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Das Zauberspiegel des Eros

von Paul Riedel (Autor:in)
190 Seiten

Zusammenfassung

Der Lektor schlug die letzte Seite des Manuskripts zu und bereitete sich darauf vor, seine Rückmeldung an den Autor Eros zu verfassen, als ein Déjà-vu ihn übermannte. Die Zeitung von der Vorwoche mit den skandalösen Schlagzeilen berichtete wieder von einem Leichenfund im Wald. Diese war bereits der dritte Vorfall. Der Leser der Schlagzeilen sollte durch dramatische Details des Tatorts bewegt werden, einen Groschen für das Schundblatt auszugeben. Doch ein Detail in dem Sensationsbericht fiel ihm auf. Ein Detail, das nur er selbst für das Buch namens „Der Zauberspiegel“ kreiert hatte.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort



www.paul-riedel.de

Paul Riedel

©Paul Riedel, München 2017

Printed in Germany

Umschlag: © Paul Riedel, München 2017

Lektorat: Michael von Sehlen



Erste Auflage 2017

Paul Riedel

Geboren am 27. Mai 1960 in der brasilianischen Stadt Sao Paulo als Paulo Sergio Riedel, nutzt er den Namen seines Urgroßvaters als Künstlernamen.

Er beendete 2010 eine erfolgreiche Karriere in der IT- und Datenbanken-Branche und widmet sich seitdem seiner bildenden Kunst und Literatur.

Zwischen 2007 und 2011 absolvierte er eine Ausbildung als Psychotherapeut nach dem Heilpraktikergesetz, die seine Kenntnisse von der menschlichen Psyche vertieft hat.

Seine Muttersprache Portugiesisch prägt seine Romane durch ihren reichen Wortschatz, genau wie sein Interesse für die Antike mit ihrem Reichtum an literarischen Formen seinen Stil beeinflusst.



Die Beobachtungsgabe ist ein hohes Gut des Menschen, das mit von vielen Generationen tradierten philosophischen Überlegungen zu einer besonderen Kunst gewachsen ist. Auch die psychische Evaluierung von Aktionen und Reaktio­nen gibt uns in unserer Geschichte weitere Informationen, die wir weder durch eine Schreibfeder vor Augen noch von einem Mund gesprochen zu Ohren bekommen haben, deren Entwicklung wir jedoch kaum übersehen können.

Wir sind in unserer Beobachtungsfähigkeit stets besser geworden. Mit einem naiven Tratsch angefangen, sind wir zu Experten der Psyche ausgereift und kommen an Grenzen, die wir vorher nicht erahnt haben.

Alle diese Informationen, die wir sammeln, können uns helfen, Situationen des Alltags zu verstehen und unser Handeln besser zu gestalten oder zu begründen.

Jedoch die stets wachsende Informationsflut durch Medien und die virtuelle Welt nehmen uns die Zeit für eine Verfeinerung und Filterung der Informationen weg, die wir bekommen. Im Ergebnis stehen wir irgendwann vor einem Berg von Informationen, ohne zu wissen, welche Handlung von uns erwartet wird. Diese Ohnmacht kann sogar unsere Entwicklung zum Stillstand zwingen, als wären wir vor Angst vor einem unbezwingbareren Moloch erstarrt, vor dem, was wir als unsere Errungenschaft bezeichnen.

Dies als Ergebnis einer Evolutionsstrategie zu bewerten, wäre eine rein spekulative Annahme, für die nie eine Grundlage oder Beweismöglichkeit existieren wird. Aber diese Machtlosigkeit konfrontiert uns mit der Tatsache, dass Technologie in der Informationsflut uns dazu gebracht hat, vor einem unsichtbaren Feind zu kapitulieren, dessen Mutter und Vater wir gleichermaßen sind, wie einst Eros, der Urgott der begehrlichen Liebe.

Wir sehen und fühlen die Konsequenzen, wir sind uns dieses Kampfes bewusst, aber vor allem wissen wir eins: dass der größte Feind, den wir nicht bezwingen können, unser eigenes Spiegelbild ist.




1

Die Sonne schien angenehm auf den Park herunter und nicht einmal eine schwache Brise war an jenen Tag zu spüren. Die Wärme, die von einem wolkenlosen Himmel strahlte, war gleichmäßig über die grüne Wiese verteilt. Egal ob im Schatten der Bäume oder in freier Sonne.

Aber die Stimmung des Hugo van Hülsen war grauer als ein Regentag. Sie war grauer als seine grauen Haare, die seine fast sechzig Lebensjahre zierten.

Zuerst erfuhr er, dass sein Arbeitgeber in Rente geht, und dann, dass dessen verzogener Sohn die Leitung des Verlags übernehmen sollte. Diese schicksalsverändernden Ereignisse wären nicht wichtig, wenn es nicht bedeuten würde, dass seine Abteilung aufgelöst wäre.

Lucius Grünmantel, wie der Sohn des Geschäftsführers des Mayer Verlages hieß, sah das Lektorat nur als Kostenposten und so verkündete er in der Sitzung an jenem Morgen, dass die Abteilung zu einer externen Firma übertragen wird. Im Fachjargon bedeutete dies, dass wer dort noch eine Stelle hatte, würde in eine Frührente geschickt oder mit neuen Vertragskonditionen konfrontiert, denen man kaum zustim­men könnte. Da er noch nicht alt genug für eine Frührente war, sah er sich schon in der nächsten Schlange am Arbeitsamt um Hilfe bitten. Zu jung für eine Rente, doch zu alt, um sich woanders zu bewerben.

Hugo nahm auf einer Bank im Park Platz und öffnete die Packung mit seinem Pausenbrot. Doch sein Appetit hatte ihn verlassen und mit Gedanken an die kommenden Tage ohne Geld aß er nun doch sein gekauftes Brot.

‚Mist‘, fluchte er innerlich.

Eine blonde, leicht mollige Frau bewegte sich in seine Richtung. Der Kleidung nach zu urteilen müsste sie joggen, dachte Hugo bei sich. Unbeholfen und fast mitleiderregend hob sie ihre Füße vom Boden und hievte ihre Hüften in eine flottere Gangart.

Sie lächelte ihn kokett an. Doch er erwiderte das Lächeln nicht. Er war selten kommunikativ und er war seit mindes­tens zehn Jahren nicht mehr gewohnt, dass Frauen sich für ihn interessierten.

Nachdem er das Brot aufgegessen hatte, knüllte er die Brötchentüte zusammen und warf sie in den nahebei stehenden Papierkorb. Die blonde Frau, die zum zweiten Mal an ihm vorbeirannte, schrie: „Zwei Punkte!“, und winkte ihm zu.

Es war offensichtlich, dass sie sich für ihn interessierte, aber in einer so miesen Stimmung war er mit Sicherheit an diesem Tag kein guter Gesprächspartner. Er wusste auch nicht mehr, wie er sich bei einem Date verhalten sollte. Er war etwas verlegen und wollte seinen Kummer woanders abklingen lassen. Eventuell in einer Bar, wo er sich bis zur Besinnungslosigkeit besaufen könnte.

Als sie zum dritten Mal an ihm vorbeirannte, wollte er nicht länger den Miesepeter spielen.

„Fleißig, fleißig“, gab er freundlich an und beobachtete die leidvollen Bemühungen der Frau.

„Man tut, was man kann. Ich bin wieder auf Diät“, beichtete die blonde, kurvige Venus, während sie auf der Stelle lief.

„Sorry, ich bin heute etwas mürrisch. Ich werde bald auf Jobsuche sein müssen“, brach es aus Hugo heraus, als wollte er sich von einem großen Druck befreien. Es war so traurig für ihn, solch einen Schluss erleben zu müssen, nachdem er dem Verlag doch so lange treu gewesen war.

„Ich hatte nie einen Job, in dem ich länger als sechs Monate gearbeitet habe. Daher kann ich mit Kündigungen bestens umgehen.“ Sie lud sich selbst ein, neben Hugo zu sitzen.

„Ich heiße Margareth. Mit Betonung auf ‚heiße‘“. Sie fächerte sich mit ihrer kleinen Hand Luft zu und lachte fröhlich und unbeschwert.

„Hallo ‚heiße‘ Margareth, ich bin Hugo. Mit Betonung auf verzweifelt und bald arbeitslos.“ Er war sich bewusst, dass er nicht so charmant war, wie es Margareth sicher erhofft hatte. Doch entschied er sich, weiter eine Weile sitzen zu bleiben.

„Was machst du?“

„Ich bin Lektor und Redakteur beim Mayer Verlag.“

„Kenne ich. War auch mal in einem Verlag beschäftigt. Schließt der Verlag?“

„Nein. Wir haben uns von dem alten Besitzer verabschiedet und ab heute ist sein Sohn der neue Chef. Meine Abteilung wird nicht mehr gebraucht, haben wir heute erfahren. Meine ältesten Kollegen haben bereits einen neuen Vertrag bekommen und was ich bekommen werde, kann ich mir kaum vorstellen.“

Margareth hörte ihm mit Interesse zu, wusste aber nicht seine Verzweiflung nachzuvollziehen.

„Du hast, wie ich annehme, Erfahrung, das kann auf der Suche nach einem Job behilflich sein.“

„Wohl kaum. Ich bin zu alt für diesen Markt. Wer über vierzig ist, hat schlechte Karten. Aber immerhin darf ich mit einem der von mir Betreuten angeben. Ich betreue Eros Petrocelli.“

Das war der einzige wichtige Mandant des Verlages und wenn das Lektorat aufgelöst würde, käme er in die Obhut eines Account-Managers, der bestimmt viel weniger verdiente.

„Du malst aber schwarz. Wenn deinen Klienten der Eros Petrocelli Schwarm der Nacht und Nächte ist, dann kann der Verlag sich nicht so einfach von dir verabschieden.“

Eros war ein Sänger, der, als der Abstieg seines Bühnen­erfolgs begann, seine Begabung als Schriftsteller entdeckt hatte.

„Sicherlich nicht so leicht, aber wenn ich nicht einen ganz tollen Einfall habe, kann meine Arbeit von einem Anfänger übernommen werden und ich darf mir eine Senioren­beschäftigung suchen.“

„Ich habe bereits zwei seiner Bücher gelesen. Ich liebe erotische Romane. Nichts für eine züchtige Dame“, sagte Margareth etwas kokett.

„Ich denke, er schreibt eher pornografisch, aber man könnte es auch so nennen. Alle beiden Romane wurden von mir lektoriert. Der dritte auch, kam vor zwei Monaten heraus.“

„Oh mein Gott. Das ist fabelhaft. Den dritten Roman habe ich noch auf meiner Einkaufsliste.“

„Ich hätte lieber einen gebildeten Schriftsteller, aber er ist berühmt und das reicht dem Verlag für seine Zwecke. Sie würden sogar Biografien von Minderjährigen publizieren, Hauptsache, es wird gut vermarktet.“

Beide lachten miteinander und Margareth war schließlich siegreich mit ihrer Annäherung und brachte Hugo dazu, sie zu einem Abendessen einzuladen.

„Wohnst du hier in der Nähe?“, wollte sie erfahren.

„Nein. Ich wohne im Osten der Stadt.“

„Ah. Das ist aber was ganz anderes. Dass jemand von ferne hier zu Besuch kommt.“

„Der Verlag hat hier in Richtung Germering seinen Sitz. Wollen wir unsern Kummer bei einem Abendessen austau­schen?“, fragte Hugo überflüssigerweise.

2

Die Uhr an der Wand tickte regelmäßig und ein glänzender Bronzekegel tanzte im Rhythmus der geschlagenen Sekun­den monoton unter ihr. Das Sonnenlicht des Nachmittags, das den Raum durch das vordere Fenster erhellte, begann sich langsam zu verabschieden.

Hugo van Hülsen spürte, wie der Induktionsstrom seines Displays seinem Zeigefinger zusetzte, und überlegte, ob er eine Pause einlegen oder lieber wieder einen Papier­ausdruck lesen sollte. Aber das Lesen machte ihm Spaß und er las gerade so vertieft, dass er lieber das Kribbeln an seinen Zeigefinger ignorierte, bevor er die Umwelt mit weiterem Papiermüll verletzen wollte.

Früher hätte er das ganze Manuskript ausgedruckt und die zahlreichen Erzählungen, die er per Post bekam, Blatt für Blatt durchgesehen. Aber mit Rücksicht auf den schwinden­den Urwald hatte er sich vor einigen Jahren entschieden, seine Lesezeit nur noch elektronisch gestützt zu gestalten.

Das Ticken der Uhr an der inneren Wand des Wohnzimmers nahm er meistens nicht bewusst wahr, aber an jenem Tag waren seine Nerven etwas gespannter als sonst und es schien ihm, als wäre dieses Geräusch besonders laut. Da er nicht das Lesen unterbrechen wollte, schaltete er mit seiner freien linken Hand mit der Fernbedienung das Radio und dann eine an seinem Lesegerät angebrachte USB-Leselampe an.

Seit zwei Jahren arbeitete er nun schon von zu Hause aus und versuchte das Beste aus seiner unfreiwilligen Karriere­veränderung zu machen. Er konnte im Home-Office wenig­stens Musik hören und sich mehr um seine Bedürfnisse kümmern.

Bachs Sonata Nummer 5 in F Minor plätscherte zart aus dem Lautsprecher und überdeckte das monotone Ticken der Uhr und machte Platz für die angenehme Melodie. Hip-Hop oder andere modernere musikalische Ausrichtungen, die er ebenfalls mochte, forderten zu viel Aufmerksamkeit und würden ihn von der Lektüre ablenken, daher ließ er weiter die sanften klassischen Stücke im Radio laufen.

Die feuchte Luft blies durch das offene Fenster und ließ ihre Elfenbeinhaut erschaudern. Düster schwebten die Gardinen mit dem Wind und reflektierten das spärliche Licht der Nacht. Während sich ihre Haare mit der Gänsehaut aufrichteten, blickte sie auf einen Schatten in der nächtlichen Dunkelheit, der sich draußen schnell bewegte.

Sie hätte am liebsten um Hilfe gerufen, jedoch wusste sie, dass im Umkreis des Anwesens nur Eulen oder Raben ihre Schreie hören würden und keiner sonst in der Lage wäre, ihr zu helfen.

Angst konfrontierte sie mit Symptomen, die sie bis dahin kaum gekannt hatte. Ihr Herz pochte stärker als sonst und ein leichter Adrenalinschub brachte sie einer Ohnmacht nahe.

Sie hob ihre Hand zum Griff und zog das offene Fenster zu und verriegelte es in der Hoffnung, dass der Schatten, der sich draußen bewegte, aufgeben und sie in Ruhe lassen würde.

Ein stummer Blitz erhellte den dunklen Himmel der Nacht und die trockenen Blätter des Kastanienbaums flogen in Scharen nach links und hinterließen den kahl werdenden Baum, der nun einem greisen Waldschrat ähnelte. Sie zählte bis acht, bis ein Ton aus dem Donner zu hören war. Noch war der Regen weit weg von ihrem Haus, aber bald würde sie der Sturm erreichen.

Die Anzeige auf Hugos Pad verblasste und ein Batteriezeichen zeigte, dass der Strom restlos verbraucht war, und jetzt musste er das Lesen für einen Moment aufgeben, da er das Gerät nachladen musste. Trotz mehr­maligen Fluchens blieb das aufsässige Gerät dabei, mehr Strom zu fordern.

Hugo las zum wiederholten Male ‚Der Zauberspiegel‘ seines Schützlings Eros Petrocelli. Das Werk war noch weit von der Herausgabe entfernt und er wollte vor allem den minderwertigen Wortschatz des Jungen in seinem voraussichtlich letzten Projekt beim Mayer Verlag etwas verbessern.

Eros Petrocelli, der Autor, war außer in der Musik auch einmal als Fernsehstarlet in einer Live-Soap zu sehen. Eros sah gut aus und wusste seinen Charme vor der Kamera einzusetzen. Sogar als man herausfand, dass er seine intimen Momente lieber mit Männern teilte, waren alle seine weiblichen Fans von seinen gebastelten Erklärungen vor den Kameras betört. Eros brachte es sogar fertig zu erklären, dass seine Homosexualität ihn vom Sex fernhielt, woran viele seiner Fans nach ergreifenden Ohnmachtsanfällen vor der Kamera fest glaubten.

Nach zwei Jahren Zusammenarbeit war es Hugo bereits gelungen, einiges an seiner Wortwahl zu verbessern, aber hin und wieder ließ sich Eros als Schriftsteller, der er nach seiner mäßig erfolgreichen Fernsehkarriere geworden war, in seinen Texten von billigen Romanen inspirieren.

Hugo stand auf, während das nächste Lied im Radio ertönte. Er konnte es nicht ganz einordnen, aber er nahm an, es sollte der Komponist Franz Liszt aus dem XIX. Jahrhundert sein. Die langsam aufbauenden Töne waren gut aufeinander abge­stimmt und während sich im Hintergrund eine Violine um Aufmerksamkeit bemühte, musste sich Hugo unter den Tisch bücken und das verlorene Stromkabel des Pads suchen.

Als die Violine sich etwas mehr in der Melodie durchsetzte und das aufdringliche Piano endlich seinen Platz im Hintergrund fand, steckte er das Stromkabel in sein Pad, das dankbar die Auflade-LED leuchten ließ. Mit einem Klick wurde die Lese­lampe ausgeschaltet.

Hugo ließ das Pad auf dem Schreibtisch aus Holz liegen, nahm kurz auf seinem Lesesessel Platz und deckte sich mit einer Sofadecke zu. Seine Füße froren und trotz des wunder­baren Nachmittags, der sich draußen verabschiedete, war er so sehr in die Stimmung des Romans eingetaucht, dass er immer noch die dort beschriebene feuchte Kälte spürte.

Sein Ingwertee war bereits kalt geworden und ihm war klar, dass mit der verlorenen Wärme auch der wohltuende Geschmack entschwunden war. So ließ er die kalte Tasse noch eine Weile auf dem Tisch stehen und überlegte, was ihm an der zuvor gelesenen Szene nicht gefiel.

Er erinnerte sich an den ersten Roman von Eros, dessen Lektorat er damals innehatte, in dem verschiedene Beschrei­bungen mit erotischen Passagen der derbsten Form geschmückt waren. Nicht selten musste er Sätze wegstreichen, wie Ihre bebenden Pudding-Brüste oder Ihr Verlangen kroch über ihre langen Beine in ihre geheimnis­volle Orchidee. Dabei ergriff ihn immer noch ein leichtes Entsetzen und er ver­zog angewidert seine Mundwinkel.

Er musste zugeben, dass Eros gelehrig und innovativer war als alle anderen der von ihm im Verlag Betreuten, aber ihm fehlten immer noch gewisse Ausdrucksweisen. Zum Teil war das durch sein Alter und seinen explosiven Hormon­haushalt motiviert, aber Hugo hatte wenig Geduld und Verständnis für solche billigen Sätze. Aber trotz aller Stolper­steine in ihrer Zusammenarbeit war Hugo mit dem erreich­ten Zustand in Eros’ Entwicklung als Autor zufrieden.

Er brachte die Teetasse und das sonstige Geschirr auf einem Tablett zur Küche, als das Telefon im Flur Franz Liszts Melodie wie ein landendes UFO übertönte.

Schnell wurde das Tablett mit einem klirrenden Geräusch auf die Kommode in den Flur gelegt und Hugo nahm das Telefon ungeschickt ab. Eine Stimme sprach sofort und unaufhörlich, während der Apparat zu Boden rollte.

„Hast du wieder das Telefon fallen lassen?“, hörte er die klagende Stimme sagen, während der Apparat mit einem dumpfen Geräusch auf den Parkettboden purzelte.

Als er endlich wieder greifen konnte, drückte er unbeabsichtigt den falschen Knopf, so dass er nicht weiter­sprechen konnte, da die Leitung bereits tot war.

Er legte den Apparat auf das Tablett, ging in Richtung Küche und wusste, dass Margareth, seine beste Freundin, bestimmt wieder anrufen würde.

Im Radio sprach die Stimme des Moderators einen unver­ständlichen Satz, den Hugo nicht mehr zuordnen konnte. Als er es als das norwegische Klassik-Radio erkannt hatte, erklang wieder das Telefon.

„Margareth, meine Liebe“, begrüßte er sie, ohne darauf zu warten, dass sie sich meldete. Nach einer kurzen Pause klang ihr Name fast melodramatisch.

„Bis du hingefallen oder ist wieder das Telefon herunter­gefallen?“, fragte sie in einem fast investigativen Ton.

„Margareth, kümmere dich um deine Dinge. Ich war nur ungeschickt.“ Er wusste, dass sie ihm wieder indirekt Vorwürfe machen wollte, dass er eventuell am Tag zuvor zu viel Wein getrunken oder den Genuss der Schlaftabletten übertrieben hatte. Diese Gebetsmühle hörte er seit einigen Monaten von ihr und es schien, als hätte sie sich vorgenommen, in seinem Leben den freigewordenen Platz seiner Mutter zu übernehmen, die im Alter von achtundachtzig Jahren in einem Pflegeheim fast allein und dement verstorben war.

„Ich wollte nur kurz anrufen, weil du dich gestern so merkwürdig gemeldet hast, dass ich nicht wusste, ob du krank warst oder sonst was.“ Das ‚Sonst was‘ wurde mit Nachdruck ausgesprochen, aber er überhörte es diskret.

„Nein, es geht mir gut“, sagte er kurz angebunden und nach einer unmerklichen Überlegungspause.

„Hast du den Roman fertiggelesen?“

„Nein. Eros hat wieder Anflüge von billigen Romanen in seinen Texten und ich will das genauer prüfen. Ich komme mir manchmal so vor, als hätte ich einen Tag des Murmeltiers und müsste alles wieder von vorne machen. Eros ist zwar gut und seine Bücher verkaufen sich im Moment sehr gut, aber er ist jung und will zu viel in zu kurzer Zeit erreichen. Sein aktueller Roman ist schlicht gesagt billig geschrieben. Ich werde mindestens noch zwanzig Tage daran arbeiten müssen, um die Klischees durch qualitativ ansprechende Sprachelemente zu ersetzen.“

„Ach, du Armer“, sprach Margareth leicht schmollend.

„Na ja. Das ist nun mal bei meiner Arbeit so.“

„Lass dich nicht entmutigen. Deine Arbeit ist sehr wichtig für ihn. Wollen wir uns zum Abendessen treffen?“

Außer ihrer Rolle als Mutter schien sie auch entschieden zu haben, ihn irgendwann zu ihrem Ehemann küren zu wollen.

„Heute nicht. Ich will das zu Ende bearbeiten und möglichst früh ins Bett gehen. Mein Kopf macht mir momentan zu schaffen.“

„Ach, das ist Männerjammern, oder? Wir haben Frühling und der Pollenflug ist wieder da. Jammer nicht so. Das ist ja fürchterlich.“

Er fühlte sich, als würde sein Gehirn in Watte verwandelt und über seinen Schädel hinauswachsen. Es war wirklich ein typisches Pollenflugsymptom, dachte er.

„Klar“, fügte er sich Margareths Aufklärung, fühlte sich aber dennoch als Opfer.

Beinahe hätte Hugo ‚Klar, Mutter‘ gesagt, aber das sprach er mit Rücksicht auf die gute Beziehung lieber nicht aus.

„Du rufst nie an – wenn ich dich nicht anrufe, höre ich nichts von dir.“

„Ich bin im Stress.“

„Ich brauche auch etwas Aufmerksamkeit.“

„Klar, Margareth. Ich werde mich öfters melden. Ich muss sowieso irgendwann in Urlaub gehen. Die Arbeit setzt mir ziemlich zu.“

„Rufst du mich an, wenn du mit dem Buch fertig bist? Ich würde es auch gerne vor der Herausgabe lesen.“

„Ja.“

„Ich bin neugierig, wie das weitergeht. Eros hat einen interessanten Stil und durch deine Arbeit ist er viel interessanter geworden.“ Der zweite Teil des Satzes hörte sich nachgeschoben an, aber er wollte nicht undankbar sein und grunzte bejahend.

„Ich rufe dich Morgen an, ja?“

„Sicher, Hugo. Mach’s gut.“

Sie legte auf und er überlegte, was er gerade hatte tun wollen, und schaute sich um. Als er das Tablett mit dem Geschirr auf dem Tisch sah, fiel es ihm wieder ein und so ging er damit zur Spülmaschine. Aus dem Wohnzimmer hörte er, wie das klassische Radio vor sich hin tönte.

Während er das Geschirr hineinplatzierte, fiel ihm ein, dass etwas an dem Text nachgebessert werden musste, aber wegen des Stromausfalls fand er sie Stelle nicht mehr.

Zurück im Arbeitszimmer hörte er, wie der norwegische Moderator etwas plapperte, was er wieder nicht verstand, aber es musste etwas über Cosima de Flavigny, die Tochter von Franz Liszt, gewesen sein. Er tippte auf die Kurzwahltaste der Fernbedienung und das Radio wechselte zu einem anderen Sender.

Die Stimme der britischen Sängerin Shirley Bassey erklomm gerade Höhen und muntert ihn etwas auf. Er drückte auf das Fernsehen, wo das Video zum Sender lief und die düsteren Figuren von Get the Party started schwebten in Schwarz gekleidet über den Boden und brachten ihm etwas von Hemingway in Erinnerung. Er holte sein Tablet, das noch am Stromkabel hing, und blätterte im Roman zu der Stelle, wo er unterbrochen worden war. Er ging rhythmisch, zum Gesang der Meisterin tänzelnd, zum Sessel, während der Beat der Musik die von Bildern eingerahmten und modische Fächer und Hüte tragenden, sich elegant-lasziv bewegenden Models begleitete. Diese Bilder belasteten Hugos Aufmerksamkeit so, dass er das Video ausschaltete und weiter Where do I begin? hörte.

Liane spürte die Angst, die in ihr aufstieg, und schloss die Gardinen vor dem Fenster. Sie wollte telefonieren und um Hilfe bitten, aber wer sollte ihr helfen, wenn sie die Bedrohung nicht erkennen oder gar beschreiben konnte?

Eine Tür öffnete sich.

Sie hörte, wie Schritte sich in der Küche bewegten, und das Schlurfen ließ vermuten, dass der Mensch oder das Wesen, das sich bereits im Haus befand, groß und schwer war.

Der Duft von gärendem Moos drängte sich in ihre Nase und das Schlurfen war nahe der Schwelle zum Wohnzimmer zu hören.

Wer ist da?“, fragte sie in den Raum. „Zeigen Sie sich!“

Auf ihre Aufforderung kam keine Antwort, aber die Geräusche waren nun deutlicher zu hören. Als würde dieses Wesen absichtlich die Dunkelheit herbeirufen, erlosch im ganzen Haus das Licht.

Draußen funkelten ferne Blitze am Himmel und warfen die schattigen Konturen des kahlen Kastanienbaums an die geschlosse­nen Gardinen. Diesmal konnte sie zwischen den Blitzen und dem Dröhnen des Donners kaum bis drei zählen.

Schaue in den Spiegel“, forderte sie eine gutturale Stimme auf und brach so das im Raum herrschende Schweigen.

Hilfe“, kam gequält durch ihre Stimmbänder, während ihr der in ihrem Mund aufsteigende Speichel die Sprache erstickte.

Panik stieg Liane zu Kopf und sie verlor kurz ihr Bewusstsein, während ihr Körper langsam zu Boden sank. Ihr Unterleib fühlte sich an, als würden dort tausend Teufel mit brennen­den Hufen einen unheilvollen Tanz vollführen.

Sie blieb noch für eine kurze Weile bei Bewusstsein und spürte, wie lange krallenartige Finger sich in ihren Körper hineinbohrten und der Schmerz sie hin und wieder zum Aufwachen brachte.

Ihre Kräfte hatten sie verlassen und sie konnte sich nur wünschen, dieser grausame Moment würde bald mit ihrem Tod enden. Schuldgefühle übermannten sie und sie akzeptierte diese Tortur als Urteil.

Eine breite Hand schlug ihre Wangen und forderte sie auf aufzuwachen.

Sie wäre lieber schnell über die Schwelle des Todes hinübergetreten, aber dieses unheimliche Wesen schien nach ihren Todesqualen zu gieren.

Sie wollte schreien, in der Hoffnung, sie könnte sich damit befreien, aber es war vergebens. Aus ihrem Hals kam keine Stimme, die die Mauern der Angst hätte überwinden können.

Wie ihr danach geschah, erlebte sie nicht mehr, da es ihrem Geist in einem Moment der Verzweiflung gelang, sich von diesem Tortur zu befreien.

Blut floss über das Geranienmuster des Teppichs und umrandete ihren Körper mit einem rubinfarbenen Schimmer.

Am nächsten Tag lag ihr Körper nackt auf dem Boden der schlecht eingerichteten Wohnung und der Gestank von Urin schwängerte die Luft. Ihre Kleider waren wild von ihrem leblosen Körper gerissen worden und bildeten nun einen Kranz um sie.

Lianes weiße Haut bekam einen bläulichen Glanz und ihre Haare waren um ihren Kopf ausgebreitet, als wären sie für diesen Moment frisiert worden.

Diese Szene des Schreckens blieb jedoch für zwei Tagen ohne Betrachter und so wölbte sich ihr Bauch.

‚Igitt!‘, hörte Hugo seine eigenen Gedanken, als hätte er dies selbst ausgesprochen.

Er markierte diverse Stellen mit dem Finger und holte die Funktastatur, um einige Kommentare in den Text einzu­geben. „Blumentopf gießen, Blumentopf gießen, Blumentopf gießen“, beschwor er dreimal hintereinander. Er sprach es, um das Ekelgefühl, das der letzte Satz ausgelöst hatte, loszuwerden.

Er schrieb fast eine halbe Stunde, wie Eros diese Szene stilistisch verbessern sollte, und gab einen Hinweis, dass der Spiegel in der Szene zu kurz kam, da er eine Schlüsselrolle im Ablauf der Geschichte hatte.

Zufrieden mit seinen Leistungen fügte er dies in eine E-Mail ein und drückte den Sendeknopf. Eine Sanduhr drehte mehrere Purzelbäume und er entschied, dem Computer die weitere Arbeit zu überlassen.

Das Telefon vom Flur, das er in die Küche mitgenommen hatte, konnte er vom Wohnzimmer aus blinken sehen und es zeigte damit, dass das Funksignal funktionierte. Er war sich sicher, das Telefon nicht in die Gabel gelegt zu haben, aber Margareth hatte so viel geredet, dass er dachte, es getan zu haben, ohne es zu merken.

Er schaltete das Radio aus und bereitete sich vor, die Nach­richten des Abends im Fernsehen zu genießen.

3

„Ich gebe irgendwann auf“, beklagte sich Eros mit starrem Blick auf den Computermonitor. Die Tastatur knallte auf den Arbeitstisch und klang so, als würden alle Tasten abspringen.

Sein Partner Francis schreckte in der nebenliegenden Küche zusammen und ließ beinahe die Glasschüssel seiner Mutter fallen, die er gerade aus dem Ofen holte.

„Was ist denn schon wieder? Ich bin am Backen und hasse es, wenn du solche Ausbrüche vor dich hin laberst und mich dabei störst.“ Francis’ Stimme tönte klagend aus der Küche und wie es sich anhörte, musste sein Kopf wohl im Ofen sein.

„Rede in meine Richtung, sonst verstehe ich dich nicht.“ Eros war ein typisches Muttersöhnchen und erwartete gerne, dass jeder sich nach ihm richtete. Seine lockigen italienischen Haare erinnerten an den Jungen auf dem Gemälde „Der Lautenspieler von Caravaggio“.

Francis kam, seine Hände mit einem Küchentuch abtrock­nend, ins Arbeitszimmer und blickte verständnisvoll zu seinem Partner hin. Sein karibischer Teint war etwas vom Winter verblasst, aber seine unverkennbare tropische Art ließ ihn immer wieder aufs Neue wie der Strandjunge erscheinen, den Eros unter der Sonne von Martinique kennengelernt hatte.

„Was ist denn schon wieder? Was fluchst du vor dich hin?“

Eros hatte seinen Kopf auf die verschränkten Arme gelegt und mit gesenktem Kopf zeigte er mit der rechten Hand auf den Monitor und tat so, als würde er weinen.

„Was denn?“, fragte Francis leicht nervös, während er mit dem Küchentuch die Mehlreste von seiner Hand abrubbelte.

„Mein Lektor hindert mich weiterhin, den Roman so heraus­zugeben. Er meint, dass die erotischen Beschreibungen zu anzüglich seien und die Gewaltszenen zu blutig.“ Er warf sich nach hinten gegen die Stuhllehne und sprach betont langsam: „Mein Name ist Eros.“

Mit dem Hinweis auf seinen Namen wollte er seine Verpflichtung betonen, körperlicher Liebe und Zorn Ausdruck zu verleihen, wie es sein Namensvater, der Gott Eros, Erzeuger der Götter, auch getan hatte.

„Mein lieber Schatz. Du heißt zwar Eros, aber du bist nicht die Wiedergeburt eines Gottes und die Nacht hat dich nicht in einem Ei gezeugt. Höre auf ihn. Er ist lange in diesem Geschäft. Er ist vor allem ziemlich teuer und der Verlag ist großzügig, diese Kosten für dich zu übernehmen. Kneife die Arschbacken zusammen und lerne von ihm. Zugegeben, das Projekt sollte sechs Monate dauern und wir sind beinah bei zwei Jahren, aber doch nun fast am Ende. Reiß dich zusammen.“ Hier sprach die reine Vernunft aus Francis, der nebenbei auf den Ofen aufpasste. Francis bewegte sich zur Küche und hörte nur nebenbei dem Jammern seines Partners zu.

„Aber er ist alt und er versteht nicht, was die Frauen lesen wollen. Ich bin sicher, dass es das letzte Mal, als er Sex gehabt hat, in der Sahara geregnet hat.“

In der Küche mischte sich ein kreischender Lacher mit dem Geräusch zweier fallender Backformen.

„Was?“, Francis trat an die Türschwelle, gab sich theatralisch und fasste sich mit der rechten Hand lasziv an seine Brust.

„Du Schwester vom Dienst verstehst, was Frauen wollen?“, kritisierte Francis weiter.

Eros schmollte und tat so, als hätte er den Seitenhieb nicht verstanden.

„Dein Lektor ist etwas älter als du, sagen wir zwanzig Jahre, und wäre er kein Hetero, würde ich dich sofort an deine Mutter zurückgeben und mich bei ihm anbiedern.“ Francis bewegte das Küchentuch um sich herum, als wäre es ein Tanzschleier, und bewegte sich tanzend wie eine arabische Bauchtänzerin. „Nur weil du einige Drinks mit den Weibern im Lillos trinkst und einige perverse Gespräche mit ihnen führst, bist du noch lange kein Hetero und in Hinblick auf die körperliche Liebe et cetera solltest du auf ein Väterchen hören. Ich glaube, er hat mehr Mumuhs gesehen als du und er weiß etwas mehr über Frauen als du. Da bin ich mir sehr sicher.“

Eros musste zugeben, dass ihm bisher alle Kritiken seines Lektors wirklich geholfen hatten, ihn von einem angehenden Rapper ohne Zukunft zu Eros, dem Schriftsteller der Jugend, zu machen.

„Aber er überliest das Dichterische an den Aphorismen“, verteidigte sich Eros.

„Tut er nicht und nur, weil du einige einfache Reime wie Kuh zu Muh, oder Himmel zu Pimmel beherrschst, bist du bei weitem kein Dichter. Und bitte: Ein Rapper ist kein Kulturträger. Bis auf Fußpilze und sonstige Parasiten, die die meisten mit sich auf die Partys tragen, finde ich in diesem Milieu keine nennenswerte Kultur.“

„Huhmmmpf“, war von dem beleidigten Eros zu hören, dazu nervöses Klappern auf der Computertastatur.

„Und ich und mein Leib sind die lebenden Beweise, dass du sehr wenig von Frauengenitalien verstehst.“ Francis zog sein T-Shirt hoch und zeigte zum Beweis seinen nackten Bauch.

„Nutte“, konterte Eros.

„Du mich auch. Was hat er gemeckert?“ Francis duftete nach Zimt und Nelken und das rührte nicht nur von den Backzu­taten her, sondern auch von seiner eigenen Deomischung.

„Er meint, dass der Spiegel nicht im Vordergrund der Szene ist, und so wie ich es verstanden habe, wollte er dem Gespräch vor Lianes Ermordung etwas mehr Inhalt geben.“

Francis überlegte kurz und kam an Eros’ Seite zum Computer und las die E-Mail selbst durch. Er scrollte sie einige Male hinauf und hinunter und holte das Manuskript auf den Desktop des Computers. Er schob Eros auf dem Stuhl nach hinten und setzte sich auf dessen Schoß.

„Auha. Du bist schwer“, beklagte sich Eros.

„Und du bekommst gleich ein blaues Auge, wenn du so etwas noch einmal sagst.“ Francis war sich bewusst, dass er sich in der letzten Zeit etwas zu sehr an Köstlichkeiten gelabt hatte und ihm eine Diät nicht schlecht täte.

„Tja. Er hat Recht“, urteilte Francis. „Wir hätten klären sollen, dass sie sterben sollte, weil sie ihre Nebenbuhlerin zum Selbstmord geführt hat und das Gesetz da nichts hätte ausrichten können.“ Francis las murmelnd den Text, auf der Suche nach dem Fehler. „Ja, und wir haben auch nicht über das Spiegelbild gesprochen. Gut. Wir müssen das nachbessern. Wir setzen nach der Aufforderung, sich im Spiegel anzublicken, eine Szene, in der Liane das Gesicht der sterbenden Andrea sieht, wie sich sie qualvoll vergiftete. Wir geben etwas von der sterbenden Julia von Shakespeare hinzu. Es ist zwar etwas kitschig, aber wird ihm bestimmt gefallen. Auch meiner Ansicht nach ist sie zu schnell gestorben. Das Biest müsste wirklich leiden. Wir legen etwas nach und lassen sie zweimal über den Teppich rollen.“ Francis dachte kurz nach. „Sie könnte kotzen. Das mögen die Kids. Ja, und neeh … an dem Erbrochenen zu ersticken, wäre zu plump. Belassen wir es dabei, aber Kotzen muss sein“, beschloss Francis.

Eros schüttelte seinen Kopf, als würde er diese Haltung von Francis nicht verstehen.

„Ach ja? Jetzt kommst du mit sowas? Das fällt dir aber sehr spät ein, oder? Du kannst dich auch etwas mehr bemühen, sonst ist das Ganze deinetwegen im Verzug.“

Francis merkte, dass Eros wieder einen Anfall von Selbstüberschätzung hatte, und machte sich wieder auf den Weg zur Küche. Er schnallte seine Flip-Flops mit einer besonders heftigen Geste zu, um damit indirekt Eros seine Empörung über den Vorwurf mitzuteilen.

Eros presste beide Hände auf seinen Mund und wollte sofort mit Entschuldigungen auf die Knien fallen und er überlegte, wie er das jetzt ausräumen sollte.

„Mann, sei nicht sauer“, bat Eros, als er merkte, dass er sich eigentlich undankbar gegenüber Francis’ Hilfe gezeigt hatte.

Francis hielt kurz am Ausgang des Arbeitszimmers inne und drehte sich um.

„Ich tippe deine Diktate gerne ein und nach Möglichkeit überhöre ich das Gefasel, das du diktierst, während ich etwas mehr Eleganz in den Text einbaue, aber ich bin nicht dein Sekretär.“ Francis verschwand durch den Türbogen in Richtung der Küche und vorsichtig, aber bestimmt, knallte er die Tür zur Küche zu.

Eros erschrak und ging Francis schuldbewusst nach. Er machte die Tür langsam auf und hoffte, Francis würde nicht eine Plastikschüssel nach ihm werfen. Da Francis nicht reagierte, ging Eros, sich seines Fehlverhaltens bewusst, besorgt auf Francis zu, während der hektisch die Spüle abputzte und absichtlich sein Gesicht von Eros abwandte.

Eros näherte sich langsam und während seine Hände Francis’ Hüfte umfasste, drückte er seine behaarte Brust gegen Francis’ Rücken und seine Nase an seinen Hals, der nach Gewürzen duftete. Beim Versuch, ihn zu küssen, wendete Francis sein Gesicht von ihm ab.

„Ich bin nicht dein Lakai“, stieß Francis eingeschnappt hervor. Eros wusste nur zu gut, dass er in den drei Jahren, die sie bereits zusammenlebten, ohne Francis nicht einmal die erste Zeile korrekt geschrieben hätte.

„Nein, aber Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen!“ Eros presste seine Männlichkeit einladend an Francis’ Lenden heran.

„Billig. Mit Oscar-Wilde-Zitaten willst du mich jetzt beeindrucken?“

Jeden Tag schrieb Francis neue Zitate auf Lernkarten und half Eros damit, etwas mehr über Literatur zu lernen. Trotz des ganzen Erfolges litt Eros an einer schlechten Ausbildung und einer zu nachlässigen Erziehung von einer stets besoffenen Mutter.

„Warte. Ich habe noch eins“, überlegte Eros weiter.

„Es ist besser, zu genießen und zu bereuen, als zu bereuen, dass man nicht genossen hat.“ Eros rieb dabei sein in der Zwischenzeit markant gewordenes Glied an Francis’ Gesäß und versuchte etwas erotischer zu wirken.

„Huhmm. Mit Giovanni Boccaccio geht es besser, du lernst wirklich viel, aber ich glaube nicht, dass er das damit gemeint hat.“ Francis erregte Eros umso mehr, wenn er ihn für die gelernten Zitate mit Schmeicheleien belohnte.

Nach dem zweiten Trockenwischen der Spüle breitete Francis das Küchentuch glatt auf der Arbeitsfläche der Küche aus.

„Hast du Zeit, um diese Korrekturen zu machen? Bitte, bitte.“ Francis tat so, als würde er die Liebesküsse nicht gerne empfangen.

„Zieh dir eine Schürze an, hilf mir beim Putzen und dann machen wir die Korrekturen gemeinsam.“ Francis akzeptierte die Liebkosungen an seinem Hals als Zeichen der Dankbarkeit.

„Bao bao?“, fragte Eros, während er Francis’ Shorts mit beiden Händen am Bund griff. Mit Bao meinte Eros die Porno Cartoons, die sich beide gerne einmal anschauten.

Francis spürte, wie die Erregung in ihm wuchs, aber er war pflichtbewusster als Eros und achtete auf eine gewisse, wenn auch nicht penible Ordnung.

„Nach der Arbeit gerne, aber wir sind ziemlich hinterher mit deinem Roman und dein Lektor ist zu gut, um es sich mit ihm zu verscherzen. Pack deinen Schwanz wieder ein und hilf mir, das hier zu putzen, und nach der Korrektur reden wir über Bao bao.“

„Bao bao“, jammerte Eros.

Doch Francis’ Entschlossenheit siegte schließlich, so dass Eros seine Hose wieder über sein sichtbar erregtes Genital zog und sich die Schürze umband.

4

„Wer ist da?“, fragte Hugo, während er durch den leeren Raum blickte.

Er drehte sich um und sah die geschlossenen Gardinen vor dem Fenster und überlegte, wie er in diesen ungemütlich eingerichteten Raum gekommen war. Der Geruch von altem Moos stieg unangenehm in seine Nase und brachte ihn fast zum Niesen. Er spürte den Geruch und das Kribbeln, aber er konnte nicht niesen. Er vermisste im Moment Musik, weil er immer gerne Musik um sich hatte, aber diesmal war nur das ferne Flüstern der Winde zu hören.

Eine Tür im Nebenraum ging offensichtlich auf. Das leidige Knirschen der Scharniere war nicht zu überhören. Ein frischer Wind kam hindurch und kühlte seine Hoden. Er bemerkte verlegen, dass er keine Hosen anhatte. Selten stand er sonst irgendwo nackt, aber diese unvorhergesehene Situation hatte ihn überrascht. Wieso hatte er sich nicht angezogen, fragte er sich. Er stellte fest, dass er nur sein Pyjamahemd anhatte, aber die Hosen sah er nirgendwo im ganzen Raum.

Er hörte, wie sich im Nachbarraum jemand bewegte, und dessen Füße schienen über einen Linoleumboden zu schlur­fen, anstatt zu gehen.

„Wer ist da?“, fordert er den Unbekannten heraus. Er suchte nach einer Waffe, um sich zu verteidigen, aber seine Hände befassten sich überflüssigerweise mit seinen Genitalien, um sie in der Dunkelheit zu bedecken.

Wieder keine Antwort, nur ein noch stärkeres Rasseln war zu hören.

Lichter flackerten in der Ferne und die Helligkeit der Blitze schien durch die Gardinen hindurch. Eine Stimme quälte sich in den nächsten Raum und Hugo versuchte die aufsteigende Angst zu bekämpfen. Er zitterte am ganzen Körper und da verzichtete er auf alle Scham und griff mit beiden Händen einen Kerzenleuchter, der auf dem Nebentisch am Sofa stand, und ging wie ein kraftloser Kämpfer voran, der sich einem wütenden Bullen stellen muss.

„Schaue in den Spiegel“, sprach eine tiefe Stimme.

„Aahhh!“, schrie Hugo und wachte erschrocken auf. Sein Körper fühlte sich nass an. Sein Schrei endete in einem Hustenanfall, ausgelöst von einer übermäßigen Menge von Speichel in seinem Mund.

Er zitterte und als Erstes zog er die Bettdecke zur Seite und prüfte, ob er seine Hosen anhatte. Er griff in den Schritt und stellte fest, dass er vor Schweiß nass war. Beinah kam ihm der Gedanke, dass seine Blase sich ungewollt entleert hätte. Sei Herz pochte und er entschied sich aufzustehen.

„Himmel Arsch nochmal“, sagte er zu sich selbst und schaltete das Licht an.

Offensichtlich begleitete ihn der Roman, den er gerade überarbeitete, in den Träumen. Er hatte die Rolle Lianes in der Todesnacht angenommen.

Hugo stand auf, ging ins Wohnzimmer und schaltete das Radio an. Es war für ihn eine Möglichkeit, sich etwas zu beruhigen. Seine Pyjamahose klebte an seinem durch den Alterungsprozess dünn gewordenen Gesäß und er versuchte sich von dem Stoff zu befreien, aber seine unsicheren Finger griffen ins Leere.

An seiner linken Stirnseite pochte es leicht und er fühlte sich, als würde er eine Erkältung bekommen. Da er wach zu sein schien, schaltete er seinen Computer an und während das System hochfuhr, ging er in der Küche. Etwas Tee würde ihn beruhigen, dachte er.

Er schaltete das Licht in der Küche an und kurz kämpften seine Augen mit der beißenden Helligkeit der Neonlichter. Der nasse Stoff seines Nachtanzugs klebte weiter an seiner Haut und bevor er weiter zur Spüle ging, entschloss er sich, sich umzuziehen.

Sein Herz schlug weiterhin etwas aufgeregter als sonst und hätte er nicht gewusst, dass er eine leicht hypochon­drische Natur hatte, wäre er etwas besorgter gewesen.

Er schaute sich seine Schublade mit den ordentlich gefalteten Nachtanzügen an und entschied sich für das gestreifte Lila. Er zog sich aus und breitete den nassen Nacht­anzug auf dem Wäschekorb aus geflochtenem Stroh aus und während er den neuen anzog, überlegte er, wie er wohl auf den Traum gekommen war.

Die Uhr auf seinem Nachttisch zeigte ein Uhr zwanzig. Bevor er wieder zur Küche ging, holte er ein Handtuch und fing an, seine spärlichen nassen Haare zu trocknen. Seine kräftigen Hände pressten das Tuch an seinen Kopf und er schlurfte mit nur halb angezogenen Hausschuhen los. Da seine Augen teilweise vom Handtuch bedeckt waren, konnte er die Schuhe nicht richtig anziehen. Dies kümmerte ihn nicht allzu sehr und erst als er endlich in der Küche war, schlupfte er ganz in seine Schuhe hinein.

‚Kamille, Ingwer, Baldrian‘, zählte er die verschiedenen Sorten Tee im Schrank auf, bevor er sich für eine Schlaftee-Mischung entschied. Er überlegte kurz, ob nicht Whisky schneller wirken würde, aber die Vorstellung von Vorwürfen am nächsten Morgen wegen zu viel Alkohols hielt ihn davon ab.

Das Wasser kochte und die Kanne tänzelte nach der Melodie des blubbernden Wassers. Der Schalter sprang zurück in die Aus-Stellung und annoncierte, dass der Tee aufgegossen werden durfte.

Hugo war mittlerweile ruhiger geworden, obwohl sein Kopf offensichtlich immer noch etwas unter dem angestiegenen Blutdruck litt.

Chopin meldete sich mit einer sanften Melodie, nachdem Hugo die Fernbedienung betätigt hatte.

Mit einem akkurat aufgegossenen Tee und einem steigenden Allegro aus dem Radio saß er dann vor seinem Computer und schrieb eine E-Mail an Eros.

Guten Morgen, Eros,

ich hoffe, es geht Dir gut. Es ist mir inzwischen eingefallen, was an der Szene gefehlt hat. Liane ist, oder besser gesagt war, eine sportliche Frau. Da in dem Zimmer, wo sie sich befand, auch die von Dir beschriebenen Bronzekerzen­leuchter von Ralph Pfeffer waren, wäre eigentlich bei der bisherigen Entschlossenheit, die wir von dieser Frau kennen, logisch, dass sie nicht wie eine zweitklassige Blondine aus einem Horrorfilm um Hilfe schreit, sondern, dass sie sich mit irgendetwas bewaffnet und dann im Kampf stirbt. Das ist dramatischer und erzeugt mehr Emotionen. Deine Beschreibung dieses Charakters zeichnete bisher eine starke, entschlossene Frau und das sollten wir beibehalten. Vor allem wollen wir keine Kinoklischees im Buch wiedergeben, oder?

Auf das von Dir angefragte Kotzritual bitte ich zu verzichten. Das kommt in fast jedem zweiten amerikanischen Film vor und man bekommt mittlerweile den Eindruck, als wären alle Frauen in solchen Filmen Wiederkäuer. Ein entschiedenes Nein zu diesem Vorschlag.

Die Kampfszene ist zu kurz und da stimme ich Dir zu, sie muss einige Male hin und her rollen etc., aber bitte keine John-Sinclair-Anzüglichkeiten, wie „Ihre Brüste sprangen aus dem seidenen Morgenrock“, das haben wir bereits besprochen, denke ich. Wir wollen eine Verwandlung Deines Stils präsentieren und das geht nicht von selbst. Darum arbeite bitte nach diesen Vorgaben.

Ein Letztes: Das Detail des Kastanienbaums hat mich beson­ders beeindruckt und das wird den Leser und die Leserin bestimmt in Stimmung bringen.

Ich bin heute bis um vier im Verlag, falls Du mich suchst.

Grüße

Hugo van Hülsen

Hugo nahm das Handtuch von seinem Nacken herunter; denn seine Haare waren mittlerweile trocken. Da sogar seine Kopfschmerzen leicht nachließen, wollte er etwas Schlaf finden.

‚Zzzzzzhhmmm.‘ Der Computer verabschiedete sich nach einem Klick vom Radio, das auch zu einer Pause beordert wurde, und Hugo ging vom Wohnzimmer zum Flur und schaltete auf dem Weg dorthin die Lichter aus.

Er holte eine Schlaftablette aus seinem Beistelltisch am Bett und nahm sie mit dem restlichen Tee aus seiner Tasse.

Endlich spürte er etwas Entspannung, als die Tablette allmählich ihre Wirkung entfaltete. Der Duft von Baldrian und Verbenen aus der ausgetrunkenen Teetasse meldete sich an seiner Nase und er schlief wieder ein.

Gerne hätte er weiter von seinem Roman geträumt, da er nur im Schlaf die besten Einfälle hatte, aber die folgende Nacht war ereignislos und ruhig.



5

Eros schnarchte etwas leiser am Morgen. Aber wenn er vor dem Schlaf ein gewisses Maß Alkohol getrunken hatte, musste sein geliebter Francis einiges tun, um unter dem dröhnenden Schnarchen einschlafen zu können. Daher wachte Eros meistens früher und schuldbewusster als Francis auf. So war es auch an diesem Tag.

„Bist du wach?“, flüsterte Eros mit vorgetäuschter Vorsicht an Francis Ohr, doch dieser blieb noch eine Weile regungslos.

Nachdem Francis zwei Küsse in seinem Nacken auch nicht aufmunterten, schmiegte Eros sich an Francis heran. Als sich die ersten Zeichen des Aufwachens zeigten, feierte Eros seinen Sieg.

„Soll ich dich aufwecken?“ Eros fuhr auf Francis’ Brust mit seinen Fingern von oben nach unten.

Da die Berührungen zu wenig Wirkung zeigten, flüsterte er mit einem verschwörerischen Unterton in sein Ohr:

„Ich habe keine Unterhosen an.“ Als Francis seine Augen langsam aufbekam, hob Eros die Augenbrauen zweimal hoch, als wäre er eine Comicfigur.

„Hol dir welche aus der Schublade links und lass mich schlafen.“ Francis deckte seinen Kopf mit der Bettdecke zu.

„Spüre einmal diesen fabelhaften Körper. Der Leib ist das Königreich des Herzens.“ Eros setzte seine Bemühungen fort, Francis aus dem Bett zu werfen.

„Lass das, ich bin zu müde für al-Ghazālī. Gestern hast du wieder zu viel getrunken.“

Francis rollte zur Seite.

„Ich bin wach und ich will essen…“ Eros platzte mit dem Muttersöhnchen-Syndrom heraus.

„Toll. Geh in die Küche und ich komme nach…“ Francis bedeckte seinen Kopf. „…in einer halben Stunde.“

„Nein. Du kochst am besten.“

„Aaaarrch“, gähnte Francis und schob die Bettdecke mit beiden Füßen von sich herunter.

„Gut. Ich koche, aber ich muss vorher duschen.“ Francis stand auf und schlurfte in Richtung Bad und Eros rollte sich im Bett hin und her und feierte seinen Sieg unter seiner Decke.

„Die Könige sind nur Sklaven ihres Standes, dem eignen Herzen dürfen sie nicht folgen. Darum muss ich meinen Geist schonen, für noch ein kreativen Tag.“

„Schiller um diese Uhrzeit ist mir zu viel. Ich ergebe mich Eurer Gnade.“

Auf dem Weg zum Bad überlegte Francis, wie die Szene der sterbenden Liane aufgepeppt werden könnte, aber alle Ideen, die ihm einfielen, wurden bereits von Hugo abgelehnt. Hugo wuchs in der Zeit der Zusammenarbeit zu einem noch penibleren Menschen und zum Teil musste man ihm Recht geben, aber in mancherlei Hinsicht schien Hugo selbst nach etwas zu suchen, was Eros und er selbst nicht bieten konnten. Auch die Vertragskonditionen waren klar und Hugo strapazierte ungeachtet der Vereinbarungen beide mit neuen Ideen und Kritiken. Er musste bald etwas unter­nehmen, weil sonst auch das vorgeschossene Geld ausgehen würde und das Buch noch nicht fertig wäre.

Das warme Wasser fiel wie Regen auf seine raue Haut und dabei ließ er sich von den Tropfen inspirieren. Nach dreißig Minuten im Bad drehte Francis das Wasser der Dusche zu und trocknet sich ab. Francis zog einen gelb-weißen Matrosenanzug an und ging zur Küche, um das gemeinsame Frühstück vorzubereiten. Da es noch mindestens weitere dreißig Minuten dauern würde, bis er mit dem Kochen fertig sein würde, schaltete er den Internet-Fernseher in der Küchenwand an.

Es liefen einige Cartoons und dann sollten die Nachrichten kommen und die hörte Francis gerne in der Früh alleine an. Da die Nachrichten überall den ganzen Tag gleich waren, reichte es, einmal aufmerksam zuzuhören. So reservierte er seinen Tag für andere, bessere Programme und Eros durfte ihn wie sonst beim Fernsehen stören.

Eine Frau mit einer künstlichen Frisur erschien am Monitor und kündigte die Nachrichten an.

Hier die Nachrichten des Tages mit Angelika Baumer und Torsten Hilbert.

Eine vermisst gemeldete tschechische Frau wurde in Aubing gefunden.

Es wurden weitere Schlagzeilen von Thorsten soundso vorgetragen. Francis bewertete den Männlichkeitsgrad des Moderators und war gelinde gesagt enttäuscht, so dass er seine Aufmerksamkeit dem Inhalt der Nachrichten widmete. Diese nahmen Francis vollste Aufmerksamkeit in Anspruch, da in den letzten Tagen in der Presse mehrere Meldungen wegen der Suche nach dem verschwundenen Mädchen zu lesen waren. Er schob den Lautstärkeregler der Fernbedienung hoch und Angelika Baumer setzte nach einer wohl­klingen­den Einleitungsmusik ihre Berichterstattung fort.

Martine Neboliev, eine Studentin aus Prag, die in München Geschichte studierte, wurde in Aubing tot aufgefunden. Ihr zum Teil entblößter Körper wurde am gestrigen Morgen von einer Dame, die ihren Hund Gassi führte, im Wald gefunden. Vor Ort berichtet Susanne Drews für Sie.

Aufnahmen des Tatorts zeigten eine unnötige Ambulanz, da für Martine offensichtlich keine Wiederbelebung mehr nötig war, und zwei Polizeiautos, die mehr damit beschäftigt waren, Spanner zu verscheuchen, als den Tatort zu sichern.

Eine erschrockene Dame mit einem kleinen Yorkshire blickte mit weit aufgerissenen Augen in die Kamera.

Die kleine Lise grub wie verrückt und als sie nicht mehr raus-wollte, schaute ich nach. Offensichtlich wollte sie dem Mädchen helfen. Die Reporterin kommentierte diese etwas absurde Behauptung nicht, aber der kleine Yorkshire schien seine Attraktivität vor der Kamera zu genießen.

Der Polizeisprecher am Tatort schien etwas genervt zu sein und beriet sich mit einem Kollegen vor aufdringlich laufenden Kameras, während die alte Dame von einer Beamtin freundlich, aber bestimmt zur Seite genommen wurde.

Noch können wir nichts über Tathergang oder Täter sagen. Offensichtlich hatte Frau Neboliev irgendwann gejoggt, da sie noch Sportkleidung trug, aber weitere Details werden noch ermittelt.

Damit schloss der Beamte mit finsterer Miene, aber sichtlich zufrieden seinen Bericht und dachte offensichtlich, das wäre alles gewesen. Doch die Reporterin vor Ort ließ nicht locker und fragte weiter nach.

Tut mir leid, aber zurzeit können wir nichts sagen, denn noch ist es auch nicht klar, ob sie hier abgeladen wurde oder ob das hier der Tatort ist. Eine erste Erklärung wird bestimmt am Nachmittag folgen.

Die Pfannkuchen waren über den goldbraunen Punkt und der schmelzende Zucker fing an, etwas karamellisiert zu riechen. Schnell holte Francis sie aus der Pfanne und platzierte sie auf den großen flachen weißen Tellern aus Italien, auf die ein Zitronenmuster geprägt war.

Susanne Drews zog eine weit finsterere Miene und schmollte aus Bestürzung vor der Kamera.

Ein schrecklicher Vorfall. Bereits die dritte Frau in München West, die überfallen wurde und brutal ihr Ende fand. Das Wort brutal wurde mit ein besonderen langen a ausgesprochen und es klang so, als würden diesem langen Vokal mindestens drei L folgen.

Francis pfiff zwischen seinen weißen Zähnen und legte zwei geschnittene Erdbeeren an die stark gebräunten Pfann­kuchen auf dem Frühstücksteller. Während der Karamellduft die Küche erfüllte, räumte er sehr schnell das übrige Geschirr und Besteck in die Spülmaschine und schlenderte zum Schlaf­zimmer.

„Steh auf. Das Frühstück ist serviert und ich will den Pfannkuchen nicht kalt essen. Wie Balzac sagte, ein Ehemann darf nie zuerst einschlafen und zuletzt aufwachen“, befahl Francis und klatschte aufmunternd laut in die Hände.

„Danke, Schatz“, war unter der dicken Bettdecke zu hören.

„‚Danke, Schatz‘ kannst du dir sparen. Du putzt nachher die Küche. Aufstehen.“ Eros hob eine Hand unter der Bettdecke hervor und winkte zustimmend.

Francis sprang auf das Bett und setzte entschieden beide Füße auf Eros’ Leib und schob ihn aus dem Bett. Unter Protest wurde Eros aus dem Bett herausgerollt und plumpste auf den Boden.

„Ich bin ein Künstler. Ich bin ein Schriftsteller“, jammerte Eros wehleidig, als sein Körper aus dem Bett geworfen wurde.

„Ja, ja. Schnell, du hast schon gestern Nacht eine E-Mail von deinem Lektor bekommen.“ Francis blätterte in seinem Pad, um das Dokument zu öffnen.

Beide Jungs gingen nebeneinander zur Küche.

„Was sagt er?“

„Er sagte nein zu meinem Kotzorgien-Vorschlag. Ich hatte bereits mir einiges überlegt, aber er hat Recht, es wäre zu sehr Abklatsch billiger Horrorfilme aus den Siebzigern. Ich hatte bei der Überlegung tatsächlich an einen Film über ein verfluchtes Haus gedacht.“

Eros zog einen Bademantel an, den er im Flur vom Kleider­haken holte, und schnürte das Band an seine Hüfte.

„Ich glaube, ich habe zugenommen.“ Eros schien nicht zu merken, dass das Band einen Knoten um die Schlaufe des Bademantels hatte. Francis rollte seine Augen ob dieser Fehleinschätzung seines Partners, zog den Hocker an den Tisch und forderte Eros mit dem Zeigefinger auf, sich hinzusetzen. Er übernahm in Stille das Korrigieren des Bandes in den Schlaufen und sprach zu seinem Mann über die Nachrichten.

„Das Mädchen, über das sie immer wieder berichtet haben, ist im Wald gefunden worden.“ Francis’ Stimme klang nach ehrlichen Bedauern.

„Welches Mädchen?“

„Eine der Joggerinnen. Es ist die dritte gefunden worden.“

„Drei?“

„Ja. In Aubing schon wieder.“

„Mensch. Ich muss Hilde mal anrufen. Sie ist bestimmt mit den Frauen vom Verein dabei, Demos zu organisieren.“ Hilde war eine Lesbe, die hauptamtlich Demos organisierte. Sie behauptete, Computerprogrammiererin zu sein, doch keiner hörte je, dass sie einen Job hatte.

„Ach bitte. Hilde protestiert immer gegen irgendetwas. Vielleicht sollte sie sich einfach mal Arbeit suchen.“

„Gloria unterstützt Hilde, wusstest du das?“ Gloria war einmal die Assistentin der Geschäftsführung im Mayer Verlag, doch beim Geschäftsführerwechsel musste auch sie ihren Stuhl räumen.

„Nach dem Frühstück darfst du sie anrufen“, befahl Francis.

„Ja, Meister“, mimte Eros einen Djinn.

„Nachdem du geputzt hast.“

„Ja, Meister.“

„Nachdem wir die E-Mail von Hugo beantwortet haben.“ Francis legte das Pad mit der gefundenen E-Mail vor ihn hin.

Eros klatschte mit beiden Händen in der Luft und tat so, als hätte er einen Zauber ausgesprochen.

„Du hast deinen dritten Wunsch ausgesprochen, Efendi. Danach haben wir Bao bao in neuen Positionen, Meister.“

6

‚Die alten Bücher schmeiße ich ganz weg und das Bürozeug verteile ich hier bei den neuen Kollegen. Gut! Scheiße, ich muss eine Torte bestellen und die Pflanzen müssen weg.‘

Diese Aufgaben kreisten in den Gedanken des Kommissars Peter Assmann und dabei malte er einige Kringel auf einen Notizblock und versuchte vor seinem jüngeren Kollegen und künftigem Nachfolger beschäftigt zu wirken. Drei jüngere Polizisten hatten gerade die Ausbildung abgeschlossen und sollten nach einem Jahr unter seiner Obhut in die Praxis eingeführt werden. Das Jahr war schon lange abgelaufen und nach fast fünfundvierzig Jahren Arbeit bei der Polizei sah er seinen kommenden Ruhestand als einen Sieg, den viele seiner Kollegen nie erreicht hatten.

Herzinfarkt, Krebs und Nervenzusammenbrüche haben seine früheren Kollegen frühzeitig aus der Mordkommission und einige sogar aus dem Leben geholt und er hatte dies alles zumindest bis dahin überlebt. Er schaute auf die drei Schützlinge und mit etwas Bewunderung für deren Umgang mit dem Computer und etwas Verachtung für deren Manieren überlegte er, wie sie sich ohne ihn weiter­entwickeln würden.

Sein Büro war seit fast zwanzig Jahren rauchfrei, aber die vielen Nikotinschichten aus früheren Jahren konnten die billigen Malerarbeiten nicht verdecken und leider auch nicht den unangenehmen Geruch im Raum. Kaum einer merkte das, aber er als ehemaliger Raucher konnte diese Gerüche nicht ignorieren.

Neben seinem Tisch plauderten die jüngeren Kollegen aufgeregt, da sie scheinbar wieder etwas zu tun gehabt hatten. Meistens waren sie an andere Abteilungen ausgeliehen, aber seitdem die Parkmorde bekannt geworden waren, hatten alle ziemlich viel zu tun gehabt.

„Er hat schon wieder zugeschlagen“, riss einer der jüngeren Kollegen Peter aus seinen Gedanken.

„Was meinst du, Lukas?“

„Eine Frau wurde im Park gefunden. Sogar die Reporter haben bereits darüber berichtet. Hast du Klaus nicht gesehen, in Sakko und frisiert wie ein Stricher?“

Peter war etwas müde und seine Geduld mit dem hyper­aktiven jüngeren Kollegen war nicht besonders ausgeprägt.

„Junge, man sagt nicht, dass unser Pressesprecher wie ein Stricher aussieht, und wenn doch, würde man meinen, dass du ziemlich viel über männliche Stricher weißt. Lass das bitte sein und lass mich arbeiten.“

Der jüngere Kollege tat so, als hätte er die Rüge nicht verstanden, lachte laut und sprach mit dem Pressesprecher, der gerade hineingekommen war.

„Heh! Du hast voll die Nutte vor der Kamera gemacht.“ Mit einem derben Lachen beendete Lukas seinen Satz und Klaus Ackermann, der Polizeisprecher, ignorierte ihn und ging auf Peter Assmann zu. Eine leichte Enttäuschung zeichnete sich auf Lukas’ Gesicht ab, die allerdings von den übrigen Anwesenden unbemerkt blieb.

Ein großer Schäferhundmischling hechelte und schien darauf zu warten, welche weiteren Späße ihm die aufregende Unterhaltung noch bieten würde.

„Sorry, aber der Kindergarten hier ist für mich eine doppelte Motivation, meine Rente einige Tage früher einzureichen“, beschwerte sich Peter mit finsterer Miene.

„Du musst bitte noch einige Tage aushalten, weil dieser Fall einen erfahreneren Ermittler braucht, und momentan haben wir Mangel an Personal, weil viele andere auch in Rente gehen.“ Klaus tat alles Mögliche, um Peter zu motivieren, diesen Fall noch abzuschließen, da bereits einige Protest­gruppen und Politiker die Polizei wegen angeblicher Untätigkeit kritisierten.

„Warte mal“, bat Peter kurz.

„Lukas, beweg dich zur Küche, hol die Wasserkanne und gieße die Pflanzen, sonst verbringst du einige Tage im Archiv.“

Der jüngere Lukas hörte auf zu lachen und ging murrend zur Fensterbank. Die Pflanzen im Büro waren Peters ganzer Stolz und seit fast zwanzig Jahren pflegte er sie sorgsam.

„Was machst du mit den Pflanzen? Wenn du nicht mehr hier bist, kann ich mir nicht vorstellen, dass diese Kinder sich darum kümmern werden“, stellte Klaus fest.

Als eine Gießkanne unter den Flüchen des jungen Lukas auf den Boden der Küche donnerte, hob Peter seine Hände hoch.

„Was nehmen die Frauen von heute eigentlich während der Schwangerschaft? Seine Mutter hat bestimmt die schlimm­sten LSD-Trips gehabt. Egal. Ich nehme alle zu mir nach Hause. Falls du welche haben willst, bediene dich, weil ich so viel Platz auch nicht habe. Nun, du warst in Aubing vor Ort?“

„Ja. Es war nichts Großes zu bemerken. Eine jüngere Frau, die Verschwundene aus Tschechien, war halbnackt in einen Busch gezerrt und vielleicht auch vergewaltigt worden.“

Peter holte eine Mappe aus seinem Stapel, den er fast täglich um eine Mappe reduzierte, indem er sie geschickt jemandem übergab.

„Von Vergewaltigung war bisher bei unserem Täter nicht die Rede.“ Peter schaute sich die früheren Berichte an.

„Du hast Recht, ich habe das nur angenommen, weil ihre Kleider heruntergerissen worden waren, aber wir müssen den Bericht der Spurenermittler abwarten.“

„Ich wollte Lukas damit beschäftigen. Er ist zwar manchmal ein Hohlkopf, aber von den jüngeren Kollegen ist er bestimmt der intelligenteste. Rosemarie kümmert sich um ein Profil und um die Hintergrundinformationen und Bastian ermittelt noch in dem ersten Fall. Bisher schaut alles in dem ersten Fall nach einem Unfall aus, aber nachdem die zweite Leiche im Park gefunden wurde, mit den gleichen Merk­malen, sind wir verunsichert worden.“

Peter behandelte den jüngeren Lukas mit gewisser Strenge, aber meistens, weil der ihn sehr an seine ersten Jahre bei der Polizei erinnerte. Er selbst war früher der Büroclown und seine Witze und Anmerkungen hatten zur damaligen Zeit auch kein besseres Niveau.

„Oh bitte, Peter. Ich habe im Moment andere Fälle zu bearbeiten und mit einer so unerfahreneren Truppe komme ich bestimmt nicht gut in der Öffentlichkeit an. Vor allem wenn Lukas mit seinem Wortschatz vor ein Mikrophon tritt, bin ich am nächsten Tag freiwillig weg.“

„Sei nicht so hart mit ihm. Er hat Potential, genau wie die anderen beiden Kollegen.“ Peter versuchte ausgleichend zu wirken, weil er sich sicher war, dass dieser Fall nicht vor seinem Ruhestand würde abgeschlossen werden können und er keine Verlängerung riskieren wollte.

„Aber er hat eine große Klappe“, ergänzte Klaus, während der jüngere Lukas mit gesenktem Kopf die Blumen goss.

Auf der Wand neben dem alten Holzfenster schaute Peter den Kalender mit dem markierten Tag seiner Verabschiedung an.

„Du musst sehen, dass du mit dem Jungen und dem Mädchen hier zurechtkommst, weil ich in fünfundzwanzig Tage weg bin.“

„Aber Peter, dieser Fall ist ziemlich wichtig. Kann ich irgendetwas tun, damit du etwas länger bleibst, mindes­tens als Berater?“

„Schau‘n mer mal.“ Der leicht bairische Zug mischte sich mit seinem rheinischen Dialekt. Nach so vielen Jahren, die Peter in Bayern lebte, übernahm er, wenn auch unbewusst, vieles von dem örtlichen Dialekt.

Peter schaute sich die von Klaus mitgebrachten Fotos vom Tatort an. Er überlegte kurz und Klaus wagte kaum zu atmen, um Peter nicht aufzuregen. Das hatten die jüngeren Mit­arbeiter scheinbar schon geschafft.

„Lukas!“, rief Peter, wie immer im Befehlston.

„Was denn?“

„‚Was denn‘ kannst du deinem Vater bestellen. Komm her.“ Lukas versuchte professionell zu wirken, aber so ganz konnte er seine Respektlosigkeit offenbar nicht ablegen.

„Entschuldige. Was kann ich für dich tun?“

„So ist es besser. Schau dir diese Fotos vom Tatort an. Eins muss dir doch auffallen.“

Lukas’ Antlitz verwandelte sich fast in eine etwas ältere Version des spielerischen Jungen. Ernsthaft blickte er auf das Foto. Er übernahm die Mappe von seinem Mentor und blätterte, während Peter Klaus durch ein Handzeichen zu warten bat.

„Fällt dir was auf diesem Foto auf, Lukas?“

„Sind das hier alle Fotos vom Tatort?“, fragte der Junge mit besonderer Aufmerksamkeit.

„Nein. Das sind nur die Fotos, die ich mit dem Ermittler vor Ort mit meinem Handy aufgenommen habe. Diese Fotos werden eher für meine Pressearbeit benutzt. Es kommen noch die Fotos vom Tatortermittler. Sie werden bestimmt mehr Details beinhalten. Warum, was ist da los?“ Klaus merkte, dass der Junge doch etwas mehr konnte, als sich den launischen Befehlen von Peter unterzuordnen.

„Der Serientäter, sofern es ein Täter ist, lässt immer ein besonderes Detail, das wir bei den ersten zwei Opfern gefunden haben, zurück. Übrigens, wir führen ihn jetzt als Serientäter, weil mehr als eins oder sogar jetzt das dritte Opfer da ist. Wenn ich richtig sehe, ist das wirklich ein drittes Opfer“, erklärte Lukas.

„Welches Detail? In den Presseberichten meiner Kollegin habe ich nichts dazu gelesen.“

„Nein, das haben wir bisher für uns behalten, weil das in der Öffentlichkeit nichts nutzt und eher Nachahmer motivieren kann“, kommentierte Peter.

Peter saß zufrieden auf seinem Stuhl und fuchtelte auffordernd mit der Hand, damit sein Schützling mit der Erklärung fortfuhr.

„Ja. Alle Frauen hatten auf der linken Hand einen Hand­spiegel, auf dessen Rückseite ein Bild des Gottes Eros ist, der einen Bogen schnitzt. Eigentlich ein Gemälde von Rubens.“

„Ohlalah. Lukas kennt sich mit Gemälden aus“, bemerkte Klaus überrascht.

„Habe ich doch gesagt, oder? Lukas ist der Beste. Aber du brauchst dich nicht so aufzuplustern, Junge. Du räumst heute die Küche auf und dann machen wir gemeinsam in diesem Fall weiter. Ab, gieß die da hinten auch.“

„Mann, bestell dir einen Gärtner, ich bin kein …“

„Schusch, ab mit dir“, befahl Peter und wedelte den Jungen ab.

Zufrieden mit dem Lob ging Lukas mit der Wasserkanne weg und ließ den beeindruckten Klaus bei Peter stehen.

„Na, wer sagst denn. Er ist schon etwas heller, als man so denkt.“

„Ich sehe nur ein Problem, dass zwar die Präsentation der Leichen einem Muster folgt, aber die Todesursachen passen nicht zur Theorie eines Serientäters“, erklärte Peter.

„Ich kann mich erinnern, dass die Erste als Unfall mit Todesfolge erklärt wurde“, erinnerte sich Klaus.

„Ja. Aber wer und warum die Leiche dann so präsentiert hat, kann man nur erklären, wenn der Täter irgendwie in das Unfallgeschehen involviert war.“ Lukas stellte die Gießkanne auf einen der Aktenschränke und mischte sich wieder in das Gespräch ein.

„Aufgrund der gerissenen Fußgelenkbänder war anzunehmen, dass das Opfer ausgerutscht ist und unglücklich hinfiel. Aber es ist klar, dass sie woanders hinfiel als an dem Ort, an dem die Leiche gefunden wurde.“ Bastian, der sich auch für das Gespräch interessierte, kam zur Gruppe und gab seinen Beitrag zur Diskussion.

„Ich sende unsere Zeitskala zum Monitor, dort können wir die Ergebnisse in der Chronologie besser betrachten.“ Lukas bewegte geschickt seine Finger über die Tastatur, während sich der Monitor erhellte.

„Die Leiche des zweiten Opfers wurde fünf Monate später fast an der gleichen Stelle gefunden. Die Aufmachung war die gleiche. Nackt ausgezogen, die Haare ausgebreitet und der Spiegel in der linken Hand. Jedoch diese hat sich selbst vergiftet oder wurde es.“ Bastian beendete seinen Satz, indem er seinem Hund einen Ball zuwarf. „Arnaud fand damals das Glas mit dem Gift. Er wird irgendwann ein guter Spuren­sucher werden.“ Peter zweifelt diese Theorie an, da Arnaud mehr Interesse am Balljagen zeigte als an Spurensuche, aber er hielt es für diplomatischer, dies nicht anzusprechen.

„Die Dritte sah ebenso wie die anderen aus. Ich bin mir nur nicht über die Todesursache schlüssig. Es sieht so aus, als hätte sie sich selbst durch den Bauch erstochen, oder es wurde so inszeniert. Beide Hände umschließen den Waffengriff.“ Klaus sprach so, als wäre er nicht in diesem Raum, sondern noch am Tatort, um die Details zu über­prüfen.

„Sie stehen bestimmt irgendwie in einem Zusammenhang. Entweder arbeiteten sie zusammen oder sie lebten in der­selben Wohnung …“, überlegte Bastian.

„Nein. Sie wohnten bestimmt nicht in derselben Wohnung. Das habe ich geprüft. Ich kenne nur nicht die Wohnung der dritten Frau, aber dem gehe ich nach.“ Lukas schrieb dabei eine Notiz, um sich später an die Aufgabe zu erinnern.

„Aber es kann sein, dass die ersten beiden Frauen zusammenarbeiteten.“ Rosemarie distanzierte sich gerne von den Späßen der Kollegen und hatte wirklich nicht vor, ihre Zeit unbeachtet im Büro zu verbringen. Sie bewegte sich zum Monitor und übernahm das Wort.

„Die Erste war eine arbeitslose Schauspielerin und lebte von Zeitjobs. Noch weiß ich nicht, wo sie gearbeitet hat, weil die Untersuchung der Eingänge auf ihrem Bankkonto noch andauert. Die Zweite war Zeitsekretärin und ich habe Lukas mitgeteilt, dass wir fragen sollten, warum die Firma, für die sie gearbeitet hat, sie nicht als vermisst gemeldet hat.“

„Wie kommst du dann auf die Idee, dass sie beide zusammengearbeitet haben?" Klaus war etwas unschlüssig ob dieser Aussage.

„Sie haben laut der Handy­kontaktliste mal miteinander telefoniert. Ich ermittle noch weiter, aber da die Gespräche bestimmt vor langer Zeit stattfanden, sind die Daten nicht mehr verfügbar, aber die Möglichkeit, dass beide Frauen zusammengearbeitet haben, ist für mich naheliegend.“ Rosemarie war von ihrer Annahme sehr überzeugt und ließ kaum Raum für Diskussionen.

„Das Team scheint den Fall bestens im Griff zu haben“, lobte Klaus.

„Sie haben vom Besten gelernt.“ Peter klopfte sich selbst auf die Schulter und lachte zufrieden. Arnaud hechelte, zufrieden mit seinem Anteil am Lob und ungeachtet seines bescheidenen Beitrags zu den Ermittlungen.

Nur die traurigen Opfer, die vergessen auf dem kalten Boden eines Waldes lagen, konnten diesen Erfolg nicht mehr mitfeiern. Sie waren nur noch weitere verlöschte Lichter in einer Konstellation von verlorenen Seelen, die einem von zahlreichen Mördern auf diesem Planeten zum Opfer gefallen waren.



7

Hugo lief in seiner Wohnung herum und suchte nach seiner Tageszeitung. Er war sich sicher, dass er sie bereits wieder einmal zerknüllt aus dem Postkasten geholt hatte, und er war kurz davor, erneut einen Beschwerdebrief an die Zeitung zu schreiben. Er suchte sie an allen gewohnten Stellen und obwohl er sie nicht fand, entdeckte er am Computermonitor angeklebt wenigstens den Zettel mit der Erinnerung an den Beschwerdebrief. Er gab die Suche nach der Tageszeitung auf und schaltete den Fernseher an, um die Nachmittags­wiederholung der Nachrichten noch vor Ende seines Arbeitstages anzuhören. Die Nachricht über das im Wald gefundene Mädchen hörte er mit Bedauern und überlegte, wie es wohl dazu gekommen war, dass die Brutalität in der Gesellschaft in den letzten Jahren so angestiegen war.

Der blaue Monitor des Computers fuhr endlich hoch. Dabei fiel ihm auf, dass mittlerweile die Computersysteme in solchen Geräten ebenso lange Zeit brauchten, um betriebs­bereit zu sein, wie die Urfernseher aus den sechziger Jahren benötigten, um warmzulaufen. Der Sender wurde eingestellt und eine Reporterin sprach – für seinen Geschmack zu schnell. Er selbst hatte noch seine Gedanken bei dem Stapel Arbeit, den er noch bis Ende der Woche erledigen musste, und diese aufgeregte Art der Reporterin brachte ihn selbst in Aufregung, denn der Redeschwall der Dame schien wenig zu informieren.

Sein Computer meldete sich mit einem Ton, der ankündigte, dass eine E-Mail eingetroffen war. Während die Kamera im Fernsehen den Tatort recht diskret zeigte, wie eine Beamtin eine Frau mit einem Yorkshire den Bildausschnitt verließ, sprach die Reporterin mit mehr Bestürzung als sonst über das Geschehen.

Eine E-Mail von Eros war mit der besprochenen Korrektur seines Romans hereingekommen.

‚Na endlich‘, dachte Hugo mit einer leichten Verachtung für die bevorstehende Arbeit von Eros.

Hugo war etwas von dem Bild des Tatorts im Hintergrund abgelenkt und überhörte die Reporterin.

‚Wieder eine ermordete Frau in den Nachrichten‘, durchfuhr es ihn.

Es schien, als würden Frauen Schlange stehen, um in die Schlagzeilen zu kommen, und jeden Tag kam die gleiche Nachricht, nur mit einer anderen Frau, abgebildet mit einem kleinen Foto neben einem grausamen Tatort. Er drückte leicht genervt die Fernbedienung und brachte die schrecklichen Nachrichten des Tages zum Schweigen.

Er schaute sich niemals die Fotos genauer an, da sie meistens nichts Persönliches an sich hatten. Es waren nur unkenntlich gemachte Gesichter und diese Frau war wieder nur eine in einem Meer von Opfern, die der Presse jeden Tag präsentiert wurden.

Leichte Schweißperlen sammelten sich am Haaransatz seiner Stirn. Offensichtlich hatte er sich zu sehr aufgeregt. So entschied er sich für etwas klassische Musik und befahl seinem Internet-Radio, Dido und Aeneas von Purcell zu spielen. Die Anwendung blinkte und zeigte damit, dass ein Video das Lied begleitete. Mit einem Druck auf die Fernbedienung schaltete sich das Fernsehen an, das Orchester spielte und ein Paar tanzte rhythmisch zur Musik. Schwimmende Körper hinter dem Paar schwebten am Bildschirm und begleiteten die sanften Geigentöne und die bereits angefangene Musik kam zum Ende. Zufrieden mit der erreichten Ruhe nahm er Platz auf seinem Lesesessel, holte sein Pad und rief das neue Manuskript von Eros auf.

Während das Ballet de l’Opera National de Paris bei der Dar­stel­lung von Orpheus und Eurydike halbnackte Tänzer mit ernsten Gesichter über die Bühne stampfen ließ, zeigte sein Pad eine Purzelbäume schlagende Sanduhr, die informierte, dass das neue Manuskript geladen wurde. Mit ein wenig Neid stellte er fest, dass alle diese Tänzer scheinbar riesige Penisse besaßen oder sich zumindest Socken in den Schritt gestopft hatten, um solche überproportionalen Wölbungen zu präsen­tieren. Er verscheuchte den Gedanken und sah, wie die Sand­uhr vom Bildschirm verschwand.

‚Endlich‘, sagte Hugo zu sich.

Liane zitterte innerlich und war sich ihrer Schuld bewusst. Angst stieg von ihrem Unterleib auf und kroch über ihren Magen in Richtung ihres weißen Halses. Ihr wurde übel.

‚Oh, bitte nicht schon wieder die Kotzorgie‘, lenkten ihn seine Gedanken von der Lektüre ab.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739417097
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Mai)
Schlagworte
Schwules Liebesbeziehung Lektor Thriller Paar Krimi Psychodrama LGBT Psychothriller Horror

Autor

  • Paul Riedel (Autor:in)

Geboren am 27. Mai 1960 in der brasilianischen Stadt Sao Paulo als Paulo Sergio Riedel, nutzt er als Künstlernamen den Namen seines Urgroßvaters. Seit 1972, als er an seine erste Ausstellung in der Stadt Peruibe teilnahm sind seine Aktivitäten in der Künstlerszene zahlreich wie vielfältig auch.Über eine Karriere als Maler, Fotograf, Singer oder Tänzer hinaus, stand vor ihm den Wunsch seine Leistungen in alle Kunstrichtungen zu erfahren. Heute lebt Paul Riedel in seine zweite Heimat München.
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Titel: Das Zauberspiegel des Eros