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Eine Erzählung

von Rudy Namtel (Autor:in)
236 Seiten

Zusammenfassung

Bevor sich das junge Studentenpaar Christine und Hajo auf die seit langem geplante Reise nach Griechenland macht, hat es ein kleines Problem zu lösen. Doch kein Problem für Christine. Schließlich geht es in ungewöhnlicher Begleitung los. --- Eine Fahrt entlang der damals noch jugoslawischen Adria-Küste nach Südost-Europa wird zu einer Begegnung mit Menschen, anderen Umgebungen – und sich selbst. Die Reise verläuft anders als geplant. Und nichts bleibt mehr, wie es vorher war – vor allem nach Christines plötzlichem Verschwinden bei Nacht und Nebel. Wo ist sie? Und warum ist sie weg? --- Stationen der Reise und Suche sind Istanbul, der Peloponnes und Korfu. Und Christine und Hajo kommen ungeplant einem für sie wichtigen Ziel näher – der Liebe. Dabei spielen andere Menschen gewichtige Rollen: Glatzkopf Ibrahim, ein Fischer und eine Schwedin auf dem Süd-Peloponnes, Motorradfahrer aus Dänemark und Deutschland, junge Menschen aus Australien und nicht zuletzt ein alter Nachbar. --- Die Erzählung ist in ihrer Durchgängigkeit frei erfunden. Aber ein Großteil der Personen, denen Hajo und Christine begegnen, sind es in ihrer jeweiligen Umgebung und mit ihrer jeweiligen Charakteristik nicht. Es gab sie tatsächlich an den jeweiligen Orten. Damals. Hier und da hat der Autor vielleicht die Namen geändert – vielleicht aber auch nicht. Nur die Personen der Reisenden in ihrem VW-Bus sind komplett frei erfunden. Oder?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch

Bevor sich das junge Studentenpaar Christine und Hajo auf die seit langem geplante Reise nach Griechenland macht, hat es ein kleines Problem zu lösen. Doch kein Problem für Christine. Schließlich geht es in ungewöhnlicher Begleitung los.

Eine Fahrt entlang der damals noch jugoslawischen Adria-Küste nach Südost-Europa wird zu einer Begegnung mit Menschen, anderen Umgebungen – und sich selbst. Die Reise verläuft anders als geplant. Und nichts bleibt mehr, wie es vorher war – vor allem nach Christines plötzlichen Verschwinden bei Nacht und Nebel. Wo ist sie? Und warum ist sie weg?

Stationen der Reise und Suche sind Istanbul, der Peloponnes und Korfu. Und Christine und Hajo kommen ungeplant einem für sie wichtigen Ziel näher – der Liebe. Dabei spielen andere Menschen gewichtige Rollen: Glatzkopf Ibrahim, ein Fischer und eine Schwedin auf dem Süd-Peloponnes, Motorradfahrer aus Dänemark und Deutschland, junge Menschen aus Australien und nicht zuletzt ein alter Nachbar.

Die Erzählung ist in ihrer Durchgängigkeit frei erfunden. Aber ein Großteil der Personen, denen Hajo und Christine begegnen, sind es in ihrer jeweiligen Umgebung und mit ihrer jeweiligen Charakteristik nicht. Es gab sie tatsächlich an den jeweiligen Orten. Damals. Hier und da hat der Autor vielleicht die Namen geändert – vielleicht aber auch nicht.

Nur die Personen der Reisenden in ihrem VW-Bus sind komplett frei erfunden. Oder?

 

Am Lagerfeuer

Lagerfeuer haben etwas unwiderstehlich Faszinierendes. Sie kennen das? Schon als kleiner Junge blickte ich voller Ergriffenheit im Zeltlager in den aufstiebenden Funkenflug vor dem tiefdunklen Nachthimmel auf dem Weg zu den Sternen. Selbst Ängste konnte ich dabei vergessen. So schlich ich mich gern während des mir zugeteilen Nacht-Wachdienstes … - Ja, so war das damals; es konnten ja Jungen aus anderen Zeltlagern kommend sich im Schutze der Dunkelheit anschleichen und uns überfallen; so sagte man es uns zumindest. - … also, während meiner Wache schlich ich mich gern an das noch brennende Lagerfeuer, auch um mich zu wärmen, aber vor allem, um meine Angstgefühle, von denen ich mich nie ganz befreien konnte, zu verdrängen und mich der Geborgenheit des Knisterns und Funkenfliegens anzuvertrauen.

Und in gemeinsamen Runden, eng gescharrt um das Feuer, waren die Zungen gelöster als sonst. Zum Singen zur Klampfe oder zum Erzählen mehr oder weniger schauriger Geschichten. Das Feuer vereinte. Und schützte.

So ging es mir auch, als ich größer wurde. Erwachsen wurde? Ich weiß nicht, ab wann man erwachsen ist. Ist man es jemals? Ach, ich schweife ab. Jedenfalls ertappe ich mich auch in gesetzteren Jahren dabei, am Lagerfeuer sitzend einen Anflug von kindlichem Gemüt an den Tag zu legen. Ungewollt. Die abendliche Stimmung zieht mich knisternd in ihren Bann.

Aber ich schweife wieder ab. Die Faszination des Lagerfeuers verleitet dazu abzuschweifen. Stimmt’s? Die Welt wird in gemeinsamer Runde weiter, größer. Jeder hat seinen Himmelsschweif, über den er berichten kann. Oder alte Geschichten, die er irgendwo zwischen Himmel und Erde oder zwischen Kindheit und Erwachsensein erlebt hat. Man sitzt vor dem Feuer, starrt in die Glut und hört seinem Nachbarn zu oder erzählt selbst ausschweifend über Erlebtes. Und während des Zuhörens verschwimmt das flackernde Rot, und das geistige Auge formt Bilder aus dem Gehörten und versetzt dich in ferne Welten.

In einer solchen Lagerfeuerrunde vor vielen Jahren gab ein mir bis dahin unbekannter Mensch seine Reiseerfahrungen durch Südost-Europa zum Besten. Er berichtete über Erlebnisse und Menschen, die er unterwegs kennengelernt hatte, ja sogar über sein Liebesleben während oder infolge seiner Reise. Ein Lagerfeuer lässt frei erzählen. Und wahrlich in andere oder anderer Welten eintauchen. Und ganz besonders in einer Runde von Motorradfahrern.

Ich höre gern solche Geschichten. Und als ich diesem Menschen so zuhörte, wurde ich geistiger Teil seiner Erzählungen. Als wäre ich dabei gewesen. Später erwuchs in mir der Wunsch, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Aber man schreibt ja nicht so einfach die Erlebnisse eines anderen Menschen auf. Oder darf man das? Und ich wollte ja auch nicht über diesen Menschen schreiben. Denn man konnte wahrlich nicht sagen, dass er als Person interessant war. Warum also über ihn schreiben? Berichtenswert waren aber die Menschen, denen er begegnete. Und die Erfahrungen, die er mit ihnen machte. Hätte jemand anderes solche Erfahrungen machen können? Ja, ich war mir ganz sicher, dass das so sein konnte. Und ich wusste bald auch, wer.

Ich erfand ein junges Studentenpaar – wie geschaffen für diese Reise. Und vor allem für diese Begegnungen. Ach, ich erfand eine ganze Straße, in der dieses Paar wohnt, mitsamt allen Nachbarn.

Und ich änderte Personennamen der anderen beteiligten Personen – zumindest den einen oder anderen. Man weiß ja nie, ob nicht irgendein Leser auf den verrückten Gedanken kommt, sich mit der Geschichte unterm Arm auf die Suche nach einem der Charaktere zu machen, trotz der mittlerweile langen Zeit dazwischen. Ach, Sie finden das abwegig? Da haben Sie wohl Recht. Aber daran können Sie sehen, wie mich meine Fantasie bestimmen kann. Und obwohl ich diesen Menschen in den kommenden Jahren wohl nicht begegnen werde, wäre es mir doch peinlich, wenn …

Aber ich schweife schon wieder ab. Wir waren ja bei der Straße. Eine Wohnstraße irgendwo zentral gelegen in einer deutschen Universitätsstadt. Vor meinem geistigen Auge könnte sie zum Beispiel in Bonn liegen, irgendwo links oder rechts der Argelanderstraße. Oder in Wiesbaden. Ach nein, Wiesbaden hat ja keine Uni. Aber optisch wäre es schon nicht schlecht.

Oder noch besser, Sie suchen sich selbst eine solche Stadt aus. Marburg? Münster? Heidelberg? Oder eine andere? Sie bestimmen selbst.

Sie haben gewählt? In Ordnung. Dann steht unserer Reise nichts mehr im Wege. Ach ja, bleibt mir nur noch zu ergänzen, dass eine solche Geschichte beim Niederschreiben durchaus hier und da eine Eigendynamik entwickelte, die nicht vorhersehbar war und den Pfad der Lagerfeuergeschichte in ganz andere Bahnen lenkte. Die Reise verlief für das Studentenpaar nämlich gänzlich ungeplant, nicht nur der Reisestart. Nun ja, ich gebe zu, die Ereignisse überraschten sogar mich.

Doch zurück zu unserer Wohnstraße. Sie sind bereit? Unsere Geschichte kann beginnen …

Der Mann im Fenster

Die warmen Sonnenstrahlen belebten die Straße. Der vom vorangegangenen Regenschauer feuchte Asphalt glitzerte in diesem hellen Morgenlicht. Feine, weiße Dampfschwaden lösten sich vom Grund und tanzten über ihn hinweg. Ein leichter, kaum spürbarer Luftzug schob sie von der anderen Straßenseite herüber. Und mit ihm kroch der kräftige, aufmunternde Geruch zum Leben erwachender Pflanzen, ausschlagender Bäume und Sträucher herüber, ein Duft, den die Sinne sofort mit dem hellen Grün junger Knospen verbinden.

Stolz erstrahlten die Hausfassaden vis-a-vis. Das alte, kunstvolle Gemäuer mit seinen verspielten Ornamenten, den hohen Fenstern und den so viel Gemütlichkeit versprechenden Erkern ragte stolz hinter den Vorgärten empor. Fünfzehn, zwanzig Häuser wie das Spalier einer altersschwachen Garde, wenn nicht die Jugend ihnen neues Leben eingehaucht hätte. Helle, warme Pastellanstriche hatten die Kälte der Mauern schon seit Jahren vertrieben. Sie zogen das Licht an - und damit die Blicke der Menschen. Erst in diesem Farbenspiel der Fassaden wurde in den feinen Konturen der Fensterfassungen und den kunstvollen Verzierungen der Balkone die Vielfalt der baulichen Ideen, die Einzigartigkeit eines jeden Hauses fühlbar.

Hermann hockte wie nahezu jeden Tag an seinem geöffneten Fenster. Er war bald siebzig. Sicherlich ein wenig übergewichtig. Doch seine in Falten gelegten Wangen ließen darauf schließen, dass er irgendwann einmal sehr viel schwerer gewesen sein mochte. Seine Haut war hell. Trotz seines Alters schien sie weich. In krassem Gegensatz dazu sein angegrautes, mittellanges, dickes, etwas kratzbürstig wirkendes Haar. Seine verschränkten, ihn abstützenden Arme ruhten in einem handgearbeiteten, blauen Kissen, das irgendwann einmal ein Sofa geschmückt haben mag. In leicht zerschlissenem Zustand lag es nun auf der Fensterbank, seinem neuen tagtäglichen Stammplatz. So thronte Hermann zwei Meter über dem Gehweg und beobachtete die zum Leben erwachte Straße.

Es mochte halb acht sein. Aus den Fenstern umliegender Häuser klangen Stimmen an sein Ohr, das Johlen spielender Kinder, der Aufschrei einer Frau, das Aufschlagen und Zerspringen einer Tasse, das Geschepper blecherner Töpfe. Ein Wecker rasselte - um diese Zeit! Aus irgendwelchen Radiolautsprechern plärrte Popmusik.

Negermusik.

Türen schlagen. Schritte halten in den Hauseingängen.

»Guten Morgen, Hermann!«

Ein hagerer, kleiner Mann blickte zu Hermann herauf. Er mochte an die Achtzig sein. Das Alter hatte sein Gesicht gezeichnet, seinen Körper gebeugt, sodass es ihm offensichtlich nicht leicht fiel, zu dem Fenster hinaufzuschauen. Seinen linken Arm hatte er nach hinten abgewinkelt, und seinen Handrücken hielt er in sein Kreuz gedrückt. Sein weißes, kurzgeschnittenes Haar war fast gänzlich von einem dunklen, breitkrempigen Hut bedeckt.

»Guten Morgen, Franz!«, kam die Erwiderung. »Es scheint, jetzt haben wir’s geschafft; jetzt ist der Sommer da, he?«

Ein breites Grinsen zog sich über Hermanns Gesicht und schob die Augen zu munteren Kügelchen zusammen. Zwischen den Lippen schimmerten vereinzelt seine noch verbliebenen Zähne durch. Viele waren es nicht mehr. Weiß Gott nicht! Sein Grinsen ging über in ein herzliches Lachen. Sein gewichtiger Körper tanzte in leichten Schüttelbewegungen. Die Sonne schien auch seine Lebensfreude endgültig vom Winterschlaf erweckt zu haben.

Franz antwortete nicht. Doch sein Gesicht hellte sich auf. Sein ernster, müder Ausdruck zerfloss in einem milden Lächeln, Hermanns Heiterkeit war übergesprungen. Er wandte das Gesicht schräg nach rechts oben, die Schultern folgten dieser Drehbewegung. So gelang es ihm, ein wenig mühsam seine Augen zum Himmel zu richten. Sein Blick ruhte eine kurze Weile auf dem strahlenden Blau. Dann wandte er sich lächelnd wieder Hermann zu.

»Da fühl ich mich doch wieder wie ein junger Spund, he? Ach ja, man müsste nochmal zwanzig sein, ...«

Er zwinkerte mit den Augen.

»Ich schau auf dem Rückweg wieder vorbei.«

»Grüß Karl und Heinrich von mir, wenn du sie siehst«, verabschiedete sich Hermann und hob die Hand zum flüchtigen Gruß. Er wusste, Franz und die anderen trafen sich häufig im nahegelegenen Park. Er schaute ihm noch eine Weile nach. Früher war er selbst oft dabei gewesen, damals, als Lisa noch lebte. Aber seit einigen Jahren machten seine Beine nicht mehr so richtig mit. Das Gehen fiel ihm schwer, und so beschränkte er sich auf einige wenige Spaziergänge im Monat. Und seit Lisas Tod vor eineinhalb Jahren verließ er seine Mietwohnung, den Ort, den er über zwanzig Jahre mit ihr geteilt hatte, nur noch zu dringend notwendigen Einkäufen und Behördengängen.

Vor langer Zeit, ein Jahr vor Kriegsbeginn, hatten sie geheiratet - damals, er und sie Ende Zwanzig. Der Krieg, die Trennung, die Gefangenschaft, der Hunger, der Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder - gemeinsam hatten sie sich durchgeboxt. Damals wuchsen sie zusammen. Und ließen sich nie los. Später zogen sie in dieses Haus. Gemeinsam. Bis vor eineinhalb Jahren ...

In diesen Räumen lebte sie weiter, die Zeit ›davor‹. ›Ihr‹ Bett war gemacht, der Wohnraum fein hergerichtet, die Kissen auf dem Sofa waren säuberlich in der Mitte eingedrückt, die Bilder hingen an ihren angestammten Plätzen, neue waren nicht hinzugekommen.

Doch mied Hermann nicht die Welt. Dann und wann an seinem Fenster sitzend hielt er Kontakt zu den Menschen in der Straße. Eigentlich war der jetzt sogar besser als früher. Von seinem Platz aus beobachtete Hermann jede Einzelheit im Geschehen draußen, sah die Autos vorbeifahren, hörte das Klingeln der Radfahrer, erfreute sich am Anblick der Blumen, spielte in Gedanken mit den Kindern drüben zwischen den Sträuchern, lachte über die Ungeschicklichkeit des Studenten Peter bei Reparaturversuchen an seiner uralten, schrottreifen Ente, plauderte mit vorbeigehenden Nachbarn, erfuhr Neustes und teilte Neuigkeiten mit. Und die Menschen in der Straße schwatzten gern mit ihm, über dieses und jenes, über Belangloses und Tiefgründiges. Und Peters Freund Hansjürgen fand durch Hermanns Hilfe ein Zimmer zwei Häuser weiter; Peter hatte Hermann einfach einmal so gefragt, ob er niemanden wüsste, der gerade ein Zimmer zu vermieten hätte, und Hermann wusste.

So gehörte der Alte in seinem Fenster nun so fest zur Straße und ihrem Leben wie der Laden von Frau Pörschke an der Ecke ein paar Schritte entfernt - wenn nicht sogar noch fester.

Eine Frau mittleren Alters verließ das Haus und wandte sich direkt an Hermann.

»Guten Morgen, Herr Breuner!«

»Guten Morgen, Frau Michalek! Ich hab schon alles aufgeschrieben. Ein halbes Brot, einen Liter Milch, ein Viertel Käse, ein halbes Pfund Salz.«

Er reichte der Frau einen kleinen Zettel.

»Soll ich Ihnen noch eine Tasche mitgeben?«

»Nein, schon gut, Herr Breuner. Ich muss heute nicht sehr viel für uns einholen. Mein Netz ist ausreichend.«

Frau Michalek wohnte mit ihrem Mann und den beiden Kindern im zweiten Stock. Seit Lisas Tod nahm sie Hermann doch so manchen Weg ab. Es machte ihr nicht viel aus, und sie tat es gern.

»Aber sagen Sie mal, war das gestern Abend nicht schrecklich?«

Hermann verstand nicht so recht und sah sie ein wenig verwirrt und fragend an.

»Na diese nerv tötende Dudelei von gegenüber. Die machen aus unserer Straße ja noch einen orientalischen Basar!«

Ach so, das meinte sie. In einem der Häuser auf der anderen Straßenseite wohnten seit geraumer Zeit zwei oder drei türkische Familien. Gastarbeiter. An manchen Tagen tönen die orientalischen Klänge türkischer Musik aus den Fenstern herüber, jene für unsere Ohren so monotone Tonfolgen.

Katzenmusik.

Jeden Tag sah Hermann die Männer mit ihren großen, schwarzen Schnurrbärten nachmittags heimkommen. Abends standen sie dann häufig vor dem Haus an den Zaun gelehnt oder saßen auf der kleinen Mauer, im Gespräch mit anderen Türken aus der Umgebung, die typischen filterlosen Zigaretten mal in den Fingern spielerisch drehend, mal lässig in einem Mundwinkel hängend rauchend. Manchmal auch einfach Menschen beobachtend. Die Frauen sah man selten. ›Nicht schad' drum‹, dachte Hermann und hatte dabei ihre Röcke und Kopftücher aus bunten, billigen Stoffen vor Augen. Fremde Erscheinungen. Er kannte wohl jeden in der Straße, nur nicht die von da drüben. Die benahmen sich so anders, lungerten so auf der Straße herum, kleideten sich so fremd. Und die Kinder mit ihren kurzgeschorenen Haaren, laut lärmend, herumbalgend, heruntergekommen gekleidet! Und derer gleich so viele! Doch andererseits, was soll's, dachte Hermann, die sind unter sich und lassen uns ansonsten in Ruhe.

»Ist mir gar nicht aufgefallen, Frau Michalek.« Seine Antwort entsprach den Tatsachen.

»Ja, Herr Breuner, die Welt ändert sich. Und nicht zum Besseren. Früher gab es so etwas nicht.«

Auf der anderen Straßenseite fing Hansjürgen die letzten Sätze auf. Er war kurz zuvor aus einem der gegenüberliegenden Häuser gekommen - noch recht verschlafen - und wollte gerade seinen alten VW-Bus aufsperren. Sein Gruß unterbrach das Gespräch der beiden Älteren. Nun, eigentlich keine wirkliche Unterbrechung - wortlos hob er nur lässig den rechten Arm, das war so seine Art. Hermann blickte kurz hinüber, lächelte, erwiderte den Gruß in dergleichen Weise und wandte sich nach einem kurzen Augenblick wieder Frau Michalek zu.

Wenige Augenblicke später ging Frau Michalek zügig die Straße hinunter.

Christine

Der warme Wind fing sich in ihren langen, blonden, dünnen Haaren. Unterstützt durch ihren wippenden Gang tanzten sie munter hinter ihrem Kopf hin und her. Christine verließ die schattige Allee und bog in die schmalere Straße ein. Die Morgensonne schien ihr nun direkt ins Gesicht. Sie kniff die Augenlider zusammen und blinzelte in das Licht. Mit der Wärme der Sonnenstrahlen durchflutete ein Gefühl spontaner Freude und Erwartung ihren Körper.

Vorfreude.

An ihrer rechten Schulter baumelte an einem langen Tragriemen eine Tasche aus weißem, grobem Segeltuch. Ihre rechte Hand ruhte auf der Verschlusslasche. Christine schien den Inhalt in allen Feinheiten zu spüren. Bis weit nach Mitternacht hatte sie in den Reiseunterlagen gestöbert, Routen studiert, sie mit dem Finger auf den Landkarten nachgefahren. In ihrer Phantasie hatte sie Ansichten von Gebirgszügen oder Küsten entwickelt, die sie noch nie gesehen hatte, hatte sie wieder verworfen, um sie doch nur wieder neu, etwas abgeändert vor ihrem geistigen Auge neu auftauchen zu lassen. Und je weiter sie sich in ferne Gegenden vorgearbeitet hatte, desto mehr Unruhe hatte ihr Herz in ihrem Körper verbreitet. Der Schlaf übermannte sie erst sehr spät in der Nacht.

Diese Unruhe, Ungeduld hatte sie dann auch nicht tief und fest schlafen lassen. Dennoch fühlte sie sich jetzt topfit und kannte nichts eiligeres, als mit ihrem Freund Hansjürgen und Peter die letzten offenen Fragen zu besprechen. Noch drei Tage ...

Christines Äußeres ließ sie jünger erscheinen als sie tatsächlich war. Vielleicht waren ihre kleine Nase - na, so einen leichten Stups hatte sie, auch wenn ihre Besitzerin solcherlei gelegentliche Andeutungen ihrer Freunde stets energisch zurückwies - oder die zahllosen, feinen Sommersprossen daran schuld. Vor eineinhalb Jahren hatte sie knapp zwanzigjährig ihr Pädagogikstudium hier in der Stadt aufgenommen. Und schon nach wenigen Vorlesungen hatte sich der Studiosus Hansjürgen aus dem gleichen Semester ihrer liebevoll angenommen.

Ihre langen, stachsigen Beine hielten inne. Sie stand an der geöffneten Autotür und steckte den Kopf in den VW-Bus.

»Hallo, Hajo!«

Hansjürgens Name war ihr von Anfang an zu umständlich gewesen. Lieber nur die Initialen H.J. nehmen, wobei sie im Laufe der Zeit dazu übergegangen war, die Endung des zweiten Buchstabens zu verschlucken. »Klingt offener«, pflegte sie zu sagen.

Hansjürgen setzte im Wageninnern eine offensichtlich schwere, koffergroße Holzkiste ab und sprang auf den Gehsteig.

»Grüß dich, Chris!«

Begleitet von einer kurzen Umarmung drückte er seiner Freundin einen Kuss auf die rechte Wange. Er sah sie an. Christine bemerkte sofort den Anflug von Traurigkeit oder Enttäuschung in seinem Blick, obwohl der junge Mann sich bemühte, einfach nur zu lächeln. Christines angestauten Erwartungen und Vorfreuden, die sie förmlich in den Tag hatten hinein explodieren lassen, schlugen von einem auf den anderen Augenblick um. Eine unbestimmte böse Ahnung erfasste ihre Gedanken. Gespannt blickte sie Hajo in die Augen; doch sie sagte keinen Ton.

»Peter hat sich gestern Abend das Bein gebrochen. Er kann in den nächsten Wochen keine Reise machen.«

Das Mädchen stand wie angewurzelt da. In Christines Kopf ging es heftig hin und her. Armer Peter! Was ist mit der Reise? Die Reise!

»Aber gestern Abend ...«, stammelte sie los.

»Es passierte kurz nachdem du gegangen warst. Wir wollten noch auf ein Bierchen hocken. Peter verschwand in den Keller, um einige Flaschen zu holen. Plötzlich hörte ich etwas poltern und Glas zerspringen. Im nächsten Moment oder auch fast gleichzeitig seinen Schrei.«

Christine hörte regungslos zu.

»Wie’s genau war? Hm, er stieg die Treppe wohl zu hastig hoch, rutschte mit dem Bein von der Stufe ab. Wegen der Flaschen in den Händen konnte er sich wohl nicht abstützen, und er stürzte die wenigen Stufen, die er bereits hochgestiegen war, hinunter. Aber das Wenige langte. Doppelter Schienbeinbruch, recht kompliziert, wie der Arzt heut’ morgen am Telefon mitteilte.«

Schweigend sahen sie sich an. Christine hatte Tränen in den Augen. Jetzt dachte sie nur noch an Peter. Langsam ließ sie sich auf die Türschwelle des geöffneten Busses nieder. Sie stützte sich mit den Händen auf dem Autoboden ab und streckte die Beine von sich. Mit gesenktem Kopf starrte sie stumm auf den grauen Asphalt des Gehsteigs. Die Gefühle in ihrem Innern konzentrierten sich auf ihren Magen, zogen sich in diesem Augenblick in ihrem Körperzentrum zusammen. Sie brachte kein Wort heraus.

Nach einer Weile hob sie langsam den Blick, wandte ihn nach rechts und ließ ihn langsam über die Einzelheiten des Wageninnern wandern. Die Sitzbank, die einfach zu einer Liege umgelegt werden konnte, die an den Seitenwänden angehängten Schränke, die kleine Kochecke - Bastel- und Schreinerarbeiten der drei Freunde aus den letzten vier Wochen.

»Und die Reise?«

Ein Schulterzucken war die Antwort. »Peter muss mindestens sechs Wochen das Bett hüten - im Krankenhaus oder zuhause. Und dann ist es schon Hochsommer und für die Reise zu spät. Meinen Ferienjob kann ich leider nicht vorziehen. Und aufs Geld bin ich nun mal angewiesen - Naturgesetz.«

Resigniert zuckte er mit den Schultern.

»Also, wenn überhaupt, dann ohne Peter?«

»Hmm.« Nach einem kurzen Moment des Zögerns nickte er kurz. »Obwohl ... einfach blöd, zu blöd. Vor allem auch ein kleines finanzielles Problem. Ich hab’s heute Morgen schon mal durchgerechnet. Bei nur zwei Leuten müssen wir sicherlich ziemlich stark zurückstecken. Das meiste Geld geht wohl fürs Benzin drauf; der Bus braucht schließlich eine ganze Menge. Da haben wir kaum Spielraum. Da wird’s arg knapp.«

»Und wenn wir ab und zu den Bus einfach irgendwo stehen lassen und kürzere Rundtouren nur per Daumen machen?«

Hajo rümpfte die Nase. »Du, nichts gegen Trampen, aber nicht in der Osttürkei oder sogar auf der Anfahrt dorthin. Das ist mir zu riskant.«

Christine schwieg. Hajo hatte ja Recht. Ihr selbst war ja nicht wohl bei dem Gedanken. »Und wenn wir gar nicht ganz so weit fahren und unseren Haupturlaub in Griechenland verbringen? Damit könnten wir auf der Anfahrt Sprit sparen. Und in Griechenland kann man doch wohl eher mal was ohne eigenes Auto unternehmen, oder?«

»Vielleicht.« Hajos Gesicht hellte sich kaum auf. Christines Idee war wohl nicht sehr überzeugend gewesen. »Zumindest Istanbul will ich schon sehen. Dort beginnt der Orient. Und das sollte doch für mich das Wichtigste auf der Tour sein.«

Christine blinzelte ihn an. »Und erst Istanbul und dann zurück nach Griechenland?« Sie spürte wieder ihren Tatendrang. Überhaupt war sie überraschenderweise die treibende Kraft des Unternehmens gewesen. Zwar hatten Hansjürgen und Peter die Idee geboren, irgendwann in die Türkei zu fahren, doch es war das Mädchen, das den Vorschlag machte, die Sache so schnell wie möglich anzugehen, schon dieses Jahr in jenes fremde Land zu fahren, den Bus, den Hajo ja sowieso schon besaß, für diese Tour herzurichten. Und im Frühjahr schon das Geld dafür zu verdienen. Und mit all ihren Ideen riss sie die Jungen mit.

»Hm, das ginge sicherlich besser.« Doch so ganz glücklich schaute Hajo nicht drein. »Ein dritter Mann wäre mir aber schon ganz lieb, schon allein wegen der Kosten. Auch wenn ich gern mit dir allein fahren würde.«

Seine letzten Sätze schienen nicht so ganz ehrlich. Sie waren es auch nicht. In den letzten zwei, drei Monaten hatte es doch häufig Streit zwischen den beiden gegeben. Na, eigentlich auch nicht viel mehr als in der Zeit davor. Aber in letzter Zeit steckte Hajo häufiger zurück als sonst - er musste häufiger als sonst zurückstecken. Vor mehr als einem Jahr, als sie sich kennengelernt hatten, war er der Mann gewesen, als der er sich immer in einer möglichen Beziehung gesehen hatte. Er war stark. Christine - sie kam aus einer Kleinstadt hierher, er jedoch war in dieser Großstadt aufgewachsen - schaute zu ihm auf; er genoss es. Kaum eine Gelegenheit ließ er aus, sich ein wenig zu produzieren, sich in Szene zu setzen. Und er verfehlte damit die erhoffte Wirkung nicht. An seiner Seite fühlte sie sich beschützt, geborgen - und stolz. Hajo repräsentierte für das Mädchen die Großstadt. Und Großstadt gleich große Welt. Der junge Mann fühlte das - und genoss es aus ganzem Herzen.

Für Christine war der Schritt vom Abitur ins Studium ein riesengroßer gewesen. Raus aus dem Elternhaus, allein in die Universitätsstadt. Ein Zimmer suchen. Allein den Tagesablauf organisieren. Sich zurechtfinden. Allein umgeben von zunächst fremden Menschen. Und dann lernte sie Hajo kennen. Ein umwerfender Typ, der für sie da war, sie an die Hand nahm, sie liebte. Ihr starker Halt.

Aber mittlerweile hatte Christine gelernt. Sie hatte schnell verstanden, mit Menschen umzugehen. Vor allem Fassaden zu durchschauen. Sie achtete - sie selbst hatte die Veränderung erst recht spät bemerkt - nicht mehr so sehr auf Worte und Äußerlichkeiten. Mehr auf die Handlungen der Menschen. Doch das Wichtigste für sie waren die Gefühle. Eines Abends hatte sie zu Hajo gesagt:

»Ich schaue mir die Menschen mit meinem ganzen Körper an. Was ich an ihnen sehe, sauge ich in mich auf, jede einzelne Regung, jede einzelne Hautfalte. Und jedes Wort, jedes Lachen, jeden Seufzer leiten meine Ohren weiter. Und alles, was ich ertaste, jeder Händedruck, jedes Berühren trifft sich mit allen anderen Eindrücken in meinem Innern. Und aus meinem Bauch heraus, aus meinem Körperzentrum fließt Wärme oder Kälte in alle meine Glieder, und ich glaube, einzig diese Temperatur bestimmt mein Verhalten den einzelnen Menschen gegenüber.«

Der junge Mann hatte genickt. So verlangte es seine von ihm selbst auferlegte Rolle. Doch er fürchtete, sein verständnisloser Blick würde ihn verraten. Er begriff nicht, was sie ihm sagte. Doch zugeben wollte er das nicht. Und schon gar nicht darüber diskutieren. Er war zu stolz. Er war immer zu stolz. Und Christines Verhalten bereitete ihm in letzter Zeit größtes Unbehagen. Christine, dies nette, liebe Mädchen, war ihm überlegen.

»Meinst du denn, wir finden in den wenigen Tagen noch einen dritten Mann?«

Christines Frage schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. »Was?«

»Ja, ob wir noch ...« Sie hielt inne. Ihre Augen blitzten wieder unternehmungslustig. »Ach was, egal, ob wir in den paar Tagen noch einen dritten Mann finden oder nicht, wir fahren nächste Woche los, top?«

Sie streckte ihm die Hand hin. Zögernd, ein wenig missmutig schlug Hajo ein.

»Okay!«

Christines Augen funkelten schelmisch, ihr alter Tatendrang war wieder da. Sie hatte da so eine Idee.

»Und morgen Nachmittag besuchen wir Peter?«

Hajo nickte.

Alte Kameraden

So verstört hatte sie ihr Freund noch nie zuvor angesehen. Regungslos, mit leicht geöffnetem Mund starrte Hajo Christine an.

»Gut, dass er schon sitzt«, dachte das Mädchen. Sie stand an den Kleiderschrank gelehnt und biss die Zähne aufeinander.

Jetzt bloß nicht lachen.

Dieser Augenblick machte ihr diebischen Spaß. Nicht, dass sie Hajo in irgendeiner Weise eins auswischen wollte. Daran dachte sie nicht im Traum. Nein, einfach die Komik der Situation, ihre Idee, die Vorfreude auf die Reise, all das zusammen ließ einfach ihr Herz Luftsprünge machen.

»Das ... das ist doch nicht dein Ernst, Chris, oder?«, stammelte Hajo unsicher los.

›Irgendwie guckt er jetzt wie ein Hund‹, schoss es Christine durch den Kopf, als sie die Frage mit einem Kopfnicken verschmitzt grinsend bejahte.

Hajo wusste nicht, ob er toben oder Christines Idee vielleicht doch in ernsthafte Erwägung ziehen oder sogar - mit ein wenig Begeisterung - akzeptieren sollte. ›Ein verrücktes Frauenzimmer!‹ – ›Schnapsidee!‹ – ›Ein wenig abwegig, aber doch irgendwie faszinierend!‹ Die Gedanken schossen Hajo kreuz und quer durchs Hirn.

»Und wann kam dir dieser glorreiche Geistesblitz?« Hajos ironischer Unterton war nicht zu überhören, sein Gehirn stand nach wie vor auf Ablehnung.

»Och, eigentlich schon als wir uns über Peters Ausfall unterhielten.«

Sie schaute bewusst ein wenig kokett drein; es machte ihr nun doch ein bisschen Spaß, Hajos gereizte Stimmung noch zu steigern - wenn auch nur so ein winziges Stückchen, ist ja nicht so schlimm, dachte sie.

»Nachdem wir Peter gestern im Krankenhaus besucht hatten, ging mir die Sache auf dem Heimweg immer wieder durch den Kopf. Darum war ich auch so schweigsam. Weniger weil ich traurig über Peters Missgeschick war. Aber ich war nicht in der Stimmung, es mit dir zu bereden. Und später, alleine, war ich eigentlich ganz froh, dass du im Seminar warst und ich nicht mit dir reden konnte. Also machte ich einen kurzen Abendspaziergang. Es war übrigens eine traumhafte Sommeruntergangsstimmung.«

Christine war sehr empfänglich für romantische Momente, eine Eigenschaft, die sie stark von Hajo unterschied und die dann und wann zu starken Gefühlsspannungen zwischen den beiden führte. Doch Christine hatte damit umzugehen gelernt. Und die letzte Bemerkung jetzt war eigentlich weniger als Beschreibung des gestrigen Abends als vielmehr als kleine Stichelei Hajo gegenüber gedacht. Doch der junge Mann war zu sehr mit Christines Idee beschäftigt, als dass er diese kleine Spitze jetzt bemerkte.

»Aber reden musste ich nun doch darüber. Als ich hier unten vorbeiging, sah ich Hermann drüben in seinem Fenster. Er lachte mich an, und so überquerte ich die Straße und kam mit ihm ins Gespräch.«

»Und wie fand er deine Idee?«

»Toll, einfach irrsinnig toll. Aber im ersten Augenblick hättest du sein Gesicht sehen sollen! Na, es hatte enorme Ähnlichkeit mit dem deinen vor wenigen Sekunden.«

Christine grinste übermütig.

»Allerdings hatte er sich schneller wieder gefasst. Er sagte, er hätte da noch eine Flasche hervorragenden älteren Weines und ich solle doch reinkommen. Und so saßen wir halt den Rest des Abends in seiner Wohnung zusammen. Er freute sich wie ein Kind. Das hättest du miterleben müssen! Was ja doch wohl irgendwie nur ’ne Schnapsidee war - na, zugegeben eine Spinnerei meinerseits - nahm im Gespräch urig konkrete Formen an. Im Ausmalen der Vorstellungen, wie sowas denn ablaufen könnte, steigerten wir uns gegenseitig, überboten uns mit jeder Idee. Sowas hätte er sich in den letzten Jahren immer mal erträumt. Und in dieser Form könnte er es sich auch finanziell leisten. Bammel hätte er zwar schon. Und einfach würde es für ihn ja wohl auch nicht. Du weißt, seine Beine. Aber das wäre einfach ein Traum. Und eine Reise so im Auto ... Wir diskutierten Möglichkeiten und legten auf einmal Einzelheiten fest - soweit ich das für meinen Teil konnte.«

Hajo antwortete nicht, war still. Sein innerer Widerstand hatte sich gelegt. Er schien ruhiger.

Christines Charme hatte triumphiert.

»Also gewöhne ich mich mal langsam an den Gedanken, mit dem Alten eine kleine Weltreise zu machen.« Er blickte Christine lächelnd - wenn auch leicht säuerlich - an. »Bleibt mir ja doch nichts anderes übrig.«

Nach einer kurzen Stille lachte Hajo plötzlich befreiter.

»Alte Kameraden«, entfuhr es ihm verträumt, kaum hörbar. Christine verstand ihn nicht, und aufgefordert durch ihren fragenden Blick ergänzte er:

»Na, Hermann und mein Bus.« Er grinste. »Die beiden werden sich zweifellos bombig verstehen.«

Sie saßen noch über eine Stunde zusammen, ihre Gespräche gingen einzig um Hermann. Zwar wurden wieder Für und Wider diskutiert, aber die Entscheidung, ihn mitzunehmen, war ja doch schon gefallen. Eigentlich sogar schon am Abend vorher. Doch das wurde Hajo nicht bewusst. Oder er wollte es sich nicht eingestehen.

 

Als die Sonne schon verschwunden war, verließ das Paar das Haus, um den alten Mann zu besuchen.

Den geplanten Abreisetermin zwei Tage später konnte das Trio nicht einhalten. Man war sich einig, dass es besser sei, für Hermann noch vor Fahrtantritt einen Reisepass ausstellen zu lassen. Seit seiner Rückkehr aus dem Krieg hatte er keinen erhalten. Es hatte ihn seitdem nicht mehr in die Ferne gezogen. Genauer: er hatte wohl keine Gelegenheit zu eine weiten Reise gehabt.

Somit konnten die drei die Fahrt frühestens am darauffolgenden Dienstag antreten; Behörden brauchen halt ihre Zeit, und die Verzögerung um weitere vier Tage tat nun auch nicht mehr weh.

Zur großen Überraschung der jungen Leute war diese Aktion der einzige notwendige Mehraufwand, der betrieben werden musste. Vor allem die vermeintliche Frage der Übernachtungen unterwegs war gar keine: aus einer großen Truhe hatte Hermann während ihrer ersten Besprechung einen nie erwarteten, anständig brauchbaren Schlafsack hervorgekramt. Zwar keine Daune oder ähnlich komfortabel und offensichtlich weit über fünfzehn Jahre alt, aber gut erhalten und anscheinend warm genug. Trotzdem packte Hermann sich dann noch eine Decke für darüber ein. Und das voluminöse, unzeitgemäße Packmaß spielte bei ihrer Form der Reise sowieso keine Rolle. Allerdings flößte das Alter der außerdem zutage geförderten Luftmatratze Hajo beträchtliche Zweifel an ihrer Brauchbarkeit ein. Sie blieb denn auch schließlich zugunsten Peters neuer ›Luma‹ zurück.


*
 

Der alte Mann bot einen köstlichen Anblick!

Als die jungen Leute am Tage ihrer Abreise frühmorgens bei Hermann klingelten, öffnete sich die Tür, und da stand er nun, inmitten all seiner fertig gepackten und verschnürten Ausrüstungsteile. Den alten Schlafsack mit der Luftmatratze und der Decke kannten sie ja schon, auch den grünen Baumwollrucksack aus längst vergangenen Wandertagen und den dazu passenden abgetragenen, ebenfalls grünen Lodenmantel hatten sie in den letzten Tagen bereits zu Gesicht bekommen. Allerdings nicht in Kombination mit Hermanns zünftiger Kleidung, seinem Hut mit der an allen Seiten stark heruntergezogenen Krempe, einem gut erhaltenen Norwegerpullover, einer ausgetragenen Hose - »sportlich geschnitten, wie man an der eleganten Taillierung erkennen kann«, überzeugte der Alte die beiden unaufgefordert - und diesen »Knobelbechern«, entfuhr es Hajo, an den Füßen, uralten, schwarzen, ausgetretenen, doch - oder eben drum - offensichtlich bequemen Wander- oder Bergschuhen. Und diesem braunen, mit zwei gleichfarbigen Lederriemen verschlossen gehaltenen Holzkoffer zu Hermanns Linken, wohl nicht für irgendwelche Kleidungsstücke bestimmt, denn was in dem Koffer Platz gefunden hätte, hätte ebenso gut noch in den Rucksack gepasst. Es war eher ein Aktenkoffer, obwohl er das ja sicherlich auch nicht war; zweifellos war er Hermanns ganzer Stolz. Aber verraten wollte er den Inhalt nicht. »Erst, wenn er gebraucht wird.« Offensichtlich machte es dem Alten riesigen Spaß, eine Überraschung für die beiden für unterwegs parat zu haben.

Stillschweigend, nur Blicke austauschend waren sich Christine und Hajo einig: Sie konnten sich nicht entscheiden, ob sie nun auf den Inhalt des Koffers gespannt sein und darüber rätseln sollten, oder ob sie Hermann nicht besser darauf hinweisen sollten, dass Norwegen genau in zu ihrem Urlaubsziel entgegengesetzter Richtung liege. Sie entschieden sich für die goldene Mitte: sie packten das sich vor ihnen darbietende Stillleben - Hermann samt seinen Siebensachen - in Nullkommanichts in den Bus und dampften mit den ersten morgendlichen Sonnenstrahlen los auf die Autobahn Richtung Österreich.

 

Bora

Am Grenzübergang Salzburg verließ der Bus mit seinen ungleichen Insassen Deutschland und bewegte sich in südöstlicher Richtung. Um die Alpen zu überqueren, wählten die drei die alte Radstädter Tauernstraße. Diese war landschaftlich schöner und vor allem billiger als die neue Autobahn. Na ja, was das ›Schöner‹ anging, war nicht viel. Nebel, nasskaltes Wetter, oben auf der Höhe sogar Schneefall. Sie sahen zu, dass sie vorankamen.

Hajo fuhr, Christine saß auf dem Beifahrersitz. Hermann hatte es sich auf der Rückbank bequem gemacht, die Füße hoch auf eine der Holzkisten gelegt. Den Kopf leicht nach links gegen das Seitenfenster geneigt, döste er vor sich hin. Er hatte es aufgegeben, bei diesem Wetter irgendwelche tolle Aussichten zu suchen oder gar zu genießen. Außerdem konnte er die mittlerweile neun Stunden Fahrzeit nicht so leicht wegstecken wie die beiden vor ihm.

Der Schneefall war wieder gänzlich in Regen übergegangen. Die Sonne, die sich nahezu den ganzen Tag nicht hatte blicken lassen, verlor nun endgültig ihren Einfluss auf den Tag. Das Dämmerlicht machte den Nachmittag noch ungemütlicher. Es wurde Zeit, sich nach einem Campingplatz umzusehen.

Schon bald, kurz vor der jugoslawischen Grenze fanden sie einen, der ihnen gefiel - besser gesagt: Hajo und Christine, denn Hermann schlief nun und gab dann und wann einen Schnarchton von sich.

Sie konnten den Bus direkt an einem kleinen See abstellen. Hermann wachte auf. Christine sah ihn von vorn über die Schulter an und fragte lächelnd:

»Nun, Hermann, sollen wir die Lagerplätze nicht doch anders zuteilen?«

Hermann blickte zum Fenster hinaus und schüttelte den Kopf. Er grinste.

»Kommt nicht in die Tüte. Alles bleibt so wie ausgemacht, unabhängig von jedem Wetter. Ihr hier drinnen und ich im Zelt.«

Er sah sie väterlich an.

»Glaub mir, das macht mir überhaupt nichts aus. Im Gegenteil, ich freue mich riesig darauf, wieder Nacht für Nacht im Zelt zu schlafen. Vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren haben Lisa und ich das oft auf Wandertouren gemacht. Andere Übernachtungen konnten wir uns auch nicht leisten; aber darüber dachten wir auch nie nach. Wir waren dabei sehr glücklich.«

Sein Blick war schon nicht mehr auf das Mädchen gerichtet, sondern schweifte verträumt irgendwo draußen herum. Christine antwortete nichts. Sie lächelte ihn nur herzlich und - so hoffte sie zumindest - verständnisvoll an. Dann öffnete sie die Tür und stieg aus, um Hajo, der bereits das Zelt ausgepackt hatte, beim Aufbau zu helfen.

Eine halbe Stunde später waren die drei um den Gaskocher versammelt; Hermann und Christine hockten auf der Schwelle der geöffneten Schiebetür, Hajo hatte sich eine der Holzkisten als Sitzgelegenheit aus dem Bus geholt.

Während die Suppe bei kleiner Flamme kochte, langte Hermann ins Wageninnere, griff seinen Holzkoffer heraus und legte ihn behutsam auf seine Oberschenkel. Christine schaute dem Alten nun gespannt auf die Finger, Hajo reckte seinen Kopf. Ein wenig übersteigert feierlich öffnete Hermann die Schnallen der Lederriemen und klappte den Deckel hoch.

»Ich werd' verrückt!« Christine betrachtete erstaunt und ein wenig belustigt den Inhalt. Im Deckel steckten hinter angehefteten Lederstreifen fein säuberlich nebeneinandergereiht Messer, Gabel, Esslöffel und Teelöffel, jedes Teil in doppelter Ausführung und allem Anschein nach echt silbern. Und unten in ausgepolsterten und vorgeformten Fächern zwei Teller und zwei Tassen, jeweils aus weißem Porzellan.

»Das ist ja ein uralter Essgeschirrkoffer!«

»Campinggeschirrkoffer«, korrigierte Hermann Christine stolz. Hajo blickte ihn sprachlos an. Er dachte nur an sein modernes, superleichtes Aluminiumgeschirr und sah vor seinem geistigen Auge die Porzellanklamotten schon in Scherben zwischen irgendwelchem Abfall auf einem griechischen Müllhaufen liegen und das Silberbesteck gemopst.

»Ach, Hermann, das ist ja goldig!« Christine war total begeistert.

»Wenn du willst, kannst du ab heute das zweite Geschirr benutzen. Hat früher nur Lisa benutzt. Willst du?«

Keine Frage, Christine wollte. Und Hajo wandte sich kopfschüttelnd wieder dem Kocher mit der Suppe zu.

Um diese Jahreszeit war der Campingplatz noch sehr leer. In ihrer direkten Umgebung erblickten die drei lediglich ein französisches Wohnmobil, mit dem offenbar ein einzelner Mann reiste. Als sie nach dem Abendessen noch ein wenig im Freien hockten und erzählten, öffnete sich die Tür des nachbarlichen Gefährts und, ein vielleicht 35-jähriger dunkelhaariger Mann erschien. Mit einem Tablett in der linken Hand kam er auf die Deutschen zu.

»Herzlich willkommen!«, sagte er in gebrochenem Deutsch und forderte jeden auf, von dem angebotenen Weinbrand zu kosten.

»Das wärmt auf. Tut sehr gut.«

In der Tat, es war durch die Feuchtigkeit empfindlich kühl und die drei machten einen verfrorenen und abgekämpften Eindruck. Dankbar nahmen sie das unerwartete Angebot an. Zu viert lief nun das Gespräch weiter. Man erzählte dies und jenes; eine Alpentour mache der Franzose, erfuhren sie. Nach einer knappen Stunde lösten sie die Runde auf und legten sich schlafen.

Am nächsten Morgen hatten sie nach einem kurzen Frühstück ihre Sachen schnell zusammengepackt. Sie verabschiedeten sich von ihrem Camping-Nachbarn und machten sich alsbald wieder auf den Weg. Schon nach wenigen Kilometern passierten sie die österreichisch-jugoslawische Grenze. Stolz, ein wenig kindlich betrachtete Hermann den Stempel in seinem Reisepass.

»Der erste«, raunte er Hajo zu, als die beiden auf Christine warteten, die noch in der Menjalnica, der Wechselstube, war.

Hermann legte eine fröhliche, etwas aufgekratzte Stimmung an den Tag. Auf dem Fahrtabschnitt über Ljubljana nach Rijeka saß er auf seinem Rück-»Sofa«, wie er treffend befand, und spielte auf seiner Mundharmonika, die er irgendwo aus seinem Rucksack hervorgekramt hatte.

Doch dann hatte er plötzlich dafür keine Zeit mehr. Das Meer ließ sie ihm nicht mehr. Kaum hatten sie die durch Industrie verdreckte Hafenstadt Rijeka verlassen, faszinierte ihn der Anblick der felsigen, steinigen, hellen Küste und des tiefblauen Meeres.

»Die Adria!« Hermann schien jede Einzelheit in sich aufzusaugen, obwohl die einzelnen Küstenabschnitte hinter jeder Kurve sich zu wiederholen schienen: fast weiße Steine, karger Pflanzenwuchs, die hier und da verbeulten Leitplanken, die die Reisenden von dem Meeresabgrund trennten.

»Aber die ist je doch viel kleiner, als ich sie mir vorgestellt hatte.«

Hajo lachte. »Aber Hermann, das da ist nicht Italien. Vor der Küste gibt es hier viele Inseln, so dass man das offene Meer eigentlich erst viel weiter südlich sehen kann. Und was wir fast seit Rijeka sehen, ist eine der größten. Krk.«

»Was?« Hermann sah ihn von hinten verwirrt an.

»Krk. Das ist der Name. Die heißt so. Krk. Ka-er-ka.«

»Toll!« Hermann lachte.

Die nächsten zwei Stunden Küstenstraße waren eintönig. Irgendwo weiter vorn musste wohl ein Lastwagen oder ähnliches fahren. Und dahinter folgten Auto auf Auto, teilweise mit Wohnanhängern. Und so bewegte sich die Kolonne von Bucht zu Bucht, um eine Kurve nach der anderen.

Hajo wurde ungeduldig. »Scheiße, an Überholen ist hier nicht im Traum zu denken!« Dabei hätte er mit dem Bully kaum schneller fahren können. Aber dauernd das gleiche Bild vor sich, dieser Renault mit dem kleinen roten Stern im Nummernschild, reizte seine Stimmung.

Zwei Motorradfahrer brausten vorbei. Beide aus Dänemark, wie Christine wissend feststellte.

»Die beiden sind fein raus. Mit denen würd ich jetzt gern tauschen. Brrrmmm! Brrrmmm!« Hajo imitierte mit tiefer Stimme das Motorengeräusch der Zweiräder und legte sich wüst in die Kurve. Die beiden anderen lachten. Er selbst stimmte ein. Seine Nerven beruhigten sich.

Vereinzelt sah man nun kleine weiße Flecken in dem tiefen Blau des Wassers. Ein stärker werdender Wind blies vom Land her und wirbelte Schaumkronen auf den Wellenkämmen auf. Feiner Wasserdunst bildete sich über dem Meer. Und je heftiger der Wind blies desto gleichförmiger zeichnete er ein weißes Streifenmuster auf die Wellen.

Hajo hatte nun seine Probleme mit dem Lenken.

»Die Bora«, stellte er lakonisch fest.

»Bora? Wer ist Bora?«

»So heißt dieser Wind, Chris. Er kommt vom Land und weht unbändig heftig aufs Meer hinaus. Er ist sehr gefürchtet. Ganze Wohnwagen soll er schon von der Straße gedrückt haben. Ich denke, wir sollten darum heute nicht mehr sehr weit fahren, sondern sehen, dass wir bald irgendwo lagern. Wo ist der nächste Campingplatz auf der Karte eingezeichnet?«

Chris faltete die in der Ablage griffbereit liegende Karte auf und suchte nur kurz.

»Bei Zadar.«

»Das ist noch wieweit?«

»Na, gute dreißig Kilometer.«

Die Kolonne vor ihnen hatte sich irgendwie aufgelöst. Der Renault war, wenn überhaupt, nur noch bei größeren Buchten schon auf der gegenüberliegenden Buchtseite weit vor ihnen zu sehen.

Eine heftige Bö erfasste den Bus und drückte ihn nach rechts dicht an die Leitplanke ran. Hajo reagierte schnell, doch er hatte erhebliche Mühe, den Wagen noch rechtzeitig abzufangen und ein anschließendes Ausbrechen des Hecks zu verhindern. Der Bus schaukelte hin und her.

»Eine Seefahrt die ist lustig, eine Seefahrt die ist schön ...«

Laut singend kippte Hermann hinten auf dem Sitz hin und her. Sein Gewicht verstärkte wohl noch das Schaukeln des Busses.

»S-türrrmische See heute, nee?« Er sprach mit Absicht und betont das ›St‹ als ›S-t‹, rollte das ›r‹ und versuchte, auch vom Tonfall einen Hamburger Seemann zu imitieren. Der Sturm bereitete ihm einen Heidenspaß. Christine wandte sich um und grinste ihn an. Hajo schaute amüsiert in den Rückspiegel.

»Hei, du alter Seebär«, ulkte er, »dies ist ab sofort ein Segelschiff, und du musst dich auf der Stelle zum Stabilisieren an Backbord raus hangen.«

Sie lachten.

»Du, Hajo, da ist was passiert!«

Christine wies mit der rechten Hand schräg nach vorn. Hajo hatte es schon gesehen. Drüben auf der gegenüberliegenden Landspitze waren zwei Menschen damit beschäftigt, irgendetwas aufzuheben oder von der Straße zu räumen.

Als sie die Bucht umfahren und die beiden fast erreicht hatten, nahmen sie Einzelheiten wahr. Es waren wohl die dänischen Motorradfahrer, wie sie an den Helmen erkannten. Ein Motorrad war am gegenüberliegenden Straßenrand abgestellt. Die andere Maschine lag rechts ganz dicht an der Leitplanke, und die beiden Männer versuchten, sie aufzurichten.

Hajo stoppte den Bus etwa zehn Meter vor dem Ort des Geschehens. Er und Christine stiegen aus. Christines blondes Haar wehte wie eine Fahne im Sturm. Der größere der beiden Motorradfahrer kam auf sie zu. Besser gesagt, er kämpfte sich seitlich schräg gegen den Wind gestellt auf sie zu. Seine leuchtend orange Regenkleidung flatterte heftig. Sein Aussehen hatte dadurch etwas Ballonähnliches. Sein Helm ließ lediglich noch einen Ausschnitt für die Augen frei, dennoch konnte man erkennen, dass er einen Vollbart trug.

»Können wir euch helfen? Can we help you?« Hajo schrie aus vollem Halse, um sich gegen das Donnern des Windes verständlich zu machen.

»Ja«, antwortete der Däne lautstark und fuhr in gebrochenem Deutsch fort: »Wir hielten kurz an, damit ich auf meinem Moto etwas richtig festziehen konnte. Dabei blieb Jakob« - er deutete auf seinen Kumpanen – »auf seiner Maschine und stützte sich mit den Beinen auf beiden Seiten ab. Aber in diesem Sturm konnte er das Moto plötzlich nicht mehr halten und wurde zusammen mit der Maschine auf die Leitplanke gedrückt. Da er beim Sturz die Kupplung loslassen musste, rutschte die BMW dabei nach vorn, und Lenker und Vorderrad verkeilten sich auf und unter der Leitplanke. Zu zweit haben wir zu wenig Kraft, um die Maschine komplett anzuheben und freizuziehen.«

Hajo nickte und folgte dem Dänen, während Christine zum Bus zurückeilte, um sich eine Jacke überzuziehen. Zwar war der Himmel strahlend blau und die Sonne schien ungehindert auf die Küste, doch der Wind blies eisig kalt.

Hermann hatte den Bus verlassen und ging mit kleinen Schritten, die ihm schwerfielen, zu dem Motorrad, um auch zu helfen. Laut schnaubend griff er gemeinsam mit Hajo auf Anweisung Jakobs den Motorradrahmen unterhalb der Sitzbank. Von links fasste der bärtige Däne vor dem Tank an den Rahmen und von rechts auf der anderen Seite der Leitplanke Jakob selbst den Lenker der BMW. Sie hoben die Maschine zunächst hinten an, zogen sie dabei schräg zurück, so dass das Vorderrad aus seiner Verklemmung gelöst wurde und die Spannung an dem hinter der Leitplanke verkeilten Lenker nachließ. Dann konnten sie die Maschine aufrichten.

»Wir hätten, als der Sturm anfing, besser einen Campingplatz oder, noch besser, ein Hotel gesucht«, stellte der große Däne fest.

Die Beschädigungen am Motorrad hielten sich in Grenzen. Die Lampenfassung und das Schutzblech vorn waren ein wenig angekratzt, der Lenker rechts leicht nach oben verbogen, das rechte Blinkerglas zersprungen. Glücklicherweise hatte der Bremshebel den Sturz schadlos überstanden.

Das zweite Motorrad, eine rote Geländemaschine - eine Suzuki, wie Hermann unschwer den Schriftzug am Tank entzifferte -, war wohl aufgrund seines viel geringeren Gewichts bei diesen Wetterverhältnissen kein so großes Problem. Sie stand noch immer, obwohl sich in den letzten Minuten niemand um sie gekümmert hatte oder sie besonders abgesichert gewesen wäre, unbeschadet auf dem Seitenständer.

»Ich danke euch vielmals für eure Hilfe. Alleine hätten wir das nicht geschafft. Jetzt kommen wir alleine klar.« Der Däne reichte Hajo erleichtert die Hand. Im Hintergrund nickte Jakob freundlich. Offensichtlich sprach er kein Deutsch.

»Wie weit wollt ihr denn heute noch fahren?«, fragte Hajo.

»Bis zum nächsten Campingplatz. Ich glaube, in Zadar ist einer.«

»Na Mensch, dann sehen wir uns ja noch. Das ist auch unser Ziel. Bis dann! Tschüss.«

Christine und Hermann verabschiedeten sich ebenfalls von den beiden. Sie stiegen wieder in den Bus und setzten ihre Fahrt fort. Im Vorbeifahren winkten sie den Dänen nochmal zu. Die beiden erwiderten den Gruß.

Der Sturm ließ langsam nach. Es war gar nicht mehr lang bis zum Sonnenuntergang.

 

Troels

Nach knapp zehn Kilometern hatten die Dänen das Trio im Bus eingeholt. Doch sie überholten nicht, sondern folgten dem Bus. Der Wind hatte sich gelegt. Die Sonnenstrahlen spendeten wohltuende Wärme. Die Fahrt bis zum Campingplatz bei Zadar war von einem Bilderbuchsonnenuntergang begleitet.

Der Platz war großräumig angelegt. Bäume und Sträucher wuchsen zwischen Rasenflächen. Das Gras stand stellenweise für einen Campingplatz ungewöhnlich hoch.

Gemeinsam suchten sie sich einen geeigneten Zeltplatz zwischen den Bäumen. Einige zehn Schritte weiter lärmte eine Gruppe etwa zwanzig junger Leute beim Zeltaufbau. Sie gehörten zu einer Busreisegesellschaft, offensichtlich Amerikaner oder Australier, wie man an der Sprache erkannte.

»Mit so einem Bus - das wär' nichts für mich. Aber hübsch ist er.« Und damit meinte der große Däne das Bild der großen, lächelnden Sonne auf der seitlichen Buswand, begleitet von dem Schriftzug »CON-TIKI«.

»Da hätten wir uns wohl kaum kennengelernt«, stimmte Hajo zu.

Die beiden gingen ein wenig umher und trampelten das Gras flach.

»Ich heiße Hansjürgen, kurz Hajo. Und du?«

»Troels«, sagte er und sprach das ›oe‹ wie ein langes ›o‹.

»Das dort ist Christine, und da sitzt Hermann.« Er deutete auf den Alten, der bewundernd um die Geländemaschine ging, sich möglichst alles genau ansah, mal die Hände an den Lenker legte und nur mal so am Gasgriff drehte. Mit dem Daumen testete er dann die Sitzbankpolsterung. Er blickte zu Troels hinüber und deutete ihm mit seinem zustimmenden Gesichtsausdruck und einem leichten Kopfnicken an, dass er sie weich genug fand. Der Däne lachte. Er und Hajo griffen jeweils die Zelte. Christine half beim Aufbau.

Hermann humpelte weiter zu Jakob. Der hockte neben seiner BMW und untersuchte die Schäden genauer. Die Kratzer an Schutzblech und Scheinwerferfassung störten ihn weiter nicht. Der krumme Lenker ärgerte ihn jedoch sehr. Zwar war der, wie gesagt, nicht stark verbogen, doch musste Jakob, wie er auf den letzten Kilometern zu registrieren hatte, seine rechte Hand weiter als gewöhnlich vom Unterarm nach außen abwinkeln. Diese Position war auf langen Etappen mit Sicherheit unbequem, vielleicht sogar schmerzhaft. Doch beheben konnte er den Schaden sicherlich nicht - zumindest nicht ohne geeignete Werkstatt, und selbst da hätte er die ursprüngliche Form kaum wiederherstellen können.

Hermann hatte ihn beobachtet. Er stellte sich breitbeinig vor die Maschine und beugte sich vor, um seine Augen auf die Höhe des Lenkers zu bringen. Dann peilte er das Motorrad prüfend an.

»Nach oben verzogen«, stellte er knapp fest und zeigte auf das entsprechende Ende. Zunächst ohne sich aufzurichten blickte er Jakob mit verständigem und mitleidsvollem Ausdruck an.

»Ganz schön blöd, hm? Kann man doch vielleicht richten, oder?«

Der Däne antwortete nicht, sondern gab ihm zu verstehen, dass er kein Deutsch verstehe, und fragte seinerseits:

»Sorry, no German. But do you speak English?«

Bei Hermann Fehlanzeige. Doch er verstand die Frage, zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.

Ohne zu zögern wiederholte er jedoch seinen Gesichtsausdruck von zuvor, zeigte nochmal auf das rechte Lenkerende und zog die Nase kraus. Jakob begriff und nickte. Mit einer abwertenden Handbewegung machte er Hermann klar, dass der Fall für ihn zunächst erledigt sei, da er ja doch nichts reparieren konnte. Die beiden blickten sich an, lachten und freuten sich, dass sie sich verstanden hatten.

Jakob deutete auf den demolierten Blinker und nahm den Schraubenzieher. Hermann schaute interessiert. Schnell war das Blinkerglas abgeschraubt. Aus einer winzigen Tube presste Jakob Klebstoff auf die Bruchstelle und verteilte ihn mit der Tubenspitze. Sorgfältig setzte er die Einzelstücke mosaikartig zusammen und drückte sie kurze Zeit gegeneinander. Offensichtlich wirkte der Klebstoff sehr schnell; schon nach wenigen Augenblicken konnte er jeweils die zusammengefügten Stücke loslassen und sie waren fest verbunden. Hermann pfiff bewundernd. Nach einer Viertelstunde waren alle Einzelteile zusammengesetzt. Ein fingernagelgroßes Loch war noch übrig. Mit einem Stück Isolierband überklebte Jakob es. Dann schraubte er das Glas wieder an. Der Blinker war wieder funktionsfähig und vor allem wasserdicht.

Hermann schaute sich nun das Motorrad genauer an. Die BMW war grünmetallic. Ihr auffälligstes Detail war zweifellos der voluminös gepolsterte Sitz, zwei besonders breite, bequeme Mulden hintereinander.

»Ein Amerikasitz«, erläuterte Troels, der sein Zelt bereits aufgebaut hatte und hinzugekommen war. Jakob legte stolz seine Hand auf das Leder.

Hinten waren auf jeder Seite ein großer, schwarzer Koffer befestigt. Über den seitlich herausragenden Zylindern des Motors schützten spezielle Verkleidungen die Beine des Fahrers bis zur Oberkante des Tanks vor Fahrtwind und Spritzwasser. »R 80/7« stand auf dem Motor. Durch den sehr hohen Lenker saß Jakob während der Fahrt sicherlich sehr aufrecht und bequem. Eine Lenkerscheibe wies bis über Augenhöhe den Wind ab.

»So toll waren unsere früher nicht.« Verträumt blickte Hermann auf die Maschine. »Mann, sogar eine Uhr! Ich fuhr damals in den Fünfzigern eine Max, ’ne zweihundertfünfziger NSU.«

Troels nickte interessiert. Auch Jakob schien zu verstehen, worüber Hermann erzählte; er lächelte. Christine und Hajo kamen hinzu.

»Eine BMW, Jungs, das konnte ich mir leider nie leisten.«

Er lachte ein bisschen wehmütig.

»Aber damals - im Krieg - ja, da fuhr ich eine. Das waren die tollsten Dinger. Die alten siebenhundertfünfziger Gespanne kamen überall durch, durch jedes Dreckloch.«

Einen Moment lang stand er noch schwärmerisch da.

»Egal. Jetzt gehen wir alle erst einmal einen heben - nach dem aufregenden Tag.«

Die vier stimmten spontan zu. Noch wild über den Sturm und den Sturz diskutierend schlenderte die Gruppe über den mittlerweile dunklen Platz zu der kleinen Kneipe zwischen den Bäumen knapp zweihundert Schritte entfernt.

Sein krauses, dunkelblondes Haar und der gleichfarbige, ein wenig lichte Vollbart verkörperten für Christine einen ›Wuschelkopf‹. Sie spürte das Verlangen, mit ihrer Hand in den kleinen Locken zu wühlen. Und genau das zeichnete ihn halt als ›Wuschelkopf‹ aus, hatte sie beschlossen. Troels hellblaue Augen funkelten sie an, seine von der Sonne leicht gebräunte Haut lieferte einen hervorragenden, das scheinbare Leuchten verstärkenden Kontrast dazu. Christine schätzte ihn auf um die Vierundzwanzig.

Seit sie in Zadar angekommen waren, hatte sie Troels nur mit einem breiten, herzlichen, warmen Lachen gesehen. »Sunnyboy« hätte ihre Mutter den Dänen sicherlich genannt - ein Ausdruck, den Chris überhaupt nicht leiden konnte. Und trotzdem fand sie ihn in diesem Augenblick sehr treffend. Sie saß ihm in der Kneipe gegenüber und strahlte ihn an.

»Das ist der zweite Abend unserer Reise. Wie lang seid ihr schon unterwegs?«

»Seit drei Wochen«, antwortete Troels. »Zunächst fuhren wir in die Alpen und hielten uns eine Weile in Norditalien auf. Dort genossen wir die ersten Sonnenstrahlen des Sommers.«

»Und ihr wolltet dann nicht weiter durch Italien Richtung Süden?«

»Nee. Unser Ziel war immer Griechenland.« Christine sah ihm die Erwartung, die er mit diesem Land verband, förmlich an. »Aber als wir die Alpen überquert hatten, gefiel es uns auf einmal in Südtirol so gut, dass wir von unserem direkten Weg nach Triest abwichen und den Schlenker durch Norditalien ein wenig ausweiteten. Du musst wissen, Zeit spielt keine so große Rolle. Wir haben insgesamt vier Monate Zeit. Hauptsache, das Geld reicht. Aber Griechenland ist nicht so teuer, hoffen wir.«

»Klasse! Vier Monate! Im Extremfall können wir uns die Hälfte erlauben.«

Mehr wusste sie nicht zu erzählen. Überhaupt war ihr für den Augenblick gar nicht nach reden zumute. Stumm blickten die zwei sich an.

Ganz plötzlich wandte Chris ihren Blick ab. Sie fühlte sich ertappt. Von sich selbst. Hajos Nähe störte sie. Glücklicherweise unterhielt der sich angeregt in Englisch mit Jakob. Und er hatte so die letzten Blicke, die sie und Troels austauschten, nicht mitbekommen. Oder beunruhigte sie weniger die Tatsache, dass Hajo diese Blicke bemerkt haben könnte, als vielmehr die herausfordernden Art des jungen Dänen?

Irritiert fiel ihr Blick auf Hermann. Zwar saß er näher bei Hajo und Jakob und beteiligte sich mit Händen, Mimik und der Übersetzerhilfe von Hajo an deren Gespräch, doch für den Moment hatte er innegehalten. Er hatte das Mädchen beobachtet, seine Verwirrung und Regung bemerkt.

Wieder fühlte Chris sich ertappt. Doch Hermanns verständnisvolles Lächeln entkrampfte sie, hellte ihren verstörten Blick auf. Sie lächelte zurück und schaute wieder Troels in die Augen. Seine warme, herzliche Ausstrahlung durchflutete ihren Körper.

Es hatte gefunkt.

Sie aßen eine Kleinigkeit, tranken Bier dazu. Plötzlich stand Troels auf und verließ die Gaststätte. Christine folgte ihm nach einer auffällig kurzen Weile. Sie fand ihn bei den Zelten an seine Maschine gelehnt.

»Hallo!« Sie klang ein wenig unsicher, verlegen.

Troels erwiderte den Gruß nicht, sondern schaute sie nur freundlich an. Sie war dankbar für die Platzbeleuchtung, die es ihnen beiden ermöglichte, die Regungen des anderen zu erkennen. Er bot ihr den Platz an seiner Seite an. Chris setzte sich halb auf den hinteren Teil der Sitzbank, halb stand sie.

»Ein seltsames Trio seid ihr. Ist der alte Herr dein Vater? Oder Hajos?«

»Nö.« Dass dieser Eindruck bei Fremden entstehen könnte, war ihr, obwohl er sich regelrecht aufdrängte, bisher noch nicht in den Sinn gekommen. Die Vorstellung einer solchen familiären Bindung amüsierte sie.

»Wir kennen ihn einfach so. Er ist unser Nachbar. Zumindest ich« - sie betonte das ›Ich‹ auffallend stark - »verstehe mich mit ihm blendend. Ein guter Freund. Na ja, nach dem Ausfall eines anderen Bekannten war ich ganz froh, dass Hermann die Reise mitmacht.«

»Und der riesige Altersunterschied?«

»Hm, bisher kein Problem. Im Gegenteil, in manchen Augenblicken habe ich den Eindruck, dass es gerade Hermanns hohes Alter ist, das Konflikte verhindert. Und ich glaube, dass dies über die Dauer der Reise so bleiben wird. Und außerdem -«

Sie zögerte einen Moment.

»- und außerdem wäre es mit Hajo allein sicherlich ein Horrortrip geworden. Er und ich verstehen uns nicht mehr so wie’s mal war. Zu dritt kann ich mehr Freiheit und Friede halten. Vielleicht auch die Beziehung zu Hajo auf eine normale Freundschaft runter schrauben.« – ›Mein Gott‹, schoss es ihr erschrocken durch den Kopf, ›jetzt geh ich aber furchtbar offen ran.‹

Sie schluckte.

Troels lachte, schaute etwas verschüchtert zu Boden. Er überlegte, wie er reagieren sollte. ›Wartet sie darauf, dass ich reagiere, vielleicht ihre Hand nehme? Oder etwas Liebes sage? Vielleicht ein Kompliment?‹ Er hob seinen Blick und schaute sie in einem kurzen Anflug von Hilflosigkeit treuherzig an.

Chris wäre am liebsten im Erdboden versunken. ›Über etwas anderes reden? Oder wieder zu den anderen zurückgehen?‹ Sie drückte ihre rechte Hand, mit der sie sich auf der Sitzbank abstützte, fester ins Polster. Ihre Gedanken wurden jäh durch ein plötzliches Kribbeln in den Fingern der Hand unterbrochen. Ihr Herz stockte. Troels Hand lag auf der ihren und umfasste sie langsam. Sie erwiderte den Griff. Sie blickten sich stumm, angespannt in die Augen. Troels beugte sich leicht vor. Chris reagierte sofort, drehte sich auf ihn zu und legte ihren Kopf an seine Schulter. Die Arme des Dänen schlossen sich sanft und fest um Chris. Wärme durchflutete sie. Ihre Hände legte sie auf seinen Rücken und drückten ihn fest an sich.

Deutschland war weit weg, Griechenland war weit weg. - Und Hajo auch.

Zärtlich küssten sie sich. Christine strich ihm mit der Hand durch das fein gelockte Haar. Sie hatte ihren Wuschelkopf! Seine warme Hand auf ihrer Wange ließ sie die Welt vergessen, trug sie weit fort.

Der reguläre Funkverkehr war eröffnet.

 

Tierleben in Montenegro

Die Stimmung am nächsten Morgen war sehr gereizt. Das plötzliche, fast gleichzeitige Verschwinden des Paares war für ihn deutlich genug gewesen. Aber, bei Gott, es war nicht die Eifersucht, die Hajo quälte. Zumindest nicht in erster Linie. Schon vor Antritt der Reise war das Ende der Beziehung abzusehen. Nein, dass er vor der Gruppe bloßgestellt wurde, ging ihm unter die Haut. Er fühlte sich in seinem Stolz zutiefst verletzt. Wie immer, wenn er einen Zweikampf in irgendeiner Form verlor.

Christine sah jedoch nicht ein, aus ihrem Herzen eine Mördergrube zu machen. In der Nacht hatte sie jede Art von Annäherungsversuchen seitens Hajo resolut zurückgewiesen. Nach dem Aufstehen bemühte sie sich, dem jungen Mann so schonend wie möglich, aber so direkt wie nötig beizubringen, das sie nun ihre Beziehung endgültig als rein freundschaftlich sehe.

Hajo reagierte auf seine Weise. Wortkarg führte er alle Handgriffe zur Vorbereitung des Frühstücks aus. Ließ es sich nicht vermeiden, mit einem der anderen zu reden, so tönten seine Worte barsch zwischen seinen Zähnen hervor. Dennoch fiel auf, dass seine Stimme gegenüber Hermann eine winzige Spur freundlicher klang als den anderen gegenüber.

Das Frühstück in der warmen Morgensonne verlief zunächst ohne jegliche Gespräche. Dann und wann warf Christine einen Seitenblick zu den Dänen, die einige Meter weiter neben ihren Maschinen auf Jakobs abmontierten Packkoffern saßen. Troels fühlte sich offensichtlich nicht sehr wohl in seiner Haut, und die Vorstellung, den Deutschen, genauer Hajo, beim Kaffee Gesellschaft zu leisten, bereitete ihm ein flaues Gefühl. Jakob erfasste die Situation, ohne ein Wort darüber zu verlieren, und machte keinerlei Anstalten hinüberzugehen.

Hermann hockte auf seinem Stammplatz, der Türschwelle, und beobachtete die vier. Obwohl die Missstimmung ihn als Dritten im Reisebunde direkt mit betraf, erfreute ihn das Schauspiel ein wenig. Keineswegs aus irgendeiner Boshaftigkeit heraus - ganz gewiss nicht. Er freute sich über die Entflammbarkeit und den Heißsporn jugendlicher Herzen. Eigenschaften, die seinem Herzen fremd geworden waren.

Trotzdem sah er absolut nicht ein, jetzt um der Situation Willen oder Hajo zuliebe auf die Gesellschaft der netten Dänen verzichten zu sollen. So stiefelte er, nachdem er den letzten morgendlichen Bissen heruntergeschluckt hatte, langsam und beschwerlich zu den beiden hinüber.

»Mann, ihr habt ja schon fast alles gepackt. Wie weit wollt ihr den heute fahren?«

»Och ...« Troels zuckte mit den Achseln. Er blickte zögernd zu dem Mädchen. Hermann begriff. Er warf einen kurzen Blick zu Jakob. Der nickte wissend und verschmitzt lächelnd und deutete mit einer Augenbewegung auf Christine. Scheinbar ahnungslos rief Hermann das Mädchen.

»Du, Christine, was glaubst du, wie weit werden wir heute fahren?«, fragte er mit Unschuldsmiene.

»Ich habe eben schon mit Hajo darüber gesprochen. Er meint, höchstens bis Titograd. Auf jeden Fall aber wohl weiter als Dubrovnik.«

Wie unbeteiligt wandte Hermann sich wieder Troels zu, der seine Frage ja noch offen hatte. Mit dem gleichen zögernden, nachdenklichen Gesichtsausdruck wie eine Minute zuvor antwortete der Däne langgezogen:

»Ja, weiter werden wir auch kaum fahren.«

»Toll! Fahren wir doch zusammen!« Es war Christine, die mittlerweile Hajo schmollend sitzen gelassen hatte und herübergekommen war. Sie lachte Troels befreiend und auffordernd an. Troels grinste bis über beide Ohren.

 

Die weitere Fahrt entlang der Küste war mit dem Vortag nicht zu vergleichen. Zwar hatte sich die Landschaft kaum verändert und der stundenlange Blick aufs Wasser und die Inseln wurde langweilig, doch das Wetter spielte mit. Klarer Himmel, Sonne und vor allem Windstille. Das dauernde Kurvenfahren machte Spaß, einen Mordsspaß. Weniger für Hajo oder Christine - Hajo hatte nach der anstrengenden Fahrt bis Zadar eingesehen, dass es besser war, sich mit Christine abzuwechseln - als vielmehr für die Motorradfahrer. Vor freien Kurven drehten sie etwas auf, tauchten hinein, mussten häufig schon im nächsten Moment aus dieser Schräglage die Maschinen auf die andere Seite legen, da Kurve auf Kurve folgte. Zwar konnte man während der Fahrt ihre Gesichter nicht erkennen - nicht einmal Jakobs, der seinen Schönwetterhelm, den vorn ganz offenen Jet-Helm, trug; den anderen hatte er in einem der Packkoffer verstaut - , doch man sah ihnen an jeder einzelnen Bewegung die Begeisterung an. Dann und wann eilten sie weit voraus, da sie entweder nicht das Tempo des langsamen Busses halten wollten oder einfach vergaßen, zwischendurch mal in den Rückspiegel zu sehen. Dann warteten sie an irgendeiner Ecke auf die Nachzügler und konnten sich dabei in Ruhe die Küstenpassagen unterhalb der Straße anschauen, die sie während der Fahrt fast nie intensiv zu Gesicht bekamen.

Christine beobachtete in jeder Kurve dieses Schauspiel mit wachsender Begeisterung.

Da mal mitfahren!

Kein Problem! Christine machte vor Begeisterung einen Luftsprung, als nach der ausgiebigen Mittagspause Jakob ihr den Sozius, seinen zweiten Helm und einen Nierengurt anbot. Mit seiner großen BMW konnte er das locker machen; Troels’ kleine Suzuki war dafür nicht so gut geeignet.

Himmlisch! Sie schaute an dem blauen Helm vor sich vorbei über Jakobs Schulter auf die Straße, spürte durch das halboffene Visier den warmen Fahrtwind. Wenn hier und da die Straße vom Wasser wegführte, schienen die vereinzelt rechts vorbeihuschenden Felsbrocken und Sträucher zum Greifen da. Anfangs hatte sie Angst vor den Leitplanken, wenn sie sich ihnen in Rechtskurven zuneigte, doch bald spürte sie einfach Wohlbehagen und Begeisterung, ging auf in diesem besonderen Gefühl von Freiheit und Beschleunigung. Manchmal fuhr Troels dicht von hinten heran und setzte sich mit seiner Suzuki links neben die BMW, schaute Christine an und zwinkerte ihr zu. Chris war selig. Sie hatte den Himmel auf Erden. Mehr brauchte sie in diesem Augenblick nicht.

Am späten Nachmittag waren sie alle - bis auf Christine - einig, nicht mehr die Passstraße nach Titograd anzugehen und zu riskieren, in die Dunkelheit zu kommen, sondern die Nacht noch an der Küste zu verbringen. Bei Petrovac fanden sie einen - ziemlich miesen - Campingplatz.

 

Nach dem Abendessen hockten Hajo, Hermann und Jakob noch in einer Gaststätte an der Hauptstraße. Scheinbar der einzigen in diesem Nest. In dem kleinen, weiß getünchten Raum saßen noch ungefähr fünfzig Männer versammelt, zumeist mit Schnäuzer, unrasiert, einfach dunkel gekleidet, in heftigen Diskussionen verwickelt oder ihre Blicke auf das schlechte Bild des Fernsehers in der Ecke fixiert. Die Atmosphäre war laut - angenehm und wohltuend laut, wie Hermann für sich feststellte. So waren die drei gehalten, ebenfalls ein lebhaftes Gespräch zu führen, um sich zu verständigen. Hermanns und Jakobs Gestik steuerte ihren nicht unbeträchtlichen Anteil dazu bei.

Ansonsten war an der Unterhaltung zwischen den dreien nur bemerkenswert, dass Hajo den Tiefschlag des gestrigen Abends und des Morgens erstaunlich gut verdaut hatte. Überhaupt gewann Hermann den Eindruck, Hajo noch nie, auch nicht vor der Reise, so locker und munter gesehen zu haben. Galgenhumor oder Überschwang wiedergewonnener Freiheit?

Chris und Troels schlenderten Arm in Arm am Wasser entlang. Der Mond tauchte die Szenerie in sein weißes Licht. Wellen spülten helle, glitzernde Schaumkronen an den Fels. Das Rauschen wurde in eintönigem Rhythmus von zurückliegenden Steinwänden reflektiert. Es mischte sich mit dem Rascheln der Zweige im Wind.

In Gedanken wiegte Chris sich noch von einer Kurve in die andere. Sie drückte den Dänen fester.

»Was machst du, wenn du nicht reist?«

»Studiere in Kopenhagen Deutsch und Englisch. Und du?«

»Pädagogik.«

Sie presste den Kopf fester an ihn. Er verlangsamte seinen Schritt noch mehr, blieb stehen. Seine Unsicherheit verschwand. Mit beiden Händen griff er zärtlich ihren Kopf und küsste sie unvermittelt. Sie löste sich sanft, griff seine Hand und zog ihn zu einem flachen Felsbrocken unter einem der wenigen vorhandenen Bäume. Sie setzte sich und zog ihn auf den Platz an ihrer Seite. Für eine Weile saßen sie stumm und regungslos. Dann legte sie sich auf den Rücken, ihren Kopf in Troels’ Schoß. Verträumt versank ihr Blick zwischen den Blättern des Baumes hindurch in ferne Sternenwelten. Troels fuhr mit seiner Hand zärtlich durch ihr Haar. Er berührte vorsichtig ihre Schläfe und streichelte ihre Wangen.

»Chris, ich ... ich hab’ dich gern.«

Ihr Herz zersprang nahezu.

Träume sind dafür da, dass man sie zumindest halt träumt. Chris fühlte sich, als würde das über ihr schwebende Weltall sie aufsaugen.

Ab dieser Nacht galt eine neue Schlafaufteilung: Hermann gesellte sich zu Hajo in den Bus, Chris schlief allein im Zelt.

»Die fahren wie die Henker«, schimpfte Hajo. »Die donnern mit den Sattelschleppern hier runter wie mit Sportwagen.« Der Bus hatte sowieso schon seine Schwierigkeit mit dieser extremen Steigung, doch vor jeder Haarnadelkurve ließ Hajo den Wagen fast ausrollen und suchte vorsichtig den weiteren Straßenverlauf mit den Augen ab, ob nicht eines dieser entgegenkommenden Ungetüme gerade mit unbändiger Fahrt in die Kurve ging.

Hätte er nur Gelegenheit gehabt zurückzuschauen, er hätte einen fantastischen Blick auf die Adria genießen können. Hermann und Christine konnten, aber der unbeschwerte Genuss wollte sich bei beiden nicht einstellen. Vor allem Hermann fühlte sich zunächst ausgesprochen unwohl. Seit sie eine knappen Stunde zuvor Petrovac verlassen hatten, fuhren sie in Serpentinen steil bergauf, ›gegen‹ die hinunter jagenden Lastkraftwagen. Mit lautem Getöse polterten die Anhänger, sprangen zwischen den Straßenunebenheiten auf und ab. Die hölzernen Seitenbegrenzungen der Ladeflächen schlugen gegeneinander. Die Bremsen quietschten ohrenbetäubend.

»Dem Zustand der verstreuten Ladung und den noch ziemlich frischen Ölspuren nach zu urteilen ist der Unfall frühestens gestern passiert.« Der schon nach wenigen Kilometern auf der rechten Seite umgekippt liegende Sattelzug regte die Phantasie der drei lebhaft an. Christine schaute sich die Szenerie im Vorbeifahren genau an. Zweifellos war der Laster auf der Talfahrt umgestürzt. »Der muss ein Wahnsinnstempo drauf gehabt haben. Oder die Bremsen haben versagt. - Mein Gott, wenn wir da gerade in der Kurve gewesen wären!«

Sie schluckte.

Die Dänen waren schon weit voraus. Chris wäre zu gern wieder auf einer der Maschinen mitgefahren.

»Sei nicht bös’, aber heute nicht«, hatte Troels nach Rücksprache mit Jakob abgelehnt. Zum einen wäre das Verkehrsverhalten der LKW-Fahrer gerade auf Pässen in dieser Gegend nicht so ganz ohne, zum anderen - und das sei viel gefährlicher - führt die Passstraße nach Titograd durch eine beträchtliche Anzahl von Tunnels, die durchweg unbeleuchtet und in schlechtem Zustand seien, wie ein Freund ihnen während der Reisevorbereitungen erzählt hätte.

So fuhren die beiden allein voraus. Schon nach wenigen Kurven waren sie aus Christines Augen entschwunden. Irgendwo oben auf der Passhöhe wollten sie sich wieder treffen.

Der Straßenbelag wurde mit jedem Kilometer schlechter. Sie hatten die schlimmste Steigung hinter sich, was Hermanns unwohles Gefühl merklich schwinden ließ, und fuhren nun durch ein Flusstal - nein, besser gesagt, durch eine Schlucht, denn links und rechts wurden Straße und grünblauer Gebirgsfluss von nahezu senkrecht aufsteigenden Felswänden flankiert. Doch folgte der Weg den Biegungen des Flusses nicht auf gleicher Höhe, sondern schlängelte sich teilweise beträchtlich höher in die linke Felswand gehauen durch das Tal.

»Na, da bin ich mal gespannt, ob’s tatsächlich so schlimm wird«, sagte Hajo. »Zumindest die Sache mit den Tunnels scheint zu stimmen. Da vorn ist der erste.«

Sie holperten näher an das schwarze Loch heran. Hajo verrichtete regelrecht Schwerstarbeit, um den Schlaglöchern auszuweichen, was selbstverständlich nur möglich war, wenn auf der engen Straße keiner dieser vielen Lastzüge scheinbar jedes Hindernis ignorierend vorbeidonnerte. In fast regelmäßigen Abständen war die ›asphaltierte‹ Straße von Schotterabschnitten unterbrochen. Fuhr Hajo mit gleichbleibend niedriger Geschwindigkeit dahin - was meistens nicht zu verhindern war, da die Straßenbeschaffenheit im Allgemeinen bis auf die letzten wenigen Meter davor ein Rätsel blieb -, knallten die einzelnen Steine mit voller Wucht gegen die Radkästen oder den Unterboden. Ein Höllenlärm.

»Tatsächlich! Unbeleuchtet!«

Schon war der Bus von der Dunkelheit verschluckt. Nur die zwei kleinen roten Punkte des eingeschalteten Rücklichts waren von dem Bus von der Tunnelöffnung her noch zu erkennen.

Und drinnen, im Bus? Hajo hatte zwar, wie gesagt, das Fahrlicht eingeschaltet, doch weder er noch die beiden anderen konnten durch die große Frontscheibe auch nur eine Winzigkeit in dem einheitlichen, alles Licht verschluckenden Schwarz ausmachen. Es war beklemmend. Hajo spürte seine Nervosität. Ihm wurde heiß, sehr heiß. Sein Hals war wie zugeschnürt. Er hatte Angst. Chris und Hermann erging es nicht anders. Die noch an die soeben blendenden, hellen Sonnenstrahlen gewöhnten Augen konnten sich einfach nicht so schnell auf Dunkelheit umstellen. Sie waren gefangen in diesem Pechschwarz. Nur seitlich vorn, dort wo die Scheinwerferlichtkegel ihre Hell-Dunkel-Grenze auf die Fahrbahn und die seitlichen Felsen warfen, konnten sie Einzelheiten vorbeihuschen sehen und somit den Abstand zu den Wänden und damit ihre Position auf der Fahrbahn bestimmen.

Schon nach den ersten Metern hatte Hajo, so schnell er konnte, seine Sonnenbrille von den Augen gerissen. Gleichzeitig ging er voll in die Bremse. So krochen sie dann weiter durch das Loch.

Nach wenig mehr als hundert angsterfüllten Metern in einer langgezogenen unterirdischen Biegung empfing sie das grelle Sonnenlicht wieder und blendete die sich langsam an das Schwarz gewöhnenden Augen umso mehr. So war auch das plötzliche Licht für den Fahrer ausgesprochen gefährlich. Doch stellten die Augen sich viel schneller darauf ein. Und die Businsassen fühlten sich wieder frei.

Doch kaum an den hellen Tag gewöhnt, fing sie schon das nächste tiefschwarze Loch ein. Sie fuhren nicht schnell, höchstens dreißig. Für einen Blinden zu schnell. Extrem angespannt saß Hajo hinter dem Lenkrad.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739300580
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (April)
Schlagworte
Liebesroman Griechenland Adria Korfu Istanbul Türkei

Autor

  • Rudy Namtel (Autor:in)

Der Durchbruch gelang Rudy Namtel mit dem Buch »Watt-Grab«, das einen fiktiven Mord mit den aktuellen Entwicklungen auf der Insel Wangerooge verknüpft. Ob Krimi, Science Fiction oder Liebesgeschichte, ob Roman oder Short Story – Namtel fühlt sich in jeder Disziplin wohl. Oft spielen bei ihm Länder und Orte gewichtige Nebenrollen oder liefern wie in der Novelle »Nebelmann« historische Hintergründe. Der gebürtige Westfale lebt mit seiner Familie in einem hessischen Dorf.
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Titel: Signale