung?«

Mohair war blasser als sonst. »Ethan, tu was, deine Angstattacken nehmen zu! Ich kann nicht unendlich oft deinen Hals aus der Schlinge ziehen. Nimm dir Auszeit. Sie steht dir zu.«

Er stieg die Stufen zu ihr hinab und nahm sie in die Arme. »Gehen wir endlich weg von hier!«

»Pst, nicht so laut! Ich begleite dich, wohin immer du gehst. Unsere Sachen sind gepackt, wir können jederzeit fliehen. Ich warte nur, bis du soweit bist.« Sie schmiegte sich eng an ihn. »Du musst es wollen, Ethan, dann wird es klappen. Es liegt einzig an dir.«

»Ich weiß.« Er drückte sie an sich. Jene Rampe, von der aus die Schwebelifte abhoben, hatten sie schon längst ausgekundschaftet. Statt des Serums mit dem Überwachungschip hatten sie sich eine Kochsalzlösung injiziert. So sehr er sich nach einer gemeinsamen Flucht mit ihr zur Erde sehnte, so sehr hatte er Angst davor. Diesen Schritt zu setzen, von dem es kein Zurück mehr gab.

»Wir sind unvorsichtig«, murmelte Mohair und löste sich aus ihrer Umarmung. »Ich komme wieder zu dir, wenn es dunkel ist.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Unsere Zeit kommt, Ethan. Ich weiß es, weil ich es mir von Herzen wünsche!«

»Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.« Sie drehte sich um und lief die Stufen hinunter.

Er wartete, bis sich die Schleuse hinter ihr schloss, dann stieg auch er die Treppe hinab.

 

Ein Stockwerk höher lösten sich lautlos zwei Hände vom Geländer, ein Schatten schob sich zurück und verschwand hinter einer Tür.

Kapitel 8

 

Salzburg

Nandini wehrte sich mittlerweile gegen alles, was die Professoren über den Farbkreis, Perspektive oder Bildkomposition lehrten. Ihre einst schärfsten Gegner, farblose Figuren von mittelmäßiger Begabung, bewunderten sie hingegen immer mehr. Anstatt die Vorlesungen zu besuchen, zog sie mit ihnen von einem Lokal zum anderen und tauchte bis in die Morgenstunden durch das Nachtleben von Salzburg.

 

Melanie stand in der Tür zu ihrer Wohnung. »Lüften würde auch nicht schaden. Und zieh dir nicht so viel rein.« Sie trat zu Nandini und nahm ihr das Briefchen aus der Hand.

»Schaff es nicht mehr ohne, bin müde.« Nandini suchte im Aschenbecher nach einem Stummel und steckte ihn sich an.

»Hör auf damit!« Melanie riss ihr die Kippe aus dem Mund. »Du dröhnst dich ja völlig zu. Ich könnte mich ohrfeigen, dir jemals dieses Zeug gegeben zu haben.« Sie brachte ihr ein Glas Wasser. »Runter damit. Sonst stell ich dich unter die kalte Dusche. Willst du die Wahrheit hören?«

Nandini stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen.

»Diese Leute, mit denen du rumhängst, sind Nieten. Und sie sind feige. Sie haben nicht den Arsch, euren Professoren die Stirn zu bieten, jetzt stülpen sie dir die Rolle einer Schwertträgerin über, damit du ihre Kämpfe austrägst. Mach die Augen auf, Nandini. Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«

Nandini Kopf sank noch tiefer.

Melanie packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich. »Mein Gott, was für trübe Augen du hast! Diese Leute ziehen dich nur runter, merkst du das nicht?«

Nandini schüttelte den Kopf. »Alles roger, Schwester, lass mich. Sie lieben mich und ich liebe sie.«

»Einen Dreck lieben sie dich. Das Einzige, was sie wollen, ist an dir rumzugrabschen. Wach doch endlich auf, Nandini. Schau dir deine letzten Zeichnungen an!« Melanie stand auf, packte einen Stapel von Skizzen und schleuderte ihn auf den Tisch. »Wie derb deine Figuren geworden sind. Du radierst nur noch, das erkenne sogar ich.« Sie griff unter den Tisch, packte den Papierkorb und leerte ihn über den Tisch. »Und was ist das? Alles zerrissene Blätter. Und jetzt sag mir, dass alles in Ordnung ist mit dir.«

Nandini vergrub den Kopf in ihren Armen. »Ich schaff das alles nicht mehr.«

»Klar, und ich sag dir, warum. Weil du einen Engel tief in dir trägst, der vergeblich nach dir ruft und es dich innerlich zerreißt!«

 

Nandini meldete sich immer öfter krank und blieb weiterhin von den Vorlesungen fern. Rosenstolz war der Einzige, der sie fast täglich zum Reitstall schleichen ließ.

Eines Morgens stand Volker am Koppelrand, auf der Stirn Sorgenfalten. »Nandini! Was ist los mit dir?« Er sprang über das Gatter und griff ihr in die Zügel. »Mit Gewalt erreichst du gar nichts! Runter mit dir, sonst verletzt du dich noch.«

Nandini glitt aus dem Sattel. »Das wird wieder, ich schlafe schlecht.«

»Ich hoffe, dass es nur das ist.«

Sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken, als sie Rosenstolz in die Box führte.

 

Der eingeschriebene Brief der Akademie verhieß nichts Gutes. Nandini schob ihn ungeöffnet zwei Wochen lang von einer Seite auf die andere.

»Jetzt mach ihn endlich auf.« Melanie nahm das Kuvert und hielt es ihr hin.

Nandini blickte teilnahmslos weg.

Melanie riss den Umschlag auf und begann zu lesen. Bleich sank sie auf einen Stuhl.

»Was ist?«

»Eine Vorladung zur Leistungsüberprüfung.«

»Mist. Und wann?«

»Vorgestern.«

 

»Nandini!« Der Professor lehnte sich zurück, nahm seine Brille ab und putzte sie mit seiner Krawatte.

Ihre Finger krallten sich in die Stuhllehne. Sie starrte auf das Blatt, das vor ihm lag.

Der Professor setzte die Brille wieder auf, seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Hier steht: hochbegabt, Naturtalent, außerordentliche Auffassungsgabe.« Er hielt einen Moment inne. »Hier steht aber auch: Inkonsequent, seit vier Monaten abwesend, zur Leistungskontrolle nicht erschienen.« Er tippte auf den Schreibtisch. »Ich habe lange für dich argumentiert, doch irgendwann ist mir die Fantasie ausgegangen. Das war es leider, Frau Birago.«

 

Von jener Welt, in der Kreativität und Leidenschaft als Tugenden gehandelt und bis zum Exzess ausgelebt wurden, blieben Nandini nur noch Freunde, die von den Meisten gemieden wurden. Sie wanderte von einer Beziehung in die nächste, auf der Suche nach dem Mann, der ihr trotz oder sogar wegen ihres angeschlagenen Selbstbildes zugeflüstert hätte: »So wie du bist, liebe ich dich.« Stattdessen wurde sie immer öfter nach Nächten voll innigster Hingabe vor ihrer Haustür abgesetzt, schlich enttäuscht die Treppen hoch, fühlte sich dreckig, fiel weinend in eine Ecke, um sich in einen dumpfen Schlaf zu retten. Ihr ständiges Scheitern und das wachsende Bewusstsein, unter den Männern nur weitergereicht zu werden, nährte von Mal zu Mal ihre tiefste Überzeugung, für die lichte Seite der Welt nicht ausgerüstet zu sein. Immer größere Stücke ihrer Flügel knickten. Das Bild einer bezaubernden Frau Anfang zwanzig schmolz dahin. Ihre einst so sensible, nach innen schauende Natur hatte sich zu einem verbitterten, selbstzerstörerischen Wesen verwandelt.

Auf einem ihrer nächtlichen Streifzüge fand sie einen Mischlingsrüden. Er war an einen Baum gebunden.

»Wem gehörst denn du?« Sie setzte sich zu ihm und strich ihm übers Fell. »Wie ausgemergelt du aussiehst.«

Es dämmerte bereits, doch niemand war gekommen, um ihn abzuholen. »Wir zwei sind streunende Seelen. Wir gehören zusammen, hm?«

Sie band ihn los und nahm ihn mit nach Hause. »Ich nenn dich Bommel, das passt zu dir.« Das Einzige, was sie ihm Kühlschrank fand, war ein Stück Käse. Sie hockte sich zu ihrem neuen Freund und teilte es mit ihm.

 

»Auch das noch.« Melanie schüttelte den Kopf. »Kannst du dir diesen Esser überhaupt noch leisten?«

»Brauch ich halt weniger.« Nandini zog Bommel zu sich. »Spare ich eben woanders. Ich hab einen Secondhandshop entdeckt, die haben coole Klamotten.«

Melanie rieb sich die Schläfen. »Ich muss dir was sagen.« Sie brach ein Stück ihrer Pizza ab und legte es Nandini hin. »Ich kann dir kein Geld mehr pumpen. Da, nimm einen Schluck von meinem Bier. Meine Eltern fragen schon, in welches Kanalgitter ich mein Bares schütte.«

»Alles klar. Ich schaff das irgendwie.«

 

Nandini musste jeden Cent umdrehen. Miete und Einstellgebühr konnte sie gerade noch bezahlen, doch wieder trug sie Jeans, Pullis und Schuhe aus zweiter Hand. Ihr Äußeres entsprach immer mehr ihrem inneren Zustand: Zerrissenheit, Bedürftigkeit, Armut.

 

»Du wirkst gereizt, Nandini.« Ihr Chef stellte den Karton mit den Plastiktöpfen lauter als sonst auf den Tisch. »Gehen wir nach hinten.«

Er stand mit dem Rücken zu ihr und blickte aus dem Fenster. »Kunden haben sich schon über dich beschwert. Du lässt alles rumliegen, gestern haben wir einiges wegwerfen müssen, weil es vertrocknet ist. Wir haben lange nichts gesagt, Nandini, aber so geht es nicht weiter.« Er räusperte sich. »Wir sind gezwungen einzusparen, die Zeiten werden härter. Es tut uns leid.«

 

»Und jetzt?« Melanie hielt ihr die Zigarettenpackung hin. »Nimm gleich die ganze.«

»Danke.« Nandini zündete sich eine Zigarette an und steckte den Rest in ihre Jeans. »Keine Ahnung. Kellnerin? Lagerarbeiten? Was weiß ich.«

»Du meldest dich, wenn du Hilfe brauchst.«

»Mach ich.«

»Bis morgen. Kommst du zum Reiten?«

»Was soll ich sonst tun?«

 

In den Folgemonaten schrumpften Nandinis Geldmittel. Sie verkaufte nächtens Rosen, spendete Blut und Plasma öfter, als es ihr guttat, oder jobbte als Thekenhilfe.

Ihr neuer Chef musterte sie von oben bis unten. »Zieh dir was Weites an, du weißt schon, vorne offen. Beug dich vor, das ist gut fürs Geschäft.« Er grinste dreckig. »Und lass den BH weg. Das bringt Trinkgeld.«

Nandini spülte Geschirr, räumte die Tische ab, säuberte die Barhocker und sortierte Leerflaschen in Kisten. Je später die Stunde wurde, umso öfter spürte sie die lüsternen Blicke der Männer auf sich.

Sie zerrte einen Karton zerdrückter Dosen durch den Hintereingang.

»Willst dir was verdienen?« Der Schatten lümmelte an den Mülltonnen. »Einen Zwanziger. Für ... na du weißt schon.«

Nandini stellte es die Nackenhaare auf. »Da läuft heute gar nichts.« Sie warf die Dosen in den Container und knallte den Deckel zu. »Hau ab, sonst hetz ich dir meinen Freund auf den Hals.«

»Zier dich nicht so.« Der Mann trat auf sie zu. »Ich erhöhe auf fünfzig. Bar auf die Kralle.«

»Verpiss dich. Ich bin nicht so eine.« Sie lief zum Eingang und zog die Tür hinter sich zu.

»Zeig ihnen mehr, mach ihnen lange Zähne.« Ihr Chef stand im Flur und klapste ihr auf den Po. »Keine Angst. Bellende Hunde beißen nicht.« Er strich ihr mit dem Finger über den Busen. »Hast ja ein ordentliches Kapital da vorne, mach was draus.«

Nandini biss sich auf die Lippen. Sie hatte bei vier anderen Stellen dasselbe erlebt und deswegen gekündigt. Jetzt lief es schon wieder gleich.

 

»Ich muss dich sprechen. Dringend.« Nandini saß auf dem Boden ihres Wohnzimmers, ihr Handy in der Hand, sie war schweißgebadet.

»Was ist los?« Melanie brüllte ins Telefon, im Hintergrund war ein Höllenlärm. »Alles okay mit dir?«

»Es geht mir scheiße.«

»Ich bin in der Kneipe von neulich. Komm du doch her, dann quatschen wir.«

»Bin unterwegs.«

 

»Wie siehst du denn aus? Was ist passiert?«

»Hast du was?« Nandini kam nah an Melanies Ohr. »Nur noch einmal. Bitte.«

»Nein, ich pausiere gerade.« Melanie kramte in ihrer Handtasche. »Aber da, ich borg dir nochmal zwei Scheine. Da drüben, der Typ kann dir helfen.«

Nandini wechselte zwei Noten gegen ein Briefchen und schlich zu Melanie zurück. Sie halbierte den Packungsinhalt und schnupfte es hoch. Das restliche Päckchen schob sie unter ihren Gürtel.

»Jetzt rück schon raus, was hat dich getreten?« Melanie zündete sich eine Zigarette an.

Nandini druckste herum, gab sich dann aber einen Ruck. »Ich hab Angst, dass ich schwanger bin.«

Melanie fiel der Stummel aus der Hand. »Herrgott nochmal. Sag, bist du übergeschnappt?« Sie bückte sich und hob den Stängel auf. »Bist du dir sicher?«

»Ich warte bald schon zwei Wochen auf meine Tage.«

Melanie starrte Nandini an. »Nicht verhütet?«

»Klar, haben wir.«

»Du lieber Himmel. Und was sagt Raffael dazu?«

Plötzlich schossen Nandini Tränen über die Wangen. »Hat sich vertschüsst, nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich vielleicht schwanger bin.« Sie wischte sich mit einer Serviette übers Gesicht. »Hat mich angerufen, wahrscheinlich hast du wieder rumgebumst, hat er nur gestammelt, ich lass mir das jetzt nicht anhängen. Ich hatte nichts mit einem anderem, hab ich geantwortet, aber er hat aufgelegt.« Nandini schnäuzte sich. »Einfach abgedrückt, weißt du? Schluss gemacht, am Telefon. Keine Frage, wie`s mir geht, ob ich etwas brauche. Kein Gruß, gar nichts, nicht einmal meinen Namen hat er mehr genannt.«

»Dieser Scheißkerl.« Melanie ballte die Fäuste und blickte sich um. »Lass uns da rüber gehen, da ist es ruhiger. Ich brauch jetzt einen Drink und du auch.« Sie schnippte nach dem Kellner. »Bist du dir sicher, dass du schwanger bist? Hast du einen Test gemacht?«

»Na, seit zwei Wochen eben keine Tage. Und für einen Test hab ich kein Geld.«

»Mein Gott, hättest ja was sagen können. Und das mit den zwei Wochen, das kann an deinem Lebensstil liegen. Die Nachtschichten, der Stress, deine Geldsorgen. Das wirft einen Körper schon mal ordentlich durcheinander.«

»Ja schon. Aber was ist, wenn doch?« Nandini spürte einen Knödel in ihrer Magengegend. »Weißt du, wer so was wegmachen kann?«

»Sag, spinnst du? Du willst es abtreiben?«

»Weiß ich noch nicht. Nur für den Fall, dass. Wie soll ich denn alleine über die Runden kommen?«

Die Türen des Lokals flogen auf.

»Razzia. Alle aufstehen. Niemand verlässt das Lokal, Hände über den Kopf, in einer Reihe aufstellen.« Mehr als zwanzig Polizisten stürmten die Räume.

»Au, Scheiße.« Nandini rutschte vom Hocker und griff an ihren Gürtel. Das Briefchen.

Melanie war kreidebleich und starrte in Richtung der Polizisten. »Jetzt nur nicht auffallen.« Sie bewegte sich langsam zur Toilette.

»Bleiben Sie stehen.« Ein Beamter schoss auf Melanie zu und zog sie zu den anderen in einer Reihe. »Hinstellen und warten.«

Nandinis Schädel hämmerte. Sie musste dieses Zeug loswerden. Einfach fallen lassen? Ihre Augen rasten über den Fußboden. Da, eine Handtasche. Halb geöffnet. Nandini täuschte einen Hustenanfall vor, zerknüllte das Briefchen, ließ es in die Tasche gleiten und kickte sie unter den Tisch.

Ein anderer Beamter steuerte direkt auf sie zu. »Was hast du in deinen Händen?«

»Nichts.«

»Wie alt?«

»Vierundzwanzig.«

»Gekifft?«

»Nein.«

»Das sagt ihr alle. Zeig mir, was du in den Hosentaschen hast.«

Zitternd zog Nandini mehrere alte Fahrscheine, einen Schlüsselbund und einen Tampon hervor.

Der Beamte drehte sie zur Wand. »Hände hinter den Kopf, die Ellbogen hierhin, Beine auseinander. Wo hast du das Zeug versteckt?«

»Ich hab nichts, ehrlich.«

Roh klopften seine Hände ihren Körper ab.

»Okay. Sauber. Stell dich dort hinüber.«

Nandinis Knie knickten weg, sie musste sich an den Tischen entlangziehen und stellte sich zu den Anderen. Sie beobachtete diesen Alptraum wie durch einen Nebel. Alle wurden untersucht, vier Dealer mit Handschellen aus dem Lokal geführt.

An der Kneipentüre wurden Stimmen laut. Nandini fuhr entsetzt zusammen. Ihre Freundin wurde weinend und heftig gestikulierend abgeführt. Die Polizistin hinter ihr trug eine Handtasche.

Es war Melanies Tasche gewesen, in die sie den Stoff geworfen hatte.

 

Die wenigen, die noch da waren, flüsterten und suchten ihre Sachen zusammen. Dann verließen sie mit eingezogenen Köpfen die Kneipe.

Nandini lief wie in Trance zu ihrer Wohnung, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Versteinert saß sie auf dem Fußboden ihres Wohnzimmers und starrte auf Melanies Telefonnummer.

Es war früher Morgen, als sie endlich den Mut fand und auf die Anruftaste drückte.

Kapitel 9

 

Ovessa, 26.000 Meter über der Erde
2478 n.Chr.

 

»Frau Doktor Abygail wird ins Oval gebeten. Frau Doktor Abygail. Ins Oval. Sofort.«

Die Ärzte rund um sie starrten sie an. Sie war gerade mit ihrem Dienst fertig geworden und wollte sich auf den Weg zu Ethan machen. Zur Leitung der Kommandozentrale beordert zu werden, verhieß nichts Gutes.

Das Säuregefühl in ihrem Magen musste sie überspielen, sie strich sich den Arztkittel zurecht und machte sich auf den Weg zum Lift, der in die oberste Etage führte.

Nach sieben Minuten verließ sie bereits wieder das Oval. Als sie auf der Straße war, rannte sie, so schnell sie konnte, zu den Wohneinheiten. Sie hatten genau zweiundzwanzig Minuten, bis die Militärfahrzeuge eintrafen.

 

»Das Militär ist auf den Weg hierher«, schrie sie und warf die Tür hinter sich ins Schloss. »Los, beeil dich. Sie holen dich ab.«

»Was ist passiert?« Ethan sprang hoch, sein Buch fiel zu Boden.

»Sie behaupten, zu viele Fehler. Ich halte es für einen Vorwand. Ich glaube, sie ahnen etwas und wollen herausfinden, ob wir türmen. Mach schon. Wir müssen weg.« Mohair riss die Kästen auf, packte die Rucksäcke und warf sie auf die Couch. »Beeil dich, das restliche Zeug, schnell.«

Fieberhaft stopften sie Anoraks und Stiefel in zwei Umhängetaschen.

Mohair schnallte sich einen Rucksack auf den Rücken. »Wie abgemacht, getrennt. Treffpunkt Station.«

»Wann werden sie hier sein?« Ethan schnappte sich die restlichen Taschen.

»In spätestens zehn Minuten. Jetzt mach, dass du wegkommst. Ich liebe dich.« Mohair riss die Wohnungstür auf und sprintete die Stufen hinab.

Ethan hastete ihr hinterher und nahm die andere Richtung.

Bis zur Rampe brauchten sie zwölf Minuten. Seine Route führte über ein verlassenes Fabrikgelände. Sein Herz raste, als er hinter dem Gebäudekomplex den Fußweg hinunter zum Fluss einschlug. Er sah sich um, um diese Zeit ließ sich hier niemand mehr blicken. Die meisten saßen beim Abendessen oder glotzten auf ihre Bildschirme, auf denen Propagandasendungen die Hirne aller in Gleichschritt versetzte.

Das Licht wurde plötzlich gedämpfter. Ein Blick auf Uhr der Kommandozentrale, in fünfzehn Minuten würde es stockfinster sein. Die Stromkreise wurden abends auf Sparbetrieb gesetzt. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Wurde auch der Schwebelift abgeschaltet? Daran hatten sie nicht gedacht. Er rückte die Taschen zurecht und rannte schneller. Noch eine Unterführung, jetzt lag es endlich vor ihm, das Gebäude mit der Andockstation. Im Laufen blickte er sich um. Nirgends eine Wache oder ein Wartungswagen. »Mohair?«, schrie er. Sie musste jeden Augenblick auftauchen. Das Sirren von Sirenen zerriss ihm fast das Trommelfell. Er fetzte herum. Acht oder zehn Scheinwerferkegel fegten durch den Tunnel, durch den er gerade gelaufen war. Eine Armada von Militärfahrzeugen schoss auf ihn zu, im Gegenlicht rannte eine Gestalt.

»Mohair!«

Sie deutete etwas mit den Händen und schrie ihm etwas zu. Ethan konnte sie nicht verstehen, der Lärm dröhnte ihm die Ohren zu. In ihren Augen lag Entsetzen. Die Zeit verlangsamte sich. Ihre Blicke verschmolzen ineinander, sie streckte ihm die Arme entgegen, stolperte, fing sich wieder, hastete weiter. Ihre Lippen formten Worte. Renn weg! Ich liebe dich. Dann ihr Schrei. Sie fiel. Blieb liegen. Zwei Militärfahrzeuge. Bremsen quietschten. Dunkle Gestalten sprangen aus den Wagen. Packten sie. Zerrten sie in ein Fahrzeug. Mohair bewegte sich.

Mein Gott, sie lebt.

Die anderen Motoren heulten auf, die Wagen kamen auf ihn zugerast. Er starrte wie hypnotisiert in die Scheinwerfer.

Renn und steig in den Lift. Mohairs Stimme schien aus seinem Kopf zu kommen. Schnell drehte er sich um, preschte zum Eingang, riss die Tür auf, unzählige Stufen, die spiralförmig nach unten führten. Er schlitterte am Geländer entlang, nahm mehrere gleichzeitig. So weit waren sie noch nie. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Was, wenn die Lifttüren verschlossen waren? Eine Panikattacke bahnte sich an. Luft. Nur nicht jetzt.

Atme! Mohairs Stimme.

Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Schweiß brannte in seinen Augen. Er warf eine der Taschen weg. Zu schwer. Die Gebäudetür über ihm wurde aufgerissen. Taschenlampen blitzten auf. Lichtkegel prasselten auf ihn nieder.

»Bleiben Sie stehen. Es ist zwecklos.«

Die erste Tür war unverschlossen. Dahinter zwei weitere. Welche? Seine Gedanken rasten.

Die linke. Wieder kam ihre Stimme aus seinem Kopf.

»Mohair?«

Nimm die linke!

Er jagte auf die Türe zu, sie öffnete sich, er trat durch. Der Orbitlift, er stand mittendrin. Die Wände, die Decke, der Fußboden, alles war aus Glas. Unter ihm gähnende Tiefe. Vor ihm rote Kontrolllichter. Wie ist er zu starten? Plötzlich ein zischendes Geräusch und ein Vibrieren. Der Startmechanismus musste sich ausgelöst haben. Die Anzeige des Kontrollpanels flammte auf. STARTEN – JA – NEIN.

Die Tür des Zugangstunnels wurde aufgerissen. Männer stürzten auf ihn zu, die Kegel der Taschenlampen machten ihn fast blind. Mit beiden Händen drosch er auf STARTEN - JA. Augenblicklich wurde er an die Wand geschleudert, sein Magen hob sich. Der Schwebelift hatte sich aus der Verankerung gesprengt und seinen Fall in die Tiefe begonnen.

Ethan riss die Augen nach oben. Verschwommen konnte er die auf ihn gerichteten Lichtkegel erkennen, die in rasendem Tempo kleiner und kleiner wurden.

Er versuchte, sich hochzuziehen. Mohair! Meine geliebte Mohair!

Kapitel 10

 

Salzburg

»Mach schon, heb ab, Melanie!« Nandini zählte die Freizeichen, es fühlte sich endlos an.

»Frau Birago?« Es war eine männliche Stimme.

Sie holte überrascht Luft. »Entschuldigung, dass ich so früh ... ich ... kann ich ... ist Melanie da?«

Kurzes Schweigen. »Unsere Tochter ist für Sie nicht mehr zu sprechen. Unterlassen Sie in Zukunft jeden weiteren Anruf. Guten Tag.« Es wurde aufgelegt.

 

Volker füllte gerade die Futterboxen. »Jetzt auch noch du? Seid ihr alle aus dem Bett gefallen?«

»Ich suche Melanie.«

»Zu spät.« Er spuckte auf den Boden und schob sich den Hut in den Nacken. »Ihr Pferd wurde abgeholt. Wird angeblich verkauft.«

»Verkauft? Aber wieso denn?«

»Keine Ahnung. Ihre Eltern waren da. Rauf auf den Hänger, bezahlt und weg. Ohne eine Erklärung. Muss was Gröberes passiert sein.«

 

 

Nandini brach mit ihren Freunden, kümmerte sich noch in derselben Woche um einen Job als Zeitungsausträgerin, nahm wieder mit ihrer Figur Lily Kontakt auf und begann wie wild zu zeichnen.

Ihr glücklichster Tag war jener, an dem ihre Menstruation zurückkehrte. Sie hüpfte vor Freude die Stiegen hinunter und fiel ihrer Vermieterin um den Hals, die gerade die Stiegen schrubbte.

»Frisch verliebt?«

»Ja, ins Leben!«, rief sie, lief auf die Straße und nahm den Weg zur Bibliothek. Sie hatte sich wieder an jene Zeiten erinnert, in denen sie stundenlang in ihre Bücher versunken war.

Sie stemmte zwei Stapel auf das Pult.

»Na, da hast du dir ja einiges vorgenommen.« Die Dame an der Ausgabestelle begann, jeden Titel zu notieren. »Bist wohl auf der Suche nach dem großen Glück?«

 

In jeder freien Minute steckte sie die Nase in jene Bücher, die zu erklären suchten, wie man sich die Realität erschafft.

»Denke positiv.«

»Sei Architekt deines Schicksals.«

»Träume dich reich.«

Es gab offenbar Wege, sich ein erfülltes Leben zu ersinnen. Sie formulierte positive Affirmationen, versuchte, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bringen, und meditierte im Duft von Räucherstäbchen. Sie studierte das I-Ging, suchte im Tarot nach dem Sinn ihres Daseins und nippte am Saft von Pilzen während schamanischer Wochenendseminare.

Das eine oder andere schien tatsächlich zu funktionieren. Die Menschen auf der Straße wirkten fröhlicher, der Bäcker legte ihr öfter eine Semmel mehr in den Einkaufskorb, das Fahrrad auf dem Fetzenmarkt wurde ihr fast geschenkt. Ihre Übungen auf Rosenstolz gelangen besser denn je, Bommels Fell glänzte wie noch nie. Als nach einem Jahr Steve mit einem Bund Rosen vor der Tür auftauchte, fühlte sie sich angekommen. Endlich stand sie mit beiden Beinen im Glück.

Aber irgendetwas war faul. Etwas fehlte. Erst versuchte sie, es durch noch mehr Praxis wegzuleugnen, vergrub sich in den Schriften von Alice Bailey, sinnierte über den kabbalistischen Lebensbaum und jagte von einem yogischen Weg zum nächsten. Doch das Taubheitsgefühl in ihrer Brust wurde größer, statt kleiner. Sie praktizierte intensiver, war stolz auf ihren Kopfstand, schielte aber neidisch auf jene, die bereits levitierten. Am Buch ein Kurs in Wundern biss sie sich die Zähne aus, die Kabbala schien unergründlich, die Lehren der Weißen Magie zu einer Welt zu gehören, die sich gegen sie verschworen hatten. Sie saß sich bei den Meditationen den Po wund und verfing sich, anstatt in Stille zu kommen, in den scheinbar widersprüchlichen Aussagen der vielen Meister. Zu allem Überfluss verlor sie auch noch ihren Job, ihre finanzielle Lage kippte einmal mehr, der Arbeitsmarkt schien wie zugenagelt.

»Demnächst überweisen.« Ihre Vermieterin kam nicht persönlich, es waren Zettel, die sie unter ihrer Wohnungstür durchschob.

»Die gehören erneuert.« Volker klopfte auf die Hufe von Rosenstolz. »Und zwar rasch.«

Bommel musste in die Klinik, Operation einer Zyste. Die Honorarnote verzehrte ein Drittel ihres Monatslohns.

Mit Steve lieferte sie sich so heftige Wortgefechte, bis diese Beziehung zerbrach. Warum verabschiedeten sich auch Ernest, Ulrich und Jakob schon nach wenigen Monaten wieder? Sie tat doch alles für sie und verbog sich mehr und mehr, um ihnen zu gefallen.

Immer öfter landete sie bei jenen Gedanken, die angstvoll und destruktiv waren.

 

 

Es war bereits weit nach Mitternacht. Sie starrte auf ihr Handy, wartete auf Viktors Anruf, weil sie auf eine Aussprache hoffte, nach ihrem letzten Streit. Wann haben wir nicht gestritten? Gedankenverloren scrollte sie durch die Adressliste.

Pauls Nummer.

Wie lange war es her, dass er sie hierher gebracht hatte? Fast acht Jahre. Was war das noch gewesen damals, das mit dem verborgenen Segen?

Nandini legte das Handy zur Seite, rieb sich die Schläfen. Worin nur lagen die Geschenke in all ihren Problemen? Sollte sie ihn anrufen? Doch sie musste die Antworten selbst finden, würde er sagen, wie damals und wie hätte sie ihm erklären sollen, warum sie sich so lange nicht gemeldet hatte?

Sie schob sich hoch und steckte das Handy weg. »Bommel, komm.« Leise tappte sie mit ihm die Treppe hinunter und trat in die Nacht hinaus. Wie schon so oft schlug sie den Weg zum Villenviertel ein, mit den vielen schmucken Häusern. Dort blieb sie vor den Gärten stehen mit den blühenden Hecken, gepflasterten Einfahrten und gepflegten Rasen. Wie elendig sie sich fühlte, als Zaungast vor den heilen Welten mit ihren Sonntagnachmittagen im trauten Familienkreis. Worin nur lag deren Geheimnis? All diese Menschen schienen im Besitz jenes Schlüssels zu sein, der ein wohlgeordnetes Dasein garantierte. Warum war sie die Einzige, die diesen Geheimcode zu einem glücklichen Leben nicht kannte? Oder waren sie alle am selben Punkt wie sie, sprachen nur nicht über die Leere, die auch in ihnen gähnte, logen oder spielten eine heile Welt vor, die es auch für sie nicht gab?

Der Morgen graute, als sie in ihre Wohnung zurück schlüpfte. Viktor hatte nicht angerufen. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und blickte auf all die Bücher, die sich über die Jahre angesammelt hatten. Hätte sie nicht längst viel weiter sein müssen, nach all den Hunderten von Seiten mit all ihren Wahrheiten? Sie vergrub den Kopf in den Armen und riss sich an den Haaren. Mit voller Wucht fiel sie in die Messer ihres Hasses auf sich selbst.

 

Emmanuel berührte sie sanft an der Schulter, doch sie spürte ihn schon lange nicht mehr. Sein Erdenkind hatte sich im Dickicht von Erfahrungen anderer längst verloren.

 

 

Die Stadt schien im Nebel zu versinken. Nandinis Reitjacke war klitschnass vor Schweiß, der kalte Wind ließ sie frieren.

Volker hob die Peitsche. »Und jetzt in den Stützschwung.«

Nandini nahm die letzte Kraft zusammen, schwang sich nach hinten, tauchte mit dem Oberkörper ab und drückte sich in den Handstütz.

»Gut so!«

Sie öffnete die Beine und saß wieder weich ein. Rosenstolz wechselte in einen leichten Trab. »Puh, das war aber heftig heute.« Sie zog sich die Handschuhe ab und klopfte ihm den Hals.

»Fertig für heute.« Volker wickelte die Leine auf. »Wir müssen reden, Nandini.«

Sie drehte sich zu ihm. Sein Ton war schärfer als sonst.

Volker rückte sich den Hut zurecht. »Das war die letzte Stunde. Du bist vier Monate im Rückstand.«

Sie wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. »Ich hab was in Aussicht, ehrlich.«

»Wie oft hab ich diese Worte schon gehört?«

»Nächsten Monat kann ich alles bezahlen, ganz sicher.«

»Nein. Entweder du zahlst den ausstehenden Betrag bis Ende dieser Woche, oder du verlässt den Reitstall.«

Nandini schluckte. »Heute hab ich Geburtstag, könnte man da nicht ein Auge zudrücken?«

»Na, dann alles Gute. Wie alt bist du?«

»Sechsundzwanzig.«

»Dann bist du kein Kind mehr. Wird Zeit, dass du dein Leben auf die Reihe kriegst. Bis Ende der Woche.« Volker drehte sich um und stapfte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Nandini brauchte eine Weile, um diesen Schock zu verdauen. Sie nahm Rosenstolz bei den Zügeln und trottete zu den Ställen. Bommel kam wie immer auf sie zugelaufen, zog jedoch plötzlich den Schwanz ein und winselte. Er schien ihre Tränen zu bemerken.

»Wir müssen weg von hier.« Sie beugte sich zu ihm und kraulte ihm das Fell. »Aber ich verspreche euch: Ich such uns was Neues. Egal, was passiert.« Eng drückte sie sich an Rosenstolz und legte ihm die Arme um den Hals. »Wir bleiben zusammen. Das schwöre ich euch.« Den Apfel in ihrer Jackentasche steckte sie ihm ins Maul. »Alles Gute zu meinem Geburtstag.« Ein Blick auf ihr Handy, Viktor hatte nicht angerufen.

»Nandini, Nandini, Papa schickt dir das. Alles Gute zum Geburtstag.« Rosa trippelte in ihren viel zu großen Reitstiefeln auf sie zu, in den Händen ein Stück Kuchen.

»Pass auf, Rosa, vor dir!«

Zu spät. Rosa stolperte über einen Wasserkübel, der Kuchen landete auf der Erde. Rosa begann zu weinen.

Nandini war mit einem Satz bei ihr und zog sie hoch. »Den lass ich mir schmecken. Jeden Krümel. Ich danke dir.« Sie klaubte die Stücke zusammen und steckte sie ein. »Rosa. Schau mal dort drüben. Holen wir Pumba vom Baum? Mir scheint, er traut sich nicht mehr herunter.«

Gemeinsam stapften sie zu jenem Ast, auf dem die Hauskatze die Nachmittagssonne zu genießen schien. Nandini hob Rosa hoch, diese angelte sich den Kater und drückte ihn an die Brust.

»Du hast Pumba soeben das Leben gerettet.« Sie ließ das Kind sanft wieder auf den Boden gleiten.

»Du, Nandini. Ich mag dir was ins Ohr flüstern.«

Sie ging in die Knie und drückte Rosa an sich.

»Ich bete zum lieben Gott, dass ich so werde wie du.«

Nandini wandte ihr Gesicht weg von ihr. »Das lass mal lieber.« Sie wollte nicht, dass das Kind ihre Tränen sah.

Die Abendsonne warf bizarre Schatten, schwarzen Blutflecken gleich, in den tief verhangenen Himmel. Ihre Knie fühlten sich an wie Watte, als sie den Reitstall verließ. Der Gedanke, an ihrem Geburtstag alleine in ihren vier Wänden zu sitzen, war unerträglich. Sie wickelte sich in ihre Jacke, zog Bommel nah zu sich und schlug den Weg ein, den sie so oft schon gegangen waren. Zum Villenviertel.

 

Es war finstere Nacht, als beide die Treppe hochschlichen. Leise, damit die Vermieterin sie nicht hörte, öffnete und schloss sie die Wohnungstüre. Rasch wechselte sie ihre Kleidung und rieb Bommel mit einem Handtuch ab.

Sie blickte wieder auf ihr Handy, ob sich Viktor endlich gemeldet hatte. Stattdessen waren es zwei Anrufe von Susan.

»Du fehlst mir gerade noch«, murmelte sie und drückte auf Löschen. Sie ging zum Kühlschrank, er war gähnend leer. »Dann feiern wir meinen Geburtstag eben mit einer Diät.«

Sie hatte keine Lust, das Licht anzudrehen. Der Schein einer Kerze war ihr in diesem Moment ausreichend. Ihr Blick fiel auf die vielen Schreiben auf dem Tisch. Der dritte eingeschriebene Brief von der Bank. Die achte Zahlungsaufforderung ihrer Vermieterin. Das offene Honorar der Tierklinik und des Hufschmieds. Sie vergrub den Kopf in den Händen. Was ist das für ein Scheißleben? Zum ersten Mal flammte in ihr der Gedanke auf, mit allem Schluss zu machen. Das Leben ist ein Kampf, den ich nie gewinnen kann. Die Wände des Zimmers schienen immer näher zu kommen.

Bommel winselte.

Sie beugte sich zu ihm, kraulte ihm das Fell. »Ich weiß nicht mehr weiter, Bommel. Ich kann nicht mehr.«

Er legte seine Pfoten auf ihren Schenkel und stupste sie mit der Schnauze. Mit großen Augen blickte er sie an und hechelte.

Lange sah sie ihn an. »Okay, du treuer Freund.« Sie zog sich hoch. »Ich lass dich nicht alleine.«

Was sie jetzt brauchte, war Hilfe. Sofort. Doch an wen konnte sie sich wenden? Susan? Niemals. Melanie? Keine Chance. Paul! Ja, Paul. Er hat es mir versprochen!

Sie griff nach dem Handy, suchte seine Nummer. Der Anrufbeantworter, sie legte auf. Was sollte sie ihm sagen? Dass sie Geld benötigte? Unsinn. Aber Paul war der Einzige, der ihr einfiel. Sie atmete durch und drückte wieder die Anruftaste.

Die monotone Stimme spulte ihren Spruch ab. »... dann sprechen Sie jetzt.«

»Paul. Bitte.« In diesem Moment brachen alle Dämme. »Bitte hilf mir, Paul«, schluchzte sie. »Ich weiß nicht mehr weiter. Bitte, Paul!«

»Vielen Dank für Ihren Anruf.« Es piepste.

»Ist doch sinnlos nach so vielen Jahren!« Sie warf das Handy gegen die Wand, wo es in Einzelteilen zu Boden krachte. »Als ob er sich noch an mich erinnert!« Erschlagen glitt sie auf ihr Bett. Schlafen, nur noch schlafen. Mein Gott, hilf mir! Ich flehe dich an, hilf mir! Sie zog sich die Decke über den Kopf und rollte sich ein.

Das Klopfen von Bommels Schwanz entfernte sich mehr und mehr.

 

Das Läuten an der Wohnungstür riss sie hoch. Benommen befreite sie sich von ihrer Decke, sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. Draußen war es stockdunkel, die Kerze warf unruhige Schatten an die Wand.

Wieder klingelte es.

Sie blieb regungslos liegen. Wenn es die Vermieterin war, würde sie nicht zuhause sein.

Es läutete ein drittes Mal, diesmal länger.

Paul? Ihr Herz begann zu rasen. Hat er meinen Anruf abgehört? Sie sprang aus dem Bett und eilte zum Spiegel, fuhr sich mit den Händen durch die Haare, rieb sich die Wangen und Lippen.

Wieder läutete es.

»Ich komme schon! Bin schon da!« Sie eilte zur Tür und riss sie auf. »Du meine Güte!« Vor Entsetzten schlug sie die Hände vors Gesicht. »Mutter!«

Susan starrte sie an. »Mein Gott, wie siehst du denn aus? Dein Haar! Und wie dünn du geworden bist.«

Nandini tastete nach der Schnalle und zog die Tür hinter sich zu. »Was tust du hier?«

»Möchtest du deine Mutter nicht hereinbitten?«

»Natürlich. Entschuldige.« Nandini machte eine halbherzige Handbewegung und trat einen Schritt zurück. »Du ... du hast doch nicht vor, hierzubleiben?«

Susan bückte sich und griff nach einer Reisetasche. »Ich habe mehrfach versucht, dich zu erreichen. Na ja, du hebst ja nie ab, wenn ich anrufe.«

Nandinis Gedanken rasten. »Hab viel um die Ohren.«

»Viel um die Ohren?« Susan schob sich an ihr vorbei. »Das haben wir doch alle.« Sie blickte sich um.

»Was willst du hier?« Sie bemerkte in den Augen Susans einen Ausdruck von Trauer und Niederlage. Da war aber auch ihr vorgestreckter Kopf, das verhärtete Gesicht mit dem schmalen Mund, zusammengepresst, wie immer.

»Du hast heute Geburtstag.« Susan lächelte gequält. »Da dachte ich -.«

»Das wäre nicht nötig gewesen.« Sie musste einen Weg finden, wie sie ihre Ziehmutter am schnellsten loswerden konnte. »Du kommst ungelegen, ich erwarte Freunde.«

»Um diese Zeit? Ich dachte, die Party ist bereits vorbei, so wie es hier aussieht.«

Nandini spürte, wie ihr Hals anschwoll. »Das geht dich nichts an.« Mit einem Schlag standen wieder alle alten Konflikte zwischen ihnen. »Misch dich nicht in meine Angelegenheiten!«

»Nandini! Als deine Mutter ...«

»Du bist nicht meine Mutter. Sag mir, was du hier willst.«

»Entschuldige.« Susan schloss die Augen und atmete tief durch. »Ich war in der Stadt. Da dachte ich, ich könnte vielleicht bleiben.«

»Tut mir leid, geht nicht.«

Susan erstarrte. »Verstehe.« Ihre Lippen wurden noch schmaler. »Ich sehe, es war ein Fehler, hierher zu kommen.« Sie wandte sich um, nahm ihre Tasche hoch und ging zur Tür. Plötzlich hielt sie inne. »Bevor ich gehe.« Sie stellte die Tasche ab, bückte sich und kramte ein Päckchen hervor. »Ich möchte dir etwas geben. Deine Mutter hat mir das hier geschickt.«

»Meine Mutter?« Nandini taumelte zurück. »Meine Mutter ist doch tot!«

Susan biss sich auf die Lippen. »Oh, das habe ich gesagt, ja.«

»Aber ...« Nandini wurde schwindlig. »Meine Eltern sind doch bei einem Unfall ums Leben gekommen.«

»Nandini.« Susan fuhr sich mit den Händen über die Augen. »Ich muss mich setzen, mir ist nicht gut. Hast du ein Glas Wasser für mich?«

»Dann leben meine Eltern?« Nandini schnappte nach Luft und ballte die Fäuste.

»Langsam, gib mir etwas Zeit.« Susan zog sich auf einen Stuhl. »Wir wissen nur von deiner Mutter, von deinem Vater gibt es keine Nachricht.«

»Dann leben sie noch?« Nandinis zitterte so stark, dass sie sich festhalten musste. »Warum hast du mich angelogen? Wo sind sie?«

»Lass mich erklären.«

»Erklären? Sie leben, sagst du? Warum bin ich dann im Waisenhaus gelandet?«

»Setz dich erstmal und beruhige dich!« Susan legte das Päckchen auf Nandinis Bett, drückte sich hoch und fasste sie an den Schultern.

»Fass mich nicht an!« Nandini schlug ihr die Hände zurück. »Meine Eltern leben, du machst mir das Leben zur Hölle und jetzt sagst du, ich soll mich beruhigen?«

Susan reckte den Kopf vor. »Wie erklärst du einem Kind, dass ihre Mutter eine Prostituierte ist? Das war das Einzige, was die Behörden damals herausgefunden haben, als du in einem Kinderwagen aufgefunden wurdest. Von deinem Vater gab es gar keine Spur. Er war wohl irgendein Freier. Ich musste die Geschichte mit dem Unfall erfinden, um dir wenigstens irgendeine Antwort auf deine vielen Fragen zu geben.«

Nandini sank auf ihr Bett. »Meine Mama? Eine Prostituierte?« Ihre Stimme war heiser. »Mama, hat mich weggelegt? Bitte sag, dass das nicht wahr ist.«

»Das ist leider die Wahrheit.« Susan zog die Schultern hoch und stand auf. »Wir erfuhren nie mehr etwas von ihr. Es lag ein Zettel in deinen Händen. Nennt sie Nandini, stand drauf. Und ja, verzeih mir, mein Kind. Mehr konnten wir nicht herausfinden.«

Nandini hörte Susans Worte wie durch einen Wattebausch. Alles war verschwommen, sie tastete sich die Bettdecke entlang, als ob sie etwas zu finden hoffte. Sie versuchte, sich auf die Beine zu schieben, doch es gelang ihr nicht.

»Deine Mutter hat das Paket an meine Adresse geschickt«, fuhr Susan fort. »Keine Ahnung, wie sie die gefunden hat. Es war kein Absender drauf.«

»Meine Mama eine Prostituierte.« Ihre Zunge fühlte sich an, als sei sie ein dicker Klumpen. »Einfach weggelegt.« Sie schüttelte den Kopf. »Geh. Bitte geh. Lass mich alleine!«

Susan trat nah an sie heran und bückte sich zu ihr. »Soll ich nicht besser bleiben? Ich könnte dir Tee kochen oder eine Suppe?«

Nandini blickte an ihr vorbei. »Hau ab.« Sie sank auf den Boden, wusste plötzlich nicht mehr, wohin mit ihren Tränen. »Ich muss jetzt allein sein. Geh! Lass mich in Frieden.« Sie rollte sich ein und vergrub den Kopf in den Armen.

»Wenn du meinst.« Susan nahm ihre Tasche und verließ den Raum. Leise schloss sie die Wohnungstür hinter sich.

Bommel winselte. Nandini hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Sie kroch zum Fenster und zog sich hoch. Susan trat aus dem Gebäude, blieb stehen und starrte auf den Asphalt. Dann drehte sie sich um und blickte zu ihr hoch.

Nandini trat einen Schritt zur Seite. Jede Kraft war aus ihrem Körper gewichen. Sie schleppte sich zum Bett und ließ sich fallen. Unter sich das Päckchen. Sie quälte es hervor und öffnete es. Ein kleiner Gegenstand fiel ihr auf die Brust. Im Halbdunkel versuchte sie zu erkennen, was es war. Es fühlte sich metallisch an, kalt und rund, mit einer Wölbung in der Mitte. Es war ein Medaillon, in Silber, in Form einer Schlange. Gab es eine Nachricht?

Die Schachtel war leer.

Der Karton fiel auf den Boden, sie drückte das Kleinod an ihr Herz. Ihr Schädel hämmerte. »Mama!«, flüsterte sie, alles um sie herum begann sich zu drehen. »Mama, warum hast du mich weggelegt?«

 

Kapitel 11

 

Klosterneuburg

 

Paul warf einen Geldschein auf die Theke und schob sich vom Hocker. »Für heute reicht es.«

»Nimm`s nicht tragisch. Eines Tages steht sie wieder vor der Tür.« Der Barkeeper stellte das Glas in die Spüle.

»Dazu hätte sie genug Zeit gehabt. Aber ich weiß, wie du es meinst.« Er warf der Kellnerin ein Lächeln zu und bahnte sich einen Weg zum Ausgang.

Draußen atmete er tief durch, die kalte Luft tat ihm gut. Sein Wagen stand gleich um die Ecke, er suchte nach den Schlüsseln und ertastete sein Handy. Mehrere verpasste Anrufe und eine Nachricht. Er startete, wählte seine Mailbox und kurbelte den Wagen aus der Parklücke.

»Paul. Bitte.« Jemand weinte. »Bitte hilf mir, Paul.« Ein tiefes Schluchzen. »Ich weiß nicht mehr weiter. Paul!«

Er lenkte zum Straßenrand und trat auf die Bremse. War das nicht die Stimme von Nandini? Er hörte sich die Nachricht noch einmal an. Dann noch einmal.

Das war sie.

Sein Rückruf war erfolglos, diese Nummer war nicht erreichbar. Seine Finger trommelten auf das Lenkrad. Noch einmal versuchte er es. Nichts.

Ein Blick auf die Uhr, er überlegte, wie viel er getrunken hatte, dann warf er den Blinker und gab Gas.

Kapitel 12

 

An den Westhängen der Sierra Nevada
2478 n.Chr.

 

Ethan drehte sich auf den Bauch, kroch aus dem Verschlag und stemmte sich hoch. Es war kühl, er hauchte auf seine Finger. Das nächtliche Gewitter hatte sich verzogen. Jetzt lag reines Licht in der Luft. Flüssiges Licht, das er am liebsten mit beiden Händen gefasst und getrunken hätte.

»Mohair«, flüsterte er. Die Sehnsucht nach ihr zerriss ihm beinahe die Brust. »Ich muss die Kommunen finden!« Seine Stimme war rau. »Das bin ich dir schuldig.«

Seine aufgeplatzten Lippen schmerzten. Wie durstig er war! Er schob sich zurück in die Bretterbude, die er zum Glück noch erreicht hatte, bevor das Unwetter losgebrochen war. Im Halbdunkel tastete er nach der Wasserflasche. Diese und das Messer waren das Einzige, was ihm geblieben war. Alles andere, was er mitgenommen hatte von Ovessa 47, hatten ihm die Naturgewalten aus den Händen gerissen. Stürme, die ihn vor herabstürzenden Ästen flüchten ließen, Regengüsse, die binnen weniger Augenblicke Bäche in reißende Flüsse verwandelten. Feuer, die nach Blitzschlägen ganze Waldstücke in Brand gesteckt und ihm den Weg abgeschnitten hatten.

Aber er lebte. Ja, er lebte.

Gierig schraubte er die Flasche auf. Wasser! Die letzten Tropfen schüttelte er auf seine Lippen. Er musste zum Fluss. Jenem Fluss, den er am Vorabend noch erkennen konnte, tief unten im Tal. Es würde heiß werden, sobald die Sonne höher stieg. Sehr heiß. Und der Abstieg sah gefährlich aus.

Bevor er sich auf den Weg machte, wollte er die Einkerbungen im Gürtel zählen. Seine Finger tasteten sich am Hüftriemen entlang. Sechzehn Einschnitte, einer für jeden Tag. Er holte das Messer hervor, klappte es auf und setzte den nächsten Schnitt. Der siebzehnte Tag, wo er sie suchte. All jene, die geflüchtet waren von dort oben, wie er.

Er klappte das Messer zu, verstaute es und schulterte sich die Flasche. Dann zog er sich wieder ins Freie, blickte sich noch einmal um. »Ich werde euch finden«, murmelte er. »Wo hält ihr euch versteckt?«

Seine Augen folgten einem Pfad, der ausgetreten schien, er stieg die Halde hinab.

Kapitel 13

 

Salzburg

Sie blickte nach unten. Gähnende Leere. Mit Händen und Füßen versuchte sie, an einem silbernen Strang Halt zu finden. Nach oben ziehen, nach oben! Jede Kraft wich aus ihren Armen. Lieber Gott, steh mir bei. Hilf mir. Lily! Emmanuel! Ihre Handflächen brannten wie Feuer. Nur nicht fallen. Grauer Nebel schob sich näher. Ihre Finger verkrampften sich, die Beine verloren das Seil, sie strampelte, wollte es einfangen, rutsche ab, konnte sich nicht mehr halten. So helft mir doch! Sie bog sich durch, das Seil entglitt ihr. Sie fiel und fiel und fiel ...

 

Mit einem Aufschrei fuhr Nandini hoch. Der Traumfetzen tanzte vor ihren Augen, das Klopfen von Bommels Schwanz dröhnte ihr in den Ohren. Das Bettlaken war schweißgetränkt, trotzdem war ihr eiskalt.

Sie versuchte, sich aufzusetzen, doch Arme und Beine waren wie Blei. Wie spät war es? Zehn nach drei. Bei der Bewegung ihres Armes war ihr etwas auf die Brust gefallen, es fühlte sich metallisch an.

Mit einem Schlag waren die Bilder des Abends wieder da. Tentakeln gleich schoben sie sich auf sie zu, saugten sich an ihr fest. Frage um Frage, erst eine, dann immer mehr, ätzten sich durch ihr Hirn. Warum hatte Mama sie weggelegt? Wer war ihr Vater? Warum hatte Susan sie angelogen, wozu diese Geschichte mit dem Unfall? Auch wenn Mama eine Hure war, warum hatte sie sie nicht trotzdem behalten? Gemeinsam hätten sie es doch geschafft.

Nandini hievte sich aus dem Bett. Sie musste sich bewegen, diese entsetzlichen Fragen abschütteln, vor deren Antworten ihr noch mehr graute. Wie schaffte es eine Mutter, ihr eigenes Kind wegzugeben? Es abzustellen, in einer Seitengasse? Sie hätte sterben, geraubt, verschleppt werden können. Wurde Mama gezwungen? Wenn ja, von wem? Und warum? Wo war sie jetzt? Und wieso, um alles in der Welt, war sie nicht selbst gekommen, um ihr dieses Medaillon zu geben?

Keine Antworten. Sie stützte den Kopf in die Hände. Oder doch? Weit weg, da war etwas. Nein, das konnte nicht sein. Das war Irrsinn.

Oder doch nicht?

Dieser Wahnwitz schlich sich ein, erst harmlos, dann immer erbarmungsloser. Sie schob sich hoch, trat ans Fenster. Ihr Spiegelbild. Das war die Antwort. Der Schmerz durchzuckte sie wie ein Blitz, als ob ein Raubvogel seine Klauen in ihre Eingeweide schlug. Schon als Baby war sie zu hässlich. Das war der Grund! Ihre Geschwister hatten ihr dafür das Leben zur Hölle gemacht. Auch alle auf der Akademie. Mutter war wohl als Hure gezwungen, immer schön zu sein. Und dann so ein abstoßender Balg. So musste es ein. Sie war Mama im Weg. Nicht nur das gesamte Leben spuckte sie aus, auch Mama warf sie weg. Ihre Mutter schämte sich. Schämte sich für sie!

Sie schüttelte den Kopf, wischte sich über die Augen. Nein, das war absurd. Keine Mutter denkt so über ihr Kind. Ich muss wieder klar werden! Sie stolperte zur Küchenzeile, benetzte sich das Gesicht mit kaltem Wasser, raffte sich hoch. Doch einen Augenblick später war es ihr, als ob ein Ungeheuer tief in ihr seinen Weg nach oben fraß.

Hass.

Wut.

Gegenüber Susan. Ihren Eltern. Das ganze Leben.

Sie musste raus hier. Weg von allem. Wo war dieses verfluchte Medaillon? Sie stolperte zum Bett, griff nach dem Kleinod und schleuderte es auf den Boden. »Ich hasse dich! Hau ab, Mama. Haut doch alle ab!«

Sie brauchte Luft.

Rosenstolz!

 

Paul blickte auf das Navigationssystem. Es waren nur noch wenige hundert Meter bis zu Nandinis Adresse. Er rieb sich die Augen. Es hatte wieder zu regnen begonnen, der nasse Asphalt blendete. Da vorne rechts musste es sein.

 

Nandini rannte die Treppe hinunter, lief über die Straße, ihre Füße klatschten durch die Lachen.

Bommel bellte.

Sie fetzte herum. Bommel war ihr nachgelaufen, setzte sich an den Straßenrand und wartete.

»Hierher, Bommel«, rief sie. »Komm zu mir.«

Ihr Hund schnellte hoch. Scheinwerfer von rechts.

»Bommel stopp!«

Er lief über die Straße auf sie zu.

»Nicht, Bommel! Bleib stehen!« Nandini riss die Arme hoch und taumelte ihm entgegen.

 

Die Wischer fegten über die Scheibe. Paul kniff die Augen zusammen, dort war der Hauseingang, ein Stück weiter ein Parkplatz. Er beschleunigte.

Ein Hund sprang von rechts auf die Fahrbahn.

Er verriss nach links.

Ein Schatten.

Ein Schrei.

Ein Knall.

Paul trat in die Bremsen, blickte in den Rückspiegel. Irgendetwas klatschte auf den Asphalt. Ein Hund winselte, die Schnauze in ein gekrümmtes Bündel getaucht.

 

Nandini lag auf dem Asphalt. Das Gesicht am Boden. Alles war still. Im Mund Blut und Staub. Kälte kroch in ihr hoch, die Finger krampften. Sie versuchte, sich hochzustemmen. Ihre Arme verweigerten. Zusammenrollen. Mir ist kalt. Die Beine anziehen. Auf die Seite drehen. Der Körper folgte nicht. Sie versuchte zu schreien. Nichts. Lieber Gott, hilf mir. Ist da wer? So helft mir doch!

»Ich bin bei dir Emmanuels Stimme.

Da war ein Schimmer. Weit weg, der Glanz kam näher.

Jetzt war jemand neben ihr.

Das Licht entfernte sich.

Ein Mann rief sie beim Namen. Sie kannte diese Stimme. Viel zu laut. Eine Hand auf ihrer Schulter, sie rüttelte sie. Es tut so weh.

Wieder dieses Scheinen. Lichtfinger umspielten sie. Sie wollte lachen, und lachte. Wollte fliegen, und flog. Sie hob nach oben ab, blickte in den Himmel. Ein Farbenspiel aus Gold, Grün und Rosa. Mein Gott, ist das schön.

Etwas zog sie zurück auf den Asphalt. Tonnenschwer. Es wurde schwarz um sie. Ein Lid heben. Nur ein wenig sehen. Blaue Lichtfetzen. Viel zu grell. Sirenen. Nicht so laut. »Hören Sie mich?« Türenschlagen. »Können Sie das spüren?« Ihr zerreißt mich. Jemand zwickte ihr in die Nase. Tut mir nicht so weh! Lasst mich doch! Bitte!

Irgendetwas riss sie nach oben. Da unten lag sie, lag ihr Körper. Sie empfand nichts dabei. Keine Trauer. Keine Panik. Paul und andere Menschen knieten neben ihr, sprachen auf sie ein. »Paul!«, schrie sie. »Paul!« Er hörte sie nicht. Bommel wurde weggeführt. »Bommel! Hierher! Rosenstolz, wo bist du?« Augenblicklich war sie über ihm. Konnte ihn durch das Dach des Stalls sehen. Sie näherte sich, versuchte, ihn zu kraulen. Es war so anders als sonst. Rosenstolz, ich will zu dir!

Sie spürte Hände, war plötzlich wieder in ihrem Körper. Entsetzte Schreie. Eine Frau weinte. Ich kann nicht atmen. Helft mir doch. Gott im Himmel, lass mich atmen!

Schwerelos. Lichtfinger umschmeichelten sie, Chöre schwollen an. Das Licht blendete, pulsierte, der Duft von Rosen, was für eine Wärme. Ihr Herz öffnete sich, ein Lichtstrom schoss durch ihren Scheitel. Der Lärm saugte sich zurück, die Griffe wurden dumpfer. Die blinkenden Lichter, das Zerren in den Ohren erstarb im Nebel. Nebel, so viel Nebel. Zwei Gestalten näherten sich. Sie blinzelte. Die eine mit wallendem Mantel. Die andere unförmig, mächtig, furchterregend. Beide ließen sich nieder. Neben ihr.

»Könnte sie es sein?«, zischte die Gestalt links von ihr. Sie stank verbrannt.

»Ein bisschen viel Rot, etwas zu wenig Türkis und Blau.« Es war die Stimme auf der anderen Seite. Tief, sonor, ruhig.

»Nicht gut. Gar nicht gut.« Wieder dieses Zischen. »Wir vergeuden Zeit.«

»Aber dafür reichlich Weiß, Grün und Purpur. Ich würde es versuchen.«

»Das hast du letztes Mal auch gesagt.«

»Du hast zugestimmt und wir waren uns bis zuletzt einig.«

Das Ungeheuer links von ihr brach in markerschütterndes Geheul aus. »Wieder so viele Jahre durch Begehren und Schmerz!«

»Es war ihre Entscheidung.« Für einen Moment schwieg die sonore Stimme. »Du warst ja auch heftiger, als wir ausgemacht hatten.«

»Klar. Schuld bin immer ich.«

»Hab dich nicht so.« Die sonore Stimme erhob sich. »Ich würde es mit ihr probieren.«

»Ich hab das Risiko, nicht du.«

»Hör auf zu jammern, du wiederholst dich.« Die Gestalt rechts von ihr erhob sich. »Gehen wir.«

Nandini blinzelte. Die Schemen entfernten sich. Die Gestalt mit dem Mantel hielt kurz inne, kam noch einmal zurück. Sie kniete neben ihr nieder, vor ihren Augen braune Schuhe, sie knarrten. Ein anderer Duft stieg ihr in die Nase. Leder! Die Schuhe rochen wie ihre Mappe nach Leder!

Der Fremde legte seinen Finger auf ihre Stirn und drückte sanft. Lange blickte er sie an, als ob er etwas suchte. Dann erhob er sich und eilte davon.

Von irgendwoher wurde es heller, sie konnte plötzlich wieder tief atmen. Ihre Finger spürten warme, weiche Erde. Ihre Augen wurden von Moment zu Moment klarer, der Nebel lichtete sich. Sie konnte sich wieder bewegen, schaute hinter sich. Die Nebelwand bewegte sich von ihr weg. Eine kleine Drehung nach vorne, sie lag auf einer saftiggrünen Wiese. Eine Melodie, getragen von einer Frauenstimme – oder war es ein Cello oder eine Oboe? – schwoll an, verlor sich, begann von Neuem. Ihre Sinne verschärften sich von Atemzug zu Atemzug. Das Gras roch nass und frisch, die Erde saftig dumpf. So intensiv hatte sie noch nie gerochen. Der Geschmack von Süße verdrängte das Bitter in ihrem Mund.

Ein helles Licht rückte näher, teilte sich in Bögen und Millionen bunter Funken. Aus dem Kern schälte sich eine menschliche Form, schwebte auf sie zu. Sie war in Weiß gekleidet, streckte die Hände nach ihr aus. »Schön, dass du entschieden hast, hierher zu kommen.«

War es die Stimme eines Mannes oder einer Frau? Sie erkannte das Gesicht nicht, wusste nur, dass dieses Wesen zu ihr gehörte.

Die weiße Gestalt hob sie hoch, nahm sie in die Arme, kehrte mir ihr um und eilte auf das Licht zu.

»Warte, warte.« Nandini drehte sich zurück zur Nebelwand. »Rosenstolz! Bommel! Sie müssen mit!«

»Lass dich fallen.«

»Aber sie brauchen mich. So warte doch!« Sie versuchte, sich loszustrampeln. »Ich habe ihnen versprochen, mich um sie zu kümmern.«

»Vertraue!«

Sie tauchten in gleißendes Licht.

ZWEITER TEIL

 

 

 

Es gibt weder Geburt noch Tod,
weder eine unfreie noch strebende,
weder eine befreite noch eine suchende Seele.
Dies ist die letzte und absolute Wahrheit.

 

Shankaracharya

 

 

Wenn der Geist, der alle Wahrnehmung und Tätigkeit verursacht,
still und bewegungslos geworden ist, verschwindet die Welt.

 

Ramana Maharshi

 

 

 

Der Geist, der Angriff akzeptiert, kann nicht lieben.
Er glaubt, dass er die Liebe zerstören kann
und versteht daher nicht, was Liebe ist.

 

Aus »Ein Kurs in Wundern«

 

 

Das Gegenteil von Liebe ist Angst.
Doch was allumfassend ist, kann kein Gegenteil haben.

 

Aus »Ein Kurs in Wundern«

 

Kapitel 14

 

AEtheria, im Sternbild der Cassiopeia
Im ewigen Jetzt

 

Was für ein Schauspiel, dachte Mutter Arianna, trat auf die Veranda ihres Arbeitszimmers und blickte ins All. Wie liebte sie es, diesem morgendlichen Erwachen zu folgen. Jeder der sieben Monde schimmerte in seinen eigenen Pastelltönen, ein Anblick, der sie normalerweise alle Plagen und Sorgen vergessen ließ. Doch heute wollte der Schatten über ihrem Herzen nicht weichen.

Sie strich mit den Händen über die Brüstung. Wie hatte sie die Nacht über Mantras rezitiert, um der immer stärker wachsenden Zahl an Neuankömmlingen ihren Übertritt zu erleichtern. Mit ganzer Kraft hatte sie darum gebeten, das Leid all jener Traumkörper zu mildern, die hier nach Ruhe und Heilung suchten. Wie hatte sie all die Mächte angerufen, das Licht auf dem blauen Planeten wieder zu festigen. Doch ihre geliebte Erde schien immer mehr in die Fänge der Dunkelheit zu geraten.

Gedankenverloren trat sie in ihr Arbeitszimmer zurück. Die Wellen der Angst brandeten heftiger denn je gegen die Mauern von AEtheria. Die Brüder und Schwestern hatten alle Hände voll zu tun, die Tumulte auf Etage drei in den Griff zu bekommen. Zu allem Überfluss waren vor Kurzem Risse in den Gemäuern entdeckt worden, ein Hinweis, dass sich auch hier die Kräfte des Lichtes immer mehr eintrübten.

Noch einmal blickte Mutter Arianna nach draußen. Die sieben Monde hatten sich in jene Formation geschoben, die sie jedes Mal an einen Schneekristall erinnerte. An damals. Als auch sie sich in unzähligen Inkarnationen den gegensätzlichen Kräften auf Erden ausgesetzt sah. Wo sie in Hoffnung und Angst eingetaucht, zwischen Ekstase und Schmerz hin und hergerissen worden war. Bis sie angefangen hatte, die Bedeutung dieses Spiels zu begreifen.

Wenn es doch mehr Menschenseelen gäbe, die diese Erkenntnisse auf Erden verbreiten würden, dachte sie. Vor ihrem geistigen Auge erschien die Gestalt Aischas, ihr wurde noch schwerer ums Herz. »Ich habe getan, was ich konnte, Kind«, flüsterte sie. Wie sehr hatte sie versucht, Aischa zu helfen.

Sie öffnete die Augen, um die Erinnerungen abzuschütteln. Die beiden Sonnen spitzten bereits über die Bergkämme, tauchten die Nebel über den Auen in warmes Licht und warfen indigoblaue Schatten bis zu den Mauern unter ihr. Sie musste sich fertigmachen, vor ihr lag ein arbeitsreicher Tag.

Zaghaft wurde an ihre Tür geklopft. Überrascht wandte sie sich um und zog ihren Umhang zurecht. »Ja, bitte?«

Schwester Morgans Gesicht schob sich durch den Türspalt. »Entschuldigen Sie, Mutter Arianna. Es ist früh, ich weiß. Aber es ist dringend.«

»Schon gut, tritt ein. Was führt dich um diese Zeit hierher?«

Schwester Morgan blickte zu Boden und trippelte von einem Bein aufs andere. »Wäre es möglich, meinen Dienst mit jemandem zu tauschen? Ich muss dringend weg.«

»Das wird schwierig, so kurzfristig.« Mutter Arianna verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Kann das warten, bis wir einen Ersatz gefunden haben?«

Schwester Morgan nestelte an der Kordel ihres Gewandes. »Mein Enkelkind möchte wiedergeboren werden und ich wäre so gerne dabei, wenn es in den Körper steigt.«

»Oh. Das lässt sich tatsächlich nicht aufschieben.« Mutter Arianna bemühte sich um einen wärmeren Tonfall, sie bemerkte, wie Schwester Morgan zunehmend verfiel. »Will dein Enkelkind ein Junge oder ein Mädchen werden?«

»Ein Junge diesmal.« Schwester Morgans Stimme gewann wieder an Terrain. »Es wird ein prächtiger Junge, da bin ich mir sicher.«

»Natürlich. Alle Menschenkinder sind prächtig.« Sie überlegte kurz. »Gut, ich werde jemanden finden. Wenn nicht, dann übernehme ich deinen Dienst.«

»Oh nein! Vielen Dank, Mutter Arianna, das kann ich nicht annehmen!« Schwester Morgans Gesicht färbte sich dunkelrot.

»Doch, das ist in Ordnung so. Beeile dich, sonst kommst du zu spät!«

»Herzlichen Dank!« Schwester Morgan verbeugte sich. »Vielen, vielen Dank!« Sie schob sich aus dem Raum.

»Eines noch!«

Schwester Morgan lugte nochmals in den Raum.

»Gibt es etwas, dass ich wissen sollte?«

»Das Übliche. Und ja, drei Neuankömmlinge heute Nacht. Zwei Jungen und ein Mädchen.«

»Besonderheiten?«

»Nein. Oder doch. Das Mädchen verhält sich eigenartig. Sie schreit immer wieder auf und ihre Hände zucken. Als ob sie entsetzliche Angst hätte oder etwas festhalten möchte. Ich hatte leider noch nicht Zeit, mich eingehender um sie zu kümmern.«

»Schon gut, ich kümmere mich um sie.« Mutter Arianna nickte. »Und jetzt lauf, sonst ist dein Enkelkind auf und davon.«

 

Mutter Arianna schloss die Tür hinter Schwester Morgan. Sie überlegte, ob sie nicht gleich deren Dienst übernehmen sollte, ohne nach einem Ersatz zu suchen. In letzter Zeit hatte sie ohnehin zu viel Verwaltungskram erledigen müssen, das gäbe ihr die Möglichkeit, wieder auf die Station zu kommen. Außerdem würde ihr das helfen, ihre sorgenvollen Gedanken zu zerstreuen. »Dein Wille geschehe, es wird seinen Sinn haben«, flüsterte sie.

Sie gönnte sich einen Schluck warmen Wassers, trat an ihren Schreibtisch, öffnete die Lade mit den Lakritzenbonbons. Es war nur eines übrig. »Auch das noch.« Rasch steckte sie es in ihren Umhang, eilte zur Tür, trat in den Gang hinaus und lief in Richtung der Treppen. Sie blickte die Stufen hoch, schloss die Augen, visualisierte sich den vierten Stock – und fand sich im selben Augenblick in der obersten Etage wieder.

 

Leise zog sie die Tür hinter sich zu. Sanfte Klänge erfüllten den Saal, der in gedämpftes Türkis getaucht war. Der Duft von Rosen stieg ihr in die Nase. Einmal mehr war sie von dieser Pracht beeindruckt. Ein Bergkristall, der sie weit überragte, bildete das Zentrum des Heilraumes. Seine Spitze war auf das gläserne Gewölbe gerichtet und erzeugte mithilfe Hunderter Edelsteine Lichtbögen, die ein heilendes Energiefeld formten.

Sie schaute sich um und versuchte, die drei Neuankömmlinge auszumachen. Dutzende Wesen, die sich noch an die hiesigen Sphären gewöhnten, lagen in eiförmigen Ausbuchtungen, die im Boden eingelassen waren. An deren Seite weilten sanft glimmende Lichtgestalten, die ihre Hände auf die Körper ihrer Schützlinge gelegt hatten oder sich über sie gebeugten hielten. Vereinzelt waren es Eltern der hier Ankommenden, zumeist aber Großeltern oder andere Angehörige, die diesen Menschen vorangegangen waren. Jetzt halfen sie ihren Liebsten bei ihren Übertritten oder ihrem Heilungsprozess. Es waren aber auch unzählige Engel und geistige Führer anwesend, die darauf warteten, bis ihre Schützlinge aufwachten, um deren weiteren Weg mit ihnen festzulegen.

Am hinteren Ende des Saales entdeckte sie die drei Neuen. Sie huschte an den anderen vorbei und kniete neben ihnen nieder. Die beiden Jungen wirkten entspannt, das Mädchen aber lag eingerollt, ihre Hände und Beine zuckten, wie Schwester Morgan es beschrieben hatte. Für das Mädchen wollte sie sich mehr Zeit nehmen, daher beschloss sie, sich erst um die Jungen zu kümmern. Sie schob sich nah an den ersten der beiden heran, legte die Hand auf dessen Stirn und öffnete ihr drittes Auge.

 

Ravindra, Indien, gestorben 1911 nach irdischer Zeitrechnung im Alter von vierzehn Jahren. Eine reife Seele. Nah am Licht. Er hat losgelassen, war leicht und im Frieden gegangen. Er wird in höhere Sphären aufsteigen.

 

Mutter Arianna löste sich von ihm, im Moment brauchte sie nichts für ihn tun. An der Seite des Jungen knieten zwei geistige Führer, er war gut versorgt. Sie nickte den Lichtwesen zu und drehte sich zum nächsten Jungen.

 

Darian, sechzehn Jahre. Übertritt 4065 in Arcland. Eine junge Seele. Sekundentod. Er wird in seinen Körper zurückkehren und sich an nichts erinnern.

 

Die Großeltern standen bereit, auch bei diesem Jungen gab es nichts zu tun.

Sie wandte sich dem Mädchen zu. Deren Körper war zu einem Bogen gespannt, das Gesicht schmerzvoll verzerrt. Die Arme zuckten vor und zurück, als ob sie etwas zu sich ziehen wollte. Ihre Lippen formten unverständliche Worte.

Mutter Arianna legte ihr die Hände auf die Stirn.

 

Nandini, sechsundzwanzig Jahre, Übertritt 2019, Österreich.
Eine alte Seele. Sie würde ...

 

Sie riss die Hände zurück, ihr Herz begann zu rasen. Ist das möglich? Tief atmete sie durch, fasste die junge Frau an den Schultern, um sie auf den Rücken zu drehen. Was für ein feines Gesicht! Von festem Willen gezeichnet und doch mit flehenden Zügen. Augen, die sich hinter zusammengepressten Lidern wild bewegten.

»Ich hab es euch versprochen«, murmelte Nandini fast unhörbar, Tränen liefen über ihre Wangen.

Mutter Arianna beugte sich über sie, um sie besser zu verstehen.

»Wir gehen gemeinsam. Ich hole euch.« Ihr Körper bäumte sich auf. »Geht nicht weg! Wartet! Lauft doch nicht weg!« Ihre Hände ruderten in der Luft, ein heftiger Weinkrampf erfasste den Körper.

»Lass los, mein Kind.« Mutter Arianna schob Nandini einen Arm unter den Rücken und zog sie zu sich hoch. »Lass los!« Sie begann, Ruhe in das Mädchen einzuhauchen.

Mit einem Schluchzen fiel Nandini zurück, entspannte sich, ihr Gesicht wurde allmählich weicher. Jetzt öffnete sie die Augen, den Blick ins Unendliche gerichtet. Sie schaute erst nach links, dann nach rechts, einem Neugeborenen gleich, das sich in einer neuen Welt orientierte.

Mutter Ariannas Lippen waren nah an ihrem Ohr. »Du bist geliebt, Nandini. Geliebt und beschützt.«

Nandinis Augen suchten Ariannas Gesicht, um sich gleich darauf wieder zu schließen. Heilsamer Schlaf schien sie zu übernehmen.

Mutter Arianna legte einen Finger auf die Stirn Nandinis. Nochmals schloss sie die Augen und bat um Information. Doch wieder brach sie irritiert ab, legte sie sanft zurück und studierte ihr Gesicht. »Ich werde dich beschützen«, murmelte sie. »Ich werde bis zur letzten Minute an deiner Seite sein.«

Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten einer Säule. Sie war von großer Statur und hatte breite Schultern, die Hände ließen einen Gegenstand von einer Handfläche in die andere gleiten.

Mutter Arianna beugte sich zur Seite, um das Gesicht der Erscheinung zu erkennen. Lange, blonde Haare umrahmten ein helles, klares Gesicht, das sie nur zu gut kannte. »Emmanuel!«

Nandinis Schutzengel trat aus dem Schatten. »Arianna!«

»Ist das eine Überraschung!« Sie erhob sich und deutete auf Nandini. »Wovon spricht sie und woran hält sie so fest?«

»Von Rosenstolz und Bommel. Ihrem geliebten Pferd und Hund. Die einzigen Freunde, die ihr geblieben sind. Jetzt muss sie die beiden zurücklassen.«

»Ich verstehe.« Mutter Arianna beugte sich über Nandini. »Es wird nicht leicht für sie werden, wenn das stimmt, was ich gesehen habe, Emmanuel.« Jene Bilder, die ihr offenbart worden waren, flammten erneut vor ihr auf.

Emmanuel nickte, ohne ein Wort zu sagen.

»Sie wird dich hier brauchen, Emmanuel. Sehr brauchen.« Ihr Blick suchte den seinen. »Auch ich werde tun, was in meiner Macht steht.«

»Wie bei Aischa?« Er zögerte. »Wir alle wissen, wie du dich aufgeopfert hast.«

Mutter Arianna nickte. »Und trotzdem ist sie fort.«

Die Tür des Heilraumes wurde aufgerissen. »Mutter Oberin, kommen Sie schnell!« Eine Schwester deutete aufgeregt mit den Armen, hinter ihr erschienen zwei Brüder. »Wir wissen nicht mehr weiter. Sie toben und treiben alle vor sich her. Wir können sie nicht beruhigen.«

»Schon wieder.« Mutter Arianna schnellte hoch und blickte besorgt auf Nandini.

»Geh ruhig.« Emmanuel berührte sie am Arm. »Ich bin da, wenn sie aufwacht.«

»Läuft aber nicht weg, ich beeile mich.« Sie beeilte sich zum Ausgang. Kurz vor der Tür drehte sie sich noch einmal um. Emmanuel hatte sich ans Kopfende von Nandinis Lager gesetzt und die Hände auf ihre Schultern gelegt. Sie lächelte beruhigt, wandte sich den Brüdern und Schwestern zu und eilte mit ihnen auf die Treppe zu.

 

 

Nandini versuchte, die letzten Traumfetzen einzufangen. Sie war von einer übermächtigen Kraft nach hinten gezogen worden, mit den Armen hatte sie noch versucht, nach Zügel und Leine zu greifen, doch Rosenstolz und Bommel entzogen sich ihr. Beide starrten verstört in ihre Richtung, sie musste zusehen, wie sie sich immer mehr auflösten. Ein Gesicht hatte sich daraufhin dazwischen geschoben, dunkle Augen, silbrige Haare, Lippen flüsterten etwas, das wie geliebt und geschützt geklungen hatte. Dann war alles still geworden.

Tief atmete sie durch und öffnete die Augen. Der Raum um sie war in Türkis getaucht, rund um sie unzählige Gestalten. Einige hatten die Form von Engeln. Sie versuchte, sich hochzustemmen, doch die Arme knickten weg. »Aua, so ein Mist.«

»Langsam, Nandini.« Jemand hinter ihr fing sie auf.

Sie blickte zurück und riss die Augen auf. »Emmanuel? Ich kann dich ja wieder sehen! Verdammt! Emmanuel! Was ist passiert?«

Er schob seine Arme unter ihren Rücken und stützte sie. »Du hattest einen Unfall. Kannst du dich an etwas erinnern?«

»Einen Unfall?« Nandini biss sich auf die Lippen. »Nein. Ich weiß nichts von einem Unfall. Wo sind wir hier?«

Er half ihr, sich aufzusetzen. »Wir waren schon öfter hier.«

»Schon öfter?« Wie gut ihr Emmanuels ruhige Stimme tat. Sie blickte umher. »Warte. Ja, es sieht so aus wie neulich.«

»Ja, wie neulich.«

»Also schlafe ich und wache gleich wieder auf!«

»Nein, Nandini. Du hattest einen Unfall.«

Panik stieg in ihr hoch.»Komm, wir gehen. Lass uns hier abhauen. Jetzt gleich!« Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Knie gaben nach. »Verflixt!«

»Ich helfe dir, komm, stütz dich auf meinen Arm.« Er half ihr auf die Beine.

Staksig versuchte sie einen, dann einen zweiten Schritt. »Das ging schon mal besser, Emmanuel! Was ist mit mir?«

»Du bist schwer verletzt, Nandini.«

»Rede nicht so ein dummes Zeug, wir gehen. Wohin müssen wir?«

Emmanuel zögerte, legte etwas neben der Mulde ab und sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Dort zur Tür.«

»Den kürzesten Weg zurück, okay? Ich muss zu Rosenstolz und Bommel. Und zwar schnell.«

 

Emmanuel geleitete Nandini behutsam durch den Saal, öffnete die Tür und schob sie hinaus. Er wandte sich um und blickte zurück zur Mulde, in der sie gelegen war. Eine zweite Gestalt löste sich aus dem Schatten, beugte sich und nahm das Kleinod auf. Sie nickten sich zu, dann drehte er sich wieder zu seinem Schützling, legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie den Gang entlang.

»Wohin?«

»Diesen Korridor entlang.« Emmanuel ging vor.

»Was ist denn das für ein Lärm?«

»Es kommt von dort unten.«Er hielt ihr den Zeigefinger an die Lippen. »Leise. Wir schleichen uns an der Treppe vorbei.«

Sie stahlen sich zum Treppenabsatz und lugten in das Stockwerk unter ihnen.

»Aua, was ist denn hier los?« Nandini drückte sich an Emmanuel. »Du meine Güte!« Sie rückte näher an das Geländer und beobachtete, was sich einen Stock tiefer abspielte.

 

Arianna versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Das gesamte Stockwerk lag in Aufruhr. Die Schreie waren ohrenbetäubend, es roch nach Elektrizität und verbranntem Teer. Feuerrote Blitze fraßen das heilende Licht, schrille Pfeiftöne verschlangen die Kaskaden reinigender Klänge. Hunderte Seelen stoben durcheinander, jene, die im Traum nach Verletzungen oder Operationen ihre Regeneration gesucht hatten, waren entweder schon längst wieder in ihre Körper geschlüpft oder hatten sich an den Rand des Saales gekauert. Dutzende Nebelknäuel wirbelten in der Mitte des Raumes, verdichteten sich, lösten sich wieder auf und umzingelten die Flüchtenden.

»Wir haben versucht, sie zu verscheuchen«, schrie ein Bruder neben ihr. »Es war unmöglich.«

»Wer ist wir und wer sind sie?«, brüllte Mutter Arianna. »Verscheuchen bewirkt das Gegenteil! Zugehen! Wir müssen auf sie zugehen.«

Das Geheul steigerte sich ins Unerträgliche, sie verstand ihr eigenes Wort nicht mehr. Die Halblichter bäumten sich auf, formten sich zu reptilienhaften Säulen, stampften mit den Beinen, dumpf und drohend. Erschrocken wichen die noch Verbliebenen zurück oder ergriffen endgültig die Flucht. Dutzende Kreaturen jagten ihnen hinterher und saugten sich an deren Nacken fest.

Eine Greisin zog sich unter einer Liege hervor, schob sich auf die Beine, trappelte auf eine Schimäre zu und begann, im Rhythmus des Gestampfes die Hüften zu wiegen. Ihr verdorrtes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, sie deutete einem Nebel, mit ihr zu tanzen. Die Unform blieb wie angewurzelt stehen, grunzte und floh mit einem Schrei ans andere Ende des Saales. Andere Unlichter fegten auf die Alte zu, einige der mutigsten Seelen fassten sich ein Herz und sprangen ihr zu Hilfe.

Mutter Arianna riss die Arme in die Höhe. »STOPP!«

Alle im Raum erstarrten.

Die plötzliche Stille schmerzte.

Arianna hielt ihren Blick auf das Gewölk gerichtet und lächelte. »Sei gegrüßt, Asura.«

Schweigen.

»Wieder hungrig heute?«

Ein leichtes Zucken durchfuhr den Nebelhaufen, plötzlich verdichtete sich etwas in der Mitte zu einem Klumpen und schoss auf sie zu. Hart traf er sie an der Schulter. Sie hätte es wissen müssen, einmal mehr kroch ihr dieses handtellergroßes Etwas in den Nacken, heiß und schleimig. Augenblicklich spürte sie, wie sich ihr Magen vor Angst zusammenzog. Sie wusste, was jetzt folgte. Das Bild eines brennenden Planeten drängte sich vor ihre Stirn, ihrer geliebten Erde, die in sich zusammenfiel und alles mit sich riss, was den Namen Leben trug. Asura wusste nur zu gut, welche Sorge sie in sich trug. Dieser Vision folgte wieder Angst. Dieses Nagen nährte wieder das Bild des Grauens, der Kreisel begann sich schneller und schneller zu drehen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752128666
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Lebenshilfe Religion und Glaube Lebenskunst Ein Kurs in Wundern Advaita vedanta Esoterik Spiritualität Buddhismus Fantasy

Autor

  • Andreas Feichtinger (Autor:in)

Andreas Feichtinger, geboren 1958, lebt in Österreich und ist verheiratet. Neben seiner Tätigkeit in der Wirtschaft beschäftigte er sich seit Jahrzehnten mit Psychologie, darunter den Ansätzen der systemischen Aufstellungsarbeit, CranioSacral-Therapie und NLP. Selbsterforschung, Achtsamkeitsschulung, ein intensives Auseinandersetzen mit Helen Schucmans "Ein Kurs in Wundern" sowie vergleichende Studien der großen mystischen Weisheitslehren wie den vedischen Schriften markieren seinen Lebensweg.