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Das Geheimnis der verdorrten Rosen

von Paul Riedel (Autor:in)
185 Seiten

Zusammenfassung

In einer Agentur für außergewöhnliche Fälle zu arbeiten, kann reizvoll klingen, wenn man als Arbeitssuchender eine solche Anzeige liest. Wie aufregend das wirklich sein kann, erfährt man zusam¬men mit Raphael in dieser skurrilen Ermittlung voller Zufälle und mit einem eigenartigen Boss, der sich lieber mit einem Hund anfreundet als mit seinem Mitarbeiter.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

ein Mystery-Roman von

www.paul-riedel.de

©Paul Riedel, München 2016

Printed in Germany

Umschlag: © Paul Riedel, München 2016

Lektorat: Michael von Sehlen



1. Auflage 2009

2. Auflage 2010

3., völlig neu bearb. Auflage 2016

Paul Riedel

Paul Riedel ist ein Name, der sich in meiner Familie seit mehreren Generationen wiederholt. Zwar könnte man vermuten, dass es dieser Familie an Phantasie mangelt, was die Namensvergabe der Neugeborenen anbelangt, aber kei­neswegs! Dies ist eine Familie, in der die Phantasie von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Von einem Kunsthistoriker zu einem Redakteur, weiter über einen technischen Zeichner und in der aktuellen Generation, das bin ich, zum Künstler und Informatiker. So sind die verschiedenen Paul Riedels der Kunst direkt oder indirekt treu geblieben. Da ich keinen Sohn habe, endet hier die Linie der Pauls, sofern meine Prophezeiung nicht von einer meiner Schwestern überraschenderweise korrigiert wird. Alle meine Vorfahren hatten ebenfalls ‒ neben der Kunst ‒ eine zweite Karriere.

Ich bin in Brasilien geboren und lebte dort viele Jahre, wobei ich eine auch ethnisch gesehen gemischte Erziehung genoss. Ausgehend von schwarzen Gettos, wo man Umbanda, dem heidnischen Glauben aus Brasilien mit seinen afrikanischen Wurzeln, folgte, über die italienische, streng katholische Lehre aus meinen neapolitanischen und umbrischen Ursprüngen mütterlicherseits heraus bis zu den lutherischen des Vaters entwickelte ich eine umfassende Vision von Glauben und Realität.



Lange ist es her, dass ich den Protagonisten dieses Romans kennen gelernt habe. Diese Zeilen zu schreiben, tröstet mich und lässt mich etwas in meinen Erinnerungen verweilen. Lieber hätte ich ihn noch an meiner Seite, aber dies ist eine andere Geschichte.

Wie alt ich bin und wie das Ganze geschah, werde ich hier zu erzählen versuchen.

Mein Name ist Raphael und in einer lange vergangenen Zeit war ich mitten in der Arbeitsmarktumstellung in Deutsch­land arbeitslos wie viele andere, und alle Optionen, die ich im Anzeigenteil der Zeitung zu lesen bekam, waren mehr als unbefriedigend.

Mit meinem Schulabschluss war ich für eine normale Arbeitsstelle überqualifiziert, für eine Stelle in meinem Beruf als Buchhalter schien es keine Nachfrage zu geben.

Einige der Interviewer der Arbeitsvermittlung meinten, ich sei für eine Stelle zu jung, andere meinten, ich sei zu alt, und wieder andere (in einer kontroversen Zeit der Emanzipation) suchten eine Frau, was mir zeigte, was chauvinistisch bedeutet ‒ wenn auch mit vertauschten Geschlechter­rollen.

Das Leben war mir zu langweilig, weshalb ich nach einer neuen professionellen Herausforderung suchte. Ich hatte keine Erfahrung als Selbstständiger und eine Partnerin oder Freundin hatte ich auch nicht und Aussichten auf eine solche schie­nen mir weiter entfernt, als mir lieb war.

Frauen schienen mich kaum wahrzunehmen. Damals wie heute hatte ich den Eindruck, in vieler Hinsicht für Frauen ziemlich uninteressant zu sein, aber dies kümmerte mich nach einer gewissen Zeit nicht weiter.

Eines Tages, unter dem sonnigen Himmel der Stadt, saß ich in meinem Lieblingscafé und bestellte einen Vanillekaffee. In meiner Stadt sind Service-Cafés die letzten Ressorts des Dienstes am Kunden. Die Ladenketten dagegen schienen den Kaffee in Tröge zu gießen und die Kunden wie Tiere daraus trinken zu lassen.

Die beißende Kälte war am Ende eines langen Winters eher erfrischend als kalt zu bezeichnen. Während die Bedienung sich ihren unsichtbaren Umhang mit einer eleganten Dre­hung umwarf und sich mit nach hinten geworfenem Kopf daran machte, die Bestellung an die Küche weiterzugeben, blickte ich mich unter den Gästen um.

Dabei fiel mir die Gästezeitung des Cafés fast auf meine Füße und ich blickte auf eine Anzeige, die unter einem runden Kaffeefleck kaum zu lesen war. Sie kam von einer Arbeits­agentur, die hoff­nungslose Fälle von unvermittelbaren Men­schen wie mich suchte.

Meistens wollten diese Institutionen Personen wie mich nur um ihr letztes Geld prellen. Etwas weiter unten im Kaffee­fleck­kreis las ich eine Annonce mit diskreter Gestaltung: „Sekretär in Vollzeit für ungewöhnliche Einsätze gesucht.“ Darunter waren die Kontaktdaten und der Name des Auftraggebers ersichtlich: F. D.

Ich wusste im Moment nicht, was ich davon halten sollte. Es schien mir interessant genug zu sein, aber wahrscheinlich meiner katholische Erziehung geschuldet, auch ein klein wenig zwei­deutig.

„Ungewöhnliche“ konnte vieles bedeuten, aber in meiner Situation hätte ich mich sogar als Türsteher in einem Freudenhaus besser gefühlt als ein Sozialhilfeempfänger. Ungewöhnlich hin oder her, es war in dieser Ausgabe wirklich wenig, was meinen Kühlschrank hätte füllen können, und ich zog, ergänzend zum Kaffeefleck, mit meinem Kugelschreiber einen Kreis um die Anzeige herum.

Die Bedienung stolzierte mit dem Tablett herum, stellte die Tasse mit einem leichten Klirren auf den Tisch und riss mich damit aus meinen Gedanken. Ich nickte und schlürfte aus meiner Tasse, die wegen der ausgedehnten Schau des Künstlers beim Stolzieren bereits anfing, kalt zu werden.

Ich fühlte mich damals, als hätte ich eine Kontaktanzeige aus der Sparte „Wiedersehen“ gelesen, und meinte, vielleicht wegen meiner Verzweiflung, dass gerade ich in der Anzeige gesucht wurde.

Ein wenig zweifelte ich an meiner Erziehung, oder war es aus Not heraus? Wie dem auch sei, ich ließ den Rest des Kaffees auf dem Tisch stehen und hoffte, meine Wohnung zu erreichen, bevor mein Magen ganz revoltieren würde.

Die Bedienung blickte mit Schroffheit auf das genau ab­gezählte Geld auf dem Tisch, was zu verstehen gab, dass sie das erhoffte Trinkgeld vermisste.

Zugegeben, dies war ein unübliches Verhalten für eine Bedie­nung und die hier herrschende Kultur, aber meine Laune und verfügbaren Mittel zwangen mich zu einem solchen Verhal­ten.

Zu Hause angekommen ermutigte ich mich, meine Socken und Unterhosen im Wäschekorb zu sortieren und einige meiner Schuhe in die passenden Schränke zu verweisen, und nur im Bademantel bekleidet fuhr ich meinen Computer hoch.

Mit einem Druck auf die Fernbedienung schaltete sich mein Radio an. Im Hintergrund lief ein Lied von Cole Porter, gesungen von einer sehr charmanten Chanteuse, und ich stellte mir eine Einladung zum Essen vor, zusammen mit einem Glas Sekt oder etwas dergleichen, alles bei stim­mungs­vollem Kerzen­licht.

Ich suchte meine Bewerbungsunterlagen aus dem ordentlich aufeinander geschichteten Stapel auf dem Biedermeiertisch zusammen, tippte ein Anschreiben und druckte alles auf einem farblich sehr warmen, seidenen Papier aus, das außer meinem Interesse an der Stelle auch meinen guten Geschmack kundtun sollte. Ich sandte für gewöhnlich meine Bewer­bungsunterlagen immer gut vorbereitet an die gewünschte Arbeits­stelle.

Zu dieser Zeit waren sich alle Personalberater einig, dass Bewerber diesen Ablauf respektieren sollten: anschreiben und die – meist verspätete – Absage abwarten. Jedoch die Neugier auf das Wort „Ungewöhnlich“ ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Ich habe nie verstanden, wie diese Faszination auf diese Anzeige entstanden war, aber im Laufe der vergangenen Jahre gab es dann vieles, was ich nicht erklären konnte. Dies war nur einer dieser ungeklärten Vorfälle.

Sollte ich diese Firma anrufen? Oder sollte ich sie nur anschreiben? – Meine Gedanken schwirrten im Kopf herum und mir schien, als würde ich mir wieder nicht zutrauen, mich auf eine außergewöhnliche Anzeige zu melden.

Trotz meiner Unschlüssigkeit schrieb ich einen weiteren Brief, worin ich meine Interessen und Hobbys preisgab und eine persönliche Note beifügte, bis ich mich schließlich selbst als außergewöhnlich interessant empfand.

Das bin ich auch heute noch!

Die Schatulle

Der Nachlass

Verlon ist ein ungewöhnlicher Name, aber kein anderer hätte für diesen Mann besser gepasst. Seine Nachbarn kannten ihn nicht und Besucher wurden dort nie gesehen.

Wenn er auf der Straße ging, bewegte er sich schnell, aber nicht grazil, sein Rücken war im Laufe der Jahre von seiner fast zwei Meter großen Statur gekrümmt worden und eine un­erklärliche Krankheit hatte bis auf die Knochen an seiner Figur gezehrt.

Einige weiße Haare zierten sein mit Altersflecken bedecktes Haupt und die Falten in seinem starren Antlitz waren nicht zu zählen.

Kinder mieden seine Nähe und in den Geschäften hat man ihn meistens vorgezogen, jedoch nur, um seinen Aufenthalt im Laden zu verkürzen. Insbesondere beim Metzger, wo die Metzgerin immer noch um ihren Mann trauerte und aus Bosheit Verlon den frühen Tod ihres Mannes anlastete.

Sein Haus war von Efeuranken überwuchert und nicht einmal biblische Missionare trauten sich, dort anzuklopfen. Das Tor war bestimmt seit dem Krieg nicht mehr gestrichen worden, und wenn doch, so war die Farbe wieder vollends ab­geblät­tert.

Hin und wieder kam ein starker Türke mit erstaunlich schönem Schnurrbart und mähte seinen Rasen, aber mehr Pflege wurde diesem Anwesen nicht zuteil. In all den Jahren fragte Verlon nie nach dem Namen des Gärtners. Man kannte ihn zwar als den Türken, aber eigentlich stammte er gar nicht aus der Türkei.

Verlons Einsamkeit und auch die abweisende Haltung gegen­über umliegenden Nachbarn trugen dazu bei, dass keiner sich darum kümmerte, was mit ihm geschah. Den einzigen Verdacht, dass er eventuell nicht im Haus sei, hatte der Postbote, als er wieder einmal einen Zettel mit der Auf­forderung, den Briefkasten zu leeren, anzuheften versuchte.

An jenem Tag Anfang des Jahres war es noch kälter als in der Vorweihnachtszeit und der Postbote sah es als seine Pflicht an, diesem Missbrauch des Postkastens ein Ende zu bereiten.

Er hatte nämlich viele Werbeprospekte zu verteilen und er fragte sich, wie es denn wäre, wenn jeder Einwohner sich weigerte, den Postkasten zu leeren. Wie sollte er seine Bürde loswerden?

Sein mehrfaches Klingeln blieb ergebnislos und der modern­de Geruch der erfrorenen Fauna um ihn herum machten es ihm nicht leichter, an der Tür zu verweilen. In all den Jahren, in denen er dort die Post ausgetragen hatte, war dieser Mann nie freundlich oder gar redselig gewesen, wie man es in der Region gewohnt ist. „Bestimmt kam er vom Norden“, murmelte der Postbote in seiner Ratlosigkeit und teilweisen Verärgerung, da ihm solche Personen niemals ein Trinkgeld oder gar Aufmerk­samkeit schenkten.

Er entschied sich, den Türklopfer einzusetzen. Er nutzte diesen meistens, wenn der Empfänger etwas unterschreiben musste oder wenn etwas Wichtiges zuzustellen war.

Ein bronzener Imp, eine Art kleiner Dämon oder Kobold, der in Grimoiren von Mystikern vorkommt, mit fleder­maus­ähnlichen Flügeln, mit einer übergroßen Faust, die auf eine Trommel zu schlagen schien, forderte den Besucher auf, seine andere Hand zu grüßen.

Eine fast lustige Form für ein so verlassenes Haus. Er empfand diesen Türklopfer als geschmacklos und wischte immer seine Hand ab, wenn er diese alberne Figur angefasst hatte.

Weil er erneut keinen Erfolg hatte, ging der Postbote auf eigene Verantwor­tung ums Haus herum, in der Absicht, den Übeltäter zur Rede zu stellen.

Er meinte etwas gehört zu haben, und wenn nicht ‒ er war sowieso zu früh mit seiner Runde. Seit einiger Zeit trug er mehr Werbung und Zeitungen als Post aus, was seine Arbeit auf eine Art erleichterte.

Er bemerkte einen Duft in der Luft. Ja, es musste einer von diesen neuen Raumdüften sein, die seine Frau auch kürzlich gekauft hatte. Rosen? Fragte er sich, aber etwas mischte sich noch darunter. Es mussten Nüsse oder etwas Asiatisches sein, was er nicht aussprechen konnte. Der Frost wurde heftiger und die Kälte drohte seiner Neugier ein Ende zu ma­chen, und so entschied er sich, seine Erkundung abzukür­zen.

Der Hof war leer und eine offene Tür war auch nicht zu sehen. Verunsichert bewegte er seinen Kopf von einer Seite auf die andere, denn er meinte etwas gehört zu haben, aber konnte nicht definieren, was es gewesen sein könnte.

Er setzte zur Rückkehr zum Tor an, als ein Windhauch seine Nase erreichte und er einen süßen Geruch wahrnahm: Rosenduft.

Er glaubte hinter sich einen Schatten gesehen zu haben und seine schlotternden Knie schienen mehr zu ahnen als er selbst. Es war schon lange her, dass er jung gewesen war, und ein Schlottern konnte vieles bedeuten, aber ihm war sofort klar, dass es nichts Gutes sein würde.

Aus seiner Erfahrung als Postbote wusste er, dass jeden Moment von irgendwoher ein zähnefletschender Hund auftauchen und ihm mehrfach drohen könnte. In seiner Karriere hatte er schon einige Bisse bekommen und ein paar hatten ihm sogar eine satte Entschädigung eingebracht, was ihn jetzt übermütig werden ließ.

Er war sich nicht sicher, aber das Gefühl, einen Hund zu spüren, wurde immer stärker, so dass er schneller zu gehen versuchte, aber nicht konnte. Er wollte zwar, aber sein Körper schien ihm nicht zu gehorchen.

Seine Beine bewegten sich zu langsam, und der Versuch, den Oberkörper stärker vorwärts zu bewegen, brachte ihn zu Fall. Ein peinlicher, wenn auch nicht lächerlicher Moment, dachte er. Beim Schnüffeln in einem fremden Haus erwischt zu werden. Er wollte nicht um Hilfe rufen, da sonst die Lage noch peinlicher hätte werden können. Aber jetzt waren seine Arme auch zu müde, um ihn hochzuhieven. Er entschied sich doch, Hilfe zu holen, aber er wusste nicht mehr, wo er sein Handy versteckt hatte, oder eigentlich wusste er auch nicht genau, ob er eines mitgenommen hatte.

Es kam ihm wie ein Moment der Desorientierung vor und er konnte sich nur kurz an seine morgendlichen Tabletten erin­nern und sich noch entsinnen, sie wie immer eingenom­men zu haben.

Sein Körper schien unter einem riesigen Fuß zerdrückt zu werden. Er spürte, wie immens harte Hufe seinen Ober­körper zu Boden zwangen. Er konnte sich noch etwas vor­wärts bewegen, aber dann verlor er die Motivation, dies weiterhin zu tun.

Warum er wegwollte, war ihm entgangen. Aber es war ihm kalt und seine Gedanken standen still, es schien, als würde er immer noch an einem Gedanken festhalten, aber welchem, das wusste er nicht mehr.

Bevor seine Augen wieder klarer wurden, hatte er einen kurzen Tagtraum. Darin verlangte er von dem Imp, den Briefkasten seines Herrn zu leeren, und dieser riss ein großes Streichholz aus seiner Tasche und zündete den Haufen Papier an. Er wollte protestieren, schüttelte deshalb seinen Kopf und war wieder wach und fast klar.

Er entschied, sich anschließend für den Tag krank zu melden. Es war ihm klar, dass Tagträume nicht normal waren, und zudem schmerzten seine Glieder. Er kam an das Tor und schloss den Riegel hinter sich.

Jetzt wusste er wieder, dass er ein Handy hatte, und er machte Meldung über den Briefkasten und meldete sich krank.

Ein einsamer Abschied

Ein Staatsbeamter öffnete das Haus im Beisein eines Poli­zisten in blauer Uniform, dabei stellte er einen modrigen Geruch fest.

Es schien, als wäre das Haus lange nicht mehr betreten worden und die Feuchtigkeit des Winters hätte bereits einige Schäden am Anwesen verursacht.

Die Kälte und die abgestandene Luft waren extrem unangenehm, was er bereits aus früheren Inspektionen in anderen Häusern kannte. Er ging sorgfältig einen Raum nach dem anderen durch und versuchte eventuelle Folgen der Vernachlässigung penibel zu protokollieren.

Am Fuß der Treppe angekommen, musste er sich für den Keller oder den zweiten Stock entscheiden und die Vorstel­lung, in einen noch kälteren Raum hineinzugehen, verhalf ihm, sich schnell für die zweite Möglichkeit zu entscheiden.

Im dritten Raum des Anwesens, im zweiten Stock, traf er auf das Schlafzimmer des Hausherrn. Er hob vorsichtig die schwere Bordeaux-Bettdecke vorsichtig hoch und stellte fest, dass nur ein Haufen Knochen darunterlagen, dabei ein Totenschädel mit zur linken Seite weit aufgerissenem Kiefer.

Es war zu vermuten, dass Verlon an irgendeinem Tag vor Winteranbruch gestorben war. Sein Körper wurde nun viel zu spät an einem kalten Januartag entdeckt. Das Haus bot jedem, der sich hineinbegab, einen düsteren Anblick.

Man konnte sich dort wie mitten in einer bizarren Erzählung eines paranoiden Schriftstellers fühlen. Es fehlte nur ein krächzender Raabe oder eine schreiende Eule und man hätte bis zum Mark seiner Knochen erzittern können.

Dunkle Polster und massives Mahagoniholz vermittelten dem Besucher den Eindruck, die Zeit sei stehen geblieben. Es war kaum zu glauben, dass noch so viele alte Sachen existierten.

Der Beamte musste einen Nachlassverwalter bestellen und noch am selben Tag viele Berichte schreiben. In dem Tumult, der sich in solchen Situationen meistens ergibt, meldet sich immer der eine oder der andere, der für gewöhnlich solche Gelegenheiten sucht, um an einen Extrabetrag heranzu­kommen.

Sein bester Mann war Ezio Rizzato. Ezio war italienischer Herkunft und traf weniger als eine Stunde nach dem gemeinsamen Telefonat ein. Bekleidung und Auftreten fielen mangels guten Geschmacks meistens zu seinem Nachteil aus.

Während der Leichenbeschauer und einige Beamten sich um die sterblichen Reste Verlons kümmerten, hörte man, wie Ezio an Hölzer klopfte und aufgeregt einige Anwesenden begrüßte.

Ezio zeigte sich beunruhigt über den Tod des alten Mannes, aber der Blick auf die Hinterlassenschaften brachte ihn schnell dazu, diese Unannehmlichkeit zu vergessen und sich eiliger, als der Schrecken des Todes in ihn gefahren war, um das Geschäftliche zu kümmern.

Seine Finger wählten auf seinem bereits sechs Jahre alten Handy flink die Nummer seines besten Geschäftspartners.

Die meisten seiner Kollegen waren mit dem Veräußern von altem Plunder bestens vertraut. Ezio dankte dem Beamten mit fast zu unterwürfigen Verbeugungen und wusste, dass in den nächsten Tagen eine kleine Zuwendung an ihn nicht unangebracht wäre.

Jeder erfüllte seine Aufgabe, wie es amtlich geplant und vorgeschrieben war, und nach nur einem Tag war es nur ein Haus, welches bald wieder leer sein würde. Tot und vergessen waren die Möbel und die Geschichte, hinter der sich ein Herr Verlon mit unbekanntem Nachnamen verbarg, genauso bedeutend wie ein Staubkorn in der Wüste.

Tage vergingen und ein weißes Blatt mit einem Standard­bericht gab bekannt, dass Herr Verlon Begowic, wie man aus seinen Papieren entnommen hatte, in Folge seiner Alters­schwäche gestorben und kein Erbschaftsverwalter eingetra­gen oder angemeldet war.

Kein Begräbnis und keine weinenden Nachkommen oder Verwandten, nur eine graue Pappschachtel, in der seine Knochen zu Staub verarbeitet worden waren, und ein mit dem Computer erstellter Aufkleber beendeten diese einsa­me Lebenslinie.

Plunder und Räuber

Nach zwei Monaten ergebnisloser Versuche, einen Erben oder Verantwortlichen für den Nachlass zu finden, war Ezio Rizzato mit dem Katalogisieren und Einpacken des Krempels beschäftigt, der sich ihm dort anbot. Nach seiner Einschät­zung war davon nicht viel zu gebrauchen oder gar interes­sant, außer vielleicht den Möbeln.

Das Bett und die Sessel würden sofort unter der Hand veräu­ßert werden können und die Bilder an der Wand waren schon für den Transport an den entsprechenden Abnehmer vorberei­tet.

An jenem Tag im Winter wollte er die Katalogisierung beenden und möglichst seinen Aufenthalt in diesem Haus beenden. Er fühlte sich in dem Haus unwohl und hatte das Gefühl, dass dort alles schimmeln und ihn mit allen mögli­chen Krankheiten anstecken würde.

Als er sich dem Haus näherte, sah er eine Dame in Dunkelblau an der Tür stehen, die ihm einem Zirkus ent­sprun­gen zu sein schien. Er erinnerte sich, eine solche Gestalt vor Jahren in einem Varietétheater auf dem Oktoberfest gesehen zu haben, und er musste fast einen Lacher unterdrücken.

„Sie wünschen?“, fragte Ezio unentschlossen. Der Januar war ein trauriger Monat und die Farben der Natur waren längst verblasst, aber diese Frau hätte sogar die Farben des Sommers grau erscheinen lassen. Nichts an ihr war gewöhn­lich oder gar passend. Sie war eine Mischung aus Groteske und Kitsch. Diese Art von Menschen gaben nur vor, etwas zu besitzen, denn sie waren meistens arm und nur neugierig und außer, dass sie seine Zeit beanspruchten, wäre kein Geschäft mit ihnen zu machen.

Nicht selten wollten solche Personen nur ausspähen, was es im Haus zu plündern gab, um später die Räuber aus ihrer Bande zu schicken.

„Ich hörte, dass es hier einiges zu verkaufen gibt. Ich wäre eventuell interessiert.“ Ihr etwas kitschiger Akzent war schlecht geübt und ihr Auftritt litt an einem Hauch von schlechter Dramaturgie. Die Tür des Hauses öffnete sich selbständig vom Wind und durch den Schwung klopfte die Hand des Imps an die metallene Trommel der Tür.

Es folgten vonseiten Ezios unendliche der Phantasie entsprungene Erzählungen über einen edlen Herrn, der ohne einen Erben verstorben war, mit Betonung auf „unter mysteriösen Umständen“, was Anlass zu weiteren Vermutungen geben sollte.

Ezio hatte zwar keine Ahnung, womit er dort handelte, aber ihm war eines klar: Wenn er Geld daraus machen wollte, musste alles besonders interessant klingen, sogar wenn die Einnahme in diesem Fall nicht sehr vielversprechend zu sein schien.

Er hätte gerne diese bronzene Figur eines Imps aus der Tür entfernt, jedoch jedes Mal hatte er vergessen, es zu tun. Bereits vier Schraubenzieher waren auf dem Tisch an der Tür gestapelt, aber nie hatte er diese Aufgabe zu Ende gebracht.

Er hofierte die Unbekannte und machte die Türen auf und zeigte besonders die kleinen Figuren aus Porzellan, welche zum geschätzten Budget der Dame passen könnten. Vorsichtshalber zählte er die Figuren beim Zeigen und noch einmal beim Verlassen des Raumes.

Alles schien die Dame nicht zu interessieren, nichts schien sie zu beeindrucken, bis sie das obere Geschoss erreichten. Ezio befürchtete bereits, hier erneut einen ergebnislosen Ver­such zu starten, machte dann aber er den zweiten Raum auf.

Er gefiel ihm nicht besonders und noch schlimmer war der süße Duft der Rosen, der aus dem Raum nicht weg­zubekommen war. Diesmal bemerkte er, wie der Raum etwas heller als sonst glänzte, und freute sich, dass die Augen der Dame ein besonderes Interesse für das zeigten, was sie dort erblickte.

Lange Verhandlungen waren nicht notwendig und fast im Nu waren sie sich einig. In einem Schrank waren eine Kiste mit eingravierten Blumen und Schriften verborgen. Er wollte zwar nur den Schrank verkaufen, aber es war eine gute Gelegenheit, weiteren Plunder loszuwerden. Er dachte erst, dies sei eine Schmuckschatulle, und es war ihm unklar, wie er sie bei der Hausinspektion hatte übersehen können.

Er suchte das Schloss und konnte keines finden. Er drehte die Schatulle und die Dame wurde auf ihrer Shoppingtour durch den Lärm, den der Inhalt bei den Drehungen und Wendun­gen in Rizzatos Händen machte, aufmerksam.

„Darf ich die Schatulle sehen?“ Sie vergaß jeglichen Akzent und jegliche Inszenierung. Sie war nur sie selbst, die die Hände wie nach etwas Wiedererkanntem streckte.

Ihre krakeligen Finger folgten den eingravierten Rosenstilen um die Schatulle herum und endeten an einem Geheim­knopf, der mit einem leichten Klick nachgab. Der Deckel sprang auf und gab einen noch heftigeren Geruch von altem, billigem Parfüm frei. Ezio bekam fast eine Vision von Bordellen und verruchten Bars, wo Freud und Leid Hand in Hand gehen.

Sie bewunderte einen kleinen Kessel und sonstige Utensilien in der Schachtel und stellte sich vor, wie gut sich das alles in ihr Vorhaben einfügen würde.

„Ich nehme die anderen Sachen doch nicht.“ Ezio Rizzato war in diesem Moment wütend und wollte seine italienische Herkunft in einem Wutausbruch voll zur Blüte bringen, als sie seinen möglichen Protest mit einem Satz stoppte:

„Ich gebe Ihnen dasselbe Geld nur für diese Kiste hier.“ Er dachte, nachdem darin keine Juwelen von dem alten Herrn gewesen waren, sei es besser, diese Kiste vielleicht für ihr Nähzeug zu verkaufen, als gar kein Geschäft zu machen.

Sie händigte ihm das Geld aus und schien wie weggetreten. Er verstand das nicht, aber das Geld war ihm sehr willkom­men und warum sollte er noch Fragen stellen? Sie schien mehr vom Geschäft zu verstehen als er selbst.

Er zählte das Geld und ohne auf ihn zu achten, drehte sich die Dame um und bewegte sich zur Treppe. Er wollte sie noch aufhalten und ihr noch etwas mehr aufschwatzen und vor allem wollte er sicher sein, dass sie ihm das Geld richtig gegeben hatte. Aber da vergaß er, wie weit er schon gezählt hatte, und musste wieder von vorne anfangen.

Er hörte, wie sich ihre langsamen Schritten nach und nach die Treppe hinunter bewegten und er war sich sicher, dass eine solch gebrechliche Frau nie imstande wäre, bis zur Tür zu kommen, bevor er das Geld gezählt hatte. So fing er wieder von vorne damit an. Er überlegte auch, wie viel Geld die Dame wohl in ihrer Tasche haben musste.

Er war sehr froh, sie wieder los zu sein, aber andererseits wollte er sie doch aufhalten, weil er ein größeres Geschäft witterte. Mit der Schachtel schien auch der Geruch, der vorher im Raum gelegen hatte, weg zu sein. Er schnupperte in den Raum und überlegte, ob er das Fenster öffnen solle, aber es war draußen sehr kalt. Er verlor sich in seinen Gedanken und wollte überlegen, was er gerade tat.

Er hörte jetzt, wie die Füße der Dame über den Flurboden schlurften, und er dachte, wie lange er doch dieses Geld bereits gezählt hatte, und sein Interesse an der Dame schien langsam zu verblassen. Er wusste seine Aufgabe für heute erfüllt zu haben und es war Zeit, an etwas anderes zu denken oder etwas anderes zu tun. Plötzlich fühlte er sich in eigen­artiger Weise an diesen Raum gefesselt. Er dachte nicht mehr an die Dame und fing wieder von vorne an, das Geld zu zählen.

Später, er wusste nicht mehr genau wann, war er wieder an der Tür des Hauses und blickte wieder auf den hässlichen Dämon aus Eisen und Bronze, der noch nicht von der Tür abgeschraubt worden war. An die Frau konnte er sich nicht mehr erinnern und ihr Besuch kam ihm wie im Traum erlebt vor. Nur eines wusste er: Mit dem ganzen Hausrat wollte er nichts mehr zu tun haben. Es war nur Plunder und sollte ausgeräumt werden.

Edles Blut

Marijke kam zu Hause an und ärgerte sich wieder einmal, diese Schatulle aus dem Nachlass für teures Geld gekauft zu haben. Mag sein, dass sie alt und besonders gut für ihr Geschäft war, aber diese Kiste stank. Wie hatte dieser miese Schlawiner es geschafft, sie zu überlisten und ihr solch einen Mist anzudrehen? Dieser Gedanke verfolgte sie und plagte sie nun jeden Tag, wenn sie nach Hause kam. Sie meinte, ihn anrufen zu müssen, aber sie kannte seine Telefonnummer nicht. Er kannte sie auch nicht, da war sie sich sicher, aber in dieser Sozialgruppe kennen sich irgendwie alle unter­einan­der.

Sie hatte keine Möglichkeit, das Geld wiederzubekommen. Sie hatte es schwarz gekauft, ohne Quittung, ohne jeglichen Nachweis. Was konnte sie noch tun?

An jenem Tag nahm sie die Schatulle und setzte sich auf einen etwas bequemeren Stuhl in ihrem Wohnzimmer. Sie über­legte, wie sie sie aufgemacht hatte.

Sie erinnerte sich nicht mehr genau, aber irgendwo war ein verborgener Knopf gewesen. Sie trug wieder keine Brille, weil das ihr Stolz verbot.

Sie bemühte sich, die passende Entfernung zur Front der Box herauszufinden, in der sie den Knopf finden könnte, aber versehentlich drückte sie dabei auf eine andere Stelle.

Der Deckel sprang auf und gab den Blick auf einen alten, kleinen Kessel frei, eine kristallene Kugel, etwa wie eine Sanduhr, jedoch mit einer roten Flüssigkeit darin, anstatt des gewöhnlichen Sandes, und ein Athame, ein zeremonielles Messer, das heidnische Priester meistens um den Gürtel trugen, jedoch ohne Schneide.

„Plunder!“, fluchte sie und hätte am liebsten alles über den Fenstersims hinausgeworfen. Aber sie wollte trotzdem einen Nutzen daraus ziehen. Es gab immer einen Dummen, der für solche Sachen etwas zahlte.

Der Deckel der Box quietschte beim Schließen ein wenig und sie tapste mit ihren krakeligen Fingern darauf herum. Plötz­lich öffnete sich ein Geheim­deckel und ein Manuskript kam zum Vorschein.

Sie versuchte es zu lesen, jedoch die Handschrift war sehr ornamentreich und erschwerte es, sie zu entziffern. Sie nahm ein Vergrö­ßerungsglas aus dem Obstkorb und folgte den Linien.

Sie las die ersten Zeilen, fand aber keinen Sinn darin. Es war offensichtlich eine Fremdsprache, und zwar eine, die sie nicht kannte. Die meisten östlichen Sprachen kannte sie bestens und auch etwas Spanisch, aber diese hier war anders. Viele r und viele w ‒ es musste etwas Griechisches sein, vermutete sie, eine Sprache, von der sie keine Ahnung hatte.

Sie war sehr konzentriert beim Lesen und doch merkte sie, wie es im Raum immer dunkler wurde. Es war ihr im Leben nichts mehr unheimlich oder konnte sie gar erschrecken.

Sie hatte das Alter erreicht, in dem die meisten Männer, die sie mal gekannt hatte, tot waren, und die meisten Frauen, die sie auch mal gekannt hatte, an Demenz litten, daher rechnete sie bald mit dem Tag der Abrechnung. Das Dunkle, das sie spürte, könnte ja auch von niedrigem Blutdruck herrühren, beruhigte sie sich.

Sie spürte, dass es draußen kälter wurde und sie sich bald nicht mehr würde bewegen können, da ihre Beine schon etwas schmerzten. So entschloss sie sich dazu, das Fenster zu schließen. Mit schweren Schritten und einem Stechen in der linken Hüfte erhob sie sich vom Sessel und hinkte bis zum Fenster. Sie schloss es und prüfte den Riegel nach. Es war ihr doch etwas mulmig und so ging sie ungeachtet der Schmerzen durch die Wohnung und schaute nach, ob alles in Ordnung war. Früher hatte sie zumindest ihren Basso, einen Mischling aus Dalmatiner und etwas anderem, dennoch treu und stark. Jedoch war der bereits drei Jahre zuvor gestorben und seither wollte sie keinen Ersatz mehr haben, weil sie befürchtete, einen neuen Hund nicht mehr überleben zu können.

Während sie sich in der Wohnung umschaute, merkte sie nicht, wie sich ein dunkler Staub oder Rauch um die Box im Wohnzimmer bildete. Mit ihren schlechten Augen hätten sogar tanzende Krabben aus der Box springen und den Cancan vorführen können und sie hätte es nicht bemerkt. Bei derart alten Gegenständen fiel auch die Menge an Staub nicht besonders auf. Anschließend ging sie schnell wieder zum Sessel und genoss die Ruhepause für ihre Hüfte.

Ihr ging durch den Kopf, dass ihre Familie alles im Krieg verloren hatte und sie nie einen Beruf erlernen oder gar irgendetwas Richtigem nachgehen hatte können, und jetzt stand sie hier in einer kalten vorübergehenden Wohnung und einer Box voller Plunder mit Nuss- und Rosen­geruch. Vorübergehend deshalb, weil sie ständig den Wohnsitz wechselte.

Sie wusste, dass die Schachtel nicht gewaschen werden konnte, und ließ sie daher nur auslüften, aber ob sie es noch erleben würde, dass diese Box nicht mehr so roch, dessen war sie sich nicht sicher.

Sie nahm wieder Platz und ging das Manuskript durch. Es war darin nichts Brauchbares zu lesen. Sie verstand kaum die Zahlen der Seiten, daher schloss sie wieder enttäuscht die Box und verteilte die daraus entnommenen Utensilien auf ihrem Tisch.

Sie musste nur auf den erstbesten Deppen warten und einfach eine Show abziehen. Sie war eine gute Mentalistin oder Mesmeristin, wie sie sich selbst bei Bekannten betitelte. Gräfin Marijke Solenya war mehr als ein selbsterfundener Titel, es war auch eine erfundene Tradition. Wann dieser betuchte Kunde kommen würde, das musste sie einfach abwarten. Jedoch schien er nicht lang auf sich warten zu lassen, weil in diesem Moment das Telefon klingelte. Eine Frauenstimme auf der anderen Seite gab zu verstehen, dass sie einen Termin für eine wichtige Angelegenheit benötigte.

„Ich schaue in meinen Terminkalender, wann ich Sie empfangen kann“, log sie in falschem Dialekt und blickte im Kalender vor sich auf den leeren Monat Februar.

Ojos de culebra

Das Leben kann schön sein, vor allem, wenn alles gelingt, was man tut. Mit diesem Gedanken wachte Hector, ein halber Zigeuner und ein halber Spanier, an diesem sonnigen Tag auf. Seine Genitalien schmerzten von der Über­beanspru­chung der letzten Nacht.

Er rollte aus dem Bett und beim Aufstehen betrachtete er seinen Körper im Spiegel.

Ja, sein Körper ist sehr schön!, dachte er ohne falsche Bescheidenheit. In den Swinger Clubs, die er über das Internet kennen gelernt hatte, war einiges rauszuholen. Die Männer waren meistens etwas bisexuell veranlagt und ihre Frauen wollten einen richtigen Mann für das Vergnügen. Er konnte Paaren das bieten, was sie sich voneinander immer gewünscht hatten.

In den letzten drei Jahren hatte er die deutsche Sprache gelernt und obwohl er sie besser sprechen konnte als viele andere Spanier, die in Deutschland zur Welt gekommen sind, pflegte er seinen kräftigen Akzent. Dies gefiel vor allem den Frauen und ließ sie noch großzügiger mit ihrer Zahlung werden. Sie alle schmolzen dahin, wenn er das Wort „Cojones“ aussprach und ihre Hände in seinen Schoß zwang.

Geld allein, das wusste er, war nicht alles, da er bereits über dreißig war und andere Jüngere ihm bereits das Publikum streitig machten.

Der Markt in dieser Branche war sehr kurzlebig und nicht jedes Paar oder jede Frau bezahlte für sein Schweigen frei­willig und ohne Widerstand.

Er kam meistens als Gast und verschaffte allen, Frauen und Männern, vermeintlich kostenloses Vergnügen, verlangte aber hinterher für seine Diskretion einen dezenten Obolus. Falls da das Wort Erpressung in einem Gespräch fiel, wusste er sich unglaublich schockiert zu geben.

Er schaltete die kleine Tischlampe neben dem Bett an und sah vergnügt zu, wie das Licht die kräftigen Konturen seines Körpers streichelte.

Er wanderte nackt wie er war durch die Wohnung und nachdem er sich lautstark auf der Toilette erleichtert hatte, schaute er seinen Kalender durch. Er stellte fest, dass er an diesem Tag einiges zu tun hatte. Unter anderem verdiente er sein Geld mit der Vermittlung seiner Mutter, die sich hin und wieder als Zigeunerin, Wahrsagerin, Hexe oder irgendetwas Esoterisches ausgab.

Er war in Südspanien ohne Vater bei der Mutter aufge­wachsen, einer in Polen geborenen Frau unbestimmter Herkunft. Sie war zu unattraktiv, um einem anderen Gewer­be nachzugehen, und daher kam sie auf die Idee, diese dramaturgische Show aufzubauen. Sie las den Personen die Zukunft, die sich eine wünschten, sie machte Be­schwörun­gen oder Liebestränke, die genauso wirkungsvoll waren wie All-you-can-eat-Diätpläne. Wichtig war die Zah­lung im Voraus.

Die Tatsache, dass sie keine Vorstellung von den Bräuchen der Zigeuner und erst recht keine Ahnung von Magie hatte, war ihr egal.

Hector und seine Mutter waren perfekt in dem, was sie machten, und lebten auch sehr gut davon. Das Gesetz stand meistens auf ihrer Seite und sie wussten alles perfekt zu planen. „Verliebte Frauen sind dumm“, sagte seine Mutter immer wieder und gerade solche brachte Hector gern um ihr Geld.

Sie würden nie erwischt werden, da kaum einer der Geprellten überhaupt auf den Gedanken kam, über den Tisch gezogen worden zu sein. Ein Volk ohne Glauben glaubt an alles, was man ihm auf­tischt.

Hector erzählte seiner Mutter keine Details, warum auch manche Männer ihm so hörig waren. Er sagte immer: „Es sind Freunde.“

In seinem Bekanntenkreis war zwar bekannt, dass manche Männer mehr als Freundschaft verband, jedoch sprach keiner darüber. Es war ein allgemeines, unausgesprochenes Geheimnis. Hector schämte sich und würde trotz aller Verdorbenheit das Thema niemals im Beisein seiner Mutter ansprechen.

Marijke hieß seine Mutter, aber in den verschiedenen Städten, wo sie bereits gewohnt hatten, war sie als Madame Zolah, Schwester Cylene oder sogar Wodianova, die All­wissende, bekannt. Derzeit machte sie nur wenige Geschäf­te, da ihr Sohn das meiste Geld verdiente und sie sich lang­sam in den Ruhestand begeben wollte.

An diesem Nachmittag sollte er seiner Mutter Geld vom letzten Geschäft überbringen und eine neue Bestellung einer verzweifelten Kundin aufgeben.

Der teuerste Zauber, den seine Mutter verkaufte, war der Geldzauber. Durch die ökonomische Krise am Anfang des Jahrhunderts ließ sich alles immer gut kombinieren: Geldnot und Verzweiflung. Er kam per Zufall auf die passende Klien­tin. Sie suchte nicht nach etwas Entspannung, aber nach bestimmte Leistungen, die er nur zusammen mit seiner Mutter erbringen konnte. Er war sehr glücklich über diesen Zufall.

Frauen oder Männer waren Hector verfallen und wurden ausgenommen, bis kein Geld mehr da war. In Geldnöten fragten sie Hector, was sie noch für ihn tun sollten, und da kam jedes Mal seine Empfehlung, sich bei seiner Mutter einen letzten Zauber zu bestellen.

Es würde Hector nicht im Traum einfallen, seine Mutter in diesen Fällen seine Mutter zu nennen. Sie war dann Gräfin Marijke Solenya oder sonst eine erfundene Person, die sie sich ausdachte. Nach der Abwicklung solcher wirkungslosen Maßnahmen wurden diese Personen mit einer traurigen Nachricht verabschiedet, indem Hector Frauen beichtete, eigentlich schwul zu sein, oder Männern das Gegenteil gestand, nun die Frau seines Lebens gefunden zu haben.

Ein solcher Prozess dauerte maximal sechs Monate ‒ dann machte er sich an das nächste Opfer heran. Egal wie, die Betrogenen waren um Geld und Herz gebracht und er machte sich vergnügt davon.

Seine Mutter war immer erfreut zu sehen, dass sie gute Kunden hatte und diese ihr keinen Ärger machten. Hector würde noch einen Kaffee aufsetzen und dann einige Einkäufe im Internet machen. Er bestellte gern und war bei den meisten Herrenausstattern der Stadt ein willkommener Gast.

Er drückte den Knopf des Kaffeeautomaten und mit lautem Knattern spritzte die duftende Brühe aus der Maschine direkt in die Klimt-Porzellantasse.

Er hatte zwar keine große Bildung genossen, aber nach und nach durch die verschiedenen Beziehungen eine breite Kunstkenntnis und einen auserlesenen Geschmack ausgebil­det.

Mit der Tasse in der einen und dem Kalender in der anderen Hand bewegte er sich zur Sonnenbank, die in einem der vormals als Gästezimmer dienenden Räume seiner Woh­nung stand.

Er war mit sich zufrieden und die dumme Frau, wie er sie beurteilte, hatte ihm sogar viel mehr Geld angeboten, als er wollte, verbunden mit der Bedingung, dass alles klappte, wie er ihr versprochen hatte. Dennoch fühlte er so etwas wie Angst, da diesmal sehr viel Geld im Spiel war. Aber wie könnte sie ihn bei der Polizei anschwärzen wollen, bei allem, was er über sie wusste? Er war ein Fuchs, er war schlau, er gewann immer. Seine egozentrischen Gedanken regten ihn so an, dass er dabei fast eine Erektion bekam.

Den Duft von Rosen mochte er überhaupt nicht, denn davon hatte er in den letzten Tagen zu viel gehabt. Dieser Duft erfüllte sein Gästezimmer und er machte schnell das Fenster auf. Er würde mit seiner Mutter wegen dieser Unachtsamkeit schimpfen. Er hatte sie mehrfach davor gewarnt, solchen Raumduft zu benutzen. Er war der Ansicht, dass nur billige Absteigen nach Rosen rochen. Er öffnete das Fenster und die Sonne kam ihm entgegen. Er spürte ihr Licht und ihre Wärme, die durch seine wolligen Brusthaare hindurch seine Haut streichelte.

Er setzte die Tasse achtlos auf den teuren Designertisch neben der Sonnenbank und schaltete das Radio an, stellte die Zeituhr der Sonnenbank auf zwölf Minuten ein und rieb sei­nen Körper mit einer Avocado-Bräunungslotion ein.

Er legte sich auf die Sonnenbank und zog die Klappe herunter. Das Radio gab einen fröhlichen Oldie mit karibi­schem Hintergrund von sich.

Er genoss die Musik, bis auf einmal Stille eintrat. Das Radio verstummte und gerade wollte er fluchen, als langsam ein Rauschen aufkam. Er fühlte, dass der Raum um ihn herum enger wurde und der Duft der Rosen ihn fast erstickte. Panik ergriff ihn und aus dem Radio sprach eine blecherne Stimme:

„Verdorre.“

Mama

Marijke wartete bereits seit zwei Stunden auf ihren Sohn. Wo trieb er sich herum? Sie fühlte sich seit dem vergangenen Mittwoch unwohl. Sie putzte seine Wohnung, obwohl er immer wieder etwas daran auszusetzen hatte, aber er bezahlte sie auch dafür.

Fünf Tage waren bereits vergangen, seit diese gesundheit­lichen Beschwerden angefangen hatten und sie ständig die Toilette aufsuchen musste.

Irgendetwas, was sie gegessen hatte, war nicht in Ordnung gewesen, aber sie war auch alt genug, um zu wissen, dass dies bei einer alternden Dame an der Tagesordnung war, wenn sie auch wusste, dass sie nicht eine normale, alte Dame war.

Die Schatulle aus Holz, die sie kürzlich erworben hat, brachte ihr Glück; denn seitdem hatte sie einiges verdient. Es schien, als würde es naive Menschen regnen, und sie kassierte erfolgreich für ihre Auftritte. Sie hatte bereits Geld auf die hohe Kante gelegt und seit einigen Monaten hatte sie durch einige Extraarbeiten sogar mehr als das gespart, was sie, bis sie das Zeitliche segnen würde, ausgeben konnte. Daher hatte sie dem Auktionator auch die teure, alte Apparatur abgekauft, allerdings schwarz.

Der ganze alte Kram passte ganz gut zu ihrer Vorstellung. Bisher hatte sie nur eine mit Wasser gefüllte Glaskugel benutzen müssen, anstelle einer echten Kristallkugel, passend dazu bekam sie sogar alte Anleitungen in altem Deutsch, die ihre Vorstellung noch glaubwürdiger gestalte­ten.

Sie wusste zwar nicht alles richtig zu lesen, aber ihr Akzent beim Vorlesen dieser Wörter versetzte leichtgläubige Kun­den in einen absoluten Rausch. Kunden ließen sich zu Zeiten des ökonomischen Umschwungs von ihrer Show gerne blen­den und ihre Vorführung war im Laufe der Jahre beinahe perfekt gewor­den. Wenn sie ein altes Buch aufschlug, mach­ten alle Kunden große Augen und wenn sie eine Trance vortäuschte, sie brauchte nur schwerer zu keuchen, zahlten sie ihr noch mehr.

Ihre Vorgänger in dieser Wohnung hatten eine perfekt abge­stimmte Kombination von Möbeln und Accessoires hinter­lassen. Offen­sichtlich waren beide in derselben Branche gewesen. Er besaß Pendel, Kristallkugel, Tarot-Karten und sogar wunderbare Runen. So etwas Exquisites!

Seit sie dies alles gekauft hatte, konnte sie sogar mehr für ihre Sessions verlangen. Jetzt fühlte sie sich wirklich erfolgreich.

Die vergangene Woche war für sie eine erfolgreiche Woche gewesen und sie fühlte, wenn alles nach ihrer Vorstellung verlaufen würde, wären sie und ihr Sohn bald reich, und zwar sehr reich. Ihre neue Sponsorin war gefährlich und gierig, eine gute Kombination für eine Närrin. Eine kleine Nutte war diese Frau, sie verkaufte ihren Körper und ihre Seele für das Vergnügen, an die Macht zu gelangen. Sie war rücksichtslos und sie hatte genauso wenig Gewissen wie sie selbst.

Eigentlich hätte sie dieses Mädchen sogar gerne zur Schwie­gertochter gehabt, sie wäre der passende Ersatz für sie in ihrem Familienunternehmen. Sie war vor vielen Jahren auch mal so gewesen, nur etwas weniger attraktiv, dies war ihr bewusst. Sie beneidete solche Frauen und konnte einen gewissen Hass nicht ganz verbergen. Wenn sie als junges Mädchen so viel Geld gehabt hätte, wäre sie auch schön gewesen, dachte sie bei sich.

Seit drei Monaten hatte sie mit ihrem Sohn diesen Auftrag geplant und genau zum abgesprochenen Tag war es geschehen. Sie glaubte nicht unbedingt an das Okkulte. Alles was die Esoterik bot, war ihrer Erfahrung nach absoluter Humbug, damit sie leichtgläubigen Menschen das Geld aus der Tasche ziehen konnte, und es war ein ertragreiches Geschäft.

Zufall war ein Faktor, der ihr diesmal sehr geholfen hatte. Zwar kam es so, wie es in der Séance versprochen worden war, aber das hatte sie wirklich nicht erwartet.

Es war Dienstagabend, als Hector mit einer neuen Flamme in ihr Haus gekommen war. Da diese Kundin sich die Allüren von Hector nicht mehr leisten konnte, war sie in die Not geraten, mehr Geld zu verdienen, aber sie wusste, wie sie viel Geld verdienen könnte, und wenn die Versprechungen von Hector etwas Wahres in sich bargen, wäre dies das perfekte Verbrechen.

„Gräfin Solenya“, so stellte sie sich damals vor, denn das war ihr aktueller Name. Entsprechende Visitenkarte aus dem Automaten im Kopierladen und eine vorübergehende An­schrift sorgten für einen möglichst sorgenfreien Auftritt.

Sie feierte an diesem Abend das Debüt ihrer neuen Akquisi­tion und zeigte mit Freude die Objekte aus dem erworbenen Nachlass des verstorbenen Mannes, der sich mit Okkultem befasst hatte. Über diesen alten Besitzer wusste sie nichts außer der Tatsache, dass die Wohnung leergeräumt werden musste und sie kurz vor der Schlussräumung gekommen war.

Ein Bekannter von ihr war ein Bekannter des Auktionators, der an dieser Auflösung beteiligt war, und dies bot ihr eine gute Verhandlungsposition. Da auch keiner die Ware kaufen mochte, weil sie weder modisch noch pflegeleicht war, fand sie wenige Interessenten, und wer diesen Mann kannte, hielt ihn eher für unheimlich und versuchte lieber, ihn zu verges­sen.

Die neue Kundin kam zum verabredeten Termin, trug eine Brille mit getönten Gläsern und offensichtlich eine Perücke. Einiges, was sie an sich hatte, gab klar zu verstehen, dass sie nicht erkannt werden wollte.

Sie wurde hineinbegleitet in das schöne, jedoch wenig ge­putzte Wohnzimmer. Da, wo viel Farbe ist, kann man den Schmutz nicht sehen. Dieses Motto half Marijke, mit ihren wenigen Kräften die Putzarbeiten zu erledigen. Das Mädchen kam sich etwas lächerlich vor, aber dachte, dies wäre einen Versuch wert.

„Der Mann auf dem Foto“. Die verhüllte Kundin zeigte mit dem Finger auf einen Mann mitten in einer Gruppe, die gerade feierte. Vielleicht ein Geburtstag, das konnte sie ohne Brille nicht identifizieren.

„Ja, isch sehehe himmm“, stammelte sie mit einem nicht nachvollziehbaren Akzent. Deutsche würden ihn irgendwo dem östlichen Europa zuordnen, dort jedoch würde man ihn eher als Sprachfehler ansehen. Tatsache war, dass sie wegen der schweren Wimpern kaum die Augen öffnen konnte, und wegen eben dieser Wimpern konnte sie auch nicht ihre Brille aufsetzen, weshalb sie kaum den Finger dieser Frau erken­nen konnte.

„Gräfin, dieser Mann ist mein Boss. Sie müssen diesen Mann einige Tage außer Gefecht setzen. Er würde mich hindern, eine Menge Geld zu verdienen. Können Sie sich mit Ihren ‚Methoden‘ um ihn kümmern?“ Eine naive Frage.

Es war peinlich, solche Menschen zu missbrauchen, aber angesichts des in Aussicht gestellten Entgelts war sie bereit, diese Pein­lich­keit hinzunehmen. Sie setzte Ihren Auftritt mit Glanz fort. Wenn diese Kundin wüsste, wo sie hineingeraten war, würde sie sich nicht mehr zur Sicherheit, sondern aus Scham verstecken wollen. Mit so viel Geld würde sie ohne Sorgen für mindestens sechs Monate leben können.

„Meine mediunischen Partner stehen zu Diensten, aber sie verlangen eine Gabe. Was benötigt ihr diesmal?“, fragte sie in den Raum und verdrehte die Augen, aber wegen der Wimpern und mangels Licht blieb der Effekt ohne Wirkung.

„Ja … Sie sagen, eine Hand wäscht die andere. Helfet ihm, sie helfen dir.“ Das groteske Rollen des r klang zwar nicht glaubwürdig, aber die Kundin sah nur ihr Ziel vor Augen und weniger die Fäden, die Marijke um sie herum spann.

„Das Geld werde ich nicht für mich behalten dürfen, sondern für den Sohn eines der Geister, die mich unterstützen.“ Sie versuchte mit halb geöffneten Augen an der Mimik der Kundin zu erkennen, ob diese weiterhin mitmachte oder ob sie sich davonmachte.

Marijke wäre am liebsten in Lachen ausgebrochen und hätte gern dieser dummen Ziege die Wahrheit gesagt, dass sie selbst zwar nicht die Schönste, aber dafür umso klüger sei. Für diese Arbeit hatte sie bereits alles vorbereitet gehabt. Aus dem Nachlass, den sie gekauft hatte, hatte sie aus dem Manuskript einen Teil herausgesucht, etwas wie eine Rezep­tur, und diese so vorgetragen, als würde sie den Ritus eines alten Zaubers wiedergeben.

Möglicherweise war es nur ein Rezept für ein Nieren­reini­gungs­elixier, verfasst in einer ihr nicht bekannten Variante der deutschen Sprache, und sie hoffte, dass keiner der Kunden diese Sprache besser kennen würde als sie. Den anderen Teil in der alten Sprache hatte sie nicht benutzt.

Es wäre absolut peinlich gewesen, wenn jemand plötzlich gesagt hätte, dass es sich um ein Rezeptbuch für ein portu­giesisches Fischgericht handele.

Sie bemerkte, dass sie die Kundin in ihren Bann geschlagen hatte und sie damit leichtes Spiel hatte. Sie simulierte die Trance und öffnete das Manuskript, holte die Kristall­kugel und krakelte mit ihren dürren Fingern darüber. In dem Moment, als die Kugel auf das Pergament geschoben wurde, zuckte sie. Die Zutaten waren leicht zu lesen gewesen und lagen inzwischen bereit. Es waren nur Ingwer, Fenchel, Brennnessel und etwas Wasser. Die letzte Zutat kannte sie nicht und ersetzte sie durch Wacholderbeeren. Ob das nütz­te, wusste sie nicht, aber alles zusammen sah in dem kleinen Kessel gut aus.

Unerwarteterweise verdunkelte sich der Raum etwas. Scheinbar war die Stromversorgung nicht mehr so stabil wie sonst und sie hoffte nur, dass sie nicht ganz ausfiel.

„Die Geister garantieren die Lösung zum richtigen Zeitpunkt, jedoch muss das Geld in den Kreis gelegt werden. Wenn ich die Geister rufe, dann hast du vierundzwanzig Stunden Zeit, das Geld zu liefern. Ich werde mich darum kümmern, dass sein Sohn das Geld bekommt. Mit dem Geld soll sein Kind eine Chance zum Studium bekommen.“ Sie nutzte die Situation aus und war mit dem Ergebnis zufrieden.

„So viel Geld?“, gab das Mädchen fast mit einem Wimmern zu verstehen, aber Marijke wusste mit solchen Situationen fertig zu werden und setzte sofort nach.

„Wenn du dem armen Kind dieses Geld gibst, wirst du doppelt so viel zurückbekommen“. Marijke schaute, wie ihre Vorstellung ankam und hoffte, mit dieser Mitleidsnummer etwas glaubhafter zu wirken.

„Ich weiß nicht, wie lang ich noch leben werde, mein Kind, vielleicht verlassen mich die Geister bald, da ich bereits zu alt bin und bald selbst auch zu einem dieser Geister werde. Warte nicht zu lange“.

Es kam immer noch keine Reaktion und daher musste sie noch eine letzte Karte spielen: „Besprich es mit der Person, die du liebst, sie wird dir den Weg weisen.“

Damit ging der Ball zu Hector. Sie und ihr Sohn sprachen vor Kunden niemals über ihre familiäre Bindung. Es wäre nicht gut für das Geschäft und daher hatten sie mit dieser Regelung einen besseren Spielraum.

Die Kundin schien immer noch verunsichert. Vielleicht hatte sie doch zu hoch gepokert und sollte eine andere Strategie wählen. Aber jetzt den Preis zu reduzieren, könnte Verdacht erregen. Sie vertraute darauf, dass Hector die passenden Worte finden würde, um den Deal endgültig perfekt zu machen.

Die Zeit verstrich und sie fing an, ungeduldiger zu werden. Sie saß bereits über zwei Stunden bei dieser widerwilligen Person und wollte das Ganze allmählich zu einem Ende brin­gen. Hector kam in diesem Moment herein und schaute fragend in den Raum.

„Bin ich zu früh gekommen, um dich abzuholen, Liebling?“ Ein überzeugender Auftritt, dachte Marijke voller Stolz.

„Ich muss dich etwas fragen, Hek. Gräfin Solenya übermit­tel­te mir die Botschaft der Geister. Sie meinen, dass du mich bei der Entscheidung unterstützen solltest.“

Verena fasste das Theater zusammen und Hector versuchte, intelligent zu wirken, indem er hier und da den Kopf hin und her wiegte.

„Ich denke, es ist zu viel Geld“, beendete sie den Bericht und breitete ihre Hände aus, um die Not zu verdeutlichen.

„Aber, wenn du dafür etwas anderes, noch Wertvolleres bekommst, Liebste, dann ist es das wert“, warf Hector überzeugend ein und seine Mutter dachte: „Schach“!

Verena gab nun doch nach und mit verstohlenem Blick nach unten stimmte sie dem Deal zu.

„Gräfin, dies ist mein letztes Geld. Sind Sie sicher, dass ich jetzt keinen Fehler begehe?“

„Solange ich noch lebe und meine Kräfte mich nicht verlassen, werde ich alles tun, und die Geister haben mich nie enttäuscht.“ An diesem Punkt des Gesprächs war der vorgetäuschte Akzent fast schon verbraucht und die Frau Gräfin setzte noch einmal nach.

„Die Geister sprechen aus meinem Munde“. Lange Vokale und ein leichtes Zittern im Timbre begleiteten das Schau­spiel.

„Die Geister werden am kommenden Mond freigelassen werden und der Mensch auf dem Foto soll von den Geistern behesucht werden.“ Jedes s wurde zu einem offenen „ehhs“ und jedes Wort wurde mindestens in doppelter Länge ausgesprochen.

Marijke hatte ihre schauspielerischen Grenzen erreicht und langsam ermüdete sie dieser Auftritt.

Der Deal wurde endlich mit einem Barscheck besiegelt. Marijke zündete Kerzen an und schaltete einige der Lampen aus und las das Rezept aus dem Buch vor.

Wie vorgegeben legte sie die Zutaten nach­einander in eine silberne Schale voller Wasser. Erwartungsgemäß waren am Ende nur nasse Kräuter und eine nasse Tischdecke zu sehen. Kein Rauch, kein Blitz, es war nichts anders als sonst. Und dann las sie die Formel, die zu solchen Ritualen gehörte.

Sie stand kunstvoll geschrieben am unteren Rand und man sah, dass der Autor ein gebildeter Mann gewesen war. Jeder Buchstabe war wie gemalt und die Großbuchstaben waren so verziert, als hätte eine Ballerina mit Tinte an den Spitzen der Ballettschuhe jeden dieser Großbuchstaben getanzt.

Sie folgte den Worten und sprach langsam in ihrem gekünstelt gebildeten Dialekt. Alles hier wiederzugeben, was in dem Ritual geschah, ist eigentlich unnötig, da es aus mysti­scher Sicht heraus profan und aus der Sicht eines Unbe­teiligten einfach nur peinlich war.

Sie nahm dann zum Abschluss ganz theatralisch vier Rosen aus der Vase, die auf dem Tisch stand, und tauchte sie in die Schale hinein. Dann verletzte sie den Daumen der Kundin mit einem Athame, auch Hexendolch genannt. Einen Tropfen des Blutes verteilte Marijke auf dem Foto und vier weitere ließ sie in die Schale hineintropfen. Sie gab sich mit der Vorstel­lung zufrieden.

Der Blutstropfen der Kundin fiel auf die Mitte des Fotos und mit dem linken Zeigefinger wischte sie das Blut kreisförmig über das Foto.

Sie war so beschäftigt mit ihrer Rolle, dass sie dabei kaum darauf achtete, dass es im Raum in diesen Moment kälter wurde und sich die Lampen, ohne dass die Stromstärke sich verändert hätte, auf einmal verdunkelten. Es war weniger Licht da, so als würde ein Loch im Raum alle Strahlen aufsau­gen.

Sie nahm nur den Duft der Rosen wahr, der den Raum füllte. Sie wusste nicht, wie sie das erreicht hatte, aber für das nächste Opfer würde sie wieder genauso vorgehen.

„Schenke Rose oder übergib sie an die Person auf dem Foto und sie sollen das innerhalb vieerrseen Daage tun.“ Hier zeigte sich Marijke ermüdet und dies war das Einzige, was nicht gespielt war.

Sie hatte bereits den Wunsch gehabt, auf das Geld zu verzichten, alle wegzuschicken und sich in die Badewanne zu legen, aber sie nahm Rücksicht auf die Gabe der verhüllten Kundin und schloss die Veranstaltung erst jetzt. Sie war selten in einer Vorstellung so gut gewesen. Sie fühlte sich so, als würde sie auf einer Bühne unter einer perfekten Regie arbeiten.

Sie sah, wie das Mädchen die Rosen an sich nahm und sich in Gedanken Notizen machte, wie sie die Blumen übergeben sollte. Die vierzehn Tage sollten Zeit genug sein, damit sie mit dem Geld von der Bildfläche verschwinden und sich ein nächstes Opfer suchen konnte.

Sie hatte es erreicht, ihren besten Auftritt seit Jahren. Wie authentisch ihre Vorstellung war, wusste sie nicht, aber bald sollte sie erfahren, dass sie wirklich gut war und tatsächlich einen Regisseur hatte.

Zufälle

Es war März und das Wetter versprach noch lange kalt zu bleiben. Der Boden war gefroren und die Sonne schien greller als eine Supernova zu sein.

Deutschland mag im Sommer und Herbst schön und warm sein, jedoch sieben Monate Kälte lassen die Erinnerung an den letzten Sommer irgendwann verblassen.

Ich saß wieder bei meinen Vanillekaffees, versuchte weiterhin Freude zu empfinden und suchte in der Zeitung weiter nach Optionen für mein ereignisloses Leben.

Ich hatte meine vor Wochen abgegebene Bewerbung bereits vergessen. Die Bedienung des Cafés stolzierte wieder herum und präsentierte ein übertriebenes Lächeln, welches ich als Ermutigung zur Trinkgeldspende verstand.

Aber ich lächelte nur zurück, tat so, als hätte ich nicht verstanden, und las weiter. Weitere Optionen konnte ich allerdings nicht in der Zeitung finden.

Mein Hund, den ich von meiner Mutter vor sechs Monaten geerbt hatte, verlangte nach seinem Spaziergang und seine Lebhaftigkeit munterte mich sehr auf. An diesem Tag schien der kleine Kerl noch zappeliger als sonst zu sein.

Sein Gesichtsausdruck gab zu verstehen, dass er das Café absolut öde fand. Ich ließ wieder die halb ausgetrunkene Tasse stehen und hätte mich am liebsten an der Kasse für diese Verschwendung entschuldigt, aber dann entschied ich mich, die Würde zu bewahren und mit erhobenem Haupt und einem flachen Lächeln an der Bedienung vorbeizugehen.

Die nickte gerade so viel, dass man es als einen Abschieds­gruß verstehen konnte, aber es hätte auch eine unbe­ab­sichtigte Zuckung sein können. Kein Trinkgeld, kein Lächeln.

Draußen war es immer noch frisch, der Wind blies mir messerscharf ins Gesicht und brachte es zum Erstarren.

Mein Hut weigerte sich, ruhig zu bleiben, und mit einer Hand die Kette von Poppy haltend (eigentlich von Popeye, der Lieblingsfigur der Comics, die meine Mutter gerne gelesen hatte. Aber Poppy war zu klein, um einen so großen Namen zu tragen, daher wurde er bereits im Welpenalter zu Poppy umgetauft), verteidigte ich mich mit der anderen Hand gegen den Diebstahl meines Hutes durch diesen Frühlings­sturm.

Poppy war ein Mischling aus Pitbull und Jack-Russel und irgendetwas Undefinierbarem, aber egal wie, er war klein, sehr bullig und er besaß etwas von einem Beschützer in sich.

An jenem Sonntag im März schnüffelte Poppy nicht wie gewöhnlich umher, vielmehr legte er eine Gangart vor, als hätte er etwas gehört oder gespürt, und er ließ sich nicht aufhalten. Seine kurzen Beine schienen sich schneller zu bewegen, als meine Beine ihm folgen konnten, und ich verstand, dass diesmal ein leichter Spaziergang wie sonst nicht ausreichen würde.

Folgsam steckte ich meinen gelben Hut in den Korb meines Fahrrades, verlängerte das Hundeseil und ließ Poppy den Weg bestimmen.

Ich wusste, dass er in spätestens dreißig Minuten verlangen würde, im Korb meines Fahrrads mitgenommen zu werden, oder ich durfte ihn wieder in meinem Schoß nach Hause tragen.

Er schlug neue Wege ein, wurde hin und wieder schneller und meine Gedanken verflogen und meine Sorgen waren in eine ferne Ecke meines Kopfes verdrängt.

Mein Fahrrad meldete sich mit einigem Murren, das mir zu verstehen gab, dass ich die Kette seit mindestens einem Jahr nicht mehr geölt oder gepflegt hatte. Meine Beine kämpften gegen das verhärtete Getriebe an und ich kam in Stimmung.

Meine Sorgen waren wie durch einen Zauber weit weg und ich sah nichts mehr, nur ein Gefühl begleitete mich. Eine männliche Gestalt kam meinem Fahrrad in einer von der Mode längst verabschie­deten Jogging-Kombination entge­gen und sie sah aus wie ein menschlicher Moskito. Seine langen dürren Beine staksten gnadenlos auf den Boden und für einen kurzen Moment war mein Gefühl der Freude durch seinen marionettenähnlichen Anblick verflogen.

Eine Mischung aus Schnee und Regen begann vom Himmel zu fallen, aber ich war über diese Abwechslung so erleichtert, dass ich Poppy einfach willenlos folgte.

Wir waren bereits über eine Stunde unterwegs, als er zum ersten Mal an einem Busch anhielt. Ich fiel fast vom Fahrrad herunter, als Poppy zeigte, wie widerstandsfähig seine kleinen Beine waren. Er markierte den Busch, wie es Rüden gerne machen, und schniefte weiter.

Ich wollte mich ein wenig hinsetzen und ausruhen, daher parkte ich vorsichtig mein Fahrrad neben einer Sitzbank am Rand eines Parks und nach einer kurzen Verschnaufpause gingen wir den Waldweg zu Fuß weiter.

Ich wusste sicher, dass wir noch nie in diesem Wald gewesen waren, seit wir in diese Region gezogen waren.

Meine Schenkel bebten und meine Knie waren über­anstrengt, ich musste mich vorsichtig bewegen, um nicht auf die Knien zu fallen.

Klassische Jugendstilhäuser waren unter üppiger Vegetation zu sehen. Offensichtlich Häuser, die nie den vernichtenden Hammer des Zweiten Weltkrieges verspürt hatten, und der Flora nach zu beurteilen, datierten diese Häuser bestimmt aus dem frühen Anfang der Jugendstilära oder einige sogar noch etwas früher.

Beim Beobachten der Häuser fiel mir der Name der Straße auf: Demeterweg. Er kam mir bekannt vor, aber was sollte mir eigentlich nicht bekannt vorkommen?, dachte ich. Ich war erschöpft und zum ersten Mal vergaß ich für einen Moment meine Sorgen.

Überall waren Rhododendren, grüne Mauern und dezente Schneeglöck­chen zu sehen. Ich merkte, dass sie dieses Jahr etwas später kamen, denn der Winter hielt sich lange und ich sehnte mich bereits danach, etwas Grünes zu sehen.

Poppy war immer noch entschlossen, mir zu zeigen, wer hier das Sagen hatte, zog an der Leine und ich folgte ihm arglos und dachte daran, wann mich der Köter endlich anbetteln würde, ihn nach Hause zu tragen. Markierungen von Poppy folgten und sein Schnuppern hörte sich an, als sei er ein alter, undichter Kessel. Ich lachte bei dem Gedanken daran.

Mittlerweile dachte ich an die Möglichkeit, ein Taxi zu rufen und später mein Fahrrad abzuholen, aber mir war unklar, ob ich überhaupt wusste, wo ich mich befand.

Trotz meiner ledernen Handschuhe war mir auch nicht klar, ob ich mein Handy bedienen konnte, meine Finger schienen erstarrt zu sein.

Poppy hielt an einem Zaun und schnüffelte weiter und ich las den Namen an der Klingel. Am nächsten Haus angekommen, erfüllte mich ein Gefühl, als ob ich aus einem Traum erwachte. An der Klingel dieses gelben Hauses stand
„F. D. – Büro für außergewöhnliche Fälle“.

Fluch

Fingerfood und Champagner

Karrierefrauen dürfen alles über Küche wissen, um Smalltalk zu halten, aber selbst kochen dürfen sie nicht.

Karrierefrauen bestellen sehr professionell ihre Tafel und beteiligen sich an den Nörgeleien und Kritiken, wie man alles hätte besser machen können. Sie handeln die Preise her­unter und halten mit Drohungen und schrillen Äußerun­gen die halbe Welt in Atem.

Das war die Welt, wie sie Anita nach vier Jahren Leitung ihres Restaurants sah.

Sicherlich ‒ diese Regeln, die sie sich aufgestellt hatte, gestatteten noch viele angenehme Ausnahmen. Jedoch an diesem Samstag im März schienen sich sehr wenige dieser Ausnahmen am Tresen zu befinden.

Zwei Sekretärinnen der benachbarten Anwaltskanzleien waren empört über den in Herzform geschnittenen Paprika auf den Kanapees und verlangten die sofortige Entfernung dieser kindischen Details.

„Wie kann eine Köchin sich anmaßen, solche Entscheidun­gen zu treffen?“, tuschelten die Sekretärinnen unter sich und stuften somit Anitas Leitungsbefugnisse in der Küche herab.

Anita wusste in solchen Momenten alles bestens zu über­hören und in Ruhe zu ertragen, was ihr das Schicksal auf­bürdete.

Fingerfood war kein leichtes Geschäft und „La Strega“, wie das Restaurant hieß, war ein Gewinner unter den vielen Gaststätten, die be­reits aufgegeben hatten. Seit vier Jahren war man im Geschäft und dazu unverschuldet.

Gleich nach den Sekretärinnen kamen die Japaner. Anita konnte sich beileibe ihre Namen nicht merken. Sie gehörten zu irgendeinem Kulturverein. Um die Lage noch mehr zuzuspitzen, erschien Frau Verena Haidenstetter mit leicht zerzausten Haaren an der Tür. Sie war besonders für ihre jähzornigen Attacken bekannt.

Frau Haidenstetter verlangte immer nach einem Glas Champagner, um die Wartezeiten zu erdulden. Je billiger der Champagner, desto ungeduldiger war sie. Daher zischte Anita zu der Aushilfe: „Champagner, sofort!“ Sie schnippte mit dem Finger in Richtung Viktor, ihrem Assistenten, der mit rollenden Augen signalisierte, die Situation zu verstehen. Viktor war, wie man sagt, ein Mann mit sehr gutem Geschmack oder hatte zumindest mehr Geschmack als manche Frau, oder sagen wir es einfacher: er war sehr exzentrisch.

Während in der Küche die blasphemischen Herzen durch einfache Punkte ersetzt wurden, versuchte Anita die Japaner anzulächeln, um ihnen zu erklären, warum sie gerade jetzt noch zwanzig Minuten warten mussten.

Sie blickte nervös zu Viktor hinüber, der in diesem Moment den Mittelfinger aus seiner rechten Hand hob, auf die Stirn tippte und durch schmal geöffnete Lippen seinen Unmut herausblies.

Er lud Verena ein, sich zu setzen und bot ihr einen gepol­ster­ten Stuhl an.

„Setzen Sie sich, Liebes.“ Nur Viktor konnte solche Intimi­täten wagen. Frau Haidenstetter hätte jeden anderen für das „Liebes“ in Asche verwandelt, aber Viktor zu beleidigen, wäre sehr gefährlich. Er verfügte über größten Einfluss in vielen Gesellschaftskreisen und daher wurde er immer insgeheim respek­tiert. Traurigerweise wusste auch Anita, dass, wenn er die Paprikaherzen ausgehändigt hätte, niemand je gewagt hätte, dies zu kritisieren. Aber sie war dankbar, ihn zu haben.

„Viktor, mein Schatz, ich habe bereits vor drei Tagen bestellt und klare Anweisungen dazu gegeben, was ich haben wollte. Ich muss noch in die Apotheke und wenn ich noch länger warten muss, werde ich für meine Party schrecklich aussehen“, flehte Verena und appellierte an Viktors Empathie.

Viktor war nie gestresst und schaffte es meistens, für alles eine Idee zu haben. Er war das Ganze bereits leid und am liebsten hätte er seinen Charme beiseitegelegt und beide Sekretärinnen mit Fußtritten hinausbefördert, aber dann hätte er zu erkennen geben müssen, dass seine Weiblichkeit nur eine äußere Erscheinung, ein Trugbild war und nicht seine Natur.

„Anita, meine Teure, ich hole etwas vom Apotheker für Frau Haidenstetter, kommst du für zehn Minuten ohne mich klar?“ Er zog dabei die Augen nach unten und machte leicht schmollende Lippen, um schneller eine Antwort zu bekom­men.

Verena wollte protestieren und darauf bestehen, die Medi­kamente selbst abzuholen, aber Viktor war der Beste in seiner Branche und ohne Verena anzuschauen, hob er sein Glas, prostete und forderte sie auf, weiterzutrinken.

„Aber nicht länger.“ Anita versuchte streng auszusehen und Viktor, der dies als Angst deutete, stolzierte hinaus. Verena wollte ihn aufhalten, jedoch resignierte sie, indem sie die neueste Ausgabe einer Modezeitung weiterlas. Verena ver­suchte aus einem Artikel zu lernen, wie man Näherinnen klare Anwei­sungen geben sollte.

Die Sekretärinnen bekamen in der Zwischenzeit zwei wohl ohne Herzen dekorierte Tabletts ausgehändigt und kündig­ten an, in zehn Minuten wieder da zu sein, was in dem Moment eher nach einer Drohung klang.

Die Japaner standen noch wie angewurzelt vor dem Tresen und warteten vergebens auf eine Antwort auf die Frage, die sie gestellt hatten. Da Anita nicht mehr wusste, was sie wollten, lächelte sie, holte den billigen Champagner und ein Tellerchen mit Gebäck heraus und setzte die beiden an einen Tisch. Sie betete, dass Viktor irgendwo aufgeschrieben hätte, was die Japaner bestellt hatten.

„Ich bekomme Sodbrennen davon“, protestierte einer der Japaner. Anitas Blutdruck schoss leicht nach oben und sie war einem Zusammenbruch nah.

„Sie wollen nicht behaupten, dass meine Kreationen Sod­brennen verursachen?“ Diese Worte, trotz der freundlichen Ausführung, begleitet von einer steigenden Tonlage, gaben den Herrn die passende Motivation zum Essen und nach einem Lächeln mit geneigtem Haupt den Sekt weiter zu genießen. Den Trick hatte sie auch von Viktor gelernt.

„Frau Haidenstetter, es sind nur noch einige kleine Ergänzun­gen ihrer Bestellung erforderlich. Die Küche arbei­tet heute auf Hochtouren. Alle haben für dieses Wochen­ende etwas Besonderes vor, aber keine Sorge. Soll ich nachschenken?“ Diese rhetorische Frage wurde, ohne auf die Antwort zu achten, selbst beantwortet und sie füllte Verenas Glas auf.

Im Bewusstsein des Sieges über den Japaner nickte Anita beiden Herren zu und verschwand in der Küche und betete weiter, dass doch mehr fertig sei als sie mit ihren Nerven.

Die roten Wände, in Resopal getäfelt, waren sehr modern und elegant, und die französischen Kaffeetische mit Eisen­guss­arbeiten waren sehr sorgfältig ausgesucht.

Anita hatte alle selbst von einem Ausverkauf in Paris nach Deutschland transportiert. Sie arbeitete hart und seit Monaten wusste sie nicht mehr, was es hieß, einen Tag Freizeit zu haben. Sie besuchte Messen, sie las neue Bücher, tat alles, um die Beste zu sein, aber trotzdem trieben sie manche Kun­den an den Rand der Verzweiflung.

Kaum war eine Viertelstunde vergangen, als Viktor mit den Sekretärinnen zurückkam, die er an der Tür getroffen hatte. Die Damen, die mit vielen Ja, zustimmenden Kopf­bewegun­gen und missbilligenden Blicken in Richtung Anita deuteten, lachten Viktor an. Als Zeichen typischen Frauenkriegs oder nur um zu zeigen, dass Viktor mehr Verständnis zeigte, stolzierten die siegreichen Sekretärinnen herein.

Viktor setzte den Beutel vor Verena ab, die leicht schnippisch blickte, jedoch um zu vermeiden, wieder einen weiteren Champagner trinken zu müssen, dann lieber lächelte und wartete. Sie gab ihm ein großzügiges Trinkgeld und fügte hinzu: „Mit deiner Hilfe kann ich immer rechnen.“

Die Japaner bekamen von Viktor ihre Lieferung ausgehän­digt, begleitet von vielen „Domo Arigatos“, wie Japaner sich zu bedanken pflegen, und die Sekre­tärin­nen warfen Viktor Luftküsse zu. Anita wusste, dass er sein Bestes gab, weshalb alle ihn und nicht sie mochten, was bestimmt in der Natur des Geschäfts lag.

Schließlich kam eine Gefolgschaft aus der Küche und mit einigem Händeklatschen von Viktor marschierten sie mit der Bestellung zu Verenas Wagen.

Viktor hatte bereits den Schlüssel des Transporters über­nommen und wusste alle bestens zu beruhigen. Anita zählte das Geld und dachte daran, wie viele Stunden Wellness sie damit bezahlen konnte.

Verena war sichtlich genervt, aber sie schwieg und ihr Zittern war kaum merklich. Sie hatte im Voraus bezahlt und so waren die kaufmännischen Formalitäten bereits erledigt. Es war wieder Ruhe im Laden eingekehrt.

„Wie wäre es mit einem Tee für uns beide?“, fragte Viktor Anita mit einem Lächeln.

„Schere dich zum Teufel!“, sagte Anita mit leicht geröteten Augen.

„Gewiss Liebes, mit oder ohne Zitrone?“, wisperte er.

„Ohne“, sagte Anita und plumpste in einen Stuhl.

Chaos online

„Du bist tot!“, sagte mit gutturaler Stimme der über dreißig Jahre alte Mann.

Es klang fast bedrohlich, wäre nicht in seiner linken Hand eine Computermaus zu sehen gewesen und an der rechten sein Finger, der Zauberformeln aus einer Spielerzeitschrift folgte.

Es war in mancher Hinsicht unangebracht, wie seine Hose weit unter dem Steiß lag und einen unästhetischen Blick auf seine Hinterbacken bot.

Dies war jedoch seine Art, der Welt seine Freiheit zu zeigen. Er presste die Pausentaste am Computer und schlürfte an seiner Bierdose, die bereits außer dem Schwitzwasser keine Flüssigkeit mehr enthielt.

Seit er um elf Uhr aufgestanden war, hatte er kaum etwas gemacht, außer seine Hose über die nackte Haut zu ziehen, und die Socken, mit denen er geschlafen hatte, behielt er einfach an.

Sein nackter Oberkörper bot noch mehr Wölbungen an, als ein plastischer Künstler es sich wünschen würde, und bis solche Formen, die einem Gemälde Rafaels entsprachen, wieder modern würden, versuchte er sie gut zu pflegen.

Er stand auf, ließ ein hörbares Zischen ertönen und schaute schnell um sich herum, um sicher zu gehen, dass seine Frau ihn nicht wieder bei diesem pöbelhaften Benehmen er­wischte.

Sie war seit zwei Stunden weg und sollte bald wieder da sein, aber er kümmerte sich ohnehin nicht besonders um sie.

Die Putzfrau war selten in der Nähe, was ihn vermuten ließ, dass sie ihn nicht besonders schätzte.

Ein Punk-Rock-Gemisch wieherte aus der Dolby-Surround-Anlage und er meinte, damit noch etwas mehr an Freiheit zu erleben. Eine Luftgitarrennummer für niemanden wurde vor­geführt und dann landete er wieder auf seinem Stuhl.

Die Resignation in vielen Bereichen des Lebens und sein Mangel an Selbstsicherheit machten ihn zu einem modernen Zombie.

Er folgte nur Befehlen und arbeitete an seinem Computer, und samstags lief er immer mit nacktem Oberkörper umher.

Er war intelligent, aber dies schien niemanden zu inter­essieren. Er war nach eigener Auffassung sogar interessant, aber für seine Frau war er nur ein Kumpel für Partys und dämliche Hausempfänge, die nur der Karriere seiner Frau dienten.

Er wollte nur seinen freien Nachmittag genießen und un­gestört alle Winde von sich geben, wann immer er Lust dazu hatte.

Er arbeitete viel während der Woche, zumindest in gewisser Hinsicht. Er war der Ansicht, dass die Zusammenarbeit mit seiner Frau das Leben nicht leichter machte.

Sie kommandierte ihn ständig herum und Respekt zeigte sie kaum noch. Manchmal wäre er gerne wieder für sich allein in seiner Wohnung, wie es vor zwei Jahren der Fall gewesen war.

Seit dieser Vermählung hatte er viele Kontakte verloren und seine Freunde hatte sie erfolgreich verscheucht.

Dieses unausgesprochene Gesetz, dass ein Mann nach der Heirat einsamer wird, schien sich in seinem Leben leider zu bestätigen.

Er kam mit watschelnden Schritten zum Kühlschrank und inspizierte seinen Vorrat. Flasche oder Dose?, fragte er sich und in seinen Phantasien stellte er sich selbst die Frage in einer Quiz-Show.

Angezogen mit einem grellblauen Anzug warf er seine frisierte Haartolle der Kamera entgegen und sprach in charmanter Art ins Mikrofon. Er zeigte mit dem Finger auf die Bierflasche und wartete die Reaktion seines imaginären Publikums ab. Da noch kein Klatschen zu hören war, zeigte er auf Kandidat zwei, die Dose. Sein imaginäres Publikum jubelte und er hob seinen Kandidaten hoch, wiegte ihn in beiden Händen, bevor er mit der naiven Grazie eines tanzenden Bären mit schau­kelndem Gesäß zurück zu seinem Spiel ging, während das imaginäre Publikum im Hintergrund seiner Vorstellung ver­schwand.

Er hatte seine Frau mehrfach gebeten, diese Party abzu­sagen, aber sie war wie besessen von Gelegenheiten, bei denen sie sich als Boss besser platzieren konnte.

Er war überzeugt, dass sie dem Chef, Herrn Rowalt, an die Wäsche ginge, wenn der nicht so distanziert wäre.

Er saß und knöpfte dann seine Hose wieder auf, um sich noch bequemer zu fühlen und drückte wieder die Pausentaste, um das Spiel fortzusetzen.

Im Chat der Spielwelt hatte sich einige Minuten zuvor sein Kumpel mit einem freundlichen „Bis Morgen, du Arsch!“ verabschiedet.

Der war sein einziger männlicher Freund, den seine Frau noch nicht entdeckt und eliminiert hatte. Er wusste weder sein Alter, noch konnte er bestätigen, dass es sich um einen Mann handelte.

Seit die virtuelle Welt und die Avatars entdeckt wurden, kann jeder Mann und jede Frau alles sein oder darstellen, was er oder sie will. Wie lange er diese Freundschaft noch genießen durfte, hing von seiner Diskretion ab.

Er schüttete sich die halbe Dose der herberen Biersorte in den Mund und dachte dabei wieder an seine imaginäre Show. Das Publikum erschien wieder und murmelte und jubelte, denn er war dabei, den Rekord im Bierdosen­austrinken zu brechen. Er finalisierte seinen neuen Rekord mit einem lauteren Rülpser und wollte bereits in eine zweite Runde treten, bevor das Publikum seinen Applaus spendete, als die Tür mit einem Knall aufgestoßen wurde und eine weibliche Furie ihn anfauchte:

„Klaus, du bist das unerträglichste Schwein, das ich jemals gesehen habe.“ Dies waren für eine lange Zeit die letzten lieben Wörter, die er von Verena hörte.

Tanken bei Freunden

Marco hatte seine Auftritte bei Partys bereits satt und wollte am liebsten gar nicht nach Hause gehen. In den letzten zwei Jahren hatte er versucht, einen Ehemann zu mimen, jedoch wurde ihm von Tag zu Tag klarer, dass sogar die schönste Frau der Welt ihn nicht vor seinem Schicksal bewahren konnte.

Er hatte viele Hoffnungen in die Heirat mit Helena gesteckt und auch deswegen akzeptierte er ihre für seine Verhältnisse zu laszive Lebensart. Es kam ihm so vor, als hätte er sie nur aus Freundschaft geheiratet und weniger wegen ihrer weib­lichen Vorzüge. Letzteres, das wusste er jetzt, spielte in seinem Fall keine Rolle. Er litt unter diesen Umständen, konnte es aber trotz der Freundschaft, die beide verband, nicht preisgeben.

Bevor er an diesem Samstag zu der Party ging, gab er vor, nur noch schnell tanken zu wollen, aber die Wahrheit war, dass er seine neuen Freunde treffen wollte.

Er wollte ein anderer Mann sein und er wollte sich endlich selbst verstehen. Er kämpfte mit der ganzen Situation und hätte sich gefreut, wenn man diese Party abgesagt hätte. Es war so wie ein Bürotreff. Bis auf die Spielchen, die sie nach der Party trieben, war alles sonst für ihn uninteressant. Die Gespräche waren auf den Beruf bezogen und er fand dies absolut fad.

Die meisten Bars waren nur nach sechs Uhr am Nachmittag offen. Jedoch eine dieser Bars, die er so gerne besuchte, hatte bereits um zwölf geöffnet.

Dort saß er öfter und tat nichts anderes, als im Kabelfern­sehen Fußball anzuschauen. Anfangs versuchte er durch kumpelhaftes Verhalten Kontakte zu knüpfen, was ihm nicht besonders gut gelang. Die anderen Besucher waren etwas hochnäsig und er hoffte, irgendwann den Draht zur Gruppe zu finden.

Durch Zufall traf Marco hier vor einem Jahr einen Arbeitskollegen seiner Frau. Eberhard war sein Name. Erst versuchte Marco, ihm aus dem Weg zu gehen und sich unsichtbar zu machen, aber da Eberhard ihn kurz davor erkannte und ansprach, wäre es noch peinlicher gewesen, in dem Lokal gesehen zu werden, als aus dem Lokal zu fliehen, um nicht erkannt zu werden.

Anfangs hatte ihn Eberhard nicht erkannt und behandelte ihn einfach als irgendeinen Mann aus dem Publikum. Eberhard passte ebenfalls nicht in das Lokal, da er auch in der Freizeit zu offiziell gekleidet war, was die meisten Gäste vermieden.

Seine charmante Art war meistens hinter einer dicken Schicht Schüchternheit verborgen und gesprächig war er nur unter Umständen, die leider kaum einer kannte. Marco war zwar kommunikativer, aber er wusste kaum, was man damals für Themen hatte, und seine ersten Versuche, mit den anderen Gästen über Sport zu sprechen, erregte kaum einen Seufzer im Publikum.

Sein Aussehen war fröhlich, was ihm ein gewisses Charisma verlieh, aber beide kamen sich erst durch ein einfaches Spiel näher, das der Barmann veranstaltete, um die Gäste zu unterhalten.

Es ging darum, einen Holzklotzturm abzubauen, ohne den Turm zum Einsturz zu bringen.

Eberhard verlor und musste den Drink spendieren, so war die Regel. Marco entschied, im Anschluss einen weiteren Drink zu spendieren, und so folgte das erste ungezwungene Gespräch zwischen beiden.

Auf diesem Weg lernte er Eberhard besser kennen und Eberhard fand in ihm seinen ersten Freund im erwachsenen Leben; denn Marco war einfühlsam und ein guter Zuhörer.

Eberhard hatte nie zuvor mit jemandem über seine Gefühle gesprochen, er wusste noch nicht einmal, dass er welche besaß. Sie waren beide das erste Mal in einem solchen Lokal.

Sie hatten per Zufall beide davon erfahren und auch per Zufall nahmen beide den Samstagnachmittag frei, um einen Abstecher hierher zu machen. Beide tranken keinen Alkohol, lediglich Eberhard trank mal etwas Wein, aber in Bars war er ein schlechter Gast. Das hat sie noch mehr verbunden.

Marco musste nach Hause und Eberhard schien heute nicht zu kommen. Er hätte anrufen können, aber sich mit einem Mann zu verabreden, schien ihm unpassend und er wollte nicht unangenehm auffallen. Da entschied er sich dann doch, wieder nach Hause zu fahren.

Ein Korb für den Hahn

Eberhard kam an jenem Samstag vor der Party leider zu spät, da die Aufgaben zur Auslieferung des Projektes sich wieder einmal verzögert hatten. Er wusste von Marco von der Party und natürlich hatte ihm auch sein Boss davon Mitteilung gemacht. Keiner der Mitarbeiter interessierte sich für die Firma so sehr, dass sie unentgeltlich am Samstag zur Arbeit kamen. Er fuhr schnell und würde niemals zugeben, sich so beeilt zu haben, da es eventuell einen falschen Eindruck erwecken könnte. Er wusste, dass Marco eventuell seinen Unmut verschweigen und ihm sagen würde, wie das Spiel von irgendwem in dunklen Trikots gegen irgendwen in helle­ren Trikots ausgegangen sei. Und er würde zwar wie wissend nicken, aber so wenig verstehen, dass er keine sinnvollen Fragen stellen könnte. Er freute sich in solchen Momenten, ein guter Zuhörer zu sein, und freute sich über Marcos kindliche Begeisterung beim Erzählen, wie ein Ball von irgendwo nach woanders gesprungen war. Er musste sich kontrollieren, aber er rech­nete damit, dass er irgendwann seine Gefühle doch nicht mehr hinter der Maske des Bierkumpels verstecken konnte. Welche Gefühle dies waren, wollte er nicht herausfinden oder gar darüber nachdenken.

Er war in einer Zeit, in der in der Welt viel passierte, aber er fühlte sich zu nichts zugehörig und seit einigen Monaten waren diese Stunden in dieser Bar das Persönlichste, was er erlebte.

Das „Jethros“ war ursprünglich eine Rockerbar. Dort wären Männer in Sakkos eher ausgelacht oder gar hinaus­geworfen worden. Harte Töne und rauer Umgang brachten später eine Menge Motorradclubs dazu, sich dort zu treffen. Irgendwann jedoch sind die Rocker und Motorradfahrer nach vielen Raufereien weitergezogen und in der Bar erinnerten nur Sprüche in den Toiletten oder durch die mit einem Messer geritzten Namen und Daten in sämtlichem Holz der Ein­richtung an diese Gruppe.

Der Wirt jedoch merkte, dass viele einsame Männer diese Atmosphäre genossen, und so entschied er sich, selbst Kontakt­anzeigen ins Internet zu setzen, in denen er mit sämtlichen Tricks und Standardtexten warb, um neue Gäste für seine Bude zu gewinnen. Er versprach alles, von der kleinen Japanerin, die nie mit einem westlichen Mann Kontakt hatte, bis zu dem Mann, der keine Erfüllung bei seiner Frau fand und einen einfühlsamen Gesprächspartner suchte.

Er pflegte mit Erfolg mehr als zwanzig Rollen und entspre­chend hatte er immer um die zwanzig Gäste im Laden, die vieles suchten und selten fanden. Loretta sang aus dem Lautsprecher und der stickige Duft von abgestandenem Tabak aus früheren Zeiten, als das Rauchen im Raum noch erlaubt war, gab dem Ganzen eine depressive Note. Viele würden zwar staunen, aber die Toiletten waren hier saube­rer als die Küche, in der die Putzmittel nicht so gründlich angewendet worden waren, was dort einen Imbiss nicht empfehlenswert machte.

Was er Eberhard und Marco vorgab zu sein, wusste er nicht mehr, aber das Kennenlernen hatte funktioniert und beide sind zu guten Gästen geworden. Vielleicht hatte er nichts vorgegeben, aber er war froh, beide miteinander bekannt gemacht zu haben. Es schien beiden viel Spaß zu machen, sich hier zu treffen, und Marco hatte endlich jemanden gefunden, der von seinen geringen Fußballkenntnissen hören wollte. Nur ein erfahrener Fußballfan hätte ihn richtig einschätzen können. Er war ein guter Redner, aber ein schlechter Sportler.

Marco wusste zwar einiges, aber scheinbar hatte er von Fußballregeln nicht die geringste Ahnung. Bisher war er nie erwischt worden und er dachte mittlerweile schon daran, dies als sein Werbekonzept für die Welt von morgen zu verkaufen. Er war effektiver als jedes Werbeplakat.

Eberhard wusste darüber nichts, aber besorgte gerne noch eine Erfrischung, während Marco sich von Mal zu Mal mehr bemühte, ihn zu unterhalten.

Als Eberhard im „Jethro“ eintraf, war sein Hocker von einem überdimensionalen Mann besetzt. Dieser schien den Hocker fast mit seinem Hintern zu verschlingen. Er wusch dieses grässliche Bild von seinen Augen ab und schaute sich um. Da er Marco nirgendwo fand, befürchtete er, diesmal vergessen worden zu sein.

Er hätte Marco anrufen sollen, aber seine Gedanken kreisten immer um die Möglichkeit, dass Helena ans Telefon kommen könnte. Vor allem hätte dies Folgen am Arbeitsplatz, und das wollte er lieber vermeiden.

„Der Bub ist bis jetzt da gewesen. Scheinbar schuldest du ihm heute was.“ Der Barmann sagte dies etwas streng, während seine Hände die Gläser unsanft ins Wasser tauchten.

„Wieso? Was ist passiert?“ Er fühlte sich etwas überfahren, von dem Barmann angesprochen zu werden, aber eigentlich war damit zu rechnen gewesen. Der Barmann respektierte keine Konventionen und fühlte sich verantwortlich für den guten Umgang der Gäste miteinander.

„Er hat vier Dosen getrunken und lief hier die ganze Zeit wie ein Huhn herum und ist weggegangen, ohne sich zu verab­schieden.“ Er stellte keine Frage, aber seine Augen verlang­ten nach einer Rechtfertigung. Dies war zwar ursprünglich nur ein Trick, den Gästen ein gewisses Heimgefühl zu geben, aber inzwischen machte er das sogar von Herzen.

Eberhard fühlte sich unwohl dabei, mit einem Fremden solch private Sachen zu besprechen. Gerichtet zu werden vor einer Jury von Saufkumpanen war gewiss peinlich genug. „Oh!“, sagte er endlich und nach einer kurzen Pause: „Danke, ich bin zu spät gekommen, denke ich.“

Eberhard überlegte, wie er sich verhalten und wie vor allem er sich entschuldigen sollte. Sollte er sich nur entschuldigen oder nur so tun, als wäre das so in Ordnung gewesen? Er grübelte und grübelte. Dann fasste er einen Entschluss, aber ihn umzusetzen, war ihm „peinlich“ oder auch nur „unpas­send“. Seine strenge und formale Erziehung ließ nicht viel Raum für Gefühle und daher war ihm nicht klar, was der Grund seiner Beunruhigung war.

„Danke“, sagte er schüchtern und senkte seinen Kopf, als wäre er beim Klauen in Nachbars Garten erwischt worden. Die Juroren hielten die Gläser ruhig fest und folgten dem Moment mit akribischer Präzision.

Die Tür schloss sich hinter ihm und in der Jukebox wechselte die Platte.

„Schlappschwanz“, fällte der Barmann sein Urteil über Eberhard. Die Juroren nickten zustimmend.

„Ja. Von so ’nem Arsch sitzen gelassen zu werden. Man sollte ihn verdreschen. „Prost“, stieß einer der Weisen im Kreise der Juroren zwischen seinen übrig gebliebenen Zähnen hindurch, am Stammtisch des Lokals sitzend, und ertränkte seine Weisheit über Männer im Sakko mit einem tiefen Schluck Bier.

Einmal tanken

An jenem Samstag kam Eberhard in Verenas Haus zu Anfang der Party an und schaute sich unter den Gästen um.

Verena war besonders anmutig und Peter Rowalt musste ihre ganze Zierde bewundern. Klaus erzählte wieder seine geschmacklosen Witze und alle bereiteten sich auf einen angenehmen Abend vor.

„Bleiben Sie bei uns“, sagte Verena weinerlich mit vorge­spielter Enttäuschung.

„Vielen Dank, aber ich muss noch einiges vorbereiten und es bleibt mir wirklich wenig Zeit für Partys, aber nach der Auslieferung werden wir bestimmt einiges miteinander feiern können. Eberhard war höflich, aber mehr war er besorgt um den Gast, den er besonders vermisste.

„Kommt noch jemand sonst zur Party?“, fragte er scheinbar unbeteiligt und gab Peter ein weiteres Blatt, das der dann gelangweilt unterschrieb.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739379043
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Februar)
Schlagworte
Ermittlung Krimi Vorahnung Beziehungen LGBT Voodoo Psychothriller Horror

Autor

  • Paul Riedel (Autor:in)

Paul Riedel ist ein Name, der sich in meiner Familie seit mehreren Generationen wiederholt. Zwar könnte man vermuten, dass es dieser Familie an Phantasie mangelt, was die Namensvergabe der Neugeborenen anbelangt, aber kei¬neswegs! Dies ist eine Familie, in der die Phantasie von Generation zu Generation weitergegeben wird.
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Titel: Das Geheimnis der verdorrten Rosen